Montecrypto - Tom Hillenbrand - E-Book
SONDERANGEBOT

Montecrypto E-Book

Tom Hillenbrand

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer das Geld hat, hat die Macht. Sein Geld hat der spleenige Start-up-Unternehmer Gregory Hollister größtenteils in der Kryptowährung Bitcoin angelegt. Als er bei einem Unfall ums Leben kommt, beginnt die Suche nach seinem Privatvermögen. Das hat der paranoide Kalifornier gut versteckt. Wo befindet sich der digitale Schatz, den die Medien bereits Montecrypto nennen? Hollisters Schwester beauftragt den Privatdetektiv Ed Dante, das verschwundene Geld aufzuspüren. Dante recherchiert und stellt bald fest, dass etliche Personen hinter Montecrypto her sind. Das ist angesichts der kolportierten Summe von mehreren Milliarden Dollar nicht weiter verwunderlich – aber die anderen Interessenten sind keine gewöhnlichen Schatzsucher. Warum interessieren sich ausländische Geheimdienste, das FBI und die Mafia für den Schatz? Dante erkennt, dass Hollisters Vermächtnis aus mehr besteht als aus einem Haufen digitaler Münzen. Möglicherweise ist Montecrypto der Schlüssel zu einem immensen Finanzskandal, der die gesamte Weltwirtschaft in den Abgrund reißen könnte. Wird es Dante gelingen, das Geheimnis von Montecrypto zu lüften, bevor der digitale Schatz in die falschen Hände gerät? Eine weltweite Suche beginnt, die von Los Angeles über New York und Frankfurt bis nach Zug führt, ins sogenannte »Crypto Valley« der Schweiz. »Montecrypto« ist ein raffinierter literarischer Thriller über die neue internationale Finanzwirtschaft. Wer hat in Zukunft das Geld? Und wer die Macht? Hochspannend und aktuell: Tom Hillenbrand erweist sich mit diesem Buch als Meister des politischen Spannungsromans.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 562

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tom Hillenbrand

Montecrypto

Thriller

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Tom Hillenbrand

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

Krümelmonster

Armenian Breakfast

Mancave

Klick und Bing

Black Russian

Pixie-Pizza

Non calculat

Viva Los Cryptos

Extropie

Blockjack

$36.803.075.114.959.980

Zimmer 40000

Sons of Hayek

Encyclopædia Californica

Größter des Planeten

Lückenbüßer

Bataille

Súkromný detektív

King of Kings

Drei Buchstaben

Bullenklöten

Alex

Rumbuddel

Kopflos

Repo Man

Caballum tuum

Bekannt verzogen

Barbie-Klinik

Saftladen

Titty Twister

Postlagernd

Zerknittert

Digitalwal

Ullaah

Nummer drei

Tamales

Castillo_IF

Pharao

0,000000001

Dollardrama

Last Quatermain

Epilog

Anmerkung & Dank

Inhaltsverzeichnis

Für Taro

Inhaltsverzeichnis

»Cyberspace ist, wo die Bank dein Geld aufbewahrt.«

William Gibson

Inhaltsverzeichnis

Krümelmonster

Wenn diese Stadt nur nicht so stinken würde. Im Sommer liegt der Geruch von Abgasen in der Luft, im Winter riecht es nach Rauch. Dante steigt aus seinem betagten Acura, rümpft die Nase. Wie nach einem Osterfeuer – nicht, dass es in Kalifornien welche gäbe. Dafür gibt es Abermillionen verdorrter Bäume. Und jeder einzelne davon kann es kaum erwarten, endlich in Flammen aufzugehen.

Dante geht um den Wagen herum, auf ein größeres Anwesen zu. Dessen Einfahrt liegt etwas zurückgesetzt und wird von einem doppelflügeligen schmiedeeisernen Tor versperrt. Er kann das dahinterliegende Haus erkennen. Es wirkt modern, klare Linien, große Fenster. Der Eigentümer hat Geschmack – oder genug Geld, sich welchen zu kaufen. Den protzigen Autos in der Auffahrt nach zu urteilen, trifft vermutlich eher Letzteres zu.

Dante klingelt, starrt in die Fischaugenkamera. Auf dem LED-Display wird ein Mann in schmal geschnittenem Anzug zu sehen sein. Auf seinem Kopf sitzt einer jener schmalkrempigen Hüte, die man in England als Trilby bezeichnet. Die Leute vermuten mitunter, die Kopfbedeckung sei eine Reminiszenz an Ska-Bands der Achtziger oder der Versuch, britische Coolness rüberzubringen, Carnaby-Street-Vibes, was auch immer. Die Wahrheit ist, dass Dante schon früh die Haare ausgefallen sind. Verglichen mit ihm ist Prince William ein Lockenkopf. Der Trilby soll schlichtweg verhindern, dass die gleißende kalifornische Sonne ihm die polierte Platte verbrennt.

»Ja, bitte?«, tönt es aus der Gegensprechanlage neben der Klingel.

»Guten Morgen. Ed Dante. Ich habe einen Termin.«

Die Pforte öffnet sich. Dante läuft die Einfahrt hoch, vorbei an einem sehr großen Cadillac-Geländewagen und einem sehr flachen Lamborghini. Vor der Haustür wartet ein muskulöser Schwarzer. Er trägt einen jener zwei Nummern zu großen Anzüge, auf die Amerikaner seltsamerweise stehen. Der Mann bedeutet ihm, einzutreten. Dante findet sich in einem Vorraum wieder.

»Kann ich Ihnen etwas abnehmen, Sir?«

Dante schüttelt den Kopf. Er hat keinen Mantel dabei. Seine Laptoptasche behält er lieber, obwohl der Butler, Bodyguard, was auch immer, bestimmt gerne hineinschauen würde. Überhaupt mustert ihn der Mann, als suche er etwas. Als Dante dämmert, was, schüttelt er erneut den Kopf.

»Sir?«, sagt der Mann.

Dante hält sein Jackett auf. »Ich komme ungegürtet, Meister«, erwidert er, »kein Toaster am Mann.«

»Aber ein Telefon haben Sie schon?«

»Äh, klar.«

»Könnte ich das wohl kurz haben, Sir?«

Dante zeigt die Zähne.

»Darauf befinden sich vertrauliche Informationen. Ich werde Ihnen mein Handy nicht …«

Der Mann im Anzug lächelt, macht eine beschwichtigende Geste. Aus der Innentasche seines Jacketts holt er etwas hervor. Es handelt sich um einen Bogen voller kleiner schwarzer Aufkleber.

»Sie können Ihr Handy behalten. Aber ich muss Sie bitten, die Kameras abzukleben. Eine Sicherheitsmaßnahme.«

»Glauben Sie, dass ich Fotos mache und sie dann an TMZ oder Variety verkaufe? Sie ist meine …«

»Sie sicher nicht, Sir. Aber vielleicht jemand anders.«

Dante greift nach den Aufklebern. Nachdem er zwei davon abgeknibbelt und auf die Linsen seines iPhones geklebt hat, deutet der Bodybutlerguard auf eine Doppeltür, öffnet einen der Flügel.

»Mrs Martel erwartet Sie.«

Dante betritt ein Wohnzimmer wie aus dem »Architectural Digest«. Jacqueline Martel fläzt sich auf einem italienischen Ledersofa, teurer als ein Kleinwagen. Sie trägt einen Onesie mit Kapuze, kreischblaues Fellimitat, dazu eine pinke Kappe von Supreme. Wenn das Krümelmonster zu viele Haschkekse fräße, sähe es vermutlich so aus.

Überrascht ist er von ihrem Outfit nicht. Natürlich hat er sie gegoogelt, das Netz ist voller Fotos von ihr. Jacqueline Martel alias Ada Swordfire, einunddreißig Jahre, Künstlerin. Was genau sie künstelt, hat Dante nicht ganz verstanden. Sie scheint keine Musikerin oder Schauspielerin zu sein, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Martels Spezialität sind Kostümierungen, sie verkleidet sich als Comic- oder Computerspielfigur. Dante wusste, dass Menschen so etwas tun. Dass sich damit Geld verdienen lässt, war ihm neu. Bei seiner kurzen Webrecherche hat er gelernt, dass Martel an die zwei Millionen Follower hat, auf YouTube, Instagram, Twitch, was auch immer.

Vor ihrem gestrigen Anruf und der Googlerei hatte er noch nie von Ada Swordfire, Nerdgirl extraordinaire, gehört. Bereits bekannt war ihm hingegen Martels Bruder. Gregory Hollister, Friede seiner extrem wertvollen Asche, ist der eigentliche Grund für Dantes Besuch.

Krümelmonster nickt ihm vom Sofa aus zu. Dante geht auf Mrs Martel, Mrs Swordfire, wen auch immer, zu und schüttelt ihr die Hand.

»Guten Morgen, Ma’am.«

»Morgen, Mister Dante. Nennen Sie mich bitte Jackie.«

»Ed.«

Er setzt sich zu ihr aufs Sofa. Das ist problemlos möglich, ohne dass es aufdringlich wirkt. Das Möbelstück ist nicht nur teurer als ein Auto, sondern auch fast doppelt so lang.

»Kaffee, Tee, Red Bull?«

Dante nimmt Tee, Martel Dirty Lemon, was auch immer das sein mag. Der neben der Tür wartende Bedienstete, den seine Klientin in spe Marcus nennt, geht und kümmert sich. Zwischen den Zeitschriftenstapeln auf dem Couchtisch (Wired, Tattoo, Popular Mechanics) fischt Martel einen Vaporizer hervor. Schweigend nimmt sie einige Züge. Ananasgeruch erfüllt den Raum.

Die Getränke treffen ein. Dante nippt an seinem Tee, mustert Martel. Sie sieht ihrem Bruder nicht ähnlich. Vielleicht liegt es daran, dass sie nur seine Halbschwester ist, unterschiedliche Väter. Ihm fällt auf, dass die mintfarbenen Haare, die unter Martels Cap hervorschauen, farblich gut zu den Vorhängen passen.

»Zunächst einmal mein Beileid«, sagt er.

»Danke, Ed. Geht schon irgendwie.«

Nach dem wenigen, das er auf die Schnelle recherchieren konnte, waren Martel und Hollister ziemlich eng. Beide waren Singles, beide lebten allein. Oder vielleicht auch nicht: Dies ist zwar Hollisters Villa, doch seine Schwester scheint sich wie zu Hause zu fühlen.

Wenn die beiden so dicke waren, wie die Klatschpresse behauptet, und vielleicht sogar gemeinsam dieses Haus in Bel-Air bewohnten, müsste Martel eigentlich völlig aufgelöst sein. Schließlich ist es erst drei Tage her. Sie wirkt jedoch gefasst.

»Das Flugzeug war so gut wie neu. Und Greg ein ordentlicher Pilot«, sagt sie.

Hollister hatte sich auf dem Weg zu einer Konferenz in Veracruz befunden. Der Start-up-Unternehmer besaß seinen eigenen Jet, eine Cessna Citation X, die er selbst zu steuern pflegte. Über dem Golf von Mexiko verlor die Maschine aus noch ungeklärten Gründen rasch an Höhe, stürzte ins Meer. Hollister war vermutlich sofort tot. Von der Cessna fand man nur Bruchstücke, von ihrem Piloten nicht einmal die. Fremdeinwirkung, vulgo Mord, halten die Behörden für unwahrscheinlich.

»Sie wissen, was für eine Art Privatdetektiv ich bin, Jackie?«

»Ich denke schon.«

»Dann geht es also nicht so sehr um die Todesumstände, richtig?«

Sie blinzelt, vermutlich um eine Träne wegzudrücken. Sicher ist Dante sich da allerdings nicht, denn Martel hat ihren Ananasvernebler wieder angeworfen. Dichte Schwaden verbergen ihr Gesicht.

»Sie wollen wissen, ob ich glaube, dass ihn wer umgebracht hat.«

»Falls Sie das glauben und jemanden suchen, der dieser Hypothese nachgeht, wäre ich vermutlich nicht der Richtige«, erwidert Dante.

Sie nimmt ihre Kappe ab, fährt sich durch die Haare.

»Nein, nein, glaube ich nicht. Das war ein Unfall, keine Frage. Worum es mir geht, das sind seine Finanzen. Das ist doch Ihr Spezialgebiet, oder?«

Auf Dantes Visitenkarte steht »Financial Forensics«. Das ist etwas dick aufgetragen, aber mit Understatement kommt man in Los Angeles nicht weit. Üblicherweise beschränkt sich die Forensik darauf, Kreditkartenauszüge oder Rechnungskopien zu durchforsten, um den Bösewichten, in der Regel irgendwelchen Hollywood-Arschlöchern, nachzuweisen, dass sie Dantes Klienten, meist andere Hollywood-Arschlöcher, übervorteilt oder betrogen haben.

»Wenn Sie wollen, dass ich seine Bücher durchgehe, bin ich schon eher Ihr Mann. Wann ist denn die Testamentseröffnung? Darf ich fragen, ob Sie seinen letzten Willen kennen?«

»Keine Ahnung, ob er so was hatte. Ist aber auch egal. Testament, Steuererklärungen und so weiter, das können Sie bestimmt alles kriegen, aber die sind …«

»Egal?«

»Ja.«

»Verstehe ich nicht ganz. Nach meinen Informationen betrug Mister Hollisters Privatvermögen über hundert Millionen Dollar.«

»Ich glaube, dass es mehr ist. Viel mehr. So wie die Kurse in den letzten Monaten durch die Decke gegangen sind.«

Dante runzelt die Stirn. »Aber der Dow ist zuletzt …«

»Nein, Ed. Keine Aktien. Krypto. Ich rede von Kryptowährungen. Bitcoins und so was.«

Dante nickt. Hollister ist mit einer Bezahlapp namens Juno reich geworden, die so ziemlich alle Millennials zu benutzen scheinen. Martels Halbbruder galt als Pionier in Sachen Digitalwährungen. Insofern scheint es nicht unplausibel, dass er größere Mengen Bitcoins, Litecoins, Hotcoins, was auch immer, besaß.

»Von wie viel reden wir?«

»Ich weiß nicht genau. Ein, zwei Milliarden vielleicht?«

Dante versucht, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen.

»Kennen Sie sich aus mit Krypto, Ed?«

»Ein wenig«, lügt er.

Sie lächelt.

»Ich weiß auch nicht viel drüber. Das war eher Gregs Ding, nicht meins. Kryptogeld ist digital, aber gleichzeitig wie Cash. Wer die Codes hat, hat die Bitcoins.«

Dante überlegt einen Moment.

»Die Vermögenswerte, von denen wir reden, liegen also nicht in einem Bankdepot?«

»Nein. Auch digitale Banken kann man schließlich hacken. Greg war da ein bisschen paranoid. Hatte ständig Schiss, dass ihm jemand seine Coins klaut. Deshalb«, sie bläst eine Dampfwolke aus, »hat er das Zeug versteckt.«

»Online?«, fragt Dante, nur um sich gleichzeitig im Stillen zu fragen, ob man digitales Geld überhaupt offline verstecken kann.

»Keine Ahnung. Sicher ist nur: Irgendwo liegt ein riesiger Schatz, der nicht in Gregs Büchern auftaucht. Ich will, dass Sie den für mich finden, Ed.«

Nachdenklich streicht sich Dante übers Kinn. In einem früheren Leben hat er an der Wall Street gearbeitet, schaut immer noch ab und zu in die Finanzpresse, obzwar er nicht eine einzige Aktie sein Eigen nennt. Folglich kennt er zumindest die Grundzüge des Kryptogeld-Phänomens. Vor zehn Jahren hat ein Kerl aus Japan eine digitale Währung namens Bitcoin erschaffen, die ohne Zentralbank auskommt und angeblich unfälschbar ist. Anfangs interessierte das kein Schwein. Aber inzwischen ist ein einzelner Bitcoin mehrere tausend Dollar wert.

Das Prinzip wurde mehrfach kopiert, es gibt inzwischen etliche Digitalwährungen. Ein paar Leute haben investiert, als die Coins noch Bruchteile eines Cents wert waren. Viele Profis hielten diese frühen Investoren seinerzeit für Volltrottel. Vielleicht waren sie es, aber dann sind sie nun reiche Volltrottel.

»Was überlegen Sie, Ed?«

»Warum Sie mich gefragt haben, zum Beispiel. Ich bin jenseits der vierzig, Jackie. Ich kenne mich ein bisschen mit Computern aus. Aber kryptografische Verfahren, mutmaßlich massiv verschlüsselte Daten – brauchen Sie da nicht eher einen Hacker?«

Martel schraubt ihre Schmauchstange auseinander, holt ein Etui hervor. Darin befinden sich mattschwarze Hülsen. Sie sind mit Gummibändern fixiert wie Schrotpatronen an einer Jagdweste. Martel wählt eine aus. Kurz darauf wabert wieder Dampf durch das Wohnzimmer. Diesmal riecht er nach Pfirsich.

»Sie haben das Sondberg-Vermögen gefunden, oder?«

»Das stimmt«, antwortet Dante.

»Niemand wusste, wo der alte Sack das alles gebunkert hatte – dass er überhaupt was gebunkert hatte. Richtig?«

Dante zuckt mit den Achseln.

»In seiner Stiftung fehlten Barmittel, über Jahre. War nicht schwer, das rauszufinden, wenn man Bilanzen lesen kann. Aber das war was anderes.«

»Wieso?«, fragt Martel.

»Weil Sondberg über achtzig war. Das modernste Gerät auf seinem Schreibtisch war eine Casio-Rechenmaschine. Alle Hinweise, die es zu finden gab, waren analog. Kontobücher, Schlüssel, Schließfächer, handschriftliche Notizen.«

Sie lächelt.

»Sie empfehlen sich gerade noch mehr für den Job, Mister. Wobei mir ohnehin nicht klar ist, warum Sie so reserviert sind. Wir haben noch gar nicht übers Geld gesprochen.«

Dante könnte ihr darlegen, dass er im Grunde seines Herzens eine ehrliche Haut ist; dass er Aufträge nur annimmt, wenn er eine reelle Chance sieht, sie erfolgreich zum Abschluss zu bringen; dass sein Zaudern keineswegs der Versuch ist, mehr Geld rauszuschinden.

Aber wer würde das schon glauben?

»Wieso«, fragt er, »empfehle ich mich für den Job?«

»Sondbergs Geld zu finden war letztlich eine analoge Schnitzeljagd, oder? Eine Schatzsuche.«

Dante nickt und nippt wider besseres Wissen erneut an seinem Tee. Während die Amerikaner beim Kaffee gewisse zivilisatorische Fortschritte gemacht haben, ist ihr Tee immer noch beschissen.

»Ich habe«, fährt sie fort, »wenig Ahnung von Kryptogeld – Bitcoin, Blockchain und so weiter. Aber Greg hat den Kram ja quasi miterfunden. Wissen Sie, wie manche in der Szene ihn früher genannt haben?«

»Wie?«

»His Hollyness. Weil er in ihren Augen der Krypto-Messias war.«

Dante beschließt, dazu lieber keinen Kommentar abzugeben.

»Vielleicht gibt es irgendeinen Punkt während dieser … dieser Schatzsuche, bei dem man einen Hacker braucht. Den können Sie dann gerne auf meine Kosten anheuern. Aber wichtiger ist mir erst mal, jemanden zu haben, der Schätze finden kann. Und ich glaube, dass vieles, was es zu Gregs Kryptovermögen rauszukriegen gibt, nicht auf Computern zu finden sein wird.«

»Warum das?«

»Greg hat sein erstes Computerspiel mit elf programmiert. Mit dreizehn hat er einen Roboter gebaut und dafür den NASA-Nachwuchspreis bekommen. Er war ein Bastler und Hacker. Und ein Paranoiker, wie schon gesagt. Vermutlich geht das eine ohne das andere gar nicht. Er wusste genau, dass man Bitcoins viel einfacher klauen kann, als den meisten Leuten bewusst ist. Deshalb denke ich, dass er den Schatz offline versteckt hat.«

Martel erhebt sich. Eine Pfirsichwolke hinter sich herziehend, geht sie zu einer Kommode und holt einen kleinen schwarzen Gegenstand heraus. Zunächst glaubt Dante, es handele sich um einen weiteren Vaporizer. Doch dafür ist das Ding zu klein. Martel kehrt zurück, legt den Gegenstand vor ihn auf den Tisch. Er ist in etwa so groß wie ein Zippo-Feuerzeug, hat jedoch ein kleines Monochrom-Display.

»Das ist eine Secure Wallet, ein spezielles Portemonnaie für Krypto.«

Dante nimmt das Ding in die Hand. Auf der Vorderseite sind zwei in das eloxierte Metall eingelassene Knöpfe erkennbar. Er drückt einen davon. Das Display erwacht zum Leben.

»Kontostand: 5,48 BTC.«

»Wie gesagt, das Zeug ist wie Cash«, sagt Martel, »wer die kryptografischen Schlüssel besitzt, kann es ausgeben, deshalb diese speziellen USB-Sticks. Man braucht ein Passwort für die Wallet, sonst kommt man nicht ran.«

Dante hört nur mit halbem Ohr zu, da er gleichzeitig rechnet. Das BTC auf dem Display steht vermutlich für Bitcoin. Er weiß nicht, wo exakt dessen Kurs steht, aber wohl irgendwo bei neuntausend. Auf dem Stick befinden sich folglich rund fünfzigtausend Dollar.

»Ed, worauf ich hinauswill: Um Gregs Vermögen zu finden, ist Detektivarbeit nötig. Leute befragen, Akten durchgehen, rumreisen. Und deshalb glaube ich, dass Sie der Richtige sind.«

Der Stick kommt ihm auf einmal sehr schwer vor. Dante legt ihn zurück auf den Tisch.

»Ich habe einige Fragen.«

»Also machen Sie’s?«

»Erst möchte ich die Modalitäten klären. Ich soll das Vermögen Ihres verstorbenen Bruders finden. Aus Ihren Ausführungen schließe ich, dass sich diese digitalen Reichtümer nicht in seiner offiziellen Vermögensaufstellung befinden.«

Er schaut ihr in die Augen. »Wir reden also von Schwarzgeld.«

»Und? Ist das ein Problem für Sie?«

»Für mich nicht, aber vielleicht für Sie. Nehmen wir an, ich finde das Geld und auch die Passwörter, die man vermutlich braucht, um dranzukommen. Was, wenn sich das Zeug auf den Bahamas befindet oder sonst wo?«

»Sie meinen, Sie wollen es nicht für mich in die Vereinigten Staaten schmuggeln.«

»So ist es. Für so etwas geht man sehr lange ins Gefängnis.«

»Dann sagen Sie mir halt einfach, wo es ist. Der Rest muss Sie nicht interessieren.«

»Okay, Jackie. Noch etwas. Wieso nennen Sie es eigentlich ›Schatz‹? Weil das besser klingt?«

»Besser als was?«

»Besser als Steuerhinterziehung, Bilanzbetrug, Geldwäsche.«

Sie rümpft die Nase.

»Weil Greg es so genannt hat. Er hat mir keine Details erzählt. Aber wenn er bekifft war, sprach er manchmal davon.« Sie beugt sich vornüber, reißt die Augen auf, verschränkt die Arme auf ungelenke Art und Weise, dann ruft sie mit kehliger Stimme: »Meiiiin Schatzzzzz!«

»Er hat diesen Gollum nachgemacht? Aus dem …«

»Herrn der Ringe, ja«, sagt Martel.

»Vermutlich aber nicht so gut wie Sie.«

»Reizend, danke. Das Kompliment des Tages.«

Dante meint es durchaus ernst. Jackie Martel besitzt schauspielerisches Talent, ein Umstand, zu dem er sich eine mentale Notiz macht.

»Also gut«, sagt Dante, »einverstanden. Ich suche Ihren digitalen Goldhaufen. Sollen wir dann mal übers Honorar reden?«

»Sie könnten einen Anteil bekommen, sagen wir zwei Prozent der Gesamtsumme.«

Dante schüttelt den Kopf.

»Sorry, Jackie. Bargeld lacht.«

»Krypto ist Bargeld.«

»Bargeld mit stark schwankendem Wert und in diesem Fall außerdem Schwarzgeld, das womöglich im Ausland liegt – und das ich vielleicht niemals finde. Zahlen Sie mir einfach meinen normalen Satz.«

»Wie viel wäre das?«

»Siebenhundertfünfzig pro Tag«, sagt Dante, »Erfolgshonorar bei Abschluss: Fünfundzwanzig. Dazu Spesen.«

»Okay. Aber das Erfolgshonorar erst, wenn ich den Schatz in den Händen halte.«

»Ist recht.«

Sie erheben sich. Martel geht erneut zur Kommode, kommt mit einem Sicherheitsschlüssel zurück.

»Der ist für sein Arbeitszimmer. Ich denke nicht, dass Sie da viel finden werden. Aber Sie wollen es bestimmt sehen.«

Dante nickt. Jackie Martel läuft vor ihm her, einen Gang entlang, eine Treppe hoch. Vor einer Tür bleibt sie stehen, steckt den Schlüssel ins Schloss.

»Ich habe mir erlaubt«, sagt sie, »ein paar Sachen bereitzulegen.«

Dante betritt Gregory Hollisters Büro. Es sieht nicht so aus, als habe der Kerl viel Zeit darin verbracht. Schreibtisch, Ledersessel und Regale wirken wie aus dem Katalog, alle Flächen sind blitzblank. Nirgendwo liegt Papier herum, auch Aktenordner sind Mangelware. An einer Wand hängt ein Schwarz-Weiß-Foto. Es zeigt einen etwas jüngeren Hollister, der vor einem brutalistischen Betongebäude steht. Im Hintergrund hängt ein Banner mit der Aufschrift »Pyongyang International Film Festival«.

Auf einem Beistelltisch liegen zwei Ausdrucke und ein Speicherstick. Auf den Papieren sind Namen und Adressen notiert. Dante macht eine fragende Geste.

»Einige Kontakte, die ich für Sie zusammengestellt habe. Royce Thurstow, Gregs Anwalt. Außerdem jemand bei Juno, seiner ehemaligen Firma.

»Wie sieht es mit einer persönlichen Assistentin aus?«

»Hatte er nicht. Greg hat immer gesagt, Sekretärinnen seien für Saftärsche.«

»Aha. Und auf dem Speicherstick?«

»Seine letzten drei Steuererklärungen. Es gibt auch noch ältere«, sie zeigt auf einen der Schränke, »falls Sie die brauchen.«

»Die letzten drei sollten erst mal genügen, danke«, erwidert er.

»Und dann wären da noch Schlüssel für sein Strandhaus, drüben in Zuma.«

»War er da oft?«

Sie nickt stumm, schaut währenddessen eine Wand an.

»War das so eine Art Wochenendrefugium oder …«

»Mancave«, erwidert sie.

Mancave, Männerhöhle – eine frauenbefreite Zone, wo Mann noch ganz Mann sein darf. Vor seinem geistigen Auge sieht Dante unaufgeräumte Zimmer voller Pin-up-Poster. Star-Wars-Raumschiffe baumeln von der Decke, halb gerauchte Joints und leere Pizzakartons liegen herum.

Sie hält ihm einen Schlüsselbund hin. Er greift danach und steckt ihn ein.

»Okay«, sagt sie, »ich muss jetzt los. Ich habe heute Abend einen Auftritt in San Diego. Schauen Sie sich in Ruhe um, auch unten, wenn Sie wollen. Marcus steht Ihnen zur Verfügung, falls Sie was brauchen.«

Dante bedankt sich. Sie gibt ihm die Hand, verabschiedet sich. Martel ist schon halb aus dem Zimmer, als sie sich noch einmal umdreht. In ihrer Rechten hält sie die Bitcoin-Wallet aus dem Wohnzimmer. Bevor er etwas sagen kann, wirft sie ihm den Stick zu. Dante fängt ihn.

»Ich dachte, wir hätten uns auf harte Dollars geeinigt«, sagt er.

»Klar, aber zur Sicherheit. Wenn man mit Krypto zu tun hat, sollte man welches haben, finden sie nicht?«

»Aber das sind … fünfzigtausend Dollar. Das ist Irrsinn.«

»Passt schon«, erwidert Martel.

»Ich sollte Ihnen zumindest eine Quittung ausstellen.«

»Brauch ich nicht. Das Passwort lautet übrigens Pussypower666. Und, Ed?«

»Ja?«

»Nicht alles auf einmal ausgeben«, sagt Martel. Dann ist sie weg.

Inhaltsverzeichnis

Armenian Breakfast

Zwei Stunden später sitzt Dante in seinem Café. Natürlich ist es nicht wirklich seines, gewisse Ansprüche kann er jedoch geltend machen. Schließlich kommt er fast jeden Tag her. In alten Filmen haben Privatdetektive wie Sam Spade stets Büros, in denen sie rauchend darauf warten, dass mysteriöse Blondinen hereinstöckeln und mit rauchiger Stimme um Hilfe bitten. Dante hat kein Büro. Und Sam Spade hätte auch keines besessen, wären iPad und Wi-Fi bereits erfunden gewesen.

Das Café heißt »Ararat« und befindet sich auf jenem Teil des Sunset Boulevard, der durch Little Armenia verläuft. Außer zur Mittagszeit ist der Laden meist leer, was Dante entgegenkommt. Mit dem Besitzer hat er gewisse Absprachen getroffen. Dante darf das nicht öffentliche Wi-Fi verwenden und bekommt Yorkshire Tea, der eigens für ihn vorgehalten wird.

Auf dem iPad sortiert er seine Notizen. Die Durchsuchung von Hollisters Büro war erfolglos. Er hatte nichts anderes erwartet. Niemand bewahrt Geheimnisse in seinem offiziellen Arbeitszimmer auf. Zwar hat er den Stick mit den Finanzunterlagen, ahnt aber bereits, dass sich auch diese als wertlos erweisen werden. Hoffentlich fördern die anstehenden Interviews mehr zutage. Hollisters Anwalt Royce Thurstow hat er bereits angeschrieben. Und dann wäre da noch Hollisters Exfirma Juno. Letztere ist ein ziemlich dicker Fisch. Wie dick? Laut Google Finance hat Juno einen Börsenwert von zweihundertfünfzig Milliarden Dollar, bei rund fünfzehn Milliarden Jahresumsatz – ein adipöser Walfisch also. Greg Hollister war Junos Gründer, Technikchef, Vorstandschef. Im Jahr 2017 legte er alle Ämter nieder und schied aus dem Unternehmen aus. Nicht einmal einen Sitz im Aufsichtsrat hatte er danach mehr inne.

Dante bestellt sich noch einen Yorkshire. Während er auf den Tee wartet, schaut er sich Junos Gesellschafterstruktur an. Eigentlich wäre zu erwarten, dass Hollister als Gründer noch immer einen erklecklichen Batzen Aktien hält, so wie Zuckerberg bei Facebook oder Gates bei Microsoft. Aber in der Investoren-Datenbank ist er nicht verzeichnet. Dante findet eine kurze Reuters-Meldung vom Juni 2017, laut der Hollister damals alles auf einen Schlag verkauft hat.

Er schüttelt den Kopf. Hollister gehörte, nach allem, was er inzwischen weiß, zu jenen Freaks, die sehr früh in Bitcoin investierten und dadurch Millionäre wurden. Bei Juno scheint sein Timing hingegen katastrophal gewesen zu sein. Erst nach Hollisters Abgang hob die Aktie nämlich so richtig ab. Hätte der Kerl seine Papiere behalten, wäre er noch viel reicher geworden.

Dante legt das iPad weg, schaut hinaus auf den Boulevard. Er sieht aus wie fast alle Boulevards in Los Angeles. Angenommen, man zerlegte diese Stadt über Nacht in ihre Einzelteile und puzzelte sie neu zusammen, sodass sich all die Hauptstraßen und Highwayrampen, all die Filialen von Starbucks, 7-Eleven und In-N-Out am nächsten Tag an anderen Stellen befänden – würde das jemandem auffallen? Vermutlich nicht.

Als er die Beine übereinanderschlägt, zwickt ihn etwas im Schritt. Es ist der Fünfzigtausend-Dollar-Stick in seiner Hosentasche. Niemand sollte derart viel Geld mit sich herumtragen, auch nicht, wenn es in einer digitalen Mickymauswährung denominiert ist. Martel hat ihm versichert, diese sogenannte Secure Wallet sei bombensicher, weil passwortgeschützt und verschlüsselt.

Aber solche Schutzmechanismen sind letztlich wertlos. Als er noch bei der Bank arbeitete, erklärte ihm der IT-Verantwortliche einmal, gegen die Fünf-Dollar-Entschlüsselung sei niemand gefeit: Du kidnappst den Typen mit dem Passwort und kaufst im nächsten Baumarkt für fünf Piepen einen Schraubenschlüssel. Damit drischst du so lange auf den Kerl ein, bis er die Codes rausrückt – effizient, billig, keine Programmierkenntnisse notwendig.

Dante beschließt, sich genauer über Kryptowährungen zu informieren. Er nimmt das iPad wieder in die Hand, ruft eine Übersicht auf: Bitcoin, Bitcoin Cash, Litecoin, Ether, Tether, Feather, Cosmos, Tezos, aber kein Bezos. Seite um Seite geht es weiter, mit Funcoin, Porncoin und Piratecoin, den tolkienesken Zahlungsmitteln Hobbitcoin und The One Coin, ferner dem Ultimate Coin und dem Final Coin.

Er schließt die Seite, ruft Fotos von Gregory Hollister auf. Mit seinen schulterlangen Haaren und dem Wollbeanie wirkt er wie ein gealterter Grunge-Rocker. Hollister ist ein südländischer Typ, viel Bartschatten, dunkler Teint. Dante meint gelesen zu haben, dass ein Teil seiner Vorfahren aus Süditalien stammt. Martels Halbbruder ist hager, beinahe anämisch. Dante fragt sich, welcher der vielen bescheuerten Diäten, denen sich die halbe Westküste unterwirft, Hollister wohl anhing – Vegan, Keto, Warrior? Die gewünschte lebensverlängernde Wirkung blieb auf jeden Fall aus.

Dante kippt viel Milch und wenig Zucker in seinen Tee, nippt an dem ambrosischen Gebräu. Mit der Fünf-Dollar-Methode wird niemand an Hollisters Schatz kommen. Es ist nämlich keiner da, dem man den Schraubenschlüssel auf die Finger hauen könnte. Folglich muss man die Codes oder Passwörter finden, was wiederum voraussetzt, dass diese irgendwo hinterlegt sind. Was aber, wenn Hollister diese lediglich im Kopf gespeichert hatte?

Apropos Kopf: Dante muss zunächst mehr über den Typen in Erfahrung bringen, herausfinden, wie er getickt hat, was er zuletzt tat. Das wird nicht einfach. Nicht nur, weil das Beobachtungsobjekt seit drei Tagen Fischfutter ist, sondern auch, weil er für eine Rekonstruktion von Hollisters finalen Stunden Zugriff auf die Ermittlungsergebnisse der Polizei braucht. Manche Privatdetektive haben gute Kontakte zu LAPD und FBI. Dante ist keiner von ihnen. Als ehemaliger Wall-Street-Heini besitzt er bestenfalls Kontakte zur Börsenaufsicht.

Dante hat sich bereits ein kleines Hollister-Dossier zusammengestellt: Presseartikel, Blogposts, YouTube-Videos. Doch statt sich diese vorzunehmen, geht er auf Google und gibt »Ada Swordfire San Diego« ein. Warum er das tut, weiß er nicht. Vielleicht, um zu checken, ob sie ihm vorhin die Wahrheit gesagt hat.

Hat sie. In einem Einkaufszentrum gibt es eine Autogrammstunde mit ihr. Außerdem wird sie an einer Podiumsdiskussion über weibliches Empowerment in Mangacomics teilnehmen. Dante versteht nicht so richtig, was das bedeuten soll, aber die Bilder neben Martels Eintrag sind ohnehin interessanter. Sie wurden auf einer Messe aufgenommen. Im Hintergrund erkennt er eine Halle voller Stände, bevölkert von meist weißen, meist männlichen Nerds in Marvel- und Star-Trek-Shirts. Im Vordergrund steht Martel. Sie trägt eine Art Space-Marine-Rüstung, sehr martialisch, aber gleichzeitig sehr sexy, was keinen Sinn ergibt. Sexy Rüstung ist gleichbedeutend mit löchriger Rüstung.

Dante schließt die Seite und wendet sich nun endlich seinem Dossier zu.

Gregory Patrick Hollister, geboren 1981, aufgewachsen in Seattle. Mit elf programmierte er sein erstes Computerspiel. Mit neunzehn brach er das College ab, um mit ein paar Freunden SandWizard.com zu gründen, einen Onlinedienst für Sandwiches. Hollister wollte die belegten Brote automatisch zubereiten lassen, von eigens dafür entwickelten Maschinen. Dante fragt sich, wie so ein Robo-Deli funktionieren soll. Dem Rest der Welt ging es wohl ähnlich. SandWizard.com musste Konkurs anmelden. Bevor dem Sandwich-Start-up jedoch die Mayonnaise ausging, hatten Hollister und seine Kumpels es bereits an einen Investor verkauft und wurden sehr reich.

In den Folgejahren beschäftigte sich der frischgebackene Millionär vor allem mit Kryptowährungen. Der in der Hackerszene als Sir Holly bekannte Hollister stand politisch den Libertären nahe, jener sehr amerikanischen Strömung, die den Staat für ein nimmersattes Monster, Steuern für Diebstahl, Schulen für Umerziehungslager und Waffen für ein Menschenrecht hält. Er träumte von einer digitalen Währung, die nicht von einer Notenbank ausgegeben, sondern dezentral im Internet verwaltet wurde.

Dante muss schmunzeln. Auch er ist in seiner Jugend ein Revoluzzer gewesen, wenn auch in anderer Weise als Hollister. Mit siebzehn hat er in Islington den »Socialist Worker« verteilt, eine leninistische Postille. Vielleicht war es auch eine trotzkistische, so genau weiß er das nicht mehr. Auf jeden Fall brannte Dante für die Revolution. Hätte ihm damals jemand prophezeit, er werde eines Tages bei einer US-Investmentbank arbeiten, hätte »Red Ed« ihn für verrückt erklärt.

Aber so war das nun einmal. Bei Hollister schien die Sache ähnlich verlaufen zu sein. Der Idealismus war ihm allmählich abhandengekommen. Immerhin hatte er etwas länger durchgehalten als Dante. 2012 rief Hollister eine eigene digitale Währung namens Turtlecoin ins Leben. Dieser Bitcoin 2.0 sollte die endgültige Antwort in Sachen Krypto sein. Aber niemand interessierte sich für Hollisters Schildkröten-Złoty, die Sache floppte.

Nach dieser Enttäuschung gründete Sir Holly eine neue Firma: Juno. Deren gleichnamige Bezahlapp wird inzwischen, soweit Dante informiert ist, von mehreren hundert Millionen Menschen verwendet.

Eine Gruppe Männer in schlecht geschnittenen Anzügen betritt das Ararat. Sie sind die Vorhut. In einer halben Stunde wird es zu voll sein, um noch vernünftig arbeiten zu können. Dante klappt das iPad zu, nimmt noch zwei Schlucke lauwarmen Tee. Er gibt der Kellnerin ein Zeichen.

Warum ist Juno so erfolgreich? Vielleicht gibt es einen Grund dafür, vielleicht auch nicht. Es kann sein, dass Hollisters Bezahlapp einfach zum richtigen Zeitpunkt kam. Oder das Marketing war clever. Auf jeden Fall wurde Juno ein großes Ding.

Die Rechnung kommt. Dante steht auf, geht nach vorne, zur Kasse. Er fragt sich, ob es Hollisters digitale Schatzkammer überhaupt gibt. Martel glaubt fest daran, aber sie wäre beileibe nicht die Erste, die das Vermögen eines Erbonkels, oder in diesem Fall Erbbruders, maßlos überschätzt. Mit Juno hat Hollister schließlich gar nicht so viel verdient, weil er zu früh raus ist. Und seine Bitcoin-Gewinne könnte er einfach ausgegeben haben.

Dante zückt eine seiner Kreditkarten, hält sie gegen das Lesegerät, bis es piept. Währenddessen fällt sein Blick auf einen Sticker unterhalb der Kasse, auf dem die Bezahlmöglichkeiten aufgelistet sind. Er sieht die üblichen Verdächtigen, Visa, Amex, Mastercard, außerdem ApplePay, Alipay, Freshpay. Auch das Juno-Logo ist erkennbar, das stilisierte Profil eines Frauenkopfes, weiße Linien auf schwarzem Grund. Das Konterfei wirkt klassisch, wie auf einer antiken Vase. Vermutlich bezieht sich der Name Juno auf die römische Göttin, die Gattin von Mars, Jupiter, wem auch immer.

Dante tritt hinaus auf den Boulevard. Augenblicklich hüllt ihn die Mittagshitze ein, der Brandgeruch steigt ihm in die Nase. Er geht zu seinem Acura, den er in einer Seitenstraße geparkt hat. Während Dante läuft, liest er mit zusammengekniffenen Augen seine Mails. Es ist fast nur Müll, kein richtiger Spam, aber Zeug, mit dem er sich nicht beschäftigen will, darunter eine Nachricht seines Cousins Alan aus Cardiff, zwei Rechnungen, ein lästiger Exklient. Hollisters Advokat hat sich bislang nicht gemeldet und die Leute von Juno auch nicht.

Er erreicht sein von der Sonne aufgeheiztes Fahrzeug, steigt ein. Gerade will Dante sich in den Verkehr einfädeln, als sein Handy klingelt.

»Dante Investigations, Ed Dante am Apparat.«

»Guten Morgen, Mister Dante. Mein Name ist Sheryl Kowalski. Ich rufe Sie im Auftrag von Mrs Yang an.«

Dante braucht eine Sekunde, um den Namen zu verorten. Alice Yang ist die Vorstandschefin von Juno. Er hatte weder erwartet, dass seine Mail so schnell beantwortet würde, noch dass sich jemand von ganz oben zurückmeldet.

»Ah, danke für den schnellen Rückruf.«

»Ich bin die persönliche Assistentin von Mrs Yang. In Ihrer Mail hieß es, Sie ermittelten im Auftrag von Greg Hollisters Schwester?«

»Jacqueline Martel, korrekt.«

»Wir sind hier alle sehr betrübt über Mister Hollisters Tod.«

Dante fällt keine Floskel ein, die als Erwiderung auf diese Binse taugt. Deshalb sagt er:

»Ich untersuche die Umstände von Mister Hollisters Ableben. Es wäre sehr hilfreich, wenn ich mit seinen Exkollegen sprechen könnte.«

»Ich verstehe. Gibt es etwas Spezielles, das Sie wissen möchten?«

»Nun, es geht mir zunächst darum, seine letzten Tage zu rekonstruieren …«

»Sie wissen«, unterbricht ihn Kowalski, »dass er schon länger nicht mehr hier arbeitete?«

»Natürlich. Aber da Mrs Yang ihn gut kannte, hoffe ich, dass sie oder andere Weggefährten mir möglicherweise Anhaltspunkte liefern können.«

»Anhaltspunkte wofür, Mister Dante?«

»Für sein … sein Verhalten in den vergangenen Wochen.«

»War das ungewöhnlich?«

»Sieht so aus.«

Dante saugt sich all das aus den Fingern. Er kann so etwas nicht besonders gut. Seine Exfrau würde behaupten, einer Buchhalterseele wie ihm fehle die Fantasie, fürs Lügen und auch für andere Sachen. Die Wahrheit ist allerdings eher, dass Dante nicht gerne lügt. Aber er kann dieser Vorzimmertrulla ja schlecht auf die Nase binden, dass er nach ein paar Milliarden Dollar sucht, die der Juno-Gründer irgendwo verbuddelt hat.

»Es gibt Hinweise auf gewisse finanzielle Unregelmäßigkeiten.«

»In Mister Hollisters Privatvermögen? Oder meinen Sie, dass das etwas mit unserem Unternehmen zu tun hat?«

»Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt nichts ausschließen. Meine Ermittlungen befinden sich in einem sehr frühen Stadium. Aber ehrlich gesagt ist das etwas, das ich ungern am Telefon erörtern würde.«

»Ich verstehe. Hören Sie, Mister Dante, ich muss dazu intern rückkoppeln und würde mich dann zeitnah wieder bei Ihnen melden, okay?«

»Das ist sehr freundlich, Mrs Kowalski. Vielen Dank.«

Sie verabschiedet sich und legt auf. Dante dreht die Klimaanlage hoch und entledigt sich seines Jacketts. Er fädelt sich auf den Santa Monica Boulevard ein, Richtung Westen. Um zu seiner Wohnung zu gelangen, müsste er in die andere Richtung fahren. Aber da will er nicht hin. Wohin dann? Er weiß es nicht genau, fährt einfach. Als Dante noch etwa zehn Blocks vom Strand entfernt ist, fällt es ihm ein. Das naheliegendste Ziel, geografisch wie ermittlungstechnisch, ist Hollisters Mancave. Sie befindet sich am Strand von Zuma, jenseits von Malibu. Dante fährt weiter, biegt auf den Pacific Coast Highway ab. Abgesehen von dem Brandgeruch, dem mordsmäßigen Verkehr, dem Ziepen in seinem Rücken und der Ebbe auf seinem Konto ist es ein herrlicher Tag. Das Meer glitzert in der Sonne, Pazifikporno vom Feinsten.

Er überlegt, ob er schon jemals bis Zuma Beach gefahren ist – vermutlich nicht. Der Strand liegt weit im Westen, ein ordentliches Stück hinter jener Ansammlung aus überteuerten Boutiquen und Fischbuden namens Malibu.

Dante braucht fast eine Stunde. Am öffentlichen Parkplatz von Zuma Beach fährt er ab, kauft sich am Strandkiosk eine Cola. Damit setzt er sich auf eine kleine Mauer, schaut hinaus aufs Meer. Nach ein paar Minuten holt er Martels Zettel hervor und gibt die Mancave-Adresse bei Google Maps ein.

Da Martel das Domizil ihres Bruders als Strandhaus bezeichnete, hat Dante etwas erwartet, das den direkt ans Wasser grenzenden Promihütten nahe Malibu ähnelt. Aber wie die Karte ihm nun offenbart, ist Hollisters Refugium viel exklusiver. Links des Strands von Zuma erhebt sich eine Anhöhe, die in den Pazifik hinausragt, Point Dume. Sie ist voller sattgrüner Vegetation und Villen. Die Häuser thronen gut dreißig Meter über dem Meer, der Blick muss fantastisch sein.

Dante trinkt aus, setzt sich wieder ins Auto. Ein paar Minuten später schlängelt er sich eine Serpentine hinauf. Oben erwartet ihn ein Gewirr kleiner Sträßchen. An einer davon liegt Hollisters Mancave, das mittlere von insgesamt drei Häuschen auf dieser Seite der Straße. Er hält an, schaut hinüber. Eine Gartenmauer mit dicht stehenden Zypressen versperrt ihm den Blick auf das Innere. Hollisters Villa besitzt ein doppelflügeliges Tor aus dunklem Holz.

Dante kramt den Schlüsselbund hervor, den Martel ihm ausgehändigt hat. Gebäude dieses Kalibers haben normalerweise einen elektronischen Toröffner, doch an dem Schlüsselbund hängt keiner.

Er fährt ein Stück weiter, bis zur nächsten Querstraße, parkt dort. Dann läuft er zurück zu dem Tor, die Schlüssel in der Hand.

Inhaltsverzeichnis

Mancave

Gleich der erste Schlüssel passt. Dante betritt den Innenhof, schließt das Tor hinter sich. Nach seiner Einschätzung dürfte das Strandhaus, die Mancave, was auch immer, aus den Dreißigern stammen. Weiße Wände, ockerfarbene Tonschindeln, ein Hauch von spanischer Kolonialarchitektur – stilistisch ist es das, was man an der Westküste als Mission Revival bezeichnet. Im Innenhof gibt es einen Haufen exotischer Pflanzen in Töpfen. Die Gewächse stehen gut im Saft, vermutlich kümmern sich irgendwelche dienstbaren Geister um sie.

Außerdem befinden sich im Innenhof zwei Garagen. Dante probiert an ihren heruntergelassenen Toren herum. Sie sind verschlossen, lassen sich jedoch mit einem der Schlüssel öffnen. In der linken Garage findet Dante einen älteren Porsche 911, luftgekühlt, froschgrüne Sonderlackierung. Auf dem Nummernschild steht MALIBUM. Die rechte Garage fungiert offenbar als Werkstatt. Martel sagte, ihr Bruder sei nicht nur Programmierer, sondern auch Tüftler und Bastler gewesen. Dennoch ist Dante erstaunt über das Ausmaß seines Hobbys. In der Garage befinden sich mehrere Werkbänke sowie genug Werkzeug, um den alten Porsche von nebenan zu warten, oder Fahrräder, Boote und Modellflugzeuge. Für Dante sieht es so aus, als hätte Hollister all dies tatsächlich getan. Überall finden sich Hinweise auf halb fertige Projekte: in Einzelteile zerlegte Drohnen, Fernsteuerungen, Motherboards sowie ein Haufen anderen Zeugs, deren Funktionen er nicht einmal erahnen kann.

Er verlässt die Garage und geht zur Haustür. Dante bemerkt eine Fischaugenlinse über dem Türsturz, vermutlich nicht die einzige. Ihm ist bewusst, dass einige seiner Kollegen in solchen Fällen vorsichtiger vorgehen würden, um unerkannt zu bleiben. Er hingegen hat in der Nähe geparkt, Nachbarn könnten sein Kennzeichen notieren. Die Kamera hat ihn vielleicht auch schon verewigt, ganz zu schweigen von den Fingerabdrücken, die er gerade am Türknopf hinterlässt. Aber dies ist schließlich keine Mordermittlung. Dante sucht kein Motiv. Er sucht Kontoauszüge.

Der Schlüssel dreht sich, die Tür geht auf. Dante findet sich in einem Flur wieder. Dieser ist weiß getüncht, es gibt eine Anrichte und ein paar leere Kleiderhaken, ferner einen mannshohen Spiegel. Er betrachtet sich darin. Dante hat eindeutig keltische Vorfahren, hat diese fast milchfarbene Haut. Durch seine Klamotten wird diese Fahlheit noch verstärkt. Jackett und Hose sind schwarz, dazu trägt Dante ein weißes T-Shirt. Alles in allem ist er ein ziemlich monochromer Typ.

Vom Flur gehen zwei Türen ab. Hinter einer verbirgt sich ein Fitnessraum mit Rudermaschine, Kettlebells und Langhantelbank. Dante nimmt lieber die andere und findet sich in einem mindestens siebzig Quadratmeter großen Wohnzimmer wieder, dessen Südseite verglast ist. Statt des Pazifiks sind allerdings nur heruntergelassene Rollläden zu sehen. Einen Moment lang befürchtet Dante, ein Supertechie wie Hollister habe bestimmt ein Smart Home besessen, das sich nur über eine Handy-App steuern lasse. Dann aber findet er neben dem Türrahmen einen schnöden Kippschalter, und die Rollos fahren hoch. Der Blick aufs Meer ist atemberaubend. Weil die Küste etwas weiter östlich einen kleinen Knick macht, sieht man zudem rein gar nichts von Los Angeles. Dieser Umstand gefällt Dante fast noch besser als der knallblaue Pazifik.

Er sieht eine großzügige Sofaecke, einen Projektor mit Leinwand, eine Cocktailbar sowie ein Auto, das mitten im Raum steht. Es handelt sich um einen DMC DeLorean. Die charakteristischen Flügeltüren sind geöffnet.

Dante tritt näher heran. Er fragt sich, wie sie die Karre durch den Flur bekommen haben. Die Antwort lautet natürlich: mit Geld. Er geht um den Wagen herum. Es handelt sich nicht um einen gewöhnlichen DeLorean, sondern um die Filmversion aus »Zurück in die Zukunft«. Plutoniumreaktor, Flux-Kompensator, Zeitreise-Navi, alles ist vorhanden.

Dante streicht mit der Hand über die unlackierte Karosserie. Vor Jahren ist er einmal DeLorean gefahren, einer seiner New Yorker Bankerkollegen besaß einen. Es war eine große Enttäuschung. Die Filme vermitteln die Vorstellung eines schnittigen Sportwagens, doch das ist Hollywood-Kokolores. Der DeLorean besitzt zwar ein ansprechendes Äußeres, in seinem Inneren befindet sich jedoch ein schmalbrüstiger Renault-Motor und eine antiquierte Zweigangautomatik. Es gibt Aufsitzmäher, die besser abgehen. Den DeLorean als Einrichtungsgegenstand zu verwenden, ist insofern folgerichtig.

Dante schaut sich weiter um. Hollister besaß offensichtlich ein Faible für solchen Retrokram. Dante sieht einen alten Plattenspieler nebst Vinylsammlung. In einer Vitrine ist Star-Wars-Spielzeug aus den Achtzigern ausgestellt, in einer anderen stehen bemalte Fantasy-Zinnfiguren – Orks, Goblins, Zauberer. In einem weiteren Glaskasten liegen Münzen. War Hollister zu allem Überfluss etwa auch noch Numismatiker? Einige der Münzen sind sehr alt. Er erkennt spanische peso de ocho, deutsche Taler, englische Farthings. Andere Exponate scheinen hingegen recht neu zu sein. Auf einer Münze prangt das doppelt durchgestrichene Bitcoin-B. Einige wirken nicht wie etwas, das tatsächlich je als Zahlungsmittel verwendet wurde, sondern eher wie die Art von Gedenkmünzen, die einem zu später Stunde im Kabelfernsehen angeboten wird.

Eine zeigt eine Frau mit Spartaner-Helm. Die Münze wurde auf einem kleinen Samtkissen platziert, woraus Dante schließt, dass sie Hollister besonders wichtig war. Zunächst vermutet er, bei der Frau handele es sich um die Göttin Juno und die Münze sei irgendein Promogag von Hollisters Exfirma. Dann aber entdeckt er die Inschrift am Rand. »Republic of Minerva« steht da und darunter: »South Pacific Ocean«. Es gibt keine Denomination, aber Koordinaten und ein Jahr: 1973.

Dante vermag sich keinen Reim darauf zu machen. Als Nächstes untersucht er das Bücherregal. Es ist voller Comics, darunter viele Mangas. Etliche sind pornografisch. Nachdem er in einem Heftchen mit dem Titel »Bondage Faeries« geblättert hat, das eine Mischung aus »Tinkerbells Abenteuer« und »Fifty Shades of Grey« zu sein scheint, nimmt er zwei Büsten im Regal in Augenschein. Die eine zeigt einen kahlköpfigen, streng dreinblickenden Mann mit Zwicker, die andere einen mit vollem Haupthaar und tiefenentspannten Gesichtszügen. Mahler und Beethoven? Turing und Gates? Tango and Cash? Auf den Sockeln steht leider nichts.

Er geht weiter. An der hinteren Wand hängt das vergrößerte und gerahmte Cover eines Buchs: »Atlas wirft die Welt ab« von Ayn Rand, vermutlich die Erstausgabe. Dante verzieht das Gesicht. Zwar hat er »Atlas« nie gelesen, weiß jedoch, dass konservative Intellektuelle darauf stehen. Rand propagiert in ihrer Schwarte eine Welt, in der sämtliche Regeln von der Wirtschaft gemacht werden und der Staat nichts zu sagen hat.

Offenbar war Greg Hollister ebenfalls Rand-Fan. Verwunderlich ist das nicht. Dantes Erfahrung nach finden sich vor allem sehr wohlhabende und erfolgreiche Menschen in Rands Geschwurbel wieder. Die Autorin propagiert nicht nur Laissez-Faire-Kapitalismus, sondern überhöht den Unternehmer zudem zu einer Art Herrenmensch, ohne den die Zivilisation umgehend zusammenbräche. So etwas kommt bei selbst ernannten Masters of the Universe natürlich gut an.

Während Rand bei einem Erzkapitalisten so wenig überrascht wie de Sade bei einem SM-Fetischisten, bringt der Bilderrahmen daneben Dante ins Grübeln. Es handelt sich um eine Tuschezeichnung. Sie zeigt einen Mann, der mit ausgebreiteten Armen dasteht. Dante fühlt sich an da Vincis vitruvianischen Mann erinnert. Allerdings fehlt diesem Herrn hier der Kopf. In den Händen hält er einen Dolch und ein flammendes Herz, auf Höhe seiner Scham befindet sich ein Totenschädel.

Dante kratzt sich am Kinn, wendet sich handfesteren Dingen zu. Er öffnet alle Schubladen, findet ein paar Drogen – Gras und irgendwelche Pillen, Opioide vermutlich. Er geht zur Cocktailbar. Sie enthält wahrscheinlich keinerlei sachdienliche Hinweise, interessiert ihn aber persönlich. Dante ist ein großer Cocktailfan. Manche würden sagen: ein zu großer.

Hollisters Barausstattung würde einen Profibarkeeper zufriedenstellen. Fast ist Dante versucht, sich ein Getränk zu mixen. Es müsste etwas Leichtes sein, ein Arbeitsdrink, vielleicht ein Cape Codder oder eine Mimosa. In seinem Hinterkopf hört er seine Exfrau über Leute meckern, die bereits vor dem Mittagessen mit dem Saufen anfangen. Eigentlich sollten ihm Rachels Tiraden zehn Jahre nach ihrer Scheidung gleichgültig sein. Aber irgendwie ist ihm die Lust vergangen. Um vor dem Schatten seiner Ex nicht völlig einzuknicken, holt er sich wenigstens ein Ginger Ale aus dem Kühlschrank, irgendeine exotische Marke, die er noch nie probiert hat. Mit einem Tumbler voller Eis und Ingwerbier schlendert Dante weiter durch die Mancave.

Am Treppenaufgang und im Obergeschoss hängen noch mehr gerahmte Bilder. Gott sei Dank sind es keine weiteren Ayn-Rand-Cover, sondern Urlaubsfotos. Zumindest vermutet Dante, dass es welche sind. Hollister und seine Kumpels tragen auf den Bildern Klamotten, die aussehen, als habe ein mexikanischer Karnevalsdesigner Kostüme für das Remake von Mad Max entworfen – bunte Federn, Chrom, Leder, noch mehr Federn.

Hinter den Cyberpunk-Azteken erstreckt sich eine Salzwüste. Dante erkennt seltsame Fahrzeuge, Avantgarde-Skulpturen, leicht bekleidete Mädchen mit Dreadlocks und eine riesige Statue aus Holz. Nun ahnt er, wo die Fotos aufgenommen wurden: auf dem Burning-Man-Festival, einem alljährlichen Woodstock der Techbranche in der Black Rock Desert. Die Statue im Hintergrund, der namensgebende Brennende Mann, wird am Ende des mehrtägigen Bacchanals abgefackelt.

Dante vergleicht die Fotos, sucht nach wiederkehrenden Gesichtern. Ein Kerl mit Bubiblick und Indianerzöpfen taucht öfter auf, ebenso ein älterer Mann, der in dem Indiopriester-aus-dem-Weltall-Outfit besonders seltsam aussieht. Mit seinem Handy knipst Dante alles.

Im Obergeschoss landet er als Erstes in einem Raum, den er zunächst für eine weitere Werkstatt hält. Atelier wäre jedoch die bessere Bezeichnung; an einem Arbeitstisch stehen Dutzende kleine Töpfchen mit Acrylfarben sowie ein Gestell mit Uhrmacherlupe. Halb bemalte Zinnfiguren stehen herum – Skelette, Hobbits, Drachen. In der Mitte des Raums befindet sich eine auf Böcken stehende, große Platte. Sie erinnert an ein Modelleisenbahn-Diorama, minus Gleise und Züge. Es gibt Gras, Hügel, einen Fluss. Auf beiden Seiten sind Armeen aufgestellt, links die Horden der Finsternis – Trolle, Orks, Dämonen. Rechts warten die Mächte des Lichts – Elfen, Engel, Menschen. Dante schaut in einige Kisten in den Regalen. Sie enthalten noch mehr Zinnfiguren, Modelle mittelalterlicher Burgen und Steinschleudern.

Er geht weiter, kommt in ein Zimmer mit Schreibtisch und Lesesessel, das Hollisters Arbeitszimmer gewesen sein muss. In einem der Regale liegt ein Laptop, ein Macbook. Dante überlegt kurz, ob er es anschalten soll. Aber ohne Passwort kann er sich das wohl schenken.

Seufzend stellt Dante sein Glas ab und geht auf die Knie. Er beginnt, über den Steinboden zu kriechen. Seiner Erfahrung nach schreiben viele Leute ihre Computerpasswörter auf Merkzettel. Besonders fantasielose Zeitgenossen verwenden Post-its und kleben diese unter den Schreibtisch. Eigentlich glaubt Dante nicht, dass Hollister so einer war, aber man kann ja nie wissen. Er schaut unter den Tisch, den Stuhl, tastet die Unterseiten der Schubladen ab.

Als Dante fertig ist, hat er außer staubigen Fingern nichts vorzuweisen. Ächzend kommt er hoch. Er geht ins Schlafzimmer, wiederholt die Prozedur. Als er unter dem Bett fündig wird, ist er fast ein wenig verdutzt. Ein gefalteter Zettel lugt zwischen Lattenrost und Matratze hervor. Dante zieht ihn heraus, entfaltet ihn. Auf dem Zettel befindet sich ein zwölfstelliges alphanumerisches Passwort, inklusive Sonderzeichen und Großbuchstaben, wie die Götter der IT es vorschreiben.

Im Arbeitszimmer fährt er den Rechner hoch, gibt im Anmeldefenster das Passwort ein. Der Matratzencode funktioniert. Klaglos gibt der Rechner den Blick auf den Desktop frei, dessen Hintergrundbild einen namenlosen Strand zeigt. Bevor sich Dante jedoch ein wenig in den Verzeichnissen umschauen kann, öffnet sich ein schmuckloses Fenster. Text erscheint.

Last login: Nov 3 11:57:42 on console

Greg-Hollisters-Macbook-Air-Deux:~ hollynew$

Dante bleibt gerade genug Zeit, den Text zu lesen, bevor er verschwindet und durch einen Haufen Computergrütze ersetzt wird, die in rascher Abfolge durch das Fenster läuft. Er ist ratlos. Handelt es sich um irgendeine Sicherheitsmaßnahme? Wird die Festplatte gelöscht? Oder ist dies nur ein Systemupdate? Dante versucht, das Fenster wegzuklicken, doch da hat der Buchstabenregen bereits aufgehört. In der letzten Zeile steht: »Complete«.

Dante klickt in das Terminalfenster, kopiert die gesamte Codegrütze in die Zwischenablage. Danach fügt er sie in ein Word-Dokument ein und speichert es. Vielleicht kann ihm später jemand mit mehr IT-Kenntnissen erklären, was Hollisters Macbook da gemacht hat. Dante holt einen USB-Stick hervor und kopiert alles, was ihm interessant erscheint – vor allem die Excel-Dateien.

Was auffällt: Hollisters Rechner besitzt zwar ein E-Mail-Programm. Es ist aber nicht eingerichtet, keine Mitteilungen in der Inbox. Vermutlich ist das keine Nachlässigkeit, sondern kalkulierte Geheimniskrämerei. Er wird den Rechner mitnehmen, aber eine Sache will er dennoch sofort nachschauen, weil sie ihm bereits oft weitergeholfen hat. Er öffnet den Webbrowser und klickt oben in die leere Adressleiste, woraufhin von Hollister häufig besuchte Seiten angezeigt werden. Darunter sind die üblichen Verdächtigen: L.A. Times, Twitter, YouTube, Pornhub, aber auch einige Adressen, die auf eine Kryptomanie hindeuten, zum Beispiel Coinmarket, eine Plattform, auf der man digitale Währungen handeln kann. Ferner gibt es einen Eintrag namens »Tales from the Crypto«.

Das Wortspiel ist ziemlich bescheuert, dennoch muss Dante schmunzeln. Er klickt darauf. Die Seite entpuppt sich als eine Art Finanzblog, in dem es ausschließlich um Dinge wie Bitcoin und Blockchain geht.

Hollister interessierte sich aber wohl auch für die gute alte Börse. Eine weitere oft aufgerufene Seite ist eToro, eine Handelsplattform für Aktien, Anleihen und Währungen. Kurz überkommt Dante die Hoffnung, dass Hollister vielleicht noch eingeloggt ist und er einen Blick in das Wertpapierdepot des Mannes werfen kann. Aber natürlich landet er vor einem Log-in-Fenster.

Dante schaltet den Laptop ab und steckt ihn in seinen Rucksack. Kurz darauf ist er wieder im Wohnzimmer, lässt sich in den Beifahrersitz des DeLorean sinken.

»Fuck«, entfährt es ihm. Dante steht zwar noch ganz am Anfang seiner Ermittlungen, hat aber bereits Hollisters Laptop nebst Passwort erbeutet. Eigentlich sollte ihn das zufrieden stimmen. Stattdessen fühlt er sich niedergeschlagen. Der Typ war schlauer, als dieser ganze infantile Zierrat nahelegt. Vermutlich sind seine wirklich interessanten Daten gar nicht auf dem Laptop. Auch setzt Dante nicht allzu viel Hoffnung in die anstehenden Zeugenbefragungen, insbesondere was den Anwalt und die Juno-Chefin angeht. Die einzige Berufsgruppe, die mehr aalglatte Schleimscheißer enthält als die Jurisprudenz, ist das Topmanagement großer Konzerne. Es ist unwahrscheinlich, dass er aus diesen Leuten viel herausholen wird. Dante schaut durch die Windschutzscheibe, schilt sich für seinen Defätismus. Was er braucht, ist ein bisschen Optimismus. Was er braucht, ist …

Sein Blick fällt auf die Bar.

Ein paar Minuten später sitzt er in einem Designersessel neben dem Beamer, ein Glas voller flüssigem Optimismus in der Hand. Er nimmt einen Schluck. Sein Sidecar enthält einen Hauch zu viel Cointreau, doch es gibt niemanden, den er dafür verantwortlich machen könnte. Er nippt erneut, schaut auf die leere silbrig-weiße Leinwand vor sich. Welchen Film oder welche Serie hat Hollister wohl zuletzt geschaut? Vermutlich »Game of Thrones« oder die Extended Version des »Herrn der Ringe«. Er wendet sich nach rechts, sucht nach dem Netzschalter des Beamers. Nun erst fällt ihm auf, dass dieser seltsam aussieht. Er wirkt altmodisch und er …

Das ist kein Beamer. Es ist ein Diaprojektor. Dante kommt hoch, blitzschnell, so als habe der Sidecar statt Brandy Raketentreibstoff enthalten. Er fingert an dem Projektor herum. Auf dessen Rückseite befinden sich eine Öffnung und ein ausklappbarer Schlitten, in den man ein Magazin voller Dias einführen könnte.

Ein Bild formt sich in seinem Kopf. Er sieht einen dieser Vergnügungspiers mit Eiscafé und Spielhallen. Es handelt sich jedoch nicht um den Santa-Monica-Pier, was naheliegend wäre, sondern um einen an der englischen Nordseeküste. Er kennt diese Badeorte aus seiner Kindheit. Kieseliger Strand, arschkaltes Wasser, zerkochtes Essen. Warum muss er gerade jetzt daran denken?

Nach einem weiteren Schluck fällt es ihm ein. Vermutlich liegt es daran, dass die letzten Dias, die er gesehen hat, einen solchen Strandurlaub zeigten, den er mit seinen Eltern durchlitten hat, irgendwann in den Achtzigern – in Eastbourne, dem südenglischen Geriatrieparadies. Warum haben Eskimos kein Wort für »Eastbourne«? Weil sie ihre alten Leute lieber im Schneegestöber aussetzen.

Vermutlich hat er die Dias sogar noch. Ja, sie sind in irgendeiner Schublade. Dante wischt den Gedanken weg und beginnt, Hollisters Wohnzimmer systematisch auseinanderzunehmen. Wenn man weiß, wonach man sucht, ist es immer einfacher.

Er fahndet nach circa dreißig Zentimeter langen, zehn Zentimeter breiten Plastikboxen. Er findet tatsächlich eine, unter der aufklappbaren Platte des Couchtischs. Beim vorherigen Durchsehen hat er die Box für eine Videokassette gehalten. In der Kiste wäre Platz für zwei Magazine, doch nur eines befindet sich darin. Vorsichtig zieht Dante es heraus. Es enthält an die dreißig Dias.

Er schiebt das Magazin in den Projektor, greift sich eine kleine Fernbedienung. Man erkennt nicht alle Details, dafür müsste er zunächst die Rollos herunterlassen. Doch so viel Geduld besitzt Dante nicht.

Mit einem Klack wird das erste Dia eingezogen.

Es zeigt einen Mann auf der Skipiste.

Dante flucht.

»Niemand interessieren deine bepissten Skiferien.«

Er klickt weiter. Snowboarding, vermutlich in Colorado. Die Bilder wirken relativ neu, was seltsam ist, weil kein Mensch mehr Dias macht. Hollister stand augenscheinlich auf Retro-Technologien.

Weitere Dias folgen, noch mehr Schnee. Seine Intuition hat ihn offensichtlich getäuscht oder vielleicht war es auch der Sidecar. Die Bilder sind belanglos, trotzdem will Dante sie zumindest einmal durchklicken. Der Projektor treibt ihn allerdings zur Weißglut. Klick, klick, klick – er möchte im Schweinsgalopp durch die Dias, aber analoge Technik ist behäbig.

Rackatschack wird ein Dia eingezogen. Rackatschick wird es zurück ins Magazin befördert, das sich auf dem Schlitten nun einen Zentimeter vorwärtsbewegt. Dann kommt das nächste.

Halfpipe. Après-Ski. Knackärsche in Latzhosen. Ein Blatt, auf dem »FEUER« steht.

Dante hält inne. Auf dem Foto ist ein Blatt liniertes Papier zu sehen, in jenem giftigen Gelbton, den amerikanische Collegeblöcke haben. Jemand hat es quergelegt, das Wort mit einem Filzer daraufgeschrieben und davon ein Foto gemacht. Außer dem Blatt und einem bisschen Tischplatte ist nichts weiter zu sehen.

Dante drückt auf den Knopf. Rackatschack. Rackatschick. Rackatschack.

SKORPION

So geht es weiter.

WASSER

UNTER

BERG

MIT

WALNUSS

SHRIMP

LUXUS

HAAR

MARMOR

ERBE

Als er erneut drückt, wird die Leinwand weiß. Das Blatt, auf dem »ERBE« stand, war das letzte. Dante bleibt einen Moment lang regungslos sitzen. Dann hebt er sein Glas und trinkt es in einem Zug leer. Er lässt die Dias ein weiteres Mal durchlaufen, bevor er sich erhebt und das Magazin aus dem Projektor nimmt. Vorsichtig entfernt er die Dias mit den Wörtern, darauf achtend, dass ihre Reihenfolge erhalten bleibt. Vielleicht ist sie wichtig. Aus seinem Rucksack holt er zwei Gummibänder hervor und fixiert damit den Stapel.

Er packt die Dias in den Rucksack, wäscht die benutzten Gläser aus und vergewissert sich, dass auch sonst alles aussieht wie zuvor. Danach verlässt Dante das Haus, geht zum Tor. Gerade will er es öffnen, als sein Handy klingelt.

»Dante Investigations?«

»Hallo, Mister Dante. Noch mal Kowalski von Juno.«

Das ging schnell. Sehr schnell. Interessant.

»Mister Dante, ich weiß nicht, wie Ihr Kalender aussieht. Aber hätten Sie vielleicht schon morgen Zeit?«

»Im Prinzip ja. Wo?«

»In unserer Firmenzentrale, wenn das möglich ist.«

Juno sitzt in San Francisco, wo sonst?

»Kriege ich hin. Wie viel Uhr?«

»Elf dreißig?«

»Gut, ich werde da sein.«

Während er mit Kowalski telefoniert, hört Dante das Knirschen von Reifen, die über sandigen Boden rollen. Ein Auto nähert sich, es muss sich direkt jenseits der Mauer befinden.

»Kommt außer Mrs Yang noch jemand dazu? Der Finanzchef vielleicht?«, fragt er die Juno-Sekretärin, während er nach einem Schlitz in der Pforte oder Mauer sucht.

»Das wäre auch Mrs Yang, da Hugh Blakely, unser Finanzchef, das Unternehmen kürzlich verlassen und sie seinen Job kommissarisch übernommen hat. Aber unser Kommunikationschef kommt auf jeden Fall. Und vielleicht noch jemand.«

Mit »jemand« meint Kowalski vermutlich einen Anwalt. Es würde ihn schwer wundern, wenn die Juno-Chefin mit ihm spräche, ohne einen dabeizuhaben.

Durch den schmalen Schlitz zwischen den Torflügeln meint Dante eine Bewegung zu erkennen.

»Gut, Mrs Kowalski. Dann bin ich morgen rechtzeitig bei Ihnen.«

Sie verabschieden sich, Dante legt auf. Er lugt erneut durch den Schlitz, kann aber nichts erkennen. Zwar hat er wenig Lust, irgendwem in die Arme zu laufen, aber überwintern will er hier drin auch nicht. Und wenn er morgen früh ausgeschlafen bei Juno antanzen möchte, muss er heute noch einen Flieger nehmen.

Er atmet tief durch und öffnet die Pforte.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lehnt eine Frau mit verschränkten Armen an einem Prius. Dante hatte eher Leute in FBI-Jacken erwartet. Aber die Frau arbeitet vermutlich weder für die Bullen noch fürs Fernsehen. Sie ist Mitte dreißig, trägt ein graues Arbeiterhemd und schwarze Jeans, dazu rote Vans. Ihre schwarzen Haare sind kurz und strubbelig, die Seiten ausrasiert. Eine Ray-Ban verdeckt ihre Augen. Unter den kurzen Ärmeln ihres Hemds kriechen Tattoos hervor.

Dante ignoriert sie, wendet sich ab und verschließt das Tor. Als er sich wieder umdreht und Richtung Hauptstraße läuft, schaut sie ihm nach. Er marschiert weiter, geht in seinem Kopf verschiedene Optionen durch. Ausscheiden dürften, neben Polizistin und Reporterin, wohl auch Anwältin, neugierige Nachbarin … was käme sonst noch infrage? Falls jemand Schläger angeheuert hat, um seine Ermittlungen zu behindern, wären diese erstens im Rudel aufgetaucht und zweitens männlich. Vielleicht eine Exfreundin von Hollister?

Dante hört, wie eine Autotür zuklappt. Ohne groß darüber nachzudenken, macht er auf dem Absatz kehrt und geht auf den Prius zu. Weil die Sonne auf die Windschutzscheibe knallt, kann er die Reaktion der Frau nicht erkennen, aber zumindest rast sie nicht mit Vollgas davon. Er geht zur Beifahrertür, macht sie auf, steigt ein. Skatergirl schaut ihn an. Sie versteckt sich noch immer hinter der Ray-Ban und wirkt verwundert, aber nicht verängstigt.

»Guten Tag«, sagt Dante.

»Hi«, erwidert sie.

Die Stereoanlage ist an. Er kennt diesen Gitarrenlauf. Es ist ein alter Punksong, »Sonic Reducer« von den Dead Boys. Das zumindest glaubt Dante, bis er zu seiner Enttäuschung feststellt, dass es sich um einen Rapsong handelt, dessen Komponisten einfach die »Reducer«-Riffs geklaut haben.

Anscheinend steht ihm sein Missfallen ins Gesicht geschrieben.

»Irgendwas nicht in Ordnung, Mister?«

»Der Song. Nichts gegen die … sind das die Beastie Boys?«

Sie nickt.

»Das Original gefällt mir besser.«

Zu seinem Erstaunen nickt sie erneut. Wer kennt heute noch die Dead Boys?

»Sind Sie dafür nicht zu alt, Mister?«

»Für Punkrock?«

Dante mag Punkrock, mochte ihn schon immer. Er hat nie aufgehört, das Zeug zu hören, nicht einmal als Investmentbanker. Mit Derivaten und Subprime-Hypotheken die Welt zu ruinieren und dabei »Kill the Poor« von den Dead Kennedys zu hören, ist ein gewisser Widerspruch, aber vermutlich nicht der größte in seinem Leben.

»Zu alt für den Text. Trotzig. Infantil. Was für Jungs, nicht für Männer. Aber Sie sind jetzt nicht ungefragt in mein Auto gestiegen, um über Punksongs zu quatschen, oder?«

Dante kann sehen, dass sie die linke Hand in ihrer Hosentasche vergraben hat. Vermutlich umklammert sie eine Dose K.-o.-Spray. Er hofft es. Bei den bekloppten Amerikanern mit ihrem Waffenfetisch muss man stets auf das Schlimmste gefasst sein.

Langsam schüttelt er den Kopf.

»Sie haben mir so interessiert nachgeschaut. Und da dachte ich, Sie sind vielleicht«, er korrigiert sich rasch, bevor das ganz falsch rüberkommt, zeigt auf das Anwesen, »wegen Hollister hier.«

»Greg Hollister ist tot.«

»Zweifelsohne«, erwidert Dante. »Trotzdem mein Ratschlag: Lassen Sie’s.«

»Was meinen Sie, Mister?«

»Sie haben überlegt, wie risikoreich es wäre, mal einen Blick reinzuwerfen. Ist schließlich keine Menschenseele auf der Straße. Und über die Mauer kommt man rüber. Aber drinnen gibt es einen Haufen Kameras. Deshalb würde ich es lieber lassen.«

»Und wer sind Sie?«

»Ed Dante. Privatdetektiv.«

»Wer hat Sie beauftragt? Woher haben Sie die Schlüssel?«

»Vertraulich. Sagen Sie mir auch Ihren Namen, Lady?«

»Mercy Mondego.«

Wenn man in Großbritannien solch einen Namen hört, hält man ihn für ausgedacht. Aber in Kalifornien kann es durchaus hinhauen. Der spanische Nachname passt auch zu ihrem Teint.

»Und Ihr Job, verraten Sie mir den auch?«

»Journalistin.«

Bestimmt nicht beim »Wall Street Journal«, denkt Dante. Sie zieht eine Visitenkarte hervor, reicht sie ihm. »Mercy C. Mondego, Chefredakteurin«, steht darauf. Und darunter: »Tales From The Crypto«.

»Ah, dieses Blog«, sagt Dante und steckt die Karte ein, »habe ich schon mal gehört, glaube ich.«

Mondego hat tiefschwarze Augenbrauen, die einander in der Mitte fast berühren und die nun, da sie die Stirn runzelt, noch deutlicher hervortreten.

»Sie interessieren sich für Krypto?«

»Wäre das ungewöhnlich?«

»Sie sehen eigentlich wie ein Nocoiner aus.«

»Wie was?«

»Wie jemand, der nicht in Krypto investiert.«

Was sie wohl meint, ist, dass Dante zu arriviert aussieht, um diesen neuen groovy-funky Bitcoin-Scheiß noch zu checken.

Sie nimmt die Sonnenbrille ab. Große, dunkle Augen schauen ihn an.

»Können wir uns unterhalten, ich meine über Hollister? Alles vertraulich, natürlich.«

»Ich denke mal drüber nach. Aber jetzt«, Dante öffnet die Tür, »muss ich los. Ich habe noch einen Termin.«

»Wollen Sie mir vielleicht vorher noch Ihre Karte geben, Mister Dante?«

»Sie können mich googeln.«

»Ihre Handynummer vermutlich nicht«, erwidert sie.

»Die Anrufe werden weitergeleitet. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich möchte nicht, dass das LAPD meine Karte bei Ihnen findet, wenn Sie«, er deutet auf den Rücksitz, »festgenommen werden.«

Sie weiß natürlich, was in ihrem Fond liegt, kann es jedoch trotzdem nicht unterlassen, hinzuschauen. Auf der Sitzbank liegen eine schwarze Wollmaske, Handschuhe und eine Brechstange. Daneben sieht man eine zusammengeknüllte Wolldecke, die vor wenigen Minuten vermutlich noch über das Einbrecherwerkzeug gebreitet war.

»Glauben Sie mir. Es lohnt sich nicht.«

Sie schaut ihn an, mit einer Mischung aus Trotz und Spott.

»Vielleicht lohnt es sich sogar ganz ungemein«, sagt Mondego.

»Nur, wenn man nicht gesehen wird. Und wenn noch was Interessantes da ist.«

Dante nickt Mondego ein letztes Mal zu, steigt aus. Ohne sich noch einmal umzudrehen, läuft er zu seinem Auto. Er legt den Rucksack auf den Beifahrersitz und steckt sein Handy in die Navi-Halterung.

»Siri, spiel ›Sonic Reducer‹ von den Dead Boys.«

Wieder ertönt dieser Gitarrenlauf. Aber diesmal folgt kein Gehippe oder Gehoppe. Stattdessen rotzt eine Männerstimme:

I don’t need anyone

Don’t need no mom and dad

Don’t need no pretty face

Don’t need no human race

I got some news for you

Don’t even need you too

Dante lässt den Wagen an. Mondego hat recht, wirklich reichlich infantil, dieser Text. Er dreht das Radio auf und gibt Gas.

Inhaltsverzeichnis

Klick und Bing

Als Dante am nächsten Morgen vor der Juno-Zentrale aus dem Taxi steigt, sieht er aus wie der Banker von einst. Normalerweise meidet er Schlips und Slipper, aber wenn man sich mit der Vorstandschefin eines großen Finanzdienstleisters trifft, ist volles Ornat angesagt. Aus kompensatorischen Gründen hat er auf der Fahrt vom Flughafen zum Finanzdistrikt von San Francisco die ganze Zeit Rage Against the Machine gehört. Nun nimmt er die Stöpsel aus den Ohren und geht auf die Drehtür zu.

Junos Büros befinden sich in einem eher unscheinbaren Klotz unweit der Transamerica Pyramide. Die Lobby ist in hellem Holz und dunklem Granit gehalten. Hinter dem Empfangstresen ist ein Bildschirm von der Größe eines Motelpools angebracht. Sein Display ist schwarz, bis auf ein marmorweißes Juno-Logo in der Mitte und periodisch an verschiedenen Stellen des Bildschirms aufblitzende Wechselkursnotierungen: USD/EUR 1,1115; GBP/CHF 1,2568; MON/CHF 0,9678.