Montblanc - Rudi Stratz - E-Book

Montblanc E-Book

Rudi Stratz

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Beschreibung

Ein einsamer Wanderer drängte sich, ohne rechts und links zu sehen, durch das bunte Gewühl, das jetzt um die siebente Abendstunde, wo von der letzten Eisenbahnstation her die Diligencen ankamen, die Gassen von Chamonix erfüllte. Er war in einem eigenen Fuhrwerk vorausgefahren. Allein zu sein, das war sein einziger Wunsch. Der trieb ihn so rasch wie möglich durch die Menschengruppen dem Ausgang des Dorfes zu, und vielleicht mehr noch die unbestimmte Beklemmung, doch irgendwo plötzlich das wohlbekannte Silberlachen zu hören und vor Angela zu stehen ...

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Rudolph Stratz

Montblanc

idb

ISBN 9783962249991

1.

Vorwärts – vorwärts! Unter den Hufen gleitet der Boden mit seinem zischelnden Zwergpalmengestrüpp und den weißblumigen Dornenhecken im Fluge dahin, vor den Augen tanzen Turbane und Flintenläufe, flatternde Mäntel und bezopfte Kabylenschädel, um die Ohren brandet in Sturmstößen der Höhenwind Marokkos, wie er von den wildgezackten, wolkenumzogenen Bergklippen des Kleinen Atlas hernieder in die Täler fährt.

Vorwärts im grauen Abenddämmern auf schaukelndem Sattel, unter sich die unermüdlich galoppierende weiße Berberstute, hinter sich die kleine Karawane mit ihrem Rossegetrampel und Maultiergeschnarch und dem stöhnenden »Ärra – ärra! rrrschât!« der treibenden Knechte, und da vorne die weite Welt ...

»Ärra! – ärra!« Hinten klatscht es von Peitschenhieben. Die Galoppsprünge werden länger, schneidender pfeift der Abendhauch um die Ohren. Unter den Hufen fliegt der Boden, am Himmel fliegen die Wolken, rechts und links zieht einsam, gestrüppbewachsen, nebelumsponnen die Bergwüste wie ein Wandelbild dahin. So gleiten Tag und Stunde dem unbekannten Ende zu, so das Leben, die Welt, wir selbst. Schließlich ist alles nur ein Traum. Der eine träumt ihn so, der andere anders. Und hier ist's eben ein Flug über die weite Erde, im schaukelnden Sattel, vom Wind umpfiffen, hinein in die Nacht und rätselhaftes Sternenglitzern über zerrissenen Höhen – weiter, immer weiter, durch alle Winkel des Erdballs, durch das Brausen des Eismeers und die Glut der Tropen, vom ewigen Schnee zum Sand der Sahara – bis endlich da irgendwo aus der Nacht heraus die große Schattenhand nach dem rastlosen Wanderer langt und ihn hinüberrafft in jenes unbekannte Land ...

»Achtung, Herr!« schrie von hinten mit gellender Stimme der maurische Diener und riß, sich im Sattel zurückwerfend, sein Pferd in die Höhe. Die Berberknechte taten ebenso. Aufgeregt prustend, mit gespitzten Ohren drehten sich die Gäule in einem Wirbel umeinander und starrten aus ihren großen, feurigen Augen auf die schwarze Masse, die, schwerfällig den Berg niedertrollend, sich der Wildnis der Agavenhecken und des Zwergpalmengebüschs entwand.

Der Stier, der da zum Vorschein kam, war nicht weniger erschrocken. Er hatte friedlich gegen Abend zur Tränke ziehen wollen, jenem Abhang zu, an dessen Rand der Reitpfad sich hinzog, und sah sich nun unvermutet einem ganzen Schwarm von Feinden gegenüber. Fliehen war die Sache des stämmigen Gesellen nicht. War er, der nirgends Händel suchte, nun einmal in das Abenteuer geraten, so mußte es auch ausgefochten werden. So stand der Bulle denn kampflustig da. Aus dem tiefgesenkten Haupt glühten, mißtrauisch hin und her rollend, die Augen, der linke Vorderhuf scharrte den Boden, und ein langes Zorngebrüll stieg aus seiner Brust.

Die Berber und der Maure waren zur Seite geritten. Sie riefen und winkten ihrem Herrn zu. Man müsse umkehren! Ein paar hundert Schritte zurück, dann über den Fluß und auf der anderen Seite weiter. Hier gehe es nicht! Wenn einer der sonst friedlichen Stiere einmal erschrocken sei, lasse er niemand vorbei! » Seeing horses and mules it is afraid!« radebrechte der maurische Diener, und die Berber wiesen, in rauhen Kehltönen gurgelnd, mit den langen Entenflinten nach rückwärts.

»Unsinn!« sagte der Fremde auf arabisch kurz und ohne sich nach seinem Diener umzudrehen. »Ich gehe nicht zurück! Ich muß nach Tetuan!«

Jussuf, der Maure, machte eine Gebärde der Ratlosigkeit zu den halbnackt auf ihren Pferden und Maultieren kauernden Berberknechten. Seit acht Tagen – seit sie an einem heißen Tage des Jahres 1897 von Fez aufgebrochen – begleitete er den Herrn und hatte schon lange bemerkt, daß das keiner der üblichen englischen Gentlemen war, die, die Stummelpfeife im Mund, ein wenig in Marokko kreuz und quer zu reiten lieben. Nein, das war kein Brite, sondern ein »Pruß«, ein Deutscher. Und er kam nicht, wie alle Welt, von Tanger her, mit dem Dampfboot aus Gibraltar, sondern aus dem Süden, weit, weit aus entlegenen Ländern jenseit des großen Sandes, hinter dem in Wäldern das schwarze Volk wohnt, das keine Pferde reitet und nichts von Allah weiß. Dieser Gentleman war etwas Besonderes. Es war nicht möglich, ihn, wie andere Reisende, zu beeinflussen. Wenn er sich im Sattel aufrichtete und über die Ohren seines Pferdes hinweg in die Ferne schaute, als ob er da allerhand unsichtbare Wunder entdecken wollte – dann war gegen sein gleichgültiges und kurzes »Vorwärts!« ebensoviel auszurichten als mit Koransprüchen gegen den Stier, der zornmütig des Angriffs harrend am Wege stand.

Der Stier war dumm. Der Fremde aber hatte das Fieber, und das war beinahe noch schlimmer! Sonst wäre er wohl der unvernünftigen Kreatur ausgewichen. Jetzt aber siedete das Blut in seinen Adern und zudem hatte er – Jussuf wußte es wohl – um sich im Sattel zu halten und um jeden Preis heute noch nach Tetuan zu kommen, seine halbe Flasche voll Feuerwasser – Allah schütze jeden Rechtgläubigen vor diesem Teufelstrank! – im Laufe des Tages ausgetrunken.

Jussuf zuckte die Achseln. Schon die Marokkaner, mit denen der Preuße von Süden her, aus Marrakesch, gezogen war, hatten ihm berichtet, daß jener dort schwerkrank angekommen und vorher, in dem großen Sande, fast dem Fieber erlegen sei. Denn dort drüben – jenseit der Sahara, wo die Wälder sind und das schwarze Volk wohnt, dort stieg ja aus dem Sumpf das Fieber und warf die weißen Männer nieder, die da Elfenbein suchten, und die braunen Moslems, die Sklaven jagten, und die seltsamen Menschen nicht minder, die keines von beiden taten, sondern ohne Ziel und Zweck, mit allerhand Zauberinstrumenten versehen, durch die Wildnis reisten und nicht müde wurden, zu fragen, wo dieser Fluß hinfließe und wie hoch jener Berg sei und was der unnützen Dinge mehr waren.

Jussuf machte noch einen Versuch. »Wir müssen umkehren, Herr«, sagte er in schmeichelndem Ton auf arabisch, und um seine Lippen spielte ein unterwürfiges Lächeln.

Der Fremde sah ihn an und lächelte ebenfalls unter dem dunkeln, langen Schnurrbart. Aber in seinen Augen war etwas, wovor Jussuf Angst bekam: etwas Stählernes, Unzähmbares, wogegen es gar keinen Widerspruch gab.

»Umkehren?« fragte, ebenfalls auf arabisch, der Forschungsreisende verwundert und brannte sich, die Zügel mit der Linken lüftend, eine Zigarette an. »Du weißt doch, Jussuf, ich muß auf dem nächsten Weg nach Tetuan!«

»Aber wie sollen wir an dem Stier vorbei?«

»So!«

Der Fremde gab seiner Berberstute die Sporen und drängte sie, im Schritt, um den Bullen nicht zu erschrecken, nach vorn. Hinter sich hörte er die Rufe seiner Begleiter.

»Gehe zurück, Herr!« schrie der Maure. »Gehe zurück! Du wirst umkommen!«

»Da müßte ich schon lange beim Teufel sein!« sagte der Reisende trocken und klemmte die Zigarette zwischen die Zähne. »Sieh doch, das Vieh ist ja viel zu verblüfft, um etwas zu unternehmen!«

In der Tat – der Stier stand unschlüssig da. Dicht vor dem Fuß des Vorbeireitenden pendelte sein mächtiges, horngekröntes Haupt brüllend hin und her, der Fuß scharrte, und in den Augen leuchtete immer tückischer der böse Glanz.

Und plötzlich schien es, als werfe eine Gewalt von außen die ganze schwere Masse mit einem Ruck nach vorn. In der Eingebung des Augenblicks hatte sich der Bulle zum Angriff entschlossen. Viel rascher, als die ungeschlachte Gestalt ahnen ließ, schoß er, mit dem Kopf fast den Boden streifend, auf den Feind los und hob, von unten her ausholend. Roß und Reiter mit aller Kraft seiner zottigen Wamme auf die Hörner.

Roß und Reiter überschlugen sich in dem furchtbaren und unvermuteten Anprall. Der Fremde hatte eben noch, als der Zusammenstoß erfolgte, sein Bein über den Sattel zurückgeschwungen, bereit, sich an der anderen Seite niederfallen zu lassen. Aber es war zu spät. Das Pferd, das einen Augenblick vollständig frei auf dem Nacken des Stieres schwebte, glitt gleichzeitig von den Hörnern herab, überschlug sich und begrub seinen lang hinstürzenden Herrn unter seiner Last.

Nur eine Sekunde lag es über seiner Brust, dann sprang es, wie von einer Feder geschnellt, mit allen vier Beinen in die Höhe und blieb mit gespitzten Ohren und am ganzen Leibe zitternd, sonst aber reglos stehen. Als habe man ein Rotweinfaß eingeschlagen, so rauschte aus seinem rechten Schulterblatt in einem armdicken Strahl das Blut und mit ihm das Leben. Das Zittern ging in einen Krampf über, und plötzlich fiel das edle Geschöpf zum zweitenmal um. Ein kurzes Zucken des Hinterbeins, dann war es tot.

Der Stier hatte sich das mißtrauisch angesehen.

Hörner, Stirne und Wamme dampften ihm scharlachrot überzogen in der kühlen Abendluft, und bei seinem stoßweisen Gebrüll rauchte der heiße Atem vor den Nüstern. Nun war der Feind tot – das vierbeinige, weiße Wesen da, das sich ihm sicherlich in böser Absicht genähert hatte! Um den Menschen, der darauf gesessen und nun reglos zwischen den Steinen lag, kümmerte sich der Bulle nicht. Für ihn war das Abenteuer erledigt. Wie von einer plötzlichen Angst ergriffen, setzte er sich in Trab, den Hang abwärts. Das Gebüsch krachte unter seinem schweren Trott, in den fleischigen Agavenstauden tauchte noch einmal der schwarze, hornüberwölbte Schädel empor, ein langgezogenes Abschiedsgebrüll, dann wurde es still.

*

Alles still bis auf das Wehen des Bergwindes und das leise Rauschen des Gestrüpps. Auf den klassisch schönen, düster geschnittenen Gesichtern der Mauren und Berber lag sprachloser Schrecken, und ihre großen sanften Augen spähten angstvoll nach der Stelle, wo der Fremde lag. War der jetzt tot, so ging der ganze Lohn für den Ritt von Fez bis zur Küste mit Ausnahme des Vorschusses verloren, und auch Uhr, Geld und Waffen, die man jedenfalls gleich stehlen mußte, waren nur mit Mühe und Gefahr an der Küste in spanisches oder maurisches Geld umzusetzen.

Aber da bewegte sich der Verunglückte schon. Jussuf kniete neben ihm nieder und stützte ihn.

»Hast du Schmerzen, Herr?«

Es schien, als ob der andere nicht antworten könne. Er biß die Zähne zusammen und lag still.

»Verflucht!« sagte er dann plötzlich, sich aufrichtend. »Ich hatte eben solch ein Stechen in der Herzgegend. Der Gaul ist mir gerade darauf gefallen. Ein Stechen, das mir ganz den Atem benommen hat. Ich konnt' gar nicht sprechen!«

Jussuf knöpfte ihn auf und entblößte die linke Brustseite. Aber da war nichts zu sehen.

»Um so besser!« Der Forscher hatte seine gewöhnliche Stimme wiedergewonnen und begann der Reihe nach jedes Glied zu befühlen und zu bewegen. »Gebrochen ist nichts! Bloß dies verwünschte Stechen. Sieh nach, Jussuf, ob du nirgends Blut findest!«

»Nein, Herr! du bist nicht verwundet. Kannst du aufstehen?«

»Ja, soll ich hier übernachten?« Er hob sich, auf Jussufs Arm gestützt, elastisch empor. Einen Augenblick verfärbte sich, als er stand, sein Gesicht, und er preßte die Hand an die Herzgegend. Aber das ging rasch vorüber.

»Wieviel kostet so ein Pferd?« fragte er und rührte nachdenklich mit dem Reitstock in der großen Blutlache, in der der Schimmel mit langgestreckten Beinen lag.

»Zweihundert maurische Dollars, Herr!«

»Hundert zahle ich! Nicht mehr!«

»Zweihundert, Herr!«

»Hundert! das ist genug! So ein Stier ist doch ein blitzdummes Vieh. Was hat er nun davon?«

Die Berber waren abgestiegen, um dem toten Gaul Sattel und Zaumzeug abzunehmen. Der Maure berührte den Arm seines Gebieters.

»Vorwärts, Herr!«

»Zu Fuß? Wohin denn?«

»Wir sind dicht bei der Karawanserei El-Fondak.« Der Diener deutete auf ein graues, niedriges Mauerviereck, das düster wie ein Bergkastell auf einem Vorsprung des wüsten, rings von kahlen Gebirgen umrahmten, von grauen Abendwolken überflogenen Höhenkessels lag. »Dort müssen wir jetzt die Nacht bleiben!«

»Die Nacht? Ich will nach Tetuan!«

Der Maure schaute seinen Herrn an. Er bekam immer mehr Angst vor dieser unheimlichen Zähigkeit des Wollens, die jetzt auch in dem durch das Abenteuer blaß gewordenen Gesicht des Weltwanderers deutlich hervortrat. Der sah matt und erschöpft aus, wenn nicht ein abenteuerliches Lächeln zuweilen erhellend über sein Antlitz hinglitt, aber doch wie ein Mann, der unter keinen Umständen umkehrt.

»Wie willst du denn ohne Pferd nach Tetuan kommen, Herr?« fragte der Diener halblaut, in dem gedämpften Ton, in dem man zu einem Kranken spricht.

»Sehr einfach! Einer der Berber ist ja gut beritten! Er gibt mir seinen Gaul und bleibt in dem Schweinestall da zurück.« Dabei wies er auf die Karawanserei hinauf, an der eben eine Kamelkarawane langsam den geschlängelten Weg zur Höhe des Bergpasses vorbeizog.

»Es wird aber zu spät, Herr!«

»Die Karawane geht doch auch nach Tetuan!«

»Sie muß aber die Nacht draußen bleiben. Es sind noch vier Stunden mindestens. Der Weg ist sehr schlecht. Im Dunkeln finden wir ihn nicht und ...«

»Still!« sagte der Reisende gelassen und watete, auf seinen Stock gestützt, durch den Schlamm zu der Karawanserei empor.

2.

Muley Hassan, der weißbärtige Marokkaner, der dort oben an der Spitze seiner Karawane ritt, schüttelte unwillig das braune, vom weißen Turban gekrönte Haupt, indem er auf drei am Wege sitzende Damen herniederblickte. Die barbeinig neben seinem Pferde trabenden Frauen ließen neugierig über dem Mund und Nase verhüllenden Schleier die schwarzen Augen funkeln. und über die Affenfratzen der mit langen Stecken die Saumtiere und Esel antreibenden Negersklaven lief ein verstörtes Grinsen.

Ja, es schien, als blickten selbst die Kamele, die, stolz auf zottigem Schlangenhals die blitzdummen Schädel wiegend, in dem Gewühl hinwandelten – als blickten selbst diese Trampeltiere peinlich berührt von ihrer Höhe auf die drei Damen am Wege hernieder!

Drei Europäerinnen mit unverschleiertem Angesicht, dessen Züge jeder Mann nach Belieben betrachten konnte – jawohl, in Tanger drüben am Meer war man solche Schamlosigkeit gewohnt! Da ritten die Damen der Gesandtschaften frank und frei, von den Kawassen begleitet, bei lichtem Tage über den Markt oder ließen sich gar nach Sonnenuntergang von maurischen Trägern in einer Sänfte aus dem Hause schleppen, um – es klang unglaublich, aber, bei Allah! viele Rechtgläubige hatten es gesehen! – um in einer fremden Wohnung mit fremden Männern die Nacht durch zu plaudern, zu speisen und zu tanzen! Aber Tanger war weit! Eine kleine Tagereise von dem einsamen El-Fondak entfernt, unter dessen Mauern die Damen ihr Zelt aufgeschlagen hatten.

Was hatten Europäerinnen hier zu schaffen? Noch dazu ohne männlichen Schutz, nur in Begleitung eines braunen Hotelkuriers aus Tanger und zweier alten, höchst zweifelhaft ausschauenden Regierungssoldaten?

Muley Hassan warf – seitlings, um seiner Würde nichts zu vergeben – im Vorbeireiten einen Blick auf die dicht am Wege sitzende Lady und sah mit Schrecken, daß die ihn unverwandt anstarrte – eine Frau einen fremden Mann! Bei Allah, es gab viel Sünden auf der Welt! Dann senkte sie ihren hübschen Blondkopf über eine Art Mappe, die sie mit der Linken auf den Knien festhielt, schrieb oder kritzelte irgend etwas darin und richtete wieder forschend ihren ruhigen Blick auf die malerische, ganz in Weiß gehüllte Gestalt des greisen Wüstenpatriarchen, die sich mit dem gebauschten Turban und der lang darüber ragenden Flinte wie ein schneeiger Schattenriß von dem bleigrauen, regendrohenden Himmel abhob.

Das verdroß den Alten. Er rückte sich im Sattel zurecht, schob die in gelben Pantoffeln steckenden Füße tief in die schuhähnlichen Steigbügel und setzte mit einem Stich des an die bloße Ferse angeschnallten Sporns sein Roß in Galopp. Die Karawane folgte. Eilfertig wanderten mit schaukelndem Halse die Kamele, wie ein Schwarm grauer Mäuse huschten und trippelten die Märtyrer des Morgenlands, die schwerbepackten Eselein, hinter den lehmfarbenen Ungetümen her, die Maultiere spitzten die Ohren und rannten mit, neben ihnen trabten die verschleierten Araberinnen,, ihre Kinder auf dem Rücken, die buntgestickten Pantöffelchen in der Hand, hochgeschürzt, mit ihren braunen, sehnigen Beinen durch den Kot, und hinten scheuchten die blauschwarzen keuchenden Negersklaven alle Nachzügler der Karawane vor sich her, dem Höhenpaß entgegen, von dem der Pfad nach dem Tal des Habesch und nach Tetuan führte.

*

»Schade!« sagte Klara lachend. »Ich hab' ihn nur zur Hälfte!« Dabei wies sie Hilda, dem nußäugigen Nesthäkchen der Gesellschaft, ihr Skizzenbuch. Auf dem Blatt war das ehrwürdige Haupt des Scheichs und der Kopf seines Vollbluthengstes mit sicheren Strichen umrissen, alles andere aber lag noch als eine weiße unberührte Papierfläche da.

»Schade«, meinte auch die Kleine beklommen und schaute der davonpilgernden Karawane nach. Im Grund ihres Herzens war sie froh, daß sich die Marokkaner so rasch verzogen hatten. Sie fürchtete sich vor den wilden Gestalten im Turban und Burnus, sie fürchtete sich vor dem braunen, weltmännisch lächelnden Hotelkurier, sie fürchtete sich vor ihrem Maultier, das heute beinahe einmal scheu geworden wäre, sie fürchtete sich vor ganz Afrika.

So mit einem Sprung aus Dresden in das Innere Marokkos ... ja, wer so viel gesehen und erlebt hatte wie ihre älteste Schwester dort hinten im Zelt, dem mochte das alltäglich vorkommen. Wenn man wie Martha seit zwanzig Jahren Erzieherin in allen Ecken der Welt gewesen war – bei einer deutschen Familie in Schanghai, bei Engländern in Melbourne, bei Deutsch-Amerikanern in San Franzisko, wenn man durch so viele Lebenslagen gegangen und dabei halb zum Mann geworden war, da fand man es beinahe selbstverständlich, nachts bei drohendem Regen ein kleines Leinwandzelt als einzigen Schutz auf der Welt zu besitzen.

Und Klara, die zweite Schwester – du lieber Gott: sie war nun einmal Malerin! Sie hatte ihren Beruf! Dem mußte sie folgen und Geld für all die drei Geschwister verdienen. Wenn es nicht anders ging, eben auch in Marokko! Aber sie, Hilda, kam sich dabei so unendlich nutzlos und so verlassen zugleich vor, mit all den Kenntnissen des eben glücklich bestandenen Lehrerinnenexamens, die ihren Kopf erfüllten, und all den Hoffnungen auf eine glänzende Zukunft, die ihr doch beschert sein mußte, sowie sie sich nächsten Monat als Gouvernante in Genf auf eigene Füße gestellt hatte.

»Na hör' mal, Kleine!« sagte Klara neben ihr lachend und packte, gleichmütig heiter, wie sie immer war, ihr Malgerät zusammen, »was machst du denn wieder für ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter?«

Und Martha, die älteste des Kleeblatts, die herzutrat und mit ihrer tiefen Stimme und dem strengen Schulmeistergesicht wirklich mehr den Eindruck eines alten Junggesellen als den eines noch nicht vierzigjährigen weiblichen Wesens machte, Martha meinte ebenfalls: »Es ist wirklich ein Elend. Nun macht man ihr die Freude und nimmt sie mit auf die schöne Reise ...«

»Es ist ja auch wunderschön!« sagte die Kleine fügsam und suchte die wieder einmal aufsteigenden Tränen gewaltsam zu verschlucken. »Nur ... wenn jetzt noch Regen kommt ...« Sie wies zu den Bergkämmen empor, wo die immer dichter geballten Wolken sich in strömenden Schleiern herniederzusenken begannen. Ein kalter Wind fuhr vor der heranrauschenden Regenwand zu Tal. Die weißbesternten Hecken und niederen Palmbüschel bogen sich unter seinem Hauch. Die Riedgräser zitterten, und ehe man sich's versah, stürzte das eben aufgerichtete Leinenzelt nach kurzem unschlüssigen Hin- und Herschwanken mit einem matten Krach in sich zusammen. Und zugleich fielen schon die ersten schweren, klatschenden Tropfen. Sie kamen rasch dichter und dichter, sie lösten sich zu einem rastlos niederstäubenden Wasserfall auf; der gefürchtete afrikanische Küstenregen war da.

Während Klara in Eile Pinsel, Tuben und Palette im Wachstuchbeutel unterbrachte, spannte ihre Schwester mit der düsteren Ruhe eines vielgeprüften Weltumseglers ihren Schirm auf. »Frage den Führer, was nun werden soll!« gebot sie der Kleinen mit ihrer tiefen männlichen Stimme.

Hilda, der als eben geprüfter Erzieherin der englische Verkehr mit dem Kurier zufiel, übersetzte stockend wie ein Schulkind die Frage. Sie hatte Angst vor dem schönen, sanft lächelnden Mauren, der sie um zwei Kopfeslängen überragte.

»Er sagt, wir müßten in die Karawanserei«, berichtete sie, »und die Nacht dort zubringen!«

»El-Fondak!« bestätigte der Kurier und nickte.

»Gibt's dort Flöhe?« forschte Marthas Baßstimme.

Der Maure bejahte eifrig. »Viel Flöhe!«

»Und Betten?«

»Nein, Betten sind nicht!«

»Sind noch andere Menschen dort?«

»Viele«, bestätigte der freundliche Mann. »Kameltreiber, Pferdeknechte und anderes Mohrenvolk?«

»Ja, wie soll denn das die Nacht werden?«

»Die Ladys werden auf drei Stühlen sitzen, und ein brennendes Licht steht am Boden, bis es Morgen wird. Oh, El-Fondak ist kein guter Platz für Ladys. El-Fondak ist ein schlechter Platz.«

Hilda klapperten die Zähne. »Da geh ich nicht hinein«, sagte sie flehend. »Es wird eine schreckliche Nacht.«

Der Kurier drängte mit einem Blick nach dem Regenhimmel zur Eile. »Es gibt dicke Tage und schmale Tage. Heute ist ein schmaler Tag. Bald ist's Nacht! Wir müssen in das Haus hinein!«

Aber selbst Martha, die Vielerfahrene, zögerte. »Rauchen die Kerle da drin?« fragte sie streng.

Ja, die Leute rauchten alle. Sie hatten aus Tanger Tabak mitgenommen.

»Sind vielleicht auch Maultiere da, die nachts schreien?«

»Ja, viel Maultiere!«

»Und was gibt es dort zu essen?«

»Zu essen gibt es nichts.«

»Und zu trinken?«

»Wasser! Aus der großen Zisterne!«

»Das sind wirklich traurige Aussichten!« sagte die Schwarzgekleidete düster. Aber jetzt verlor die blonde Malerin die Geduld. »Kinder!« sagte sie und lachte hellauf wie ein sorgloser Junge. »Tut mir den einzigen Gefallen und seid nicht so zimperlich! Was sein muß, muß sein! Wir sind nun einmal hier, und von dem Gejammer wird's um kein Haar besser! Was wollt ihr denn überhaupt? Wir sind doch nicht zum Vergnügen in Marokko!«

»Nein!« bestätigte die Älteste knapp, und die Kleine wiederholte mit einem tiefen Seufzer der Überzeugung: »Nein. Zum Vergnügen sind wir nicht in Marokko.«

Sie brach mit einem halblauten Schreckensruf ab und klammerte sich schutzsuchend an die Schwestern an. Dicht vor den dreien drängte sich, lautlos herbeigeschlichen und wie aus der Erde gewachsen ein Trupp Rifkabylen, wildblickende, klapperdürre Gesellen, als einzige Kleidung einen braunen Fetzen umgehängt, unter dem die langen wadenlosen Beine sich mit Katzentritten über das Geröll schoben, die buntverzierte Radschloßflinte in der Rechten, das sonst kahlgeschorene Haupt hinter den Ohren mit seltsam gedrehten und eingefetteten Ringellöckchen und Haarbüscheln geschmückt.

»Ich denke, sie wollen Kaninchen gegen Tabak umtauschen!« erläuterte der Kurier und wies auf die ausgeweideten kleinen Bälge, die zur Linken der schmutzfarbenen Gesellen baumelten. Sehr wohl schien auch ihm bei der unverhofften Begegnung nicht zumute.

Martha allein beherrschte die Situation. »Vorwärts, in die Karawanserei!« befahl sie unter ihrem aufgespannten Schirm, ohne die Wilden eines weiteren Blicks zu würdigen. »Hilda, nimm das Insektenpulver! Gib acht, daß es nicht naß wird. Wir brauchen's. Klara trägt ihren Malkasten, ich das Huhn und die Orangen, der Führer das Zelt. Los! Ich habe keine Lust, hier in aller Stille umgebracht zu werden!«

Sie stapfte, sich nach Kräften schürzend, durch den unergründlichen Schmutz dem Hofraum zu. Die anderen in trübseligem Gänsemarsch hinterher durch Regen und Wind den Flöhen von El-Fondak entgegen.

Um das Innere des Karawanenhofes lief eine Art offene Holzgalerie, die Schutz vor dem Regen und frische Luft bot. Hier ließ sich der Einzug in das gefürchtete, den Oberstock eines turmartigen Vorbaus bildende Nachtquartier noch am längsten hinausschieben. Es dämmerte bereits. Müde, frierend und schläfrig saßen die drei Schwestern, dicht aneinandergekauert wie die Vögel im Nest, auf ihren Holzschemeln, Hühnerknochen und Apfelsinenschalen auf dem Zeitungspapier im Schoß, und schauten in den Hof hinaus.

Viel war da nicht zu sehen. Kein Mensch und Tier auf der weiten Fläche von Urschlamm, in dem der unablässig niederströmende Regen allmählich die hundertfachen Spuren von Menschensohlen, Roßhufen, Kamelballen und Hundepfoten verwischte und mit trübe spiegelnden, von den Ringen der fallenden Regentropfen durchzitterten Schmutzlachen überzog. Es wurde unangenehm kalt. Fern über dem grünen Buschwerk der Berghänge brauten Streifen von dampfendem Nachtnebel.

» ... Wer jetzt in Dresden wäre ...«, sagte plötzlich Hilda sehnsüchtig und verschlafen.

Die anderen erwiderten nichts. Freilich ... Dresden mit ihrem warmen, traulich eingerichteten Nest, mit Klaras Atelier darüber, mit allem Freundlichen und Gewohnten, während hier ... Hier heulte der Wind zwischen kahlem Gestein und rauschte der Regen vom Himmel. Kein Mensch ringsum – denn die schattenhaften, halblaut gurgelnden Gestalten, die ab und zu an der Schwelle des dämmernden Innenraums erschienen, waren doch ganz andere, unheimliche Wesen als die Leute daheim. Sah doch selbst der hochbeinige gelbzottige Hund, der scheu auf sie zuschlich, mehr wie ein Raubtier als wie ein Hausfreund aus ... Es war zu trostlos! In Tanger hatte man doch noch ein Hotel gehabt, Europäer, mit denen man sprechen konnte, ein Schiff, das in wenigen Stunden nach Europa fuhr ...

» ... wenn wir morgen wieder nach Tanger zurückritten?« Die Kleine sagte das halblaut wie vor sich hin, hielt die Augen halb geschlossen und wartete mit klopfendem Herzen die Wirkung ihrer Worte ab.

Zu ihrem Erstaunen erwiderte Martha gar nichts. Aber zu gleicher Zeit fühlte sie von der anderen Seite her einen derben Klaps auf der Wange und sah das hübsche Gesicht der blonden Schwester ihr halb belustigt, halb ärgerlich zugewendet.

»Au!« sagte sie weinerlich. »Du bist recht häßlich, Klara!«

»Ach was – au!« Die junge Malerin stand auf und nahm lachend ihre beiden Hände. » ... Sag' mal, Hilda, ... weißt du nicht, daß wir Waisen sind und kein Geld haben?«

»Ja, Klara.«

» ... und daß ich also für uns alle drei Geld verdienen muß?«

»Ja, Klara!«

»Warum machst du mir dann das unnütz schwer mit deinem Gequengel? Ich wäre auch lieber in Dresden. Aber ich red' nicht davon, denn es hilft ja nichts.«

»Ja, Klara!« Die Kleine küßte sie und trocknete sich die Tränen. »Ich bin eben so ein Schaf. Ich wollt', ich wäre wie du!«

»Lieber Gott!« Die Malerin lachte. »Ich bin kein Wundertier! Ich sag' mir einfach: das und das muß geschehen! Also will ich es tun, und tu's! Das ›Ich will‹ ist das Geheimnis. Damit kommt man überall durch.«

»Das ist das erste vernünftige Wort, das ich seit längerer Zeit höre!« sagte hinter ihr eine Männerstimme. »Der erste Gruß der Kultur! Und noch dazu gleich in deutscher Muttersprache! Guten Abend, meine Damen!«

Klara drehte sich um. Es dämmerte schon so stark, daß sie nur noch die Umrisse des Fremden erkennen konnte, einer mittelgroßen Gestalt in fremdartigem, halb arabischem Reitanzug.

»Guten Abend!« versetzte sie etwas beklommen. »Woher kommen Sie denn auf einmal? Ich hab' Sie gar nicht in den Hof reiten hören.«

»Meine Leute sind auch draußen geblieben. Ich lasse bloß umsatteln. Ich hatte ein kleines Malheur mit meinem eigenen Pferd. Nun nehme ich das eines Berbers, der mit mir ist.«

»Und dann wollen Sie heute noch weiter?«

»Sowie mein englischer Sattel auf dem Gaul liegt. Nach Tetuan.«

»Da kommen Sie aber spät in der Nacht an!«

»Ich habe einen Regierungsaraber mit! Man muß mir öffnen!«

»Ach so ... ja!« sagte die Malerin. Sie fand sich allmählich in die seltsame Lage, im Dämmern mit einem ganz unbekannten Mann zu sprechen. »Sie finden übrigens dort Gesellschaft.«

»Das ist's ja eben!« Der Fremde trat einen Schritt näher. »Deswegen erlaubte ich mir ja, Sie anzusprechen! Ich brach nämlich vor acht Tagen von Fez nach Tanger auf ...«

»Aber dies hier ist doch nicht der Weg von Fez nach Tanger ...«

»Nein. Ich wollte in Tanger die Jacht ›Liberty‹ treffen. Haben Sie sie vielleicht gesehen?«

»Das schöne, schneeweiße Dampfschiff, das dem russischen Petroleumkönig gehört? Ja, gewiß, das liegt dort.«

»Nun hörte ich heute morgen von ein paar Arabern, die Herrschaften von der ›Liberty‹ seien nach Tetuan geritten! Da schlug ich den Haken und jagte von dem Fezweg herüber nach El-Fondak.«

»Ja ... das heißt, der Besitzer der ›Liberty‹, der kleine, glattrasierte Herr, ist nicht mit! Der ist in Tanger geblieben. Aber seine Tochter mit zwei Freunden ist allerdings nach Tetuan unterwegs.«

»Haben Sie sie selbst gesehen?«

»Ja. Aus der Ferne. Sie haben uns schon mittags überholt mit ihren guten Pferden.«

»Ich danke bestens für die Auskunft. Darf ich Ihnen mit irgend etwas dienen?«

»Danke, nein. Wir müssen uns schon die Nacht hier so behelfen. Morgen kommen wir auch nach Tetuan zu Studienzwecken.«

»Ach so ... das heißt ... die Damen sind Malerinnen?«

»Ich habe es für einen Leipziger Verleger übernommen, die aus dem Englischen übersetzte Reisebeschreibung einer Dame zu illustrieren. Unglücklicherweise mußte die Dame gerade durch Marokko reiten. Also muß ich dasselbe tun. Meine älteste Schwester begleitet mich als Reisemarschall, und unser Jüngstes haben wir diesmal auch mitgenommen, damit sie etwas von der Welt sieht.« Sie wies auf das Nesthäkchen, das, völlig erschöpft, mit offenem Munde schlafend dasaß, den Kopf vornübergesunken und mit der Rechten krampfhaft die Schachtel mit persischem Insektenpulver umklammernd.

Die beiden sahen sie an und lachten. »Also auf Wiedersehen in Tetuan!« Der Fremde lüftete den Hut. » ... wenn Sie gegen Mittag da sind, werden wir ja ...« Er stockte plötzlich und fuhr mit der Hand nach der Herzgegend. Es war, als ob er nach Atem ringe.

Klara trat erschrocken auf ihn zu. »Was haben Sie?«

»O nichts!« sagte er schon wieder mit seiner gewöhnlichen Stimme. »Es vergeht sofort. Eine kleine Quetschung von einem Sturz vorhin. Also nochmals, gute Nacht!«

Seine Gestalt verschwand in der Dämmerung, die schon schwer über dem Hofraum lag. Gleich darauf hörte man draußen in arabischen Worten seine befehlende Stimme und das Klappern der Hufe auf dem Steingeröll.

Die blonde Malerin stützte den Kopf auf die Hand.

»Ich möchte wissen, wer das war!« sagte sie nachdenklich. »Nichts Gewöhnliches gewiß. Er spricht arabisch und kommt aus dem Innern. Vielleicht ist es ein berühmter Forscher ...«

» ...und wenn du ihn dir morgen bei Licht besiehst, ist es ein Reisender in Matjesheringen und baumwollenen Phantasiestoffen«, murmelte mit ihrer tiefen Stimme die skeptisch angelegte Älteste, die lang und düster wie ein schwarzer Schatten neben ihr stand.

Klara lächelte nur und erwiderte nichts. Hoch oben verlor sich das Klappern der Hufe, und rastlos rauschte der Regen über Marokko.

3.

Der Regen rauscht, die Wolken fliegen – weiter, immer weiter durch das dämmernde Land. Stunde um Stunde verstreicht im Zwielicht zwischen Tag und Nacht, unter den Hufen fliegt der Boden, Gebüsch und Bäume gleiten rechts und links vorbei – so fließt die Welt dahin, so rollt das Leben in das Meer der über den Berggipfeln aufflutenden Nacht ...

Wozu lebst du? Was treibt dich ruhelos vorwärts – zu immer neuem Begehren, neuer Erfüllung, neuen Wünschen, wo nur das eine sicher ist, das Ende, das all unser vielfach verschlungenes Hasten und Mühen auslöscht, wie das Kind ein Rechenexempel mit feuchtem Schwämme von der Schiefertafel wischt? Von Tag zu Tag zerrinnt das Dasein unter deinen Händen, unaufhaltsam, unwiederbringlich. Nutze es, ehe es zu spät ist.

»Ärra ... ärra ... rrrschât!« Die Berberknechte treiben die Tiere an. In langen Galoppsprüngen geht es weiter und weiter in das dunkle Land hinaus. Was dahinter liegt, versinkt im Schatten, was vorne ist, ruht in geheimnisvollem Grauen, im Dämmern liegt rechts und links die weite Welt.

Die weite, in abenteuerlichen Querfahrten so oft durchmessene Welt! Bunte Bilder weben im Kopf des einsamen Reiters, der da, fiebergeschüttelt, im schaukelnden Sattel nach vorn gebogen, wie im Traum den Nachtwind um die Ohren brausen fühlt.

Das Brausen wird stärker und stärker. Es sprüht mit kaltem Salzhauch ins Gesicht, klagende Möwenschreie dazwischen – jawohl, da ist das Meer! Blutrot steht die Mitternachtssonne über den tiefblauen, von weißem Schaum gekrönten Fluten des Eismeers, wie geschmolzenes Gold ruht ihr langer zitternder Widerschein auf der unendlichen Fläche, von den unerforschten Höhen des Nordpols hin bis zur Küste Lapplands, wo in mattviolettem Glanz die Schneefelder grüßen und der Vollmond aschgrau und trübselig, als schäme er sich seiner Verwandlung, zwischen rosig lachenden Lämmerwölkchen dahinsegelt. In der Ferne blasen die Walfische ihren Wasserstaub in die Luft, die Heringsschwärme ziehen, am Ufer wirbeln, Tausende von weißen Flocken, die Möwen, und der faulige Geruch des Seetangs weht herüber ...

Nein – das ist ein anderer Dunst. Der süßliche Pestbrodem der afrikanischen Sümpfe. Das Fieber dampft aus den reglosen Lachen, aus denen weit in der Runde die schlanken Palmenbäume aufschießen. Hoch oben in der Luft wölben sich ihre buschigen Federkronen, auf leicht geneigten Stämmen einander grüßend und fliehend, und hinter den beinahe schwarzen, langgefiederten Wedeln steht dräuend ein großes blutrotes Ding am Himmel. Die Sonne geht unter, die Sümpfe dünsten, nichts regt sich in dem weiten Säulenwald der Palmen. Nur dort, in der Ferne, zwischen den braunbehaarten Wurzeln, scharrt und schmatzt ein einsamer, pechfarbener Eber. Sein Grunzen tönt zuweilen herüber, über den Pfützen steht der weiße Abendhauch, das Fieber kommt und wird stärker und stärker ...

Wer da reine Luft schöpfen könnte – hoch oben auf den ewigen Höhen. Nur wenige Schneehügel noch – dann sind wir oben. Auf der Spitze des Montblanc. Rings ist die Welt geschwunden. Fürchterlich stahlblau der Himmel über uns, eishart knirschend der Firn unter dem Nagelschuh. Die Brust wölbt sich. Sie lechzt nach Atem. Nur langsam – weiter, immer weiter empor. Wie der Adler über den Wolken kreist, gleichgültigen Auges eine Welt unter seinen Fittichen messend, dem Himmel näher als der Erde, die tief unten mit ihren kleinen Ländern, ihren Städtchen und ihrem Menschengewimmel als ein Ameisenhaufen verschwimmt ...

»Tetuan, Herr!« Der maurische Diener war mit zwei Galoppsprüngen an der Seite des Reisenden und wies in die Ferne. Ein schneeig weißer Streifen zog sich dort langgestreckt über einen Bergkamm hin, wie eine Märchenstadt durch das Abendgrauen grüßend.

Aus seinem Träumen erwachend, fuhr der Fremde im Sattel empor und blickte um sich. Längst hatten sie den Höhenpaß und den von ihm niederführenden Bergpfad hinter sich gelassen. Um sie dehnte sich in unbestimmten Umrissen eine weite, von wildzerrissenen Gebirgen umrahmte Ebene, von nichts anderem belebt als den rasch weiterwandelnden fernen Schatten der Kamelkarawane. Da und dort, an den Flanken der Berge, ein einsam flackerndes Nachtfeuer, aus den Gestrüpphalden, hoch von oben her das Geschrei sich balgender Hirtenjungen, fernes Kuhgebrüll und Eselgejammer, Windesraunen und pfeilschneller Wolkenflug um die Zacken des Atlasgebirges am Himmel.

Schon auf der Wetterscheide des Höhenpasses hatte der Regen aufgehört. Der Mond lugte ab und zu aus den im Sturm treibenden Wolkenfetzen und erhellte das weite Flachland, das Schlängelband des Habesch, der träge durch die Steppe seine Silberfluten dem Mittelmeer zurollte, und die weißgetünchte hohe Brücke darüber, eine ganze Brücke in dem verrotteten Land, in dem sonst neben zertrampelten, schlammerfüllten Kamelfurten nur Trümmer eingestürzter Viadukte an die Römerherrlichkeit erinnern.

»Ärra! Ärra!« Die Pferde schnauben, im Silberlicht der aufsteigenden Mondsichel blitzen die Gewehrläufe der vorausjagenden Berber, die Hufe klappern funkensprühend über den Boden. – Weiter, immer weiter, im Galopp über Stock und Stein, durch plätschernde Rinnsale, über aufgeweichtes Ackerland, quer durch grünwogende junge Saat dem weißdämmernden Höhenstreifen in der Ferne zu, der allmählich in den Fluten der Nacht versinkt, einer kalten afrikanischen Höhennacht mit dunklen Wolkenballen um die Zacken des Affengebirges und feinem Rauchfrost auf dem funkelnden Spiegel des Habesch.

Da tauchten die Schatten der Kamelkarawane aus dem Dunkel auf, der weißgekleidete Marokkaner an der Spitze, das Gewimmel eilfertig trabender Esel, der verschleierten Weiber und wollhaarigen Negersklaven rings um die schwerfällig wandelnden, dummstolz die abscheulichen Köpfe wiegenden Trampeltiere. Etwas abseits sprang der Nachwuchs der Karawane, ein Kamelkalb und zwei Pferdefüllen, die nur der Abhärtung wegen die Reise mitmachten, lustig durch Gras und Gestrüpp. Wie sie da im Mondschein mit unglaublich langen, schlenkernden Beinen und nickenden Dickschädeln ihre Kapriolen ausführten, glichen sie mehr einem großen und zwei kleineren Bergkobolden als den geplagten und geduldigen Wesen nebenan auf der Saumstraße.

Vorbei! Vorbei! Ohne Gruß – fast ohne Blick, in gegenseitiger Verachtung! Der Europäer sieht hochmütig auf den halbwilden Nomaden herab, und dem wieder ist der Christ ein halb gefährliches und angstgebietendes, halb unreines und lächerliches Geschöpf. Die Kamelkarawane blieb in der Nacht zurück. Wieder war rings die Einsamkeit der Steppe. Aber da und dort lohten aus ihr die Wachtfeuer der Hirten, blitzten, fast aus den Wolken heraus, die Lichtpunkte hochgelegener Bergdörfer und huschten Schattengestalten lautlos durch die Nacht dahin. Die Nähe der großen Maurenstadt machte sich bemerklich.

In einer halben Stunde war man am Ziel! Bei dem Gedanken daran pochte das Herz des nächtlichen Reiters, und eine Art Krampf zog plötzlich einschnürend seine Brust zusammen. Zu dumm ... dies Abenteuer mit dem Stier! Nun, bis morgen war das gut! Sein Blick wurde finster, und als trage ihn das erschöpfte Pferd noch nicht rasch genug dem Schicksal entgegen, stieß er ihm ungeduldig die Sporen in die Flanken.

Das Schicksal! Das spielt nicht mit uns, wie die gemeine Weisheit lautet, ach nein: wir selbst sind ja unser Schicksal. Wie wir sind, so bleiben wir ein langes Leben lang, was wir tun, das müssen wir tun! Was wir leiden, das müssen wir leiden!

Was hilft das Klagen, wo der Lebenslauf so fest, so unabänderlich mit seinem Maß von Glück und Unglück einem jeden vorgeschrieben ist? Und ist der Lebenslauf kraus und wild, führt er durch alle Länder und Meere, durch alle Höhen und Tiefen in rastlos suchender Abenteurerlust, was hilft das Klagen? Es ist eben etwas mehr Leiden darin, Not, Mühsal und Entbehrung, und etwas mehr jener Freuden, die trotziges Siegerbewußtsein verleiht – schließlich gleicht sich doch alles wieder aus und wird zur großen Null auf dem Grabstein. Und wenn auf ihm die Worte des Dichters stehen:

»Dies Herze sehnt' sich oft ach nirgendshin und überall doch hin!«

so ist ihm nun die Ruhe ... Durchsetzen muß man sein »Ich« in der Welt, wie es nun einmal geschaffen ist, oder daran zugrunde gehen. Das ist Glück und Unglück und alles.

*

In vollem Glanz schien jetzt der Mond, nur ab und zu von vorüberflutenden Wolkentrümmern verfinstert. Dann herrschte plötzlich tiefes Dunkel, und ebenso rasch stieg, wenn die Sichel wieder aus dem Dunst hervorschwamm, von ihrem bläulichen Licht umschleiert und erhellt, das blendendweiße Häusermeer von Tetuan am Abhang des Berges empor. Ein Gewimmel platter Dächer, von schlanken Minaretten überragt, die zerfallene Burg hoch darüber und alles von einem finsteren, altersgrauen Mauerring umschlossen – so träumte die orientalische Stadt im Mondschein. In weitem Halbkreis standen die zerrissenen Berge, ganz in der Ferne mit Schnee- und Firnglanz übergossen, und auf der anderen Seite, wo die Ebene sich öffnete, strahlte, ein silberner Streifen, das Mittelmeer herüber.

Sie mußten langsam reiten. Der Boden war mit spitzem Steingeröll bedeckt, und überall sprudelte es zwischen den Felsblöcken, den Aloestauden und stacheligen Agavenhecken von unsichtbaren Wassern. Kaum merklich kamen die Reiter der reglos schlummernden, totenstillen weißen Stadt näher und bogen endlich in den Mondscheinschatten ihrer Außenmauer ein.

Die wilden Hunde kläfften auf, während der Trupp an dem alten bröckligen Gestein entlang trabte. Die Stadt dahinter war wie ausgestorben. Kein Laut, kein Lebenszeichen klang heraus.