Jungfrauen-Abgrund - historischer Roman - Rudi Stratz - E-Book

Jungfrauen-Abgrund - historischer Roman E-Book

Rudi Stratz

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Beschreibung

Sie nickte. Langsam schlichen sie weiter über den trügerischen Schnee, mit dem Entsetzen von Menschen, die wissen, daß sie über einem Abgrund wandeln, daß plötzlich, trotz aller Vorsicht, der Boden unter ihren Füßen weichen und sie in ein Nichts versinken lassen kann.- Lotte und Ellinor sind zwei Schwestern, denen es kaum gefählrich genug zugehen kann. Zu Kaiser Wilhelms Zeiten scheren sie sich nicht um Spitzenhäubchen, sondern kosten im Hochgebirge den Adrenalinstoß der Gefahr aus. Auch die Männer in ihrer Umgebung müssen sich in Acht nehmen ...

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Jungfrauen-Abgrund – historischer Roman

idb

ISBN 9783961502110

Erstes Buch

I.

»Das machen die kleinen Mädchen aus mir! Ja, lachen Sie mir nur ins Gesicht, Lotte, törichteste aller fünf törichten Jungfrauen. – O, was seid ihr für Geschöpfe? Woher seid ihr so unergründlich schlau in eurer übermenschlichen Dummheit? Warum durchschaut ihr mich und lacht mich aus, wo alle anderen Leute ehrfürchtig den Hut vor mir abziehen, vor dem Meister Josephus? Aber ihr ... ihr seht einfach in mir einen blonden Mann, ihr kleinen Mädchen! Ihr lebt nur für den Mann, durch den Mann, wegen dem Mann! Jeder Atemzug bei euch heißt Mann! Das ist euer einziges Ziel, eure Stärke, euer Daseinszweck. Aber habt ihr wenigstens Ehrfurcht vor dem Mann?«

»Nein!« sagte Lotte.

»Weil ihr ihn nicht kennt, ihr bunten Katzen! Was wißt ihr denn von uns? Ihr kennt nur ein Ding auf Erden. Wir zersplittern uns tausendfach. Für uns gibt es tausend Dinge, hohe Dinge, heilige Dinge, die liegen außerhalb des Weibes! Die ahnt ihr nicht. Denn in diesen Dingen sind wir keusch! Ihr aber natürlich glaubt, daß Männer keine Keuschheit haben!«

Sie sah ihn gespannt an. »Was ist denn an Ihnen keusch, Meister Josephus?«

»Meine Kunst ist keusch! Meine Bildhauerei! Da lüftet kein kleines Mädchen keinen Zipfel davon. Das versteht eine törichte Jungfrau, wie Sie, Lotte, natürlich nicht. Ihre Schwester Ellinor – die weiß es! Aber Ihr ... o ... ich kenn' Euch! Ihr wollt heiraten!« Seine Stimme wurde trübselig. »Heiraten! Sie wollen heiraten! Die kleinen Scheusale! Alle! Sie tun es nicht anders!«

Lotte schüttelte bestätigend den Kopf und biß in ein Stück Schokolade, daß die weißen Zähne blitzten. »Wenn ich Ihnen nur einmal die Wahrheit sagen dürfte, Meister Josephus!« murmelte sie gedankenvoll kauend. »Nur einmal ... so recht aus Herzensgrund!«

»Nun – also!«

»Nein – dazu braucht es eine besondere Gelegenheit. Hier habe ich Angst. Nicht weil wir allein auf dem Gletscher sind. Aber Sie sind doch nun einmal der Meister, der weltberühmte Bildhauer Joseph Ranggetiner, und ich eine arme törichte Jungfrau! Da lache ich lieber ganz simpel vor mich hin und denke mir mein Teil.«

Er faltete die Hände. »Ja, denken Sie sich nur allerhand Unfug! Dazu hat man es nun vom Tiroler Geißbuben zum Professor gebracht, zur goldenen Medaille, zu Gott weiß was – bloß damit hier so ein neunzehnjähriges hinterlistiges Geschöpf im Schnee steht, Schokolade verzehrt und einen dazu verhöhnt. Still, kleines Lottchen, da oben am Lawinentor ist Ihre Schwester in Lebensgefahr ...«

»Ach – das ist gewiß ihre hundertste Hochtour!«

»... und Sie treiben unterdessen hier unten am Fuß der Jungfrau Allotria mit alten Männern, die es väterlich mit Ihnen meinen! Sie erkälten sich hier im Schnee. Kommen Sie zu der Hütte zurück!«

»Damit Sie wieder dasitzen und mir vordeklamieren: ›Lottchen – ich bin nicht nur seit dreizehn Jahren der wahre Seelen- und Busenfreund Ihrer Schwester Ellinor, sondern ich liebe auch Sie wie ein Vater, Meister und Hofrat!‹ Nein – das ist mir zu langweilig. Ich will hier am Gletscherrand bleiben!«

»Und da?«

»Da in die Gletscherspalte hineinschauen.« Sie wippte unternehmend mit den Fußspitzen. »Das ist so wunderbar gruselig! Kirchturmtief geht's hinunter! Und ganz unten rauscht ein Wasser. Man sieht es nicht, man hört es nur! Niemand hat es je gesehen. Da hinunterzustürzen – das ist ein unheimlicher Gedanke. So denk' ich mir's, wenn man in die Augen einer Schlange schaut!«

»Dann schaut eine Schlange in die andere! Und schließlich purzeln Sie wirklich hinunter!«

Sie blickte träumerisch über die Schulter nach ihm zurück. »Wär' es denn schade um mich?«

»Um schöne Mädchen ist es immer schade! Und daß Sie äußerlich betrachtet – ich sage rein äußerlich – ein ganz gelungenes Schöpfungsexemplar sind – ein süßer kleiner Kerl – halb Venus, halb Madonna ...«

»Ja. Ich weiß. Und innerlich?«

Da schüttelte Meister Josephus hoffnungslos den Kopf. »Das Innere geb' ich preis! Das ist höllenschwarz. Da tanzen sieben Teufelchen ihren Reigen.«

Sie lachte ihm herzhaft ins Gesicht. »O Meister! Meister Tugendreich! Wie er so ehrlich blond und vollbärtig und deutsch-bärenhaft in seiner bunten Zillertaler Tracht dasteht, treuherzig wie ein Kind und bieder wie ein Tiroler – unser Meister Josephus – bloß in die Augen darf man ihm nicht schauen!«

»Warum denn nicht?«

»Weil das rechte blaue Katzenaugen sind, große, böse Katzenaugen. Wie von einem Tiger. Ich bin überzeugt, im Dunkeln leuchten sie wie zwei grüne Kohlen. O pfui, Herr Hofrat!«

»Jetzt nennt sie mich schon wieder Hofrat!« sagte er melancholisch.

»Ja – wie ein Tiger! Wie ein Menschenfresser. Wie ein Weiberfresser! Das sind Sie ja doch, Meister Josephus!«

Sie nickte, das reizende Köpfchen zu einer spöttischen Maske verziehend, dem blonden Zillertaler Siegfried zu, der hoch, breitschulterig und vollbärtig, die Spielhahnfeder des Lodenhütchens schief auf dem Löwenhaupt, einige Schritte vor ihr stand.

Rings um sie schwieg die Einsamkeit. Stumm ragten die Gletschergebilde des Rothtals in der stillen grauen Mittagsluft, die wie hinter trüben Schleiern alles verschwimmen ließ, die Reigen zerrissener Nebelfetzen schwebten Hand in Hand bewegungslos über dem düster klaffenden Spaltengewirr, und im Halbrund um den dampfenden Kessel standen starr die fürchterlich jähen, mit ihren spiegelnd glatten Steilflächen sich in milchigem Wolkenflor nach oben verlierenden Abstürze des Jungfraumassivs. Nur ab und zu polterte es von ihnen auch in den Pausen des Lawinendonners, wenn einer ihrer Steinblöcke, aus dem Schlaf erwacht, als ein unheimlicher Gast zu Tale stieg. Dann kollerte es dumpf über den Felsen dahin, und wie ein Gefolge von weißen Mäusen flog und überhüpfte ein Geschwirr von Eissplittern die Schneewolke, die den niederrollenden Klotz umstäubte.

Meister Siegfried seufzte. »Wenn Sie mir das nicht glauben wollen, törichte Lotte ... es gibt doch auch eine Art von höherer Liebe! Ein alter Mann zu Ende der Dreißig kann doch wahrhaftig in einer ... einer großväterlichen Art sagen: ›Mein Kind ... ich hab' dich lieb! Gib mir einen Kuß auf die Stirne!‹« ...

Sie sah blinzelnd unter den halbgesenkten Wimpern zu ihm empor. Es zuckte wie von bösen Schlängelchen um ihre Mundwinkel. »O Meister Josephus! Wenn Sie nur einmal im Leben zu einem Weibe sprechen wollten: ›Ich liebe dich nicht!‹ Das wäre neu! Das wäre groß! Aber Sie können es nicht! Sie lieben sie ja alle! Alle! ... Armer Meister ...«

Der Zillertaler zuckte nur trübe zur Bestätigung die Schultern. Sie waren jetzt dicht nebeneinander getreten in der stummen Schneewildnis. Ein unbestimmtes graues Dämmern umfloß sie trotz des Augustvormittags. Die ganze Hochwelt rings um die Jungfrau her stak tief in Dunst und Nebel. Die Bergkönigin selbst hatte ihr Haupt verschleiert, um ihren Riesenleib wallten die Wolkenwände, alles in der Runde schien schattenhaft, durchsichtig, unfaßbar, wie ein fahler, ferner Widerschein der wirklichen Dinge.

Sie schirmte die Augen mit der Hand und spähte zu dem verschwimmenden Gewirr von langsam ziehendem Schwadendampf und stillen weißen Firndächern hinauf. »Also da wollen die beiden herunter?« fragte sie etwas beklommen.

»Sie sind jedenfalls schon unterwegs. Mitten am Lawinentor! Aber man kann nicht durch den Nebel sehen!«

»Und wenn man etwas sieht, ist es, als hätte da die Welt ein Ende! Als stünde da eine himmelhohe, senkrechte weiße Mauer, die vom Gletscher bis über die Wolken reicht!«

»Eine Kleinigkeit ist das Lawinentor auch nicht. Von zehn Menschen kämen dabei gewiß neun zu Schaden. Aber Ihre Schwester ist eben in den Bergen immer die zehnte – das wissen Sie ja! Der zehnte muß man im Leben sein! Die anderen neun sind Esel!«

»So? Und wir?« Sie wurde feindselig. »Wer sind dann wir? Stehen wir nicht ganz zahm hier unten bei der Schutzhütte im Schnee und warten, bis Ellinor herunterkommt?«

»Wir sind keine Esel, weil wir's nicht versuchen, welche zu sein! Sie, liebes Lottchen, wurden von Ihrer Schwester nie mitgenommen, weil Sie zu klein und zu dumm waren, und ich ...«

»Warum tragen Sie denn dann Tiroler Tracht, Meister Josephus?« Sie musterte in harmloser Neugier die blondbärtige Siegfriedgestalt ihres Begleiters. »Das schöne Zillertalerkostüm ... grün gestickt ... und die Wadenstutzen ... und die Spielhahnfeder ... wie auf dem Maskenball ...«

»Unsinn!« Der Meister brannte sich eine Havanna an. »Bin ich nicht ein Tiroler Bauernsohn? Im Zillertal zu Haus? Hab' ich je ein Hehl daraus gemacht, daß ich ein Geißbub gewesen bin?«

»Im Gegenteil, Herr Professor! Sie erzählen es jeden Tag!«

»Professor? Wenn Sie mich schon beschimpfen wollen, Lottchen, dann nennen Sie mich wenigstens Hofrat! Ich soll es ja durchaus werden, beim Fürsten von Siebenwalden! Aber ich tu's nicht! Fällt mir nicht ein! Ja – wie gesagt, ein Geißbub! Aber Gletscher hat es um unsern Hof keine gegeben. Da kenn' ich mich nicht aus. So wenig wie Sie, wenn man Sie nicht in einen Rucksack steckt und auf die Spitze trägt ...«

Durch seine Worte klang fern im Nebel ein rasch sich verstärkendes Rollen wie von einem dahinrasenden Schnellzug und vergrollte langsam wieder.

»Da fallen Lawinen!« murmelte er und runzelte sorgenvoll die Stirne. »Jetzt kommen sie dicht hintereinander!«

»Auch droben, wo Ellinor jetzt eben ist?«

»O Lotte – nennt man eine Bergwand das Lawinentor, weil Veilchen und Vergißmeinnicht drauf wachsen? Ihre Schwester und ihr Begleiter sind jetzt mitten drinnen in der Schlacht. Aber die kennen ihr Handwerk. Und nun zurück mit uns – mir wird es unheimlich im Nebel und Eis! Ich glaube, es ist gefährlich, sich ohne Seil auf einem Gletscher herumzutreiben.«

»Natürlich ist's gefährlich. Das steht sogar im Bädeker. Aber wir sind ja gar nicht auf dem Gletscher. Nur am Rand. An der ersten Spalte. Hinter uns bis zur Hütte ist harmloser Schnee.«

»Es ist nichts harmlos, wenn man vor Nebel die Hand kaum vor den Augen sieht! Los! Was haben Sie denn nur?«

»Ich habe mich nun einmal in die Gletscherspalte verliebt!« Sie beugte sich mit glänzenden Augen über den Schlund. »Das läuft einem so angenehm wie Ameisenkribbeln den Rücken entlang. Wenn man da unten läge ... Brr!«

»Dann ist man tot!«

»Besser tot wie alt!« Ihre Stimme wurde plötzlich ganz angstvoll. »Alt! Denken Sie nur, Meister Josephus: wir beide alt! Jetzt bin ich ja erst neunzehn! Aber ich werd's doch einmal. Und Sie auch! Ein grämlicher, unmoralischer Kunstgreis mit ehrwürdigem weißem Patriarchenbart und bösen Fackelaugen. O weh – o weh! Ellinor hat jetzt schon ein paar graue Haare und ist erst dreiunddreißig! Kommen Sie!«

»Sie werden hier nicht weitergehen, törichte Jungfrau! Der Nebel ist gefährlich. Er spinnt sich überall herum. Er kriecht aus allen Ecken und Enden heraus. Man kann sich auf hundert Schritte von der Hütte verirren.«

Sie lachte sorglos. »Ach was! Los, Meister! Wir laufen Hand in Hand ins Nebelland hinein, wie Hänsel und Gretel. Wir sind ja auch zwei gottlose Kinder der Welt, wir beide! Und unsere gestrenge Ellinor sieht es ja nicht. Die hat jetzt mit sich selbst zu tun! Adieu!«

»Nein, Lotte – nein!«

»So fangen Sie mich doch!« Mit großen Sprüngen rannte sie, ihren Bergstock schwingend, die weithin sich dehnende Gletscherspalte entlang und verschwand im Nebel.

Ringsum braute und dampfte es. Es war, als sei schon das Abenddämmern nahe. Es dünstete grau und kalt von den Spiegelflächen des Eises her, es schwebte im Schattenflug von den Bergen nieder, es ballte sich überall in der gespenstigen Stille zu seltsam prickelnden, steigenden und fallenden Schleiern zusammen; wo man ging und stand, starrte eine fahle Wand, die wesenlos und doch undurchdringlich den Wanderer von der Außenwelt schied.

Meister Josephus folgte stirnrunzelnd den kleinen Stiefelabdrücken im Schnee, die schnurgerade weiter in den Gletscherkessel führten. »Lotte – Lotte!« rief er zuweilen dräuend. Aber sie gab keine Antwort. Endlich traf er sie. Sie stand hart an dem Rande des nach beiden Seiten sich im Nebel verlierenden Risses und starrte mit glänzenden Augen in das Gähnen der Eisnacht hinunter. Jetzt merkte er auch, warum sie seinen Ruf nicht erwidert. Ein mächtiger Schwall geschmolzener Schneefluten ergoß sich, von weither über den Gletscher rieselnd, hart neben ihnen als ewig rauschender Wasserfall in den Abgrund und verschlang jeden anderen Laut in dem rastlosen eintönigen Brausen seines Sturzes in die Kerkernacht.

Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie zuckte leicht vor Schrecken zusammen. »Wie tief mag's da hinuntergehen?« flüsterte sie. »So tief wie ein Kirchturm?«

»Ich hab's nicht gemessen!« erwiderte Meister Josephus unwirsch.

»Da nebenan ist's nicht so tief!« fuhr sie träumerisch fort. »Da ist Schnee von oben hereingefallen! Der steckt fest. Ob der stark genug wäre, einen Menschen zu tragen?«

»Versuchen Sie es doch!«

Sie schauerte leicht bei dem Gedanken, auf dieser schmalen Schneebrücke tief unten im Kerkerschlunde zwischen den beinahe haushohen, engen Eiswänden zu weilen und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Gräßlich!« sagte sie halblaut.

»Und weil es gräßlich ist, müssen Sie sich natürlich daran berauschen wie ein Mann an einer Flasche Sekt!«

»Ja – so bin ich.«

»Seien Sie jetzt lieber ernsthaft, Lotte, und bedenken Sie, was Sie getan haben! Mich armen alten Mann, dem es zu wohl war, haben Sie aufs Glatteis geführt. Ist das da die Hütte?«

»Nein, das ist eine Gletscherspalte.«                        

»Also sind Sie in Ihrer Unvernunft statt nach der Hütte direkt auf den Gletscher hinausgerannt. Genau in der entgegengesetzten Richtung. Kehrt – marsch! Wir gehen jetzt längs der Spalte zurück.«

Sie machten sich stumm auf den Weg. Der Gletscherriß wollte nicht enden. Einförmig lief sein Schlund neben ihnen her, wie der Graben neben der Heerstraße, und kreuzte sich dann plötzlich mit einer noch mächtigeren, seitlings kommenden Spalte! Wie ein Riegel schob sich diese, breitklaffend und in ihren Tiefen unheimlich gurgelnd, in den Weg. Hier war kein Weiterkommen möglich.

»Wir sind schon viel zu weit gegangen. Rechts von uns muß die Hütte liegen!« sagte Lotte plötzlich laut und energisch. »Wir gehen falsch, Meister Josephus!«

Der Bildhauer war unschlüssig. »Meinetwegen!« murmelte er und schwenkte nach rechts ab. »Dann brauchen wir wenigstens die verwünschte Gletscherspalte nicht mehr zu schauen!«

Sie patschten durch Pfützen mit Eiswasser, sie schritten in geräumigen, mit seinem Moränenschutt gekörnten Mulden dahin, sie klommen mühsam in hartem Schnee einen neuen Wall empor, und immer neue Mulden und Wälle und Pfützen folgten einander, und darüber stand stumm das Nebelmeer.

Sie sahen sich an. Ohne daß sie es aussprachen, merkten sie, daß ihnen beiden ein wenig bang ums Herz war. Das wäre eine schöne Geschichte, sich hier auf dem Gletscher zu verirren!

»O Meister Josephus!« sagte Lotte plötzlich mit tiefem Mitleid. »Stehen Sie nicht so betrübt da! Ich, das vielgeschmähte, törichte Lottchen, werde Sie retten!«

»Sie? – wie denn?«

Sie deutete triumphierend auf zwei Fußspuren, die sich im Schnee vor ihnen abzeichneten. »Kennen Sie diesen großen Schuh da und das arme kleine Stiefelchen daneben? Und die Gletscherspalte? Das sind wir! Wir sind im Kreis zurückgekommen. Die Spuren kreuzen unseren Weg. Jetzt folgen wir ihnen einfach in entgegengesetzter Richtung längs der Spalte, und alles ist gut!«

Mit verdoppeltem Eifer setzten sie, mehr laufend als gehend, ihren Pfad fort und blieben gleichzeitig verdutzt nebeneinander stehen. Die Fährte hörte plötzlich auf. Und dieser vom Nebel eng umrahmte Eisgarten, dieser klaffende Schlund mit den hineingestürzten Schneemassen, dieser sich in seine Nacht ergießende Wildbach kamen ihnen so bekannt vor. ... Kein Zweifel, es war die unheimliche Stelle von vorhin!

»Wir sind wieder in der falschen Richtung gelaufen!« murmelte Lotte kleinlaut. »Wissen Sie, Meister Josephus, an Ihnen ist ein Bergführer ersten Ranges verloren gegangen. Zu Ihnen hätte ich Zutrauen!«

Der Siegfried blickte sie unwirsch an. »Wer hat denn geführt – Sie oder ich? Das kommt davon, wenn man sich auf Weiber verlaßt! Immer im Leben! Hierher, Lottchen! Jetzt gehe ich voran! Gerade in die andere Richtung. Und früher nach rechts. Dann müssen wir doch einmal aus diesem verhexten Gletscher herauskommen ...«

Aber nach wenigen hundert Schritten machten sie wieder halt, an einer Stelle, die offenbar an den vorhergehenden Tagen besonders stark dem Sonnenschein ausgesetzt gewesen war. Das Eis lag vielfach blank und frei, der Schnee ringsum war seltsam weich und von Fußtritten keine Spur zu entdecken.

»Hier sind wir doch nicht gegangen, Lotte?«

Sie hielt die Hand vor den Mund und gähnte vor Aufregung. »Ich bin ganz dumm geworden. Mir dreht sich alles im Kreise. Ich glaube, es hat uns jemand verzaubert!«

»Also vorwärts! Was hilft das alles!« Er hob den Fuß und stieß achtlos den Bergstock vor sich in den Schnee. Aber im selben Augenblick prallte er zurück und sein Antlitz wurde gelb. Die Stelle, die seine Stangenspitze berührt, erweiterte sich von selbst. Schneebrocken auf Schneebrocken kollerte in eine unbekannte Tiefe und aus dem so entstandenen Loch gähnte es schwarz und unergründlich zum Tageslicht empor.

»Eine verdeckte Gletscherspalte!« Er wagte sich kaum zu regen. »Geben Sie acht, Lotte – am Ende gibt's hier noch mehr!«

Sie antwortete nicht und stand, als er nach ihr zurücksah, wie versteinert da. Dicht neben ihr grinste ein zweiter scheußlicher Brunnenrand, den ihr kleiner Bergstock in dem Schnee ausgehoben hatte.

»Es ist alles ringsum voll von Spalten,« flüsterte sie. »Ich hab' Angst, Meister Josephus! Mir steht das Herz still!«

Zurück! Nur zurück! Zitternd schlichen sie dahin, vor jedem neuen Schritt mit einem neuen Stoß des Stockes den Boden prüfend. Und immer wieder öffnete sich, der Erschütterung folgend, die weißverkleidete Falle und verriet das Zickzackgewirr der durcheinanderlaufenden schmalen und unergründlichen Klüfte. Kein Zweifel mehr – sie waren die ganze Zeit, ohne es zu ahnen, über ein Labyrinth von Tiefen gewandert, über dünne Schneebrücken hin, deren Weichen für den Wanderer Tod bedeutete.

Kalter Schweiß perlte auf ihren Stirnen, als sie endlich wieder nebeneinander auf einem Flecken glatten Eises standen. Um sie prickelte und rieselte der Nebel, in der Ferne rollten wie auf donnernden Eisenbahnschienen die Lawinen und dazwischen hörten sie in der Stille ihre schweren Atemzüge.

Der Tiroler Siegfried nahm seinen Zwicker ab und schaute finster in der Runde. »Lotte! Lotte!« murmelte er. »Das ist eine böse Geschichte. Ich wollte, ich wäre in meinem Atelier!«

»Oder Ellinor käme! Die rettet uns gleich! Die marschiert hier durch dick und dünn so sicher wie auf dem Exzerzierplatz.«

»Sich von einem Frauenzimmer retten lassen ... pfui – das ist unkünstlerisch. Aber wenn ich nur eine Ahnung hätte, wo wir eigentlich sind.«

Er trocknete sich die Stirne. »Kaltes Blut müssen wir bewahren, Lotte ... das ist die Hauptsache. Eigentlich ist es doch ganz einfach. Vorwärts geht es nicht durch diese greulichen verdeckten Löcher – also müssen wir vor allem nach rückwärts, von wo wir gekommen sind, und uns dann scharf nach rechts halten!«

Sie nickte. Langsam schlichen sie weiter über den trügerischen Schnee, mit dem Entsetzen von Menschen, die wissen, daß sie über einem Abgrund wandeln, daß plötzlich, trotz aller Vorsicht, der Boden unter ihren Füßen weichen und sie in ein Nichts versinken lassen kann.

Aber diesmal, endlich, schien es der richtige Weg. Ihre bleichen Gesichter hellten sich auf. Lotte drängte sich näher an ihren Begleiter. »Ich glaube – dort schimmert so was wie ein Felsen durch den Nebel,« flüsterte sie frohlockend.

»Ich sehe nichts!«

»Ja – es verschwimmt immer wieder. Aber die Wölbung unter dem Schnee daneben – das muß doch die Hütte sein.«

»An der Hütte war doch kein Wasserfall?«

»Nein.«

»Und hier höre ich doch deutlich einen rauschen wie aus einem Keller heraus! Wie wenn er ganz tief in den Boden hineinfiele.«

»Ja – jetzt höre ich es auch. Aber wenn wir nicht an der Hütte sind, wo sind wir denn dann?«

Meister Josephus ließ sich zu ihrem Schrecken plötzlich in den Schnee nieder, stützte den Kopf in beide Hände und schaute hoffnungslos drein. »Wenn Sie nicht so töricht wären, törichte Jungfrau,« murmelte er, »so würden Sie nicht erst fragen! Es muß ja so sein! Irgendein Gespenst hat uns am Kragen und führt uns immer wieder an dieselbe Stelle zurück. Kennen Sie die große Gletscherspalte immer noch nicht und den Schneebach, der in sie hineinfließt? Da sind wir nun glücklich zum drittenmal, und wenn wir wieder weggehen, werden wir zum viertenmal hierher zurückkommen und zum fünftenmal. Dieser Punkt ist uns von der Vorsehung bestimmt. Hier sollen wir enden. Eigentlich liegt Witz in der Geschichte.«

»Ja – wenn wir erst draußen sind, lache ich auch darüber.« Lotte schien jetzt ganz gefaßt. Eine Art Galgenhumor war trotz aller Angst über beide gekommen. »Aber wären wir nur erst draußen ...«

»Ja – wären wir – wären wir! Wären wir vernünftig, so wären Sie eben nicht die törichte Lotte und ich nicht der Meister Josephus. Was haben wir auf diesem Gletscher verloren? Das ist der reine Irrgarten voll Eis und Nebel. Kein Mensch findet heraus. Da sitzt man nun. Und wer ist daran schuld? Ihr allein! An allem Unheil in der Welt sind die Lottchen schuld. Warum laufe ich einem kleinen Mädchen auf dem Gletscher nach? Warum? Ich frage mich, warum? Seien Sie nicht so graugrün im Gesicht, Lotte – davon wird's nicht besser!«

Sie fing plötzlich an zu schluchzen. »Ich will nicht in die Gletscherspalte! Ich will nicht!«

»Still ... zum Donnerwetter!«

Sie blickte ihn zornig aus ihren großen feuchtblauen Augen an. »Glauben Sie, daß Sie besonders rosig ausschauen, Herr Professor? Im Gegenteil! Quittengelb! Sie haben genau so viel Angst wie ich! Also schreien Sie mich nicht so an. Es bleibt uns nichts übrig als hier stehen zu bleiben und um Hilfe zu rufen! Wenn Ellinor bei der Hütte ist, hört sie uns.«

Der Zillertaler Siegfried schüttelte trotzig den Kopf. »Nein! Ein Mann, der nach einem Frauenzimmer um Hilfe schreit ... Unmöglich! Das ist unschön! Hab' ich schon einmal gesagt! Das ist unkünstlerisch! Philisterhaft! Das kann ich nicht! – Dummheiten soll der Mensch machen! Dazu ist er auf der Welt! Aber nachher auch sich selbst wieder aus der Patsche helfen! Also vorwärts!«

» Ja – wohin denn?« Sie standen immer noch am Rand der Gletscherspalte, deren nächtig und unergründlich dämmernde Tiefen der rastlos hineinstürzende Schneebach mit seinem Brausen erfüllte. Ein matter blaugrüner Glanz lag wie der letzte Widerschein verblichener Sonnenpracht über den Rändern des Eises, ein böses Funkeln und Locken hinab in die unbekannte Welt. Das raunte da unten im Gurgeln der Wasser, das flüsterte und gluckste und tropfte geheimnisvoll in all den verborgenen Schlünden des Eispalastes, das schwebte über dem Gewirr seiner zu Tage klaffenden Risse in ewigem lautlosem Geisterflug der Nebelmassen und grollte aus der Ferne im Lawinendonner unheimlich in das beklemmende Schweigen. Alles ringsum schien Gefahr und Tod zu atmen. Die Stille der Einsamkeit selbst ward zum Schrecknis, diese dumpfe, lauernde Ruhe, mit der die Eiswildnis der Höhen ihre Besucher umbannt hielt und geduldig des günstigen Augenblicks zu ihrer Vernichtung harrte.

Lotte begann heftig zu zittern. Ihr Begleiter aber wurde wild. »Hab' ich nach der Schweiz gewollt?« schrie er und funkelte zornig durch seinen Zwicker die stumm ringsum stehenden und liegenden Eisgebilde an. »Nein – nach Griechenland hab' ich gewollt. Ein Künstler gehört nach Griechenland – nicht auf so einen blödsinnigen Gletscher. Aber warum hab' ich euch beide mitgenommen? Warum muß Ellinor auf dem Bahnhof in Bern ihren Freund, diesen übergeschnappten Alpinisten, treffen und sich von ihm bereden lassen, aufs Lawinentor zu steigen? Hat sie ihr Schnupftuch oben verloren oder ihren Sonnenschirm stehen lassen? Nein! Also ... was tut sie da oben? Was tu' ich da unten? Warum warte ich auf sie? Weiterreisen hätte ich sollen, ohne mich um euch zu kümmern. Weiter nach Athen ... nach Olympia! Ich will den Hermes des Praxiteles sehen und nicht mir hier die Beine erfrieren. Ich will fort aus diesem Eis ... aus diesem verwünschten Londoner Nebel ... fort ... fort!«

Zu seinem Erstaunen stand Lotte plötzlich ganz gefaßt vom Eise auf, auf das sie sich niedergekauert, sah ihn an und tippte sich dann vielsagend mit dem Zeigefinger auf die Stirne. »Oh ... Meister Siegfried ... was sind wir schlau! Ich zerbreche mir die ganze Zeit den Kopf darüber, wieso die lange Gletscherspalte immer zwischen uns und die Hütte kommt, ohne daß wir sie auf dem Hinweg überschritten haben – und es ist doch so einfach!«

»Wieso denn?«

»Sie ist eben nicht überall offen, sondern es liegt an einzelnen Stellen Schnee darüber wie bei den greulichen Löchern von vorhin, da sind wir darüber weggegangen, ohne es überhaupt zu merken.«

»Und jetzt?«

»Jetzt gehen wir noch einmal auf der anderen Seite die Spalte entlang. Dann finden wir die Stelle! Wir erkennen sie doch aus unseren Fußspuren.«

Meister Josephus machte sich ohne weiteres auf den Weg. Er atmete tief auf. »Und dann nach Griechenland, Lottchen!« sagte er befriedigt. »O Gott ... Griechenland! Es tut mir not! Ellinor hat ganz recht. Ich werde feil ... ich diene der Menge ... Prinzen und und Kommerzienrätinnen loben mich ... ich nehme mittags zwischen zehn und zwölf Uhr im Atelier Bestellungen entgegen wie ein Damenschneider – ich werde zum Handwerker ... ich brauche Griechenland, um zu genesen!«

Lotte blieb stehen und wies mit der Hand nach vorne. »Da! ... Gott sei Dank!«

Die Gletscherspalte nahm ein Ende. Ihr schwarzer Rachen schloß sich. Friedlich schimmernder weißer Schnee breitete sich an seiner Stelle aus und in ihm, fern, verräterisch, kaum erkennbar ein blendend heller, leise und listig geringelter Streifen wie die Fährte einer ganz dünnen Schlange.

Quer darüber hinweg aber liefen tief eingestampfte Fußtritte, von einem größeren und einem kleineren Schuh, die Stiche der fest eingesetzten Bergstöcke daneben, gerade auf die beiden zu.

»Gott sei Dank,« wiederholte Lotte. »Unsere Spuren! Da sind wir herübergekommen. Das ist der Rückweg zur Hütte.«

»Wenn es uns aber nur auch sicher trägt!«

»Es hat uns doch vor zwei Stunden auch getragen! Und da sind wir achtlos darüber weg und haben nicht geahnt, daß unter uns ein Abgrund ist. Jetzt machen wir es vorsichtig ... ganz vorsichtig ... dann kann doch nichts passieren?«

»Nein. Da ist keine Gefahr. Wenn es einmal hält, hält es auch das zweitemal.« Er drehte sich um und musterte majestätisch den Gletscher. »Adieu! Hat mich sehr gefreut! Außerordentlich! Aber wiederkommen tu' ich nicht! Das ist das letztemal, daß ihr Lottchen mich armen Meister aufs Glatteis geführt habt. So ... langsam ... Lottchen ... auf den Fußspitzen ... geben Sie mir die Hand ... recht langsam ... Schritt für Schritt ... ah ... jetzt geht's nach Griechenland ... wie mir das wohltun wird ... wenn ich erst vor dem Hermes steh' und ...«

Ein schwarzer Schlund klaffte gähnend an der Stelle, wo die beiden lautlos und blitzschnell verschwunden waren. Er öffnete sich immer weiter. Die schwere Last, der in der letzten Stunde durch die fortschreitende Wärme des Tages erweichten Schneebrücke stürzte in massigen Brocken und Klumpen hinterher in die unergründliche Tiefe, in deren Nacht unsichtbare Wasser gurgelten und rauschten. Da oben wurde es still. Nur ein unstät irrender Schneebach fand jetzt endlich seinen Abfluß und strömte unablässig in den nun freiliegenden, weit aufgerissenen Rachen der Gletscherspalte, mit seinem Wassersturz alles, was da unten rufen und klagen mochte, übertönend, und durch die Nebelschwaden, die den unterirdischen Kerker mit grauen Schleiern vor allen Menschenaugen verhüllten, klang von ferne das dumpfe Rollen der Lawinen.

II.

Hoch oben aus dem nebelumsponnenen Reich des ewigen Firns dröhnte das wie vom Kanonendonner einer Schlacht aus dem Lawinentor der Jungfrau, vom Gletscherhorn bis zur Wetterlücke hin, in die Hölle der Hochwelt, die Schlünde des Rothtals hernieder. Miteinander wetteifernd schossen die weißen Riesenschlangen gierig zu Tal und wühlten sich, im Abgrund angekommen, als blendend helle, langsam strömende und ersterbende Flüsse durch die grauen Schneehügel vom vorigen Tage dahin, wie gespenstige Maulwürfe lange Gänge aufwerfend, während oben über die Felsstufen, in dem glatt gescheuerten Bette ihres Firnfalls immer noch die Schneekaskaden hinterhersprühten und schütteten. Und ehe noch ihr letztes, wasserfallähnliches Rieseln schwand, knatterte es schon wieder zornig zur Rechten und zur Linken und zischten hoch aus dem Nebel herunter neue Riesenraketen in weißem Feuer über die Wände und verpufften unten in aufspritzenden Garben von eisig kochendem Dampf und Dunst und füllten den nebeligen Hexenkessel immer neu mit ihrem Heulen und Dräuen.

Aber zwei dunkle Punkte gab es an den beinahe senkrechten Hängen des Lawinentors – die beschleunigten froh des Jagens und Stürmens ringsum ihr Niederstreben nicht. Wohl bewegten sie sich – aber langsam, unendlich langsam, Halt machend und wieder mit der äußersten Vorsicht einen Schritt abwärts tastend und wieder stehen bleibend und prüfend, wo weiterhin dem Abgrund, an dem sie hingen, die Stufen einer Eistreppe mit Pickelschlägen abzugewinnen waren.

Zwei lebende Wesen – zwei Menschen am Lawinentor – ein Bergsteiger und eine Bergsteigerin – führerlos und ohne Seil – es vergingen Jahre, ehe derlei geschah.

Langsam – ruhig! Jeder Fehltritt ist der Tod! Ringsumher kauert und lauert der Tod in jeder Gestalt, die nur die Hochwelt kennt. Was sie an Gefahren besitzt, birgt das Lawinentor in den Falten seines Firnmantels. Der Fuß kann gleiten, der Schwindel das entsetzte Auge über der wesenlosen Tiefe packen, der Stein tückisch ausbrechen, an den sich die Hand als letzten Anker klammert. Wer stürzt, nach dem fletscht schon unten der Gletscher seine Zähne, und wer stehen bleibt, über den rollt von oben her der weiße Gischt des Lawinenschwalls hin und trägt ihn auf schnellen Schwingen mit sich hinab zu den eisigen Grabhügeln des Rothtals.

Augenblicklich freilich waren die zwei der unmittelbaren Gefahr entrückt. Sie kletterten an einem schräge hingelagerten vereisten Gerippe von Felstrümmern nieder, die sich, hart an der Jungfrauseite des Lawinentors, von oben nach unten als breiter Rücken am Firn herunterzogen, erhöht über die zu beiden Seiten laufenden Sturzbetten des weichenden Schnees. Es war, als sei das Skelett eines märchenhaften, stundengroßen Ungeheuers aufrecht stehend in dem Berg eingefroren und starre nur noch mit einzelnen Rückenwirbeln, zerbrochenen Rippenzacken und scharfen Knochensplittern aus der eisglatten Spiegelfläche seiner Lagerwand empor. Wohl waren auch diese steinernen Zähne mit einer schlüpfrigen Kruste übereist – sie brachen, wie sie sich gleich den verwitterten Schnörkeln eines alten gotischen Kirchturms untereinander abstuften und aus dem Schnee heraus absetzten, leicht unter der unvorsichtigen Hand als faulende Klumpen ab und ließen auch ohne solchen Eingriff da und dort in Gestalt morscher, abgebröckelter Bruchsteine über die Köpfe der Wanderer hin den Tod zu Tale tanzen – aber sie waren doch da – sie waren doch etwas, woran man sich halten, sich mit dem Erdgerüst verbinden konnte inmitten dieser schwindelnden weißen Riesenwand des Lawinentors, das nach oben hin träger grauer Wolkenflug, nach unten eine totenstille Schwadenfläche von der Welt trennte. Aber nun nahmen auch die letzten Sprossen dieser Höhenleiter ein Ende. Der Felsgrat verlor sich in einem ununterbrochenen Steilhang, rechts von pulverig-weißem Firn, links von graublauem blankem Eis, der wie eine Mauer in die stumme Brandung des Nebelmeers hinabführte.

»Halt!«

»Hier?«

»Ja. Hier!«

Ellinor schüttelte zweifelnd den Kopf. Es war selbst ihr, der Berggewohnten, nicht recht klar, wie man hier, mit Stiefelspitzen und Fingern an der dreiviertel senkrechten Wand und ihren Steinhöckern hängend, einen Rastplatz für längeren Aufenthalt finden konnte.

Ihr Begleiter begann indessen, auf einem kaum tellergroßen Felsvorsprung, dem letzten der Wirbelreihe, unter ihr stehend, leise, mit kaum merklichem Zucken der Eisaxt, mit der äußersten Vorsicht, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, ein paar Stufen in dem harten, zu seinen Füßen abschießenden Schneespiegel auszuschlagen.

»Wir müssen hier halt machen,« sagte er, »ehe wir rechts hinüber über die freie Wand traversieren!«

Sie folgte seinem Blick. Hart neben dem steinernen Rückgrat, das sie herabgeklettert waren, lief eine breite eisglatte Rinne, schnurgerade und blankgefegt wie eine gigantische Kegelbahn, hinunter in die Dunstflut, die unter ihnen lautlos wogend den Gletscherboden verhüllte. »Wegen der Lawine?« fragte sie und bemühte sich langsam, zollweise, mit den Bewegungen einer schleichenden Katze und angehaltenem Atem ein Lager auf dem frei in die Luft starrenden, von einer dünnen Eishaut glasig-schlüpfrigen Erker zu gewinnen.

Er war ihr, in den unteren, nun, breit ausgehöhlten Schneestufen so fest und sicher wie auf einer Landstraße stehend, dabei behilflich, sich an den Felsen anzuschmiegen. Er klemmte ihr den linken Fuß in einem kaum merkbaren Vorsprung fest, er setzte ihren rechten tiefer in eine kleine Eiswölbung und legte ihre beiden Arme so, daß sie den Steinzacken fest wie hilfesuchend umschlangen. Dann holte er sich, immer mit der zähen Ruhe und Langsamkeit des Akrobaten, der alle Muskeln seines Körpers in der Gewalt hat, seine kurze Pfeife aus der Tasche, stopfte sie methodisch und zündete sie an. Und selbst in dem behutsamen Schnellen der Finger, die das abgebrannte Streichholz vor sich senkrecht in die unergründliche Tiefe fallen ließen, verriet sich der kaltblütige Fechter, der im Kampf mit der lauernden Tücke des Berges jede Bewegung auf ihr Mindestmaß zurückführt.

Eine Weile schwiegen die beiden in ihrer seltsamen Stellung von Dachdeckern an einem Kirchturm, er frei in der Luft, an die Eiswand mit dem Rücken angelehnt in den beiden nischenartigen Schneewölbungen fußend, die er sich ausgehöhlt – sie über ihm in gezwungener Haltung an dem bißchen glatten Gestein halb liegend, halb stehend und mit den Fingern sich festknüpfend.

Ein paar schlanke Alpendohlen schossen plötzlich wie dunkle Nachtvögel aus dem Nebelwogen unter ihnen empor, umkreisten sie mit klagendem Geschrei, neugierig, ob die beiden menschlichen Körper tot seien oder ob die Wanderer lebten und frühstückten, und verschwanden, als sie sahen, daß keine Nahrung winkte, wieder wie schwarze Schattenblitze in der zähen grauen Luft.

»Ja – die Lawine!« wiederholte er und bog langsam, zollweise den Kopf, um nach oben zu spähen. »Seit langer Zeit ist keine mehr hier durchgegangen. Wenn wir jetzt das Lawinenbett überschreiten, riskieren wir, daß sie kommt und uns abfängt. Ganz sicher kommt sie. Auf so was lauert sie nur! Wir müssen warten, bis sie wieder gefallen ist. Dann ist der Weg frei!«

Sie nickte mit sachlichem Ernst. Die beiden verstanden sich ohne lange Reden.

Nach einiger Zeit klopfte er, immer mit der Behutsamkeit eines Seiltänzers, der auf einem, vom Kirchturm quer über den Marktplatz gespannten Tau steht, seine Pfeife aus, deren Aschenreste langsam an seinen Schuhenden vorbei in den Abgrund niederstäubten, steckte sie ein und holte an ihrer Stelle eine Flasche heraus, die er entkorkt seiner Begleiterin an den Mund hielt.

»Trinken Sie! Aber rühren Sie die Hände nicht. Lassen Sie den Stein nicht los. Fassen Sie den Flaschenhals mit den Lippen!«

Sie nahm einen Schluck Kognak und nickte dankend. »Hübsche Situation – das!« sagte sie schläfrig und schloß halb die Augen.

Er zuckte stumm die Achseln, als wollte er sagen: Das brauchten du und ich uns doch nicht erst zu erzählen, daß das Lawinentor der Jungfrau nichts für die Berggigerln ist.

»Sie hatten gestern recht!« hub sie endlich wieder an. »Auf solche Tour darf man keine Führer mitnehmen. Die haben alle Frau und sechs Kinder!«

»Aber ans Seil hätten Sie sich doch nehmen lassen sollen, statt daß wir es oben zurückließen!«

»Auf der Tour können Sie mich nicht halten, wenn ich falle, beinahe so wenig wie ich Sie! Wozu sollte ich mir also eine Begleitung ins Jenseits mitnehmen? Den Weg findet jeder allein ... Aber ich stürze nicht! Da müßte ich schon lange tot sein!«

Sie machte ein trotziges Gesicht, wie sie in die Tiefe niederschaute. Ihre Blicke trafen sich, während er wieder langsam den Kopf zu ihr drehte.

»Aber es liegt Ihnen nicht viel am Leben?« fragte er.

»Warum?«

»Nun – wenn man Bergbesteigungen macht wie Sie! Wieviele Alpinisten unserer Klasse gibt es denn auf der Welt? Ein paar Dutzend höchstens. Die müssen doch immer darauf gefaßt sein, daß ...«

Ellinor lachte leise auf. Ein warmer sonniger Schein lief über ihr Gesicht. »Ich lebe ja so gerne! Deswegen gerade! Gerade wenn man sein Leben liebt, muß man's aufs Spiel setzen. Nachher hat man's doppelt lieb! Es ist ja so schön, jung und gesund zu sein. Das heißt ... jung ... verstehen Sie das nicht falsch, wenn ich das von mir sage ...«

»Gewiß sind Sie's!«

Sie seufzte. »Vielleicht für die paar vernünftigen Leute auf der Welt, die sich sagen, daß ein Mensch – sei er Mann oder Weib – zwischen dreißig und vierzig doch noch kein Greis sein kann. Aber in den Augen der Menge ist ein Mädchen über dreißig nun einmal fertig mit dem Leben! Abgetan! Eine alte Jungfer! Sie hat keinen Mann gekriegt oder meist keinen haben wollen – sie hat ihren Beruf verfehlt – also fort mit ihr! In die Rumpelkammer der ›Fliegenden Blätter!‹ Ja – sehen Sie – und trotzdem klettert so etwas noch hier auf den Bergen herum, ein spätes Mädchen von dreiunddreißig, die doch längst mit Mops und Kaffeekanne in die tiefste Verborgenheit gehört – und ist so stark und keck wie ein Mann und freut sich ihres Lebens! Das müßte doch eigentlich polizeilich verboten werden – nicht?«

Er schüttelte vorsichtig, um nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen, den Kopf. »Sie und eine alte Jungfer! Wir kennen uns nun doch schon seit drei oder vier Jahren. Glauben Sie denn, daß Sie sich irgendwie verändert haben in der Zeit?«

»Nein!« sagte sie unbefangen. »Ich hab' eigentlich immer so ausgeschaut wie ich jetzt bin! Das heißt also eigentlich nach gar nichts. Etwa wie ein Glas Wasser ... nicht hübsch und nicht häßlich! Ach, reden Sie doch nicht ... glauben Sie denn, das wüßt' ich nicht, daß ich im Gesicht so ... sozusagen neutral ausschau'! Ein großer Fehler! Wir haben ja die Verpflichtung, schön zu sein! So wie's meine Schwester Lotte ist! Die ist bildschön. Dazu sind wir ja einzig und allein da. Sonst gefallen wir ja euch nicht und werden das verhöhnteste Ding auf der Welt! Eine alte Jungfer! Meinetwegen!« Sie gab mit der Fußspitze einem losen Schneebrocken einen Stoß, daß er wie ein erschreckter Hase auffuhr und in weitem Bogen in den Abgrund sprang. »Was liegt mir daran? Man muß eben mit Anstand alt werden!«

»Man muß nicht immer. Ich finde, jeder Mensch ist auf ein bestimmtes Lebensalter zugeschnitten. Hat er das erreicht, dann ist er erst ganz er selbst und jünger als vorher. Und so kommt es mir vor – nein – wahrhaftig ... allen Ernstes, als ob Sie jetzt jedes Jahr jünger würden!«

Jetzt lachte sie hell auf. »Das ist das Neueste! Komplimente am Lawinentor! Zwischen zwei Kriegskameraden! Genug davon. Was wissen Sie überhaupt von derlei? Sind Sie denn überhaupt schon über dreißig?«

»Dicht daran! Aber eigentlich komm' ich mir viel älter vor. Ich seh' ja wohl auch so aus!«

Sie nickte. Es war ihr immer ein Rätsel gewesen, wie ihr schmächtiger, kaum mittelgroßer Gefährte es zu einem Hochtouristen ersten Ranges hatte bringen können. Es mußte wohl die Nervenkraft sein, eine unerbittliche Energie, die zuweilen, in Augenblicken der Gefahr, um seine schmalen Lippen spielte. Dann war er ein ganz anderer als sonst, als unten im Tale. Dort hatte sie oft Mühe, ihn überhaupt wiederzuerkennen, wenn er nach seiner Gewohnheit still, unscheinbar gekleidet und immer allein, ein Herdenreisender wie viele Tausend andere vor dem Hotel saß und mit seinen großen grauen Augen das Gewoge um sich her beobachtete, über dessen Nebeltiefen er noch vor kurzem hoch erhaben auf irgendeinem der unzugänglichsten Gipfel gestanden. Er sah dann geradezu melancholisch aus, wenn nicht zuweilen ein verstecktes, gleichmütiges Lächeln sein wenig sagendes oder wenig verratendes Gesicht mit dem kleinen blonden Schnurrbart erhellte –, blaß, beinahe kränklich.

Und nicht zum wenigsten trug zu diesem Eindruck bei, daß seine linke Schulter bedeutend höher war als die rechte und er sich auch gar keine Mühe gab, seinen Körperfehler zu verbergen. Und diesem, so stiefmütterlich an sich von der Natur bedachten Leibe hatte er trotzdem im Laufe der Jahre die Kraft zu den gefährlichsten Reisen, den schwindelndsten Gletscherfahrten abgerungen, daß er ein stummer, stählerner Diener seines Willens, seines Verstandes wurde. Das imponierte ihr. Manchmal fühlte sie sich ihm gegenüber scheu und befangen, wie von Furcht vor etwas Unbekanntem erfaßt.

Sie fröstelte in ihrer unbequemen Lage. Der Schneesturz, auf den sie warteten, lag hoch da oben stumm wie ein weißer Drache auf der Lauer und rührte sich nicht. Endlich wurde sie ungeduldig.

»Kommt die Lawine denn noch nicht?«

»Hoffentlich bald. Wenn sie kommt, schließen Sie die Augen und klammern Sie sich so fest, wie Sie nur können, an den Felsen. Ich muß dann unter Ihrem linken Arm durchgreifen, um an dem Steinzacken Halt zu gewinnen. Geschehen kann nichts, wenn Sie nur die Ruhe nicht verlieren. Die Lawine geht zwanzig Meter von uns in ihrem Bett herunter. Es ist also keine Gefahr!«

»Aber langweilig ist's! Schließlich – jede Kugel trifft ja nicht! Können wir nicht doch versuchen, vor der Lawine hinüberzukommen?«

»Ich denke nicht daran, verehrtes Fräulein! Zwar hänge ich nicht am Leben wie Sie! Es ist mir eigentlich alles gleich – Sein oder Nichtsein. Aber augenblicklich kämpfe ich mit dem Berge. Er ist mein Feind. Und ein Mann, der seinen Feind wissentlich das Spiel gewinnen läßt ... das tut man doch nicht!«

»Nein! Also Ihnen liegt nichts am Leben?«

»Wenig.«

»Warum denn?«

»Vielleicht, weil ich vom Leben zuviel hab'!« sagte er kurz.

»Was denn alles?«

»Viel Glück und Unglück! Es hält sich alles in der Welt die Waage!«

»Unglück auch?«

»Jeder Mensch, der etwas besitzt, ist unglücklich. Denn er hat doch Angst, es zu verlieren. Und ich fürchte, ich verliere bald meinen besten Besitz ...«

»So schützen Sie ihn doch!«

»Gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen!« sagte er langsam. »Und mein Kind – mein armes, kleines Töchterchen wird bald zu leben aufhören, nachdem es kaum zu leben angefangen hat, vor wenigen Monaten ...«

Ellinor war ganz betroffen. Alles hätte sie eher geglaubt, als daß der junge, stille Bergsteiger an ihrer Seite, über dessen ganzem Wesen ein Hauch von Einsamkeit und Schwermut lag, Weib und Kind haben könnte ...

»Ist die Kleine denn sehr krank?« forschte sie teilnehmend.

»Mehr als krank ... kränklich ... ohne Lebenskraft ... Die Ärzte trösten mich ja immer noch ... aber ich bilde mir ein, daß sie hinschwindet von Tag zu Tag ... und dann gehe ich hinauf in die Berge, ohne rechten Zweck, so wie heute ... in so einer traurigen Herbststimmung. Aber reden wir nicht weiter davon ... bitte ... es hat ja keinen Zweck ...«

Die Nebel stiegen und sanken, drüben, von der grau verhangenen Ebenefluh knatterte ein Schneesturz, die Alpendohlen umkreisten pfeifend das einsame, halb in der Luft schwebende Paar, eintönig fielen die Tropfen von dem Felszacken, dessen dünne Eiskruste ihr warmer Körper allmählich schmolz – die Schläfrigkeit war da – die große Gefahr des Stillsitzens – des Matt- und Müdewerdens, auf die der Berg nur wartet, um brüllend über sein Opfer herzufallen.

»Wir müssen sprechen!« sagte er plötzlich mit lauter, energischer Stimme. »Der Stumpfsinn hier auf Vorposten ist von Übel. Da werden wir unversehens überrumpelt. Auf einmal schießen wir den Hang hinunter, tausend Fuß tief in die Gletscherspalte!«

Sie gähnte, die Augen öffnend, und ohne die Hand von dem Gestein lösen zu können. »Entschuldigen Sie!« sagte sie. »Hier hört sogar die Wohlerzogenheit notgedrungen auf. Ja – in die Gletscherspalte – das wäre schade! Hauptsächlich aus einem Grunde: dann würde ich überhaupt nie mehr erfahren, wer Sie eigentlich sind!«

»Ist denn das wirklich nötig, daß man sich immer gleich Stand und Namen und alle behördlichen Stempel gegenseitig vorzeigt, sowie man sich irgendwo durch Zufall auf dieser kleinen Welt findet? Es ist doch so viel netter! Wir treffen uns seit ein paar Jahren da und dort in der Schweiz, wie sich Hochtouristen eben treffen; wir machen, wenn Wetter, Zeit und Stimmung da ist, eine hübsche Tour und schütteln uns unten im Tal die Hand: adieu – auf Wiedersehen! Was hat unser Name, irgendeine beliebige Zusammenstellung von Buchstaben und Silben damit zu tun?«

»An sich gewiß wenig! Aber wenn es sich gerade so macht ... ich habe Ihnen nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich mit meiner Schwester Lotte zusammen in München lebe – daß wir Waisen sind – schon seit dreizehn Jahren – und daß ich mich seit der Zeit unter Leitung des Professors Joseph Ranggetiner ein bißchen in der Bildhauerei versuche, ohne daß dabei freilich viel herauskommt ...«

Er nickte mit einem leisen Lächeln, »... und daß der Herr Professor ein sehr ärgerliches Gesicht machte, als wir beide uns vorgestern zufällig wieder einmal auf dem Bahnhof in Bern trafen und ich Sie beredete, mit mir auf das Lawinentor zu gehen. ... Jetzt wird er wohl schon mit Ihrer Fräulein Schwester unten in der Rothtalhütte angelangt sein und auf uns warten und in der Zwischenzeit gehörig auf mich schimpfen. Er scheint ja ein etwas ungeduldiger Kraftmensch zu sein!«

»So sehr viel Kraft hat er nicht! Seine Muskeln sind schwach. Eigentlich ist er in der Hinsicht trotz seiner Prachtfigur ein Blender. Aber ungeduldig – ja! Und er hat auch allen Grund dazu. Wir waren doch auf der Durchreise nach Griechenland ...«

»Jetzt - im Hochsommer! Welche Idee!«

»Waren Sie dort?«

»Wo war ich nicht! Sie werden jetzt dort von Moskitos gefressen. ... Sie kriegen das Fieber. ... Sie...«

Sie schüttelte den Kopf. »Ja – es mußte sein!«

»Wirklich? Warum denn?«

Sie stockte. »Dazu müßten Sie den Professor kennen! Es ist so viel in ihm – so viel einander Widersprechendes! Sie wissen, wie berühmt er ist – wie gefeiert. ... Alles mögliche hängt sich an ihn und lenkt ihn ab. Und er läßt sich so leicht ablenken. Und nun kam vor einigen Wochen die größte Gefahr – nach meiner Meinung wenigstens – für ihn und für seine Kunst. Ein deutscher Fürst, das heißt kein richtiger Bundesfürst, sondern ein mediatisierter, der schon lange sein Gönner ist – ich brauche ja nicht zu sagen, welcher – denn die Sache war ganz vertraulich und im strengsten Geheimnis – also der wollte ihn dauernd zu sich, an den Hof, in seine Residenz ziehen. Er will, nach dem Vorgang von Berlin, seine Residenz mit den Statuen seiner Vorfahren ausschmücken und ...«

»... und der arme Professor Ranggetiner soll alle die vierundzwanzig Statuen selber machen?«

Sie beugte sich mit großen Augen zu ihm herab. »Woher wissen Sie denn, daß es gerade vierundzwanzig sind?« fragte sie schnell.

Er zuckte die Achseln. »Zufall! Ich kam gerade auf die Zahl!«

Sie sah ihn mißtrauisch an. »Selber soll er natürlich nicht alle machen!« fuhr sie dann etwas unsicher fort. »Aber das Ganze leiten, beaufsichtigen, damit es einheitlich wird – nach einem Geschmack ...«

»Das heißt – nach dem Geschmack des hohen Herrn?«

»Ja. Und das ist kein Dutzendmensch! Ich kenne ihn vom Ansehen! Ungewöhnlich begabt – vielseitig – liebenswürdig – freigebig! Eben ein Herrscher. Er modelt eine schmiegsame Künstlernatur wie die Ranggetiners ganz nach seinem Belieben! Und das soll er nicht! Er soll ihn nicht sich selbst entfremden. Seiner eigenen Kunst! Seiner Größe.«

Sie war ganz erregt geworden. »Und, Gott sei Dank, der Meister ahnte doch diesmal die Gefahr ... Denken Sie nur: zehn Jahre an einem kleinen Hofe ...«

»Ja. Das kann ich mir sehr gut denken!«

»Und wie das seine Art ist, äußert sich, das in einer plötzlichen Niedergeschlagenheit. Er sehe sich schon als Hampelmann bei Hofe mit bunten Orden um den Hals! Ein Geißbub außer Diensten wie er! Aber es geschehe ihm schon recht! Er sei ja ein Stümper! Er mache sich ja selber mit Gewalt dazu oder lasse sich von anderen dazu machen! Es ginge ihm viel zu gut! Er fühle, daß er verflache durch den vielen Beifall und Erfolg, und die Gunst des Fürsten beweise gar nichts und der Neid der Kollegen sehr wenig, und auf die goldenen Medaillen pfeife er, und kurz und gut – er müsse weg, weit weg, nach Griechenland, das er noch nie gesehen, und sich in Olympia und Athen, auf dem Mutterboden, wieder echten künstlerischen Ernst holen.«

»Und Sie mußten mit?«

Sie lächelte halb. »Ich hab' ihn ja dazu beredet! Ich bin ja sein mahnendes Gewissen. Ich halt' ihn auf dem Weg nach oben, so gut ich kann. Daß er sein Bestes aus sich herausgibt und nicht, was die große Menge von ihm haben will. Denn dazu hat er in seiner gewöhnlichen Zeit eine bedenkliche Neigung und weiß es sehr genau und ist mir dankbar, daß ich ihm behilflich bin, dagegen anzukämpfen. Ich muß schon mit ihm nach Griechenland.«

»Und Ihr schönes Fräulein Schwester wird auch mitgenommen?«

»Ja – wo sollte sie sonst bleiben? Und allein kann ich doch nicht gut mit dem Professor reisen. Wir steigen ohnedies schon immer in getrennten Hotels ab und sehen uns nur bei Spaziergängen und auf der Eisenbahn – wegen dem Gerede der Leute ...«

»Und doch stand schon vor vier Jahren einmal in der Zeitung, Sie waren miteinander verlobt! Erinnern, Sie sich ... wir haben es noch zusammen gelesen ... im Engadin drüben ... damals, als wir uns zuerst trafen ... in unserem Tal der schwarzen Schmetterlinge, das wir gemeinsam entdeckt haben ... über St. Moritz ...«

Sie wandte den Kopf etwas ab. »Ja. Ich weiß. Aber es ist nicht wahr mit der Verlobung. Der Meister Josephus ist schon oft nach seinem Ausdruck totgesagt worden – ich meine verlobt! Wenn er da jedesmal wirklich geheiratet hätte! Gott weiß, wer das in die Zeitung gebracht hat. Mir ist's einerlei. Deswegen fahre ich jetzt doch mit ihm nach Griechenland.«

»Und der Herzog von Siebenwalden hat das Nachsehen?«

Sie erschrak. »Woher wissen Sie denn den Namen?«

»Nun – so schwer ist das doch nach der Beschreibung nicht zu erraten!«

Sie schüttelte den Kopf und machte ein finsteres Gesicht. »Wenn ich nur wüßte, woher Sie das alles immer gleich wissen! Wer sind Sie denn nur?«

Über das kränkliche Antlitz des verwachsenen jungen Bergsteigers flog ein Lächeln. »Das ist doch ganz gleich, was man da unten ist –« sagte er und spähte zur Höhe, ob die Lawine sich noch nicht zum Absturz rüstete. »Hier oben haben wir unsere eigene Welt. Eigentlich doch das, was die große Masse im Tal und der Ebene umsonst erstrebt – die allgemeine Gleichheit! Zwischen Mann und Weib – beides sind nur noch gute Kameraden am Seil und über Abgründen. Zwischen Herrn und Diener. Denn mein Führer befiehlt mir, nicht ich ihm. Zwischen allen Ständen. Wer fragt hier oben außer Ihnen den anderen nach Nam' und Art! Zwischen allen Nationen! Das sind alles nur noch hungrige Männer und Frauen, die sich in der Schutzhütte ihre Erbssuppe kochen, statt sich über China oder Transvaal den Kopf zu zerbrechen – kurzum – hier ist Friede und Vernunft! Warum? Weil die Masse nicht herauf kann! Zehntausend Fuß stehen dazwischen. Das Schlimme ist nur: wir müssen wieder zu der Masse hinunter. Unsere Zeit auf den Höhen ist kurz, nur die paar Sommermonate – wenn der letzte Frühlingsschnee geschmolzen ist, bis zum ersten Herbstreif. Dann heißt's, die Eisaxt einpacken und ins Tal, und alles legt dort seine Maskerade wieder an und stiebt auseinander über Länder und Meere und vergißt sich bis zum nächsten Jahr.«

»Ja – das ist richtig!« sagte sie. »Offen gestanden – den ganzen Winter hab' ich nie an Sie gedacht. Aber wenn der Frühling kommt und es wird Zeit, wieder auf die Berge zu gehen, dann stehen Sie eines Tages wieder so leibhaftig in meiner Erinnerung, als hätten wir uns gestern erst lebewohl gesagt ...«

Er nickte, mit einem trübsinnigen Ausdruck auf dem klugen, kränklichen Gesicht. »Was dazwischen liegt, ist ja auch ganz gleich,« sprach er, »gleichgültig und dumm ...«

Sie machte, nach oben spähend, eine Handbewegung. Er folgte ihrem Blick und beide hielten den Atem an.

»Die Lawine?«

»Ja!«

Hoch aus den Wolken klang es wie das dumpfe Murmeln und Plaudern einer erregten Menschenmenge.

»Sie kommt?«

»Sie kommt!« Er griff mit einer ungewöhnlich raschen Bewegung unter ihrem Arm durch nach dem Felsen. »Jetzt festgeklammert! Die Augen zu! Die Besinnung nicht verloren! Es kann uns nichts geschehen!«

Von oben rollte es hernieder in einem Donner, einer Eile, die sich nur mit einem vergleichen ließen, dem Brausen eines heranrasenden Schnellzugs. Die Luft verfinsterte sich vor den Wolken aufgepflügten Schnees. Ein eisiger Sturmwind fuhr im Wirbel, alles an sich saugend, alles mit sich reißend, was sich nicht platt an den Boden hinklammerte, gellend hinter dem betäubenden Knattern und Krachen her, in dem sich die weißen Massen übereinander strudelten und wälzten. Durch den Staub der brausenden Lufttrichter sprangen zerschellte Eistafeln, spritzende Brocken festgebackenen Firns, zerschmetterte Felsblöcke –- alle miteinander im wütenden Wettlauf nach dem Abgrund – gleich einem schäumenden Wildbach rauschte und rutschte in Windeseile der pulverartig feine weiße Neuschnee hinterher, eine tödliche Grabeskälte wehte aus seinen pfeifenden Wirbeln – ein höhnender Hauch wie ein Vorbote unvermeidlichen Untergangs auf jenem dräuend weiß wie ein bereites Leichentuch vor ihnen liegenden Steilhang, über den der Lawinensturz hurtig hinab in das gastlich offene, schwarze Grab der Gletscherspalten glitt. Oben wurde er dünner und dünner – sein Bett trocknete aus – ein feines, schneidendes Singen verzitterte in der Luft und unten verkündete das Brüllen der Nebelwildnis die Ankunft der neuen Lawine.