Karussell Berlin - Rudi Stratz - E-Book

Karussell Berlin E-Book

Rudi Stratz

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Beschreibung

Ein kleiner Schutzmann regelt im alten Berlin den Verkehr und bildet sich ein, der Stadt zu gebieten ... Da erhält er die unverhoffte Chance zu demonstrieren, dass er mehr kann als das ... Der Autor lieferte auch Filmvorlagen für Stummfilm-Starregisseure wie Murnau.

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Rudi Stratz

Karussell Berlin

idb

ISBN 9783961502127

1

Winke, Schupo – winke! In endlosen Wogen umbrandet dich, auf deiner Verkehrsinsel, am frühen Herbstabend Berlin. Mit tausend Tönen umtost dich, auf dem Ottoplatz, der Goldene Westen.

Aus fünf Straßenschluchten, Schupo Peschke, stürzt in Flut und Ebbe Berlin auf deine Insel zu: Tuten und Surren weißäugiger Wagenburgen, schwärzliche Ameisenzüge von Fußgängern, wanderndes Pilzgewimmel von Regenschirmen über feucht spiegelnden Asphalt.

Um dich, Friedrich Peschke, dreht sich das ewige Lichterkarussell. Um dich dreht sich Berlin. Berlin nimmt kein Ende. Du hebst den rechten Armstulp und gebietest Berlin. Und bist doch nur ein Schupo – ein junger Schupo – untersetzt und stämmig – humoristisch zwinkernd das runde, bartlose Gesicht unter dem Tschako.

Und neben dir auf der Verkehrsinsel steht auf einmal ein Mädel. Ein Mädel aus dem Volk. Kaum zwanzig. Zierlich und sauber, wie die richtige kleine Berlinerin, ihre schmächtige Gestalt im grauen Warenhaus-Mäntelchen mit Kaninbesatz. Dünn die bananenfarben florbestrumpften Beine in gelben Halbschuhen. Schmal das hübsche, blasse Gesicht mit dem feinen Naschen unter dem roten Topfhut.

Starr die kessen, hellbraunen, jungen Augen. Zwei fiebrige Fingerchen zupfen den Schupo leidenschaftlich am Arm. Atemlos:

»Herr Wachtmeister! Herr Wachtmeister! Sehen Sie den Mann drüben unter der Laterne, der Ihnen den Rücken zudreht?«

»Den Eleganten, Mittelgroßen, in dem kurzen, hellen Paletot?«

»Verhaften Sie ihn schnell – ehe er mich sieht! Das ist der gefährlichste Mensch von Berlin!«

»Ihnen gefährlich, Fräulein?« frug der Schupo Peschle philosophisch. »Oder wem sonst?«

»Lesen Sie keine Zeitung, Herr Wachtmeister? Das ist der Kerl, von dem ganz Berlin seit Monaten spricht! Das ist der Ale!«

»Der Nachtdoktor? ...«

»Der Ale Werbistedenn!? Das schreibt er doch bei jedem Einbruch da, was so die Millionäre sind, an die Wand! Er bricht doch nur bei Millionären ein! Schnell! ... Schnell! O Gott: Jetzt schaut er 'rüber!«

Der Herr drüben hatte einen Augenblick den Kopf über die Schulter gedreht. Er zeigte ein bartloses Profil zu Anfang Dreißig, undeutlich im Zwielicht. Er schlüpfte plötzlich rascher durch das Menschengedränge. Er hob hastig seinen silbernen Spazierstock.

»Er winkt einer Taxe!« schrie das Mädel auf der Insel.

Der Schupo Peschke sprang auf den Fahrdamm, mitten in das Gewühl. Mit kreischenden Vierradbremsen stoppten die Wagen vor der Obrigkeit. Er bahnte sich im Benzindunst eine Gasse zwischen Tanks und Kühlern. Ein riesiges Lastauto sperrte ihm die Aussicht. Er umlief es und erreichte die Bordschwelle drüben. Da, fünfzehn Schritt vor ihm, stieg der Herr im kurzen, hellen Herbstpaletot, ihm den Rücken zuwendend, gerade in einen Taxameter. Fuhr davon. Berlin verschluckte ihn. Nicht einmal die Droschkennummer hatte der Schupo Peschke noch erkennen können.

Erhitzt, enttäuscht stand er da. Auf dem Platz stauten sich, seiner Hand harrend, die mahnend tutenden Wagen, die ungeduldig bimmelnde Elektrische. Friedrich Peschke eilte auf seine Insel zurück. Sie war leer. Das Mädchen verschwunden.

Er hob gebieterisch den Arm. Befriedigtes Klingeln und Hupengrunzen die Antwort. Langsam, wie ein Eisgang, setzte sich der Strom in Bewegung.

Winke, Schupo – winke! Um dich dreht sich Berlin. Um dich dreht sich das Leben. Brautkutsche und Müllfuhre, Feuerwehr und Fußgänger, grüner Polizeiwagen und Leichenwagen – von der Wiege bis zur Bahre ...

Winke, Schupo – winke! Eilig! Eilig! Eilig! Es flutet um dich und deine Insel. Es wimmelt. Es hupt. Es flimmert. Es schimpft ... ...

Da neben dem Schupo schimpfen sie, weil sie warten müssen. Da hält ein lautlos pulsender Auto-Riese. Innen leer. Der Fahrer am Steuer in einer schwarzen Lederjoppe, eine Sportkappe schief hinten auf dem rötlich-blonden Stoppelhaar, die Zigarette schräg zwischen den energischen, bartlosen Lippen. Ein junger Mann aus dem Volk zu Anfang Dreißig.

»Nur keine unjesunde Eile – wat?« sagt er zu den Kollegen am Steuer und beugt sich dann freundlich lächelnd zu dem Schupo vor. »Herr Wachtmeister: Ich hab' nämlich mit meiner Jroßmutter jewettet, wer zuerst übern Platz is! Aber da drüben läuft se schon wie 'ne Biene – die olle Frau! Nanu? Fahrt? Schon? Nee – so wat!« Ein Zungenschnalzen. »Los, Mäuseken!«

2

Das Mäuseken war eine hundertpferdige, himbeerfarbene Limousine. Ihr zwölfzylindriger Mammut-Motor zitterte gedrosselt in den ewigen Stockungen der Verkehrsecken. Rot ... Gelb ... Grün ... Weiter ... Langsam weiter – eine Straße um die andere. Hinaus in den Berliner Osten.

Nun schon die krummen, alten Gassen der City. Wieder ein Halt. Feiernde Wagen in langer Reihe. Der junge Mann steckte den frischen, fröhlichen Kopf aus dem linken Vorderfenster.

»Wat's denn nu wieder los?«

»Da kann keen Aas vorbei! Vor der Bankfiliale drüben stehen die Leute knüppeldick!«

»Wollen die ihr Jeld retour?«

»Fremdes Jeld hat sich eener heut nacht holen wollen!« Ein hemdsärmeliger Budiker wies nach der kleinen Fremdenpension im eisten und zweiten Stock des Hauses über dem Firmenschild ›Wiebeling & Co‹. »Da ist gestern abend einer aus Holland abgestiegen – ein mittelgroßer Dicker mit 'nem roten Vollbart – mit zwei mächtigen Koffern – und hat gesagt, er sei müde von der Reise und hat sich gleich in die Klappe gelegt.«

»So um Uhre zwei hat er dann zum Nachtportier gesagt, er hätte Kopfweh und müsse spazierengehen!« Der Grünkram-Mann verstärkte seinen heiseren Naß. »Adjö Sie! Auf den warten sie jetzt noch! Den Gummibauch und den roten Bart – den hat er hinter Schloß und Riegel in der Bedürfnisanstalt uff dem Platz drüben abgelegt und is 'raus, wie die olle Dame gerade nicht hingeschaut hat ...«

»Sehen Sie die Strippe, die da von der Decke hängt!« Der Budiker wies wie ein Schaubudenerklärer in den hellen Bankraum. »Tet is nämlich 'ne seidene Strickleiter. Da hat der Bruder oben ein Loch in den Boden gebohrt, 'nen Regenschirm durchgesteckt und unten uffgeklappt, damit die Kalkbrocken nicht 'runterplumpsten und Lärm machten – verstehnse – und so hat er sich sachtemang 'nen Durchschlupf gemacht und hat sein Handwerkszeug 'runtergelassen und ist hinterher geklettert ...«

»Und denn?«

»Das war der reine Zufall, daß zwei Amerikaner mitten in der Nacht 'ne Depesche kriegten, daß sie am nächsten Morgen mit dem ersten Zug nach Hamburg aufs Schiff müßten. Nu die den Bankier Wiebeking 'rausgeklingelt, und der hat ihnen 'nen Beamten mitgeschickt, daß er ihnen ihre mächtigen Wertsachen, die sie da drinnen liegen hatten, 'rausgeben sollt'! Wie der nu uffsperrte, da haben sie alle drei Mund und Nase uffgesperrt, wie sie die Bescherung sahen!«

»Und der Kunde war weg?«

»Der hatte sich in Wohlgefallen uffgelöst! Alles stehn und liegen lassen! Jekriegt hat er nischt! Aber was der für Helfershelfer gehabt haben muß – wat? – daß er jleich erfahren hat, daß die Drei unterwegs waren! Det is zauberhaft, Herr!«

Der junge Chauffeur fuhr zehn Schritte weiter und mußte wieder stoppen. Die zahnlose Zeitungsfrau neben ihm schrie:

»Der Ale war da!«

»Haben Sie ihn jesehen, Mutter?«

»Natierlich war's der Ale!«

»Er hat's ja innen an die Wand geschrieben!« sprach behaglich der Mann aus dem Grünkramkeller. »... ›Eijentum is Diebstahl!«‹ hat er hingeschrieben!«

»Wenn das schon heute nacht war ...« frug der Rotblonde am Steuer der Luxuslimousine.

»... ›der Mann im Dustern‹ hat er drunterjeschrieben!«

»... warum stehen denn die Leute dann jetzt noch da?«

»Sie beaugenscheinigen die Behörden! Die sind da drinnen! Jetzt sperren sie ihre Hühneraugen uff und wundern sich, daß den Menschen heutzutage nischt mehr heilig ist!«

Durch die hellerleuchteten Fenster sah man von der Straße aus eine Gruppe von Herren in dunklen Mänteln und Hüten in erregtem Gespräch.

»Wer is drinnen der kleene Graubärtige mit der Glatze und Brille, um den sie alle 'rumstehen?«

»Det is der Bankbesitzer selber – der Jeheimrat Wiebeking!« erklärte der Fahrer der haltenden Himbeerkarosse. »Der hat in Berlin noch 'n halbes Dutzend solche Filialen außer dem Hauptjeschäft. Ick möchte mein Lebenlang nur so viel haben, wie der Olle an einem Tag verdient!«

Kopfnickendes Schweigen der andern. Der Führer des Luxuswagens aus dem Westen mußte es ja wissen. Das heisere Meckern einer Mumie eines alten Kutschers vom Bock einer Pferdedroschke.

»Dem Mann sieht man det ville Jeld ooch nich an!«

Der Geheimrat Dr. h. c. Albert Wiebeking war breitschulterig und hielt sich straff aufrecht. Willensstark entsprang die kurze Nase unter den durchdringenden grauen Augen und der hohen, stark gewölbten Stirn. Seine Bewegungen waren rasch. Seine Sprache kurz und schnell. Er sagte, inmitten seines Stabs von Direktoren und Prokuristen, zu einem vor ihm stehenden, kräftigen, bürgerlich dunkelgewandeten Mann, mit einem aufgedrehten Schnurrbärtchen in dem runden, jovialen, völlig ausdruckslosen Gesicht:

»Nun erklären Sie mir bloß, Herr Kriminalkommissar, wie war doch Ihr Name? Richtig: Herr Dürisch! ... die Schweinerei hier – das war doch dieser vielgenannte Ale?«

»Da hat er ja, nach seiner Gewohnheit, eine seiner Visitenkarten zurückgelassen!« Der Kommissar wies auf die großen Kohlen-Schriftzüge an der weißgetünchten Wand des Kassenraums. »›Traugott Ratemal, Dr. noct., Spezialist für Vermögenstransaktionen. Sprechstunde jederzeit. Ihr merkt's nur nicht!‹´...«

»Also nu bitte, Herr Kommissar: Wie konnte dieser Ale nur wissen, daß meine Geschäftsfreunde, die Amerikaner, während ihres Abstechers nach Wien ihren versiegelten Wertkoffer gerade hier bei mir deponiert hatten?«

»Vermutlich haben es die Amerikaner ihm wie andern Gästen Ihres Hauses bei Gelegenheit erzählt, Herr Geheimrat.«

»Was?«

»Sie haben wahrscheinlich schon oft selbst mit ihm gesprochen und wissen es nur nicht!« Die schläfrigen Züge des Kommissars Dürisch belebten sich für einen Augenblick. »Sie haben den Feind im eigenen Lager, Herr Geheimrat! Er lebt und verkehrt mitten in den höchsten Kreisen des Berliner Reichtums, und das macht mir, der ich die Raubzüge dieses Ale seit Monaten bearbeite, die Nachforschungen so schwer – ja fast unmöglich ...«

»Na – hören Sie mal, Verehrtester ...«

»Woher hat denn dieser Ale oder der Mann im Mond oder der fremde Herr aus Kottbus oder wie er sich in seinen blödsinnigen hinterlassenen Inschriften nennt – woher hat er denn diese nachtwandelnde Orts- und Personenkenntnis der ersten Berliner Gesellschaft? Warum geht er mit tödlicher Sicherheit immer nur da an den Speck, wo in den Millionärsvillen etwas ganz Ungewöhnliches zu holen ist? Warum weiß er genau, wenn solche Herrschaften verreist sind und das Haus leer steht? Warum ...«

»Das wäre ja ein unheimlicher Gedanke ...«

»Sie können Ihrem Schöpfer danken, Herr Geheimrat, daß diesmal – zum erstenmal – dem Ale sein Nachtangriff mißlungen ist!«

»Nein. Schaden ist mir nicht weiter entstanden!« sagte der kleine Geheimrat Wiebeking nachdenklich. »Aber ich werde es mir zur Lehre dienen lassen! Morgen leite ich die nötigen Abwehrmaßregeln ein!«

Draußen auf der Straße ruckte die Wagenburg langsam an. Ein Taxameter frug den Rotblonden am Steuer der himbeerfarbenen Limousine neben ihm:

»Mensch – wat jrienste denn so? Dir kommt det hier wohl komisch vor – wat?«

»Ick habe halt so ein frohes Jemüt am Leibe!« Der junge Mann lächelte und schaute versonnen in die hellen Fenster der Bankfiliale. Ein Schupo trat heran.

»Na – wollen Sie nicht auch mal lostrudeln?«

Der Fahrer des Zwölfzylinders schrak auf.

»Jewiß doch, Herr Wachtmeister! Allens, wat die Obrigkeit befiehlt!« versetzte er und fuhr weiter nach dem Berliner Osten. Und hinter ihm verhallten an den Straßenecken die Rufe der Zeitungshändler mit den Abendblättern:

»Neues vom Nachtdoktor!« ... »Zum ersten Mal hette der schwarze Peter Pech!« ... »Mißglückter Einbruch bei Wiebeking und Kompanie ...«

3

Geflute und Getute des lichthellen Ostens. Abendfieber Berlins, im eintönigen Grau der Hausfronten. Endlos scheinbar die schwarz wimmelnden Straßen unter dem rötlich widerstrahlenden Nachthimmel.

Durch sie lenkte der junge Mann ortskundig, mit geübtem Fingergriff und Fußspitzendruck, die Millionärmaschine, ruhig das freundliche Gesicht, prüfend die blauen Augen, schief die Kappe auf dem rötlichen Kurzhaar. Er tutete warnend und bog quer über den Bürgersteig in den Hof einer Autoreparaturwerkstatt. Stoppte. Stieg aus. Stand, mittelgroß, schmalschulterig und straff gewachsen. Stapfte steifbeinig in die Arbeitshalle.

Viele kranke Wagen blinkten – schwarz und grün und blau und grau in deren elektrischer Helle. Die Hämmer klopften. Die Schweißbrenner zischten. Draußen platschten die Wassergüsse der Wäscher.

»Die Probefahrt jing prima, Herr Zwickel! Der Kasten läuft wieder tipptopp!« meldete der Fahrer der Himbeerlimousine. Ein Lackierer brummte neben ihm über seine Spritze:

»Na – denn kann die Puppe ja wieder damit ins Schaufenster segeln!«

»Seien Sie doch froh, Staubitz, daß die Dame das gerade hier an der Ecke geschafft hat!« sagte der Garagenmeister Zwickel zu dem Lackierer. »Sonst hätten wir hier im Osten den Lambert Zwölf nicht zu Gesichte gekriegt!«

»Und passiert is ja auch weiter nischt!« Fritze, der Tankwart, kam, stark nach Benzin riechend, von seinen gelben und roten Zapfsäulen im Hof.

»Bloß, daß der Chauffeur sich uff acht Tage mit 'ner jeschwollenen Neese in die Charité zurückgezogen hat!« rief der Monteur Nonnenmacher aus der Ecke durch das Brausen der Galvanisierung an einem wunden Schlauch. »Jeschieht ihm recht! Wat läßt der ooch hier mitten in Berlin die Jnädige an den Bolang?«

»Das rechnet er ihr hoch an!« meinte trocken über seinem Leimtopf Lämmert, der Tischler.

»Muß er ooch! Die haben Jeld wie Heu – da draußen im Jrunewald – die und ihr Mann!«

»Bei denen sollte der Nachtdoktor mal einsteigen! Da is was zu holen!«

»Schreib' ihm doch 'ne Postkarte, Mensch – dem Ale!«

»Wenn eener wüßte, wohin! Der Mann lebt ja im schärfsten Inkognito!«

»Heute hat sie schon zweimal angehimmelt und gebarmt: ›Wo bleibt denn mein Wagen – mein süßer Wagen?‹.«

Der Garagenmeister wandte sich lachend an den jungen Fahrer. »Werner – Sie können Frau Hüsgen morgen die Limousine hinaus nach der Westallee bringen! Ich gebe Ihnen nachher die Adresse. Aber fahren Sie nicht zu zeitig vor. So feine Damens finden nicht so früh aus dem Bett!«

»Nee – ich werde der hohen Frau schon nich beschwerlich fallen!« Der junge Fahrer in Sportmütze und schwarzer Lederjoppe hatte die Haube seines Ungetüms aufgeklappt und betrachtete mit tiefem sachlichem Ernst den heiß dünstenden Motor. Er hatte dabei einen in sich verlorenen, forschenden Blick. Er bastelte mit seinen großen, arbeitsharten Händen, aber voll feinen Fingerspitzengefühls, an den Ventilen. Dann hob er den runden, eigenwilligen Kopf. »Kann ick für heute jehn, Herr Zwickel?«

»Nee – Werner! Augenblick: Ich hätt' noch was für Sie!« Der Garagenmeister tippte dem Fahrer auf die ölfleckige Lederbrust. »Eine feine Herrschaftsstellung! Heute nachmittag hat ein Fabrikbesitzer an der Oberspree bei uns angefragt. Gute Zeugnisse natürlich Bedingung!«

»Nee – danke sehr, Herr Zwickel!«

»Na, warum denn nicht? Andere würden sich heutzutage alle zehn Finger danach lecken! Sie passen doch dazu! Sie sind doch ein sicherer Fahrer und ein gelernter Schlosser. Und so was Herrschaftliches – worauf der Mann besonderen Wert legt, haben Sie auch – so was Wohlgefälliges fürs Auge!«

»Uff den fliegen sie – die Mächen!« sagte hinten der Monteur Nonnenmacher über seinem notleidenden Luftschlauch zu dem Lackierer.

»Danke wirklich, Herr Zwickel!«

»Mensch – nehmen Sie doch Vernunft an! Sie sind doch bei uns nur zur Aushilfe eingestellt! Das kann Ihnen jeden Tag passieren, daß Sie abgebaut werden!«

»Na – denn findet sich wat anderes, Herr Zwickel! Danke schön!« Der junge Mann lüftete die Sportkappe von dem energischen, rötlichen Rundkopf und ging. Der Lackierer schaute ihm nach und pfiff durch die Zähne.

»Merkste wat, Paule?«

»Nee!« Der Tischler sprach es undeutlich, den Mund voll Nägel, und klopfte an einer Polsterung.

»Zwei Märker zahlt der Junge uff'n Tag drüben in Feuerstakes Hotel für sein Zimmer. Nu frag' ich dich: Warum zieht er denn nich in 'ne Schlafstelle?«

»Det's ein Silbenrätsel!«

»Werd' ich dir auseinanderpolken! Im Hotel – da schreibt er einfach in den Fremdenschein: Karl Werner, Monteur aus Magdeburg. Aber in der Schlafstelle muß er sich beim Revier melden. Da sind die Brüder neugierig, wo er in Magdeburg abgemeldet is – und so – verstehste?«

»Na – ich bin doch keen Dussel!« Der Lackierer Staubitz blinzelte und spritzte seinen blauen Sprühregen auf den Wagenschlag.

»Da bleibt dem Jungen die Spucke weg! Nu sag' doch mal selber: Wenn der Werner aus Magdeburg is, warum spricht denn der dann richtiggehendes Berlinisch? Oder ganz feines Deutsch? Kann er ooch! Ick hab' mal unbemerkt im Laden hinter ihm gestanden, wie er sich Zigarren gekooft hat ...«

»Er sieht gar nicht so aus, als ob er was ausjefressen hätte!«

»So? Und nu das Fernere: Zeugnisse! Der Fabrikbesitzer will gute Zeugnisse sehen! Hat der Werner nich! Weil er wahrscheinlich gar nicht Werner heißt! Darum kriegt er kalte Füße! Verstehste mir?«

»Na – mich jeht der Werner nischt an!« sprach der Lackierer und spritzte.

4

»Na – Herr Werner – noch 'n Bummel durch die Nacht?«

Herr Lungwitz frug es, der Geschäftsführer im Hotel Feuerstake – Portier, Buchhalter, alles in einem – schmalbrüstig wie der abgebröckelte, zweistöckige Gasthof selber, mit seinen vier kleinen Fenstern Front nach der engen, lärmenden Gasse im Herzen Berlins.

»Wenn man den ganzen Tag hinter dem Steuer gesessen hat«, der Garagenschlosser Karl Werner – jetzt in billigem, grauem Anzug von der Stange – zwängte sich in dem schmierigen Flur zwischen verschnürten Reisekörben, verbeulten Musterkoffern, Teppichrollen, einer Steige mit lebendem Geflügel hindurch ... »denn muß man sich abends die Beine 'n bißchen vertreten!«

»Wie? Wegen der Perserteppiche? Herr Dunkelblau aus Jassy? Ist weggegangen!« Der bleiche Geschäftsführer Lungwitz telephonierte mit listig rollenden Augen hinter dem Hornzwicker am schwarzen Band. Er hüstelte lungenleidend in den Hörer. »Herrn Schafarek? Können Sie auf'n Abend hier genießen samt seiner Kollektion! Da drüben steht seine Verdrußkiste! Maxe!« Er gab einer Rübe von Pikkolo einen Schwung. »Führ' die Damen zur Frau Mehlig hinauf – Sie meinen doch die mit die Bettfedern en gros aus Hinterpommern?«

Er telephonierte wieder. »Nee – nee – Fräulein – kommen Sie mir nich mit so Zicken! Hier is ein Familienhotel – Ihnen gesagt! Wegen Ihnen Ihren schönen Augen leg' ich mich noch lange nich mit'n Revier an!« Er hängte an und wandte den abgespannten Langschädel über die Schulter. »Sie – Herr Werner – nanu – weg is er!«

Der Garagenschlosser Karl Werner schlenderte schon draußen durch die Straßen von Alt-Berlin. Berlin umher. Berlin stundenweit. Berlin ohne Ende. Nach allen Seiten die langen, gelben Flimmerreihen der Laternen, die langen Gleisschlangen der Elektrischen, die Leuchtketten der Ladenscheiben.

Er ging weiter, ins tiefste Berlin hinein. Nächtig schweigende Gassen, in denen sich nichts regt. Eine huschende Katze. Zwei dunkle Gestalten im Torschatten, Hausmädchen und Hausdiener. Küßt euch nur, Kinder ...

Da ist das dunkelste Berlin. Schweigend, schwarz verschwimmend, spärlich Lichter spiegelnd, die weite Fläche der Spree. Vereinzelt nur helle Fensterpunkte drüben am nächtigen andern Ufer. Der Garagenschlosser Werner ging den Fluß entlang. Plumpe Zillen ankerten da. Die hellen Schornsteine der vertäuten, kleinen Dampfer leuchteten in der Dämmerung. Ein paar Köter kläfften von den Kähnen. Von irgendwoher trug der Wind Menschenstimmen über das Wasser und verwehte.

Nachdenklich stand der Schlosser Werner und einsam, die Hände in den Rocktaschen, und rauchte seine Zigarette, die als ein rotes Pünktchen durch die Nacht glimmte, und schaute hinaus auf das dunkle, das unbekannte Berlin.

Und da sah er etwas ... ... Er warf seine Zigarette weg und ging leise und schnell über den breiten Kai an den Fluß heran.

Ein wüster Wirrwarr von Sandhaufen, Röhren, Klamottentürmchen, Eisenschrott, Schubkarren, Bretterstapeln schattete auf dem Pflaster. Zwischendurch war ein junges Mädchen bis an den Holzzaun getreten, der den Kai von der Spree schied. Sie stand an einer Stelle, wo unten das Wasser frei, ohne die Last schlafender Kähne, an der Backsteinböschung gluckste. Sie beugte sich über die Planken und schaute hinab auf den nachtschwarzen Spiegel.

Nun machte sie wieder ein paar Schritte rückwärts und schritt langsam, unschlüssig, längs des Flusses auf und ab. Sie kam in den Lichtschein einer Laterne. Der Schlosser Werner sah im Zwielicht, daß sie jung und mittelgroß und dünnbeinig und zierlich von Gestalt war, in einem grauen, pelzbesetzten Mäntelchen. Ein roter Topfhut und ein Paar gelbe Halbschuhe schimmerten als Farbenflecke durch den zähen Nachtnebel.

Jetzt war sie wieder dicht am Geländer. Plötzlich schwang sie gelenkig ein Bein hinüber, war im Begriff, die Planke zu überklettern. Von da ging es senkrecht hinunter in die Flut.

»Nanu – Fräulein!«

»Lassen Sie mich!«

»Fräulein – was machen Sie denn da für Dummheiten?«

»Ob Sie mich in Ruhe lassen ...«

»Fräulein ... Strampeln Sie nicht! Ich bin doch stärker! Sehen Sie: Ich zieh' Sie ganz sauber über das Geländer zurück!«

Er stellte das Mädchen drüben wieder auf die Füße. Sie stand vor ihm – atemlos – am ganzen Leib zitternd – einen halben Kopf kleiner als er. Nun sah er sie deutlich: Ein schmales, wachsgelbes Gesicht mit feinem Näschen und starren, hellbraunen Augen. Dunkle Haarsträhne unter dem verschobenen roten Hut. Sie rückte ihn sich mit zitternden, feinen Fingern zurecht. Ihre helle Berliner Stimme klang erstickt.

»Was geht das Sie an – möcht' ich bloß wissen!«

»Wenn Sie erst tot sind, tut's Ihnen morgen früh leid!« sagte der Schlosser Werner herzlich. Er hatte gute blaue Augen und einen teilnehmenden Zug um den Mund. Er legte vorsichtig den Arm um ihr dünnes Kaninpelzmäntelchen.

»Ist ja viel netter so, Püppchen!« tröstete er sie sanft. »Denken Sie mal: Nun schwämmen Sie schon da unten als 'ne tote Wasserleiche! ... Vergessen Sie doch den Kerl und nehmen Sie sich 'nen andern. Gibt ja genug!«

»Gehen Sie – ja ...«

»Das sind mir Männer ja gar nicht wert! Ich muß das doch wissen. Ich gehör' doch selber zu der Ware!«

»Ach – wenn's das wäre ...« Die kleine Berlinerin setzte sich matt auf einen Haufen verrostete Eisenträger. Ihr Köpfchen fiel ihr vornüber auf die Knie. Davor preßte sie noch die mageren Kinderhände an Stirn und Schläfen. Ihr Körper zuckte.

»Nicht weinen, Kind! Ist ja noch gut abgegangen ...«

»Das sagen Sie! ... Haben Sie denn 'ne Ahnung ...«

»Warum haben Sie denn eigentlich ins Wasser wollen?«

»Die schmeißen mich ja doch ins Wasser!« Die Kleine sprang auf und starrte verstört um sich.

»Wer denn? Weswegen?«

»Weil ich ihn verpfiffen hab' – heut' nachmittag bei dem Schupo auf dem Ottoplatz! Das hat er doch jesehen ... Hui! – War der weg! Der Dussel, der Schupo, hat ihn nicht mehr gekriegt!«

»Er? Wer? Wen haben Sie bei dem Schupo angezeigt?«

Das Mädchen antwortete nicht. Er hörte nur ihr stoßweises, angstgepreßtes Atmen. Dann ein gebrochenes:

»Da ist's doch besser, man macht selber ein Ende, ehe die Brüder über einen kommen!«

»Vorläufig bin ich doch noch da!« sagte der Schlosser. »Kind – wo wohnen Sie denn?«

»Gerade da drüben über der Spree!«

»Bei wem?«

»Bei meinem Stiefvater! Der hat da 'ne Destille!«

»Also – ich bring' Sie hin! Los!«

Der Schlosser Werner wandte sich in der Richtung zur nächsten Brücke, die weit flußabwärts ihren Laternenglanz in dem Wasser spiegelte. Das Mädchen aus der Nacht hielt ihn erschrocken am Arm zurück.

»Nur man nicht da lang!«

»Wir können doch nicht durch die Spree schwimmen! ... Hallo! Ich glaub', die Krabbe will schon wieder ins Wasser! Ob Sie gleich schön hier oben bleiben ...«

»Nee – nee – Kommen Sie nur!«

5

Das junge Mädchen glitt, ein leichtfüßiger Schatten, ein Dutzend Schritte am Ufer hin. Da war ein Durchlaß in dem Bretterzaun. Eine schmale Steintreppe führte steil hinab zum Wasserspiegel. Über dem wölbten sich, reihenweise nebeneinander, in plumper, dämmernder Länge, die Verdecke der Spreezillen. Ein würziger Apfelgeruch stieg aus ihrer schlafenden Stille.

Die Kleine steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen gellen, kläglich trillernden Pfiff aus.

»So quieken doch die Ratten, wenn sie 'ne Holzpantine an'n Kopf kriegen! Das ist mein Signal mit dem Paule!« sagte sie und beugte sich spähend nach unten, wo schwere Schritte über schattenhafte Planken tappten. »Paule! Fahr' uns 'rüber!«

Unten im Zwielicht stand ein junger Spreeschiffer, hemdsärmelig, in hohen Stiefeln, mit einem freundlichen, wettergebräunten Gesicht. Er musterte schweigend den Schlosser, spuckte ins Wasser und stemmte stumm einen Kahn vom Ufer.

»Der Paule Räder ist mein Freund! Das ist ein anständiger Mensch!« raunte, zwischen den Ruderschlägen des Spreeschiffers, auf der Rückbank die Kleine zu dem Monteur. Der frug:

»Warum sollten wir denn nicht über die Brücke gehen?«

»Der Dicke ist imstand und lauert mir da irgendwo auf ...«

»Wer ist denn der Dicke?«

Das blasse, junge Ding zog krampfhaft die Schultern hoch, duckte sich in sich zusammen und antwortete nicht. Ein ganz leiser, weinerlicher Wehlaut der Angst verzitterte aus ihrem Mund in der kühlen, feuchten Luft über den gurgelnden schwarzen Wassertrichtern der Ruder.

»Ist das der, den Sie heute nachmittag dem Schupo haben anzeigen wollen?«

»Nein ...« Kurzatmig, in unterdrückter Angst: »Gotte doch! Der is hoch über dem Dicken! Der is draußen im Westen. Der is einer von den ganz Feinen! Der läßt sich doch hier bei Vätern nicht sehen!«

»Püppchen – was gehen denn Sie die beiden Kerle an?«

»Na – der Dicke schickt mich doch immer zu ihm!« Sie stieß es hervor ... »Damit die nicht merken, daß die Zwei was zusammen haben!«

»Wer soll's denn nicht merken?«

»Na – die Polizei ...«

Der Spreeschiffer vorn konnte, im Plätschern seiner Ruder, nicht hören, was die beiden sprachen. Er arbeitete stumm, mit kräftigen und heftigen Schlägen.

»Also was Verbotenes, Kind?« Die Stimme des Schlossers Werner klang sehr ernst.

»Sie merken aber auch alles!«

»Warum lassen Sie sich denn da schicken?«

Das junge Mädchen stöhnte leise vor sich hin, wie in einem Frostschauer aus der kühlen Flut heraus.

»Das hilft Ihnen gar nichts, daß Sie mich nicht ins Wasser gelassen haben und hier nach Hause bringen!« sagte sie plötzlich ganz ruhig. »Der Dicke macht mich jetzt doch kalt!«

Das andere Ufer rückte schattenhaft heran. Hohe alte Eichenpfähle ragten aus dem Wellengezitter. Drüben glommen nur vereinzelte Lichter. Undeutlich hob sich längs des Flusses ein Gewirr von windschiefen, niederen Häusern, Holzbuden, Ruinenplätzen. Das Boot landete an ein paar verwitterten Eichenstufen. Der Schlosser Werner hielt im Aussteigen ein Fünfzigpfennigstück zwischen den Fingerspitzen. Aber der Spreeschiffer schob die schroff zurück.

»Behalt' du man deinen Zaster!«

»Immer ist er eifersüchtig!« sagte das Mädchen. »Du kannst jetzt wieder türmen, Paule!«

Sie führte, während die zornigen Ruderschläge verhallten, den andern die brüchige Hühnerleiter empor. Oben stand er in tiefer, freier Nacht. Er fühlte unter den Stiefelsohlen Backsteinbrocken, Scherben, Grasbüschel. Er stieß mit dem Hut gegen eine ausgespannte, leere Wäscheleine. Allmählich erkannte er um sich im Dunkel wie Katakomben die Kellerwölbungen abgerissener Häuser. Aus den Trümmern glucksten Hühner im Schlaf. Irgendwoher, aus einem Holzverschlag, meckerte eine Ziege. Ihm war, als sei er gar nicht mehr in Berlin.

»Dufter is es hier ...« Die Kleine stieg ihm ortskundig voraus durch die Nacht. »Das is 'ne mulmige Gegend! Allein tät' ich Ihnen nicht raten, hier ... So ... da geht's 'rein ... Die richtige olle Achtgroschenbude – nich?«

Schattenhafte, schief vornübergeneigte, hundertjährige Häuschenwände, durch schräge Stemmbalken vor dem Einsturz bewahrt. Schmuddelige Höfe. Ein feuchter, dunkler Tordurchlaß. Fauliger Geruch. Eine einsame Laterne. Wieder ein Schmutzwinkel von Hof. Das Mädchen klinkte eine morsche Hinterpforte auf. In einem dämmerigen Flur standen Sauerkrautfässer, leere Biertonnen, Eimer mit Heringsköpfen und Kartoffelschalen. Sie wies auf eine Glastür, durch die ein Grammophon dudelte: ›Es war einmal ein blauer Husar‹ ...

»Danke schön!« Sie hatte einen sonderbar starren Ausdruck in den hellen Berliner Augen, wie sie da, in ihrem verkehrt geknöpften Mäntelchen, den roten Topfhut immer noch schief auf dem blassen, hübschen, dunklen Köpfchen, bleich und jung sich aus dem Dunst und Moder hob. »Ich laß' Sie jetzt vorn durchs Lokal hinaus!«

»Nein! Ich setz' mich jetzt noch mit Ihnen da ein bißchen hin!«

»Kümmern Sie sich doch nicht um mich! Mit mir ist's ja doch alle!«

»Sie sollen mir noch was von sich erzählen!«

»Was interessiert denn Sie das?«

»Ich bin nun mal so, daß mich andere Menschen interessieren!«

Es klang weich und teilnehmend. Das junge Mädchen schien willenlos. Sie trat stumm in den Wirtsraum. Er folgte ihr und schaute sich um. Eine geräumige Destille, wie viele tausend in Berlin. An den Holztischen, spärlich da und dort, Leute aus dem Volk, wie man sie überall in Berlin in den Budiken sah. Plakate mit Maibock und altem Nordhäuser an den Wänden. Eine Anrichte mit Buletten, Soleiern, Rollmöpsen neben dem Schenkschragen.

Von dem her schlurfte, als die beiden sich gesetzt hatten, ein kleiner, gemütlicher Kerl mit pfiffigen Zwinkeraugen, Glatze und flott aufgedrehtem Schnurrbärtchen, eine bierfeuchte, einst weiße Schürze über den kurzen Säbelbeinen, in grünen Pantoffeln. Seine Kropfkehle krächzte.

»Na – wo steckste denn den janzen Abend, Fränze?«

»Du denkst wohl, das olle Zeug, das sortiert sich von alleine!« sagte das Mädchen feindselig, und dann zu dem Schlosser Werner: »Ich helf' doch dem Jakob Grünspan den Tag über in seinem Geschäft. Der kauft Altpapier auf. Aber heut' is er schon wieder um sechse weg!«

»Er is in der Dragonerstraße bei dem Lefkowitz, dem koscheren Geflügelhändler!« schrie es durch das Töpfegeklapper von nebenan. Ein unförmlich dickes, schlampiges Weib steckte den herdgeröteten Grauschädel mit dem Anflug eines schwarzen Schnurrbärtchens durch die offene Türe.

»Zusammen mit dem Scholem Gewürz!« ergänzte eine hagere, junge Frauensperson, die in der Ecke an einem Strohhalm saugte.

»Gott – die Jalizier!« Der säbelbeinige, kleine Destillenwirt beäugte neugierig den Monteur Werner. »Was haste denn da für 'nen Freier mitgebracht, Fränze?«

»Verstich deinen Bräutigam in der Matratze« riet im Hintergrund ein Frauenzimmer mit großem Federhut. Und die neben ihr, eine billige, weiße Pelzstola über dem schäbigen Mantel:

»Dat 's doch der Lustmörder von Johannistal!«

»Ich werd' mich gerade mit der Simili-Berta anlegen!« Die Fränze machte nur eine verächtliche Bewegung mit der mageren Schulter.

»Halt' die Schnauze, Ulanen-Guste!« Der Schmuddelfritze in der biernassen Schürze beugte sich diensteifrig vor. »Was soll's sein, Herr?«

»Der Herr trillert 'n Nordlicht. Und zwei Mollen!« sagte die Fränze. Sie stützte, während der Wirt weglatschte, das feine, schmale Gesichtchen auf Hohlhand und Ellbogen und starrte leer vor sich hin. Dann nach einer Weile:

»Dat's mein Stiefvater!«

»Und die Frau in der Küche Ihre Mutter?«

»Der olle Drachen? Nich in de Hand! Das is seine zweite Frau. Die verdient er. Meine Mutter is schon vor fünf Jahren gestorben. An dem da!«

»Ja – und Ihr Vater?«

»'n Vater soll ich auch noch haben?« Die Fränze lachte kurz auf. »Von dem weiß ich nichts. Als Kind angenommen hat mich der dort drüben auch nicht. Der hat selber drei Bollen. Wie Mutter tot war, bin ich hier so hängengeblieben ...«

Plötzlich reckte sie sich in den Schultern. Sie ballte verbissen die Hände.

»Aber ich will hier 'raus – und wenn's in die Spree ist! Ich halt' das Leben nicht mehr aus. Ich bin gar nicht so. Ich hab' in der Volksschule im Betragen immer »Gut« gehabt. Ich bin durch alle Klassen. Der Herr Pfarrer hat mich sauber konfirmiert ... ach ... das is mit mir schon ein Jammer ...«

6

Die Fränze war tränenschluckend verstummt. Sie schrak zusammen. Sie frug einen koketten, schwarzgelockten Riesen mit verwegen aufgedrehtem schwarzem Schnurrbärtchen und kleinen Messingringen in den Ohren, der aus einem verschlossenen Nebenzimmer kam:

»Ist der Dicke schon drinnen?«

»Nee! Da mußte deine Sehnsucht noch bezähmen! 'Nacht!«

»Wer das war?« Die Kleine atmete auf. »Ein Preisringer. Den nennen sie Goldhäschen. Der trägt nur Spitzendamenwäsche. Aber von Damen selber will er nichts wissen! Im Gegenteil!«

Wieder bekam sie das Zittern. Sie wandte das blasse Köpfchen nach der Straßentüre. Ein behäbiger, spießbürgerlicher Mann mit Zwicker und Aktenmappe ging von da quer durch das Lokal nach dem Seitenraum.

»Butterkopf – weißte, wo der Dicke steckt? Nee?«

»Der ist der Kassierer von den ›Veilchen‹ da drinnen«, sagte, als er weg war, die Fränze. »Na ja – so nennen sie sich doch, weil sie im Verborgenen blühen! Er hat die Unterstützungskasse vom Verein!«

»Für Krankheitsfälle?«

»Nee doch! Wenn einer wieder freikommt und steht nu da!«

»Also das sind Verbrecher?«

»Na – was haben Sie denn gedacht ...?«

Die Fränze preßte grüblerisch die blassen, weichen Lippen mit den kleinen, etwas schadhaften Zähnen. Sie schaute den Schlosser Werner an.

»Ich glaube, Sie sind ein guter Mensch!« sagte sie.

»Ich meine es gut mit Ihnen!«

»Was sind Sie denn von Profession?«

»Chauffeur 2b und 3b.«

»In Stellung? Kleben Sie? Haben Se 'ne feste Wohnung? Ja? Denn is gut! Denn glaubt Ihnen der Wachtmeister auf dem Revier ...«

»Was denn?«

»Ich droh' jetzt den Brüdern, wenn die mir was tun wollen, daß Sie morgen hier nach mir fragen und, wenn ich nicht mehr da bin, gleich zur Polizei laufen! Vielleicht hilft das!«

»Ich werde kommen! Wie heißen Sie denn?«

»Franziska Häselich. Fragen Sie nur nach der Fränze! ... 'Tag, Äppelröschen!«

Sie gab über die Schulter einem hereinkommenden, blutjungen Straßenmädchen die Hand. Es war ein zartes, strohblond gefärbtes Geschöpf mit einem spitzigen Kindergesicht – rote Flecke von Schminke und Schwindsucht auf den Backenknochen.

»Röschen – was machste für Geschäfte?«

»Mies ...«

»Haste was von dem Dicken gesehen?«

»Der is schon unterwegs hierher!«

Das verlorene Mädchen hatte eine feine Stimme. Sie ging und setzte sich zu der Simili-Berta und der Ulanen-Guste. Die Fränze schaute ihr verstört nach.

»Um das Äppelrüschen ist es schad'! Das ist'n feiner Kerl! Die hat so viel Gemüt ... Wie? Der Dicke, der jetzt gleich kommt – das ist der Vorsitzende von dem Verein drinnen. Der hat sie alle in der Mache!«

»Und Sie, scheint's, auch!«

Die Kleine schluckte vor Angst. Sie krampfte die Fingerchen ineinander. Sie setzte das Bierglas an die Lippen und, ohne zu trinken, wieder ab.

»Was soll ich denn gegen den Dicken machen? Wenn der sagt: ›Nu gehste‹ – denn geh' ich ...«

»Zu wem?«

»Na – zu dem, der hinter dem Dicken und seiner Kolonne steckt! Dem gehorchen sie doch blind. So einer war doch noch nicht da! Aber zu sehen kriegen sie ihn nicht. Dazu ist er zu vorsichtig. Da darf ich immer laufen und Post zwischen ihm und dem Dicken bestellen!«

»Wer ist es denn?«

»Weiß ich denn? Ich treff' ihn doch immer nur in irgend 'ner Kaschemme! Hier nennen sie ihn den Ale ... Zeitung lesen Sie wohl nie? Da ist doch immer alles voll von dem Nachtdoktor ... Erst heute nacht – da haben sie das Ding bei Wiebeking'n – in dem Bankhaus – schief gedreht! 'mal marschieren wir noch alle in Moabit auf, wie wir gewachsen sind! Davor gruselt's mir bis in die Knochen!«

Die Fränze schluckte hastig, in einem plötzlichen Schauder, ein paar Schluck von dem dünnen, gelben Bier. Ihre hellen, jungen Berliner Augen hefteten sich über dem Glasrand lichtbraun, schreckensweit auf den Schlosser Werner.

»Nu hatt' ich heut' im Westen von dem Jakob Grünspan drüben, wo ich tagsüber Zeitungen sortier', 'ne Rechnung zu zahlen, für Altpapier – damit handelt er doch – der Schlemihl – und da seh' ich doch auf dem Rückweg zufällig auf dem Ottoplatz den Ale in Lebensgröße ...«

»Wie sieht er denn aus?«

»Gott – auch nicht viel anders wie Sie ... auch so um die Dreißig und mittelgroß und glattrasiert – und fein in 'nem kurzen Paletot und da ...« Die Fränze hob sich halb vom Stuhl. Sie keuchte ... »Da hat's mich plötzlich gepackt: Nu machste mal Schluß! ... Nu bringste den Ale ins Kittchen und die ganze Kolonne mit ...«

»... aber sich selber doch auch ...«

»Kann ich denn dafür? Ich muß ja! Ich möcht' ja nicht! Ich möcht' ja gern ordentlich leben! Aber sie zwingen einen ja ... Der Dicke macht ja Hackepeter aus mir, wenn ich nicht ... Da täten sie mit mir noch ein Einsehen haben – bei's Gericht! Und wenn ich 'n Jahr auf'm Barnim 'runterhau' oder zwei – lieber als das Leben hier! Aber der Schupo – bis der Großpapa seine krummen Beene zusammengefunden hatte, da war der Ale schon weg ...« Sie biß in Todesangst in ihr zerknülltes Taschentuch. »Aber er hat mich gesehen! ... Das wird jut mit mir ...«

»Kinders – die Wechsel-Lotte!« schrie hinten eines von den drei Frauenzimmern mit Federhüten und Boas.

Die Ruine einer alten Frau wankte auf Krücken herein. Ärmlich gekleidet. Ein verwüsteter Graukopf. Die Ulanen-Guste sprang mit gierigen Augen auf sie zu.

»'raus mit dem Koks!«

»Die handelt mit dem weißen Pulver!« sagte die Fränze. »Irgendwo hat sie die Briefchen im Rockfutter versteckt!«

»... damit du hier bei mir abgeklappt wirst, olles Aas!« Der Säbelbeinige wankte vom Schenkschragen heran. »Hier is 'n Familienlokal! Verklopp' du deinen Dreck draußen unter der Laterne!«

Die Ulanen-Guste bückte sich wild nach dem grauen Wollstrumpf der Alten, in dem sie das Kokain vermutete. Die hielt sich schmerzhaft, hüstelnd, die gedunsene Hand vor die Brust. Sie krächzte erloschen.

»Erst de Pinke!«

»Lotte – laß mich nur einmal schnupfen!« drängte die Simili-Berta.

»'raus!« Der Kneipwirt packte das gebrechliche Bündel Lumpen und Krücken an der Schulter. Es war ein Getümmel. Das Äppelröschen sah von seinem Tisch aus still zu. In der Eingangstüre standen zwei Männer, dunkel angezogen, in Schlapphüten. Der eine in den Vierzigern, wohlbeleibt, kleinbürgerlich-solide, ein Schnurrbärtchen in den ausdruckslosen Zügen. Der andere – jung, untersetzt, mit vergnüglichem, rundem, bartlosem Gesicht – zwinkerte kaum merklich nach dem Tisch, an dem der Garagenschlosser mit der Fränze saß.

»Nu ist's doch gut, Herr Kommissar, daß Sie mich heute auf die Streife mitgenommen haben! Die Göre dort drüben – das ist die, die mir heute nachmittag auf dem Ottoplatz den großen Unbekannten gezeigt hat!«

»Und der Kerl neben ihr?«

»Kenn' ich nicht!«

»Kommen Sie, Peschke! Die Gesellschaft braucht mich nicht erst zu bemerken! Ich bin hier überall bekannt wie ein bunter Hund!« Der Kriminalkommissar verständigte sich, über das Gezerre um die zu Boden gefallene alte Kokainhändlerin weg, durch einen Augenwink mit dem blassen, jungen Frauenzimmer in der Ecke, die teilnahmlos an einem Strohhalm saugte. »Das ist die Jräfin. Eine von unseren Vigilantinnen. Die ist nun schon im Bild!«

Und draußen, auf der Straße, zu ein paar schnurrbärtigen Männern, die ihn da erwarteten:

»Hier – im elften Lokal, haben mir nun endlich Glück gehabt. Herr Schupo Peschke hat da drinnen das Mädel vom Ottoplatz heute nachmittag wiedererkannt! Na – die und die Veilchen und die ganze Kaschemme kennen wir schon lange. Nun wollen wir uns vor allem den neuen Freund von der Bolle merken – der mit ihr am Tisch sitzt!«

»Für heute«, er wandte sich an den Schupo Peschke, »brauche ich Sie nicht mehr! Sollten Sie noch irgend etwas in Erfahrung bringen, so wissen Sie meine Adresse auf dem Präsidium: Kommissar Dürisch!«

Die düstere Gasse draußen lag menschenleer. Nur drüben, in dem nächtigen Pompeji abgebrochener Wanzenbaracken, bewegte sich zuweilen der Schatten eines, von dem Kommissar zurückgelassenen, polizeilichen Beobachters gegenüber dem verwitterten Schild ›Restaurant Daniel Krüger‹ über den sechs rot verhängten, hellen Fenstern im Erdgeschoß des windschiefen, niederen Hauses.

Die alte Rauschgifthändlerin kam, sich vorsichtig umsehend, auf ihren Krücken herausgehumpelt. Sie wimmerte vor sich hin: »Is det 'ne Welt!« Innen im Lokal beugte der Schlosser Werner seinen frischen und freundlichen, lebhaften Kopf zu dem dunkeln Wuschelhaar der Fränze Häselich und sagte:

»Also ich verspreche Ihnen, daß ich nicht nur morgen komme, sondern Ihnen überhaupt helfe!«

»Ach! Sie haben ja selber nischt!«

»Soviel schon! Sie müssen hier 'raus! Das ist das erste! Dafür werde ich sorgen! Sie müssen nur Zutrauen zu mir haben, Kind!«

Der Fränze blinkten Tränen in ihren blanken Berliner Augen.

»Wenn die mich nicht bis morgen in die Spree geschmissen haben!« versetzte sie hoffnungslos. Ein junger Herr schlenderte leise pfeifend an ihr vorbei, den Hut im Genick, stutzerhaft herausgemustert, eine riesige Wachsperle im feuerroten Schlips. Er ähnelte einem Korpsstudenten, mit den paar langen, rot verharschten Schmissen in dem übernächtigen Gesicht. Aber außerdem lief dem Elegant noch eine furchtbare fingerbreite Narbe halb um den hageren Hals. Er zwickte im Vorbeigehen die Fränze scherzhaft in die Schulter. Sie stieß seine Hand zurück.

»Laß die Zicken, Blaumüller – ja?«

»Na – wart' nur! Der Dicke kommt gleich hinter mir! Der is heut' scharf uff dir!« Der Zuhälter lachte und trat in das Sonderzimmer. Die Fränze stand schnell auf. Sie gab dem Schlosser Werner ihre eiskalte, kleine Hand.

»Gehen Sie jetzt man! Jetzt klappt's! Sie können hier doch nichts helfen! Gegen all die Kerle! Aber kommen Sie morgen! Bitte – – bitte – kommen Sie!«

Draußen stand der Schlosser Werner. Er prägte sich die Nummer des schmierigen, abgebröckelten Gebäudes ein, ohne auf einen Mann zu achten, der breitschulterig, wuchtig über das holperige, halbdunkle Pflaster seinen Weg zur Krügerschen Wirtschaft nahm und mit einem harten Ruck deren Türe aufstieß.

Dann schritt der Fahrer Werner weiter, die finstere, einsame Ruinengasse entlang. An der Ecke las er: Schlünzigstraße. Und an der nächsten Ecke war auf einmal wieder Berlin. Licht. Leben. Litfaßsäulen. Menschen ... immer noch Menschen am späten Abend. Menschen ... Mengen ... Millionen ...

Und der Garagenschlosser Karl Werner ging, und es ging ihm durch den Kopf:

Wohin zieht ihr, ihr Millionen – unter dieser unheimlichen rötlichen Feuersbrunst am Nachthimmel über der Stadt ohne Nacht? Nacht und Not, Küsse und Kummer, Tanz und Tod – es ist ein Wandern – ein Brausen – ein ewig fließendes Riesenrätsel. Und seine Lösung nur, wenn du in all den vieltausend Gesichtern immer wieder dein eigenes Menschenantlitz erkennst ...

7

Der Mann, der draußen an dem Monteur Werner vorbeigegangen war, stand, ein Stammgast, stämmig, massig, mitten in der Destille. Ein Paar schläfrige Augäpfel rollten suchend in dem großen und groben Gesicht. Zwischen der weitflügeligen Nase und dem Sack des Doppelkinns lief ihm ein breites Lächeln um die bartlosen Lippenwülste. Er steuerte seine plumpe Leibeswucht zu dem Tisch, an dem die Fränze, fast ohne zu atmen, saß – blutleer gelb die Wangen, gläsern der Blick, wie eine Gestalt im Wachsfigurenkabinett. Er setzte sich schwerfällig ihr gegenüber und sagte nur unheimlich aufmunternd:

»Na ...?«

Die Fränze starrte ihn schweigend an – mit halboffenem Mund – unbewegt – gelähmt ... wie das Vögelchen die Schlange.

»Wat wird denn nu mit dir?«

Drüben kein Laut. Kein Angstzittern. Willenlosigkeit.

»Haste dein Testament jemacht – du Kröte?«

Plötzlich Leben in der Fränze. Ein Haßblick der Verzweiflung.

»Morgen fragt hier einer nach mir! Ein reeller Mensch! Der meldet mich bei die Vermißten! Denn kannste das Zuchthaus wieder mal von innen bekieken!«

Der Dicke hob seine mächtige, fein beflaumte Tatze. Eine blaue Tätowierung – ein vom Liebespfeil durchbohrtes Herz – spielte auf dem muskelgeschwellten Unterarm. Die Fränze duckte sich gewohnheitsmäßig unter der Maulschelle aus der tabakblauen Luft. Aber es kam keine. Der drüben ließ die Boxerfaust wieder sinken.

»Sag' dem Stiesel – wenn er noch mal kommt – bezieht er von mir meinen Öpperkötter! Hausmarke! Unter Kennern jeschatzt! Kostet ihn 'n künstliches Jebiß! Nu jeh! Zum Pipel-Ede! Du weißt: der Keller am Schlesischen Bahnhof!«

»Wat – soll ich – dort?« Die Fränze sprach es mechanisch.

»Dort is der Ale ...«

»Der ... Ale ...«

»... den du heut' nachmittag hast verpfeifen wollen – du Luder! ... Wat der mit dir anfangen wird, das hat er sich selber vorbehalten!«

»Da – komm' ich – ja – nicht – wieder!«

»Det Wort sollste wahr haben! Nu mach' mal den Spazierjang! Von dem werden dir die Beine ooch nich krumm!«

Die Fränze erhob sich langsam.

»Und komm' dem Ale nur nich erst mit rotgeheulten Augenklappen! Das macht auf den jar keinen Eindruck! Na – wird's?«

Die Fränze tat zwei schwankende Schritte in das Lokal hinein. Blieb stehen. Die Frauenzimmer in Federhüten sahen neugierig, das Äppelröschen zwischen ihnen mitleidig, zu.

»Marsch! Aber nimm dich in acht! Es steht ein Spanner draußen!«

Die Fränze ging, die Augen schon in der Ferne, weiter. Zögerte zitternd.

»'raus!«

Die Fränze Häselich stand auf der windumpfiffenen, herbstdunkeln Schlünzigstraße. Sie schritt, immer mit halboffenem Mund, wie eine geängstigte Nachtwandlerin durch das verlorene Viertel an der Spree – in Laternenhelle hinein – auf wimmelnde Bürgersteige – Berlin um sie – der unermeßliche Ameisenhaufen des Ostens. Immer nach Osten. Nicht weit. Da war der Schlesische Bahnhof, mit seinen vielen kleinen Hotels, dem Gewimmel der engen Gassen, den zahllosen Destillen, Bierstuben, Amorgrotten, Nymphendielen – den merkwürdig vielen Menschen – junge Burschen – Mädchen – ältere Männer – die, jetzt noch, am späten Abend, scheinbar zwecklos vor den Häusern lehnten und auf den Bürgersteigen lungerten.

An den Straßenecken standen die Schupoposten vier Mann stark. Die Fränze ging scheu an ihnen vorbei und stieg eine ausgetretene Kellertreppe zur Unterwelt hinab.

Ein niederer, menschenheißer, übeldünstender Raum im Tabaknebel und Stimmengewirr, alles voll von stehenden und sitzenden Gästen. Alle die Hüte auf dem Kopf. Frauenzimmer dazwischen. Die Fränze hob sich auf die Fußspitzen und schaute sich um. Aus einer Runde Ostjuden in schwarzen Kaftanen, hohen Stiefeln, schwarzen Schirmkappen, mit Schläfenringeln und Prophetenbärten, zupfte sie einer vertraulich am Mantel.

»Was ze handeln, Fräulein?«

Die Fränze drängte sich wortlos weiter. Hinter ihr ein Schütteln der Patriarchenköpfe.

»Kennt Ihr sie, Sime Mordchai? Kennt Ihr, Lipkin? Nix kennt man!«

Die Fränze stand und spähte. Drüben ein geschwenktes Bierglas.

»Laß man die Jarde aus der Jrenadierstraße! Hier setzste dich!«

Hamburger Zimmerleute mit schwarzen Huttellern und schwarzen, geschweiften Glockenhosen. Die Fränze schaute von ihnen weg. Ein Neger in der Ecke bezog den Blick auf sich und zeigte feixend die weißen Zähne. Nein – kein Neger. Ein Kohlenarbeiter, dem das Weiß der Augäpfel in dem verrußten Gesicht rollte.

»Christus ist nahe!« Sanfte Stimmen. Zwei Schutenhüte der Heilsarmee. Zwei blasse, junge Mädchen. Sie verteilten Traktätchen. Sie wiederholten eintönig, leidend, mechanisch: »Christus ist nahe!«

Die Fränze ließ achtlos den Heilsruf fallen, den ihr die eine Soldatin in die Hand drückte. Dort drüben, dicht am Eingang, nickte ihr ein bebrillter bartloser, jüngerer Herr kurz und eifrig zu. Er war dunkel und schäbig angezogen. Unter dem Arm trug er eine abgegriffene Aktenmappe. Er ähnelte einem Winkelkonsulenten. Er klomm, ohne sich weiter nach der Fränze Häselich umzuschauen, mit behenden, krummen Knieen – sonderbar katzengleich – die Kellertreppe empor. Das Halleluja-Mädchen hob das Erbauungsblatt auf und glättete es vorwurfsvoll.

»Fräulein ... Gottes Wort! ... Wer weiß, wie bald der Mensch vor Gott steht!«

»Das sagen Sie ausgerechnet mir!« Die Fränze murmelte es. Sie folgte dem Mann mit der Mappe, der eben da oben auf die Straße hinaufstieg. Sie ging hinter ihm her, die Straße entlang. Sie wußte, daß er wußte, daß sie ihm folgte.

In die Nacht hinaus. In die tiefe Nacht. Weithin verschwimmendes, unbestimmtes Schwarz drüben über der mächtigen Fläche des Küstriner Platzes. Der große Varieté-Palast in seiner Mitte schon geschlossen, still und dunkel. Leiser Wind. Leere umher. Nur da und dort ein paar schattenhafte Gestalten. Eine blieb stehen und wartete. Das war er. Sie ging auf ihn zu – nicht schnell, nicht langsam – gleichmäßig, so wie sie mußte – und machte vor ihm halt. Kein Mensch in der Nähe.

Und gleich darauf seine gedämpfte Stimme – hell, schnell, eindringlich, fast übersprudelnd, mit nervösem Klang.

»Aber so was müssen Sie doch nicht machen, wie heute nachmittag! Hat doch gar keinen Zweck – nicht wahr? Ich existiere doch gar nicht – nicht wahr?«

»Manchmal glaubt man, Sie sind verrückt!« sagte die Fränze mühsam zwischen den Zähnen.

»Also nu bitte ... Wie soll man mich denn da fassen? Wenn ich überhaupt nicht vorhanden bin?« Die flüsternden, vertraulichen Worte überstürzten sich. »Nein. Nein. Derlei hält uns nur auf – nicht wahr? Das gehört nicht zur Sache!«

»... aber ich weiß, daß Sie nicht meschugge sind, sondern sehr helle – und deswegen sage ich Ihnen ...«

»... Sie müssen mehr an die Sache denken – nicht wahr?«

»Ich hab' nämlich 'nen Freund!« Die Kleine holte entschlossen, drohend, tief Atem. »Und wenn ihr mich jetzt hier kalt macht ...«

»Davon ist gar keine Rede! Davon ist gar keine Rede, Verehrteste! Darum handelt es sich ja ...«

Die Stimme wurde immer schneller.

»... dann bring' ich euch noch, wenn ich tot bin, in den jrünen Wagen! Dann sitzen euch die Rüben locker auf dem Hals ...«

»Das ist es ja eben! Das will ich ja nicht, daß Ihnen was geschieht! Deswegen hab' ich dem Dicken gesagt, nicht wahr, daß er Sie mir ... nicht wahr – mir schickt!«

Die Sätze hasteten »... und mir überläßt! ... Ich verzeihe Ihnen – Sie verstehen...«

Die Fränze Häselich schwieg ungläubig. Vor ihr redete rasch, eifrig, mit eiligen Handbewegungen ein Schatten im Dunkel.

»Meine Mission verträgt kein Blut! Sie würden mir viel zu leid tun – nicht wahr? Sie sind jung. Sie wissen nicht, was Sie taten ... Aber Sie tun es nicht wieder – nicht wahr?«

Die Fränze fing hilflos an zu weinen.

»Gehen Sie zum Dicken und sagen Sie, es wäre alles in Ordnung!« Die Stimme schwang jetzt in einem warmen, besorgten Ton. »Ein zweites Mal kann ich Sie vor ihm nicht schützen! Bedenken Sie nur: Wir beide haben es da mit ungebildeten Menschen zu tun – aus der Hefe des Volks. Es ist peinlich – wenn es nicht so herrlich wäre ...«

»Ach Gott – – – ach Gott ...«

»Ein zweites Mal – bei derartigen Verbrechernaturen ... Leider ... die Spree ist tief – nicht wahr?«

»Ich hab' heute schon in die Spree springen wollen! Da hat mich einer zurückgehalten ...«

»So. So. So.« Der ihr gegenüber stand im Begriff zu gehen. »Wer war denn das?«

»Gott ...« sagte die Fränze, während der andere zerstreut, schnellbeinig, die Mappe unterm Arm, ohne ihre Antwort abzuwarten, in die Nacht davonlief »... 'n Garagenschlosser! Mehr weiß ich auch nicht!«

8

Der Garagenschlosser Werner betrat am nächsten Morgen, tief im Herzen Berlins, das Büro rechts vom Eingang der engbrüstigen, alten Hausfront, über der ›Feuerstakes Hotel‹ stand.

Da drinnen telephonierte Herr Lungwitz, die Seele des Betriebs, rechnete, notierte, hüstelte in seinen schütteren Spitzbart, äugte durch den Hornzwicker am schwarzen Band.

»Tja – Herr Werner – wo hier ganz in der Nähe eine solide Unterkunft auf ein, zwei Tage für ein durchreisendes Fräulein zu haben wäre? ... 'Augenblick ... die Leute bimmeln einem die Seele aus dem Leib!« Das Ohr am Hörer: »Der Sowieso? Na – ich möcht' nich gerade 'n silberner Löffel sein, wenn der Mann in die Stube tritt! Aber sonst 'n netter Mensch! Bitte!«

»Also – bei uns hier soll das Fräulein nicht wohnen? Verstehe! Verstehe! Wie? Was wünscht der Herr? Nee – Herr Feinstein wohnt hier nicht! ... Tja – Herr Werner ... Fragen Sie doch mal gerad' dort, zehn Häuser weiter, in dem Südfruchtkram nach!«

Eine kleine Farbeninsel drüben, im lärmenden Grau des Alltags – Orangengold, Dattelbraun, Zitronengelb, Traubenblau, Immergrün. Ebenso freundlich leuchtete der bloße, warm blauäugige, rötlich-blonde Stoppelkopf des Monteurs Werner in der Sonne, wie er, in seiner schwarzen Fahrerjoppe, die Zigarette schief in dem vergnüglichen Mundwinkel, auf das Lädchen zubummelte, schmalschulterig, mittelgroß, aber sehnig-straff gewachsen, ein junger Mann, den die Mädchen mit ihren Marktkörben auf dem Bürgersteig seelenvoll und seitlings mit sanften Blicken sengten.

Er trat in die Kühle des von den Wohlgerüchen Italiens durchdufteten, kleinen Raums. Im Hintergrund beugte sich ein unordentlicher, brauner Haarschopf, eine Hand an der Schläfe, weltversunken über ein Buch. Dann, auf das Räuspern an der Schwelle, hoben sich zwei verlorene braune Augen in einem regelmäßigen, jungen Gesicht und fanden sich allmählich in diese Welt zurück. Das Mädchen stand auf, schmächtig, schmal, in schwarzem Kleid und weißer Schürze. Sie strich sich mit der Hand über den Wirrkopf. Aber es blieb etwas Phantastisches – auch um den melancholischen Mund.

»Der Herr wünschen?« frug sie mechanisch.

»Entschuldigen Sie, Fräulein, daß ich störe!« Der Schlosser Werner trat lachend näher. »Was lesen Sie denn da Schönes?«