Montessori-Pädagogik - Tanja Pütz - E-Book

Montessori-Pädagogik E-Book

Tanja Pütz

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Beschreibung

Diese verständlich geschriebene Einführung bietet "Einsteigern" eine zuverlässige Orientierungshilfe. Die Autoren führen anschaulich und pointiert in die theoretischen Grundlagen ein, stellen das Menschenbild Maria Montessoris, ihre lern- und entwicklungspsychologischen Entdeckungen sowie Überzeugungen kenntnisreich dar. Ein Schwerpunkt liegt auf der umfassenden Darstellung der Montessori-Praxis.

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Überarbeitete Neuausgabe 2019

(4. Gesamtauflage)

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Berres & Stenzel, Freiburg

Umschlagfoto: © Nienhuis Montessori

Montessori-Aufnahmen S. 8, 9, 12, 14, 15: © The Montessori-Pierson Estate

Historische Aufnahme S. 57: © Hans Lehrer, München

Fotos S. 5, 16, 32, 33, 41, 42, 49, 52, 53, 56, 59, 61, 62, 64, 73, 80, 84, 85, 86, 88, 91, 94, 101, 105, 106, 111, 124, 131, 133, 136, 144, 148: © Sönke Held, Hamburg

Layout: Berres & Stenzel, Freiburg

E-Book-Konvertierung: post scriptum, Vogtsburg-Burkheim

ISBN Print 978-3-451-38405-9

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-81844-8

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-81911-7

Inhalt

Vorwort

1. »Wo ich bin, ist Freiheit!« Leben und Werk einer weltberühmten Pädagogin

1.1 Montessoris Ausbildungsjahre

1.2 Von der Medizin zur Heilpädagogik

1.3 Von der Heilpädagogik zur Allgemeinen ­Pädagogik

2. »Werde, der du bist« – Das Bild vom Kind bei Maria Montessori

2.1 Das Kind als Baumeister seiner selbst

2.2 Das Streben des Kindes nach Unabhängigkeit

2.3 Montessoris Theorie der Sensiblen Phasen

2.4 Montessoris Entwicklungsstufen

3. »Dann höre ich nur noch auf mich …« Polarisation der Aufmerksamkeit und Stille

3.1 Die Phasen der Polarisation der ­Aufmerksamkeit

3.2 Wann entsteht Polarisation der ­Aufmerksamkeit?

3.3 Auswirkungen der Polarisation der ­Aufmerksamkeit

3.4 Stille erfahren in der Polarisation der ­Aufmerksamkeit

4. »Wer erziehen will, muss erzogen sein« Der Vorbereitete Erwachsene und die neue Erzieherpersönlichkeit

4.1 Reflexion des pädagogischen Selbst­verständnisses

4.2 Pädagogische Grundhaltungen und ­persönliche Eigenschaften

4.3 Vorbereitung der Montessori-Pädagogin

4.4 Aufgaben der Montessori-Pädagogin in der Freiarbeit

5. »Ein Ort der Freiheit« – Die Vorbereitete Umgebung

5.1 Kinderhaus und Schule als wohnliches Heim

5.2 Kinderhaus und Schule als Lebens- und Erfahrungsraum

5.3 Kinderhaus und Schule als klar ­strukturierter Raum

5.4 Angebotsvielfalt in Kinderhaus und Schule

6. »Jeden Tag eine große Arbeit« – Freiarbeit in Kinderhaus und Schule

6.1 Montessoris Kritik an der »Alten Schule«

6.2 Ursprung der Freiarbeit bei Maria Montessori

6.3 Was versteht man unter Montessori-­Freiarbeit?

6.4 Freiarbeit und ihre Voraussetzungen

7. »Schlüssel zur Welt« – Das Montessori-Material

7.1 Didaktische Prinzipien der Montessori-­Pädagogik

7.2 Eigenschaften des Montessori-Materials

7.3 Lektionen zur Einführung von Material

7.4 Materialbeispiele

8. »Den verantwortlichen Menschen ­vorbereiten« Werteerziehung nach Maria Montessori

8.1 Religiöse Erziehung

8.2 Kosmische Erziehung

8.3 Friedenserziehung

8.4 Soziale Erziehung

9. »Auf den Anfang kommt es an!«Montessori-Pädagogik in Krippe und Kinderhaus (0–6 Jahre)

9.1 Die erste Entwicklungsstufe

9.2 Ausgewählte Sensibilitätsbereiche – ein kurzer Überblick

9.3 Montessoris »Entdeckung« und ihre ­pädagogischen Schlussfolgerungen

9.4 Sinnesmaterialien in Kinderhaus und Schule

9.5 Übungen des täglichen Lebens in ­Kinderhaus und Schule

9.6 Tagesablauf im Kinderhaus

9.7 Arbeit und Spiel

9.8 Inklusion in Kinderhaus und ­Montessori-Schule

10. »Hilf mir, es selbst zu tun«Montessori-Pädagogik in der Grundschule (6–12 Jahre)

10.1 Die sensiblen Phasen im Grundschulalter

10.2 Die Montessori-Grundschule als ­vorbereitete Umgebung für 6 bis 12-Jährige

10.3 Unterricht in der Montessori-Grundschule

10.4 Leistungsmessung und Leistungs­bewertung

10.5 Jahrgangsübergreifendes Lernen

11. »Ich freu’ mich schon auf morgen«Montessori-Pädagogik in der Sekundarstufe (12–18 Jahre)

11.1 Der Erdkinderplan – Idee einer Erfahrungsschule des sozialen Lebens

11.2 Erdkinderprojekte in Deutschland und den USA

11.3 Montessori-Sekundarschulen in den ­Niederlanden und Deutschland

12. »… damit wir besser lernen können.« Kinder erklären Montessori

13. Anhang

Über die Autoren

Vorwort

Acht Jahre nach Veröffentlichung dieser Einführung in die Theorie und Praxis der Montessori-Pädagogik ist die Nachfrage nach unserem Band ausgesprochen hoch. Wir freuen uns über die positive Resonanz und danken für die wertschätzenden Rückmeldungen unserer Leserinnen und Leser. Diese haben uns bestärkt, die Struktur und Gestaltung der Neu­auflage beizubehalten – wohl aber Ergänzungen, leichte Veränderungen, Erneuerungen und – wo nötig – Überarbeitungen vorzunehmen.

Unser Buch bildet den Auftakt einer inzwischen auf 14 Bände gewachsenen Buchreihe, die von der Erfahrung, Expertise und Reflexion ausgewiesener Expertinnen und Experten lebt, die mit viel Engagement an dieser Reihe mitgearbeitet haben.

Als Herausgeberteam der Reihe »Montessori Praxis« bemühen wir uns, die große Bandbreite der Entwicklungs- und Bildungsbereiche abzubilden und Inspiration für Pädagoginnen und Pädagogen, die täglich mit Kindern und Jugendlichen zusammenarbeiten, zu liefern.

Wir danken dem Herder-Verlag für die Zusammenarbeit und besonders Jochen Fähn­drich für fruchtbare Gespräche und Unterstützung in unserem Bestreben, gelebte Mon­tes­sori-­Pädagogik sichtbar zu machen.

Wir wünschen viel Freude mit diesem Buch, Anregungen und Bestätigung für alle, die an einer Pädagogik interessiert sind, die die Bedürfnisse des Kindes in den Mittelpunkt des pädagogischen Geschehens stellt.

Michael Klein-Landeck und Tanja Pütz

1. »Wo ich bin, ist Freiheit!« Leben und Werk einer weltberühmten Pädagogin

Dass sie eine der bedeutendsten Pädagoginnen des 20. Jahrhunderts werden würde, war Maria Montessori keineswegs in die Wiege gelegt. Bereits ihr Weg zum Medizinstudium und zur Promotion war damals für eine Frau alles andere als selbstverständlich. Und später sind es dann immer wieder wegweisende Erfahrungen, die allmählich Montessoris pädagogische Konzeption formen. Diesen Weg zeichnet dieses erste Kapitel nach – bis zur weltweiten Verbreitung der Montessori-Pädagogik.

Maria Montessori (1870–1952) zählt bis heute zu den berühmtesten Persönlichkeiten in der Geschichte der Pädagogik. Kinderhäuser und Schulen, die ihren Namen tragen und nach ihrem Konzept arbeiten, sind weltweit etabliert. Sie stehen für ein Bildungssystem, das den Bedürfnissen des Kindes gerecht werden will und diese konsequent in den Mittelpunkt ihrer pädagogischen Bemühungen stellt. Doch wer war diese Frau? Wie ist sie aufgewachsen? Wodurch ist es ihr gelungen, ein so weltweit anerkanntes pädagogisches Konzept zu entwickeln? Was hat sie in ihrem Leben angetrieben, für die internationale Verbreitung ihres pädagogischen Ansatzes zu wirken?

Maria Montessori kommt am 31. 8. 1870 in Chiaravalle, einer kleinen Stadt in der italienischen Provinz Ancona, als einziges Kind von Renilde, geborene Stoppani (1840–1912), und Alessandro Montessori (1832–1915) zur Welt.

Berufsbedingt muss die Familie zweimal umziehen, als Maria Montessori noch sehr jung war – zunächst 1873 von Chiaravalle nach Florenz und zwei Jahre später nach Rom.

Die Eltern streben an, ihrem einzigen Kind eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Doch die Vorstellungen, wie dies zu realisieren sei, decken sich nicht unbedingt mit den strukturellen Gegebenheiten: Die italienische Grundschule an der ViadiSanNicoladaTolentino ist zur Zeit der Einschulung Maria Montessoris noch restriktiv-autoritären Erziehungsmustern verpflichtet. Heute bezeichnet man die Schulen jener Zeit als Pauk- und Drillschulen. Die dort vorherrschende Art des Unterrichts widerstrebt Renilde Montessori, da sie liberale Erziehungsvorstellungen pflegt. Sie wünscht sich für ihre Tochter eine Erziehung, die Bildung nicht mehr als eine Männerdomäne versteht. Diese Idee entspricht dem modernen Geist der Zeit. Die Rolle der Frau in der Gesellschaft befindet sich im Umbruch.

Aus der Kindheit der später großen Pädagogin ist vergleichsweise wenig bekannt. Maria Montessori ist bis zu ihrem zehnten Lebensjahr eine eher schlechte Schülerin, die sich den schulischen Verhältnissen nicht anpassen will, vielleicht auch nicht kann, und es vorzieht, ihre Arbeit zu Hause zu erledigen.

Maria Montessori 1880 im Alter von 10 Jahren

Es lässt sich vermuten: Montessoris spätere Kritik an Unterrichtsmethoden ist biographisch begründet und durch die Karriere ihrer Mutter beeinflusst. Montessori will etwas verändern an einem Bildungssystem, das starr und unbeweglich ist, autoritär und rigide. Mit anderen Worten: Sie hat die Vision einer Pädagogik entwickelt, die das einzelne Kind mit seinen Fähigkeiten ernst nimmt und entsprechend fördert.

1.1 Montessoris Ausbildungsjahre

Von 1883 bis 1896 besucht Maria Montessori die ›Regia Scuola Tecnica Michelangelo Buona­rotti‹ sowie bis 1890 das ›Regio Istituto Tecnico Leonardo da Vinci‹. Sie genießt durch den Besuch beider Schulen sowohl eine naturwissenschaftlich-technische als auch eine literatur- und sprachwissenschaftliche Ausbildung.

Montessori pflegt ihre Neigung zur Mathematik und möchte zunächst Ingenieurin werden. Doch das Interesse an medizinischen Themen ist so groß, dass sie sich den Weg in diese Wissenschaftsgebiete nicht verwehren möchte. Sie entscheidet sich, nicht nur einen intellektuell anspruchsvollen Weg einzuschlagen, sondern zeigt auch Mut und Reformgeist, der besonders seitens ihrer Mutter unermüdlich unterstützt wird. Um die Wende zum 20. Jahrhundert sind wissenschaftlich interessierten Frauen allenfalls die Berufe der Lehrerin oder Erzieherin vorbehalten. Trotz aller Hürden schreibt Montessori sich 1890 an der Universität in Rom für die Bereiche Mathematik, Physik und Naturwissenschaften ein und erhält 1892 ihr ›Diploma di licenza‹, das für das Medizinstudium die Vorbedingung war. Im Studium ist Montessori in ihrem Fachbereich die einzige Studentin. Dieser Umstand zieht nach sich, dass sie sich als Frau zwischen den anderen Studenten behaupten, gegen Vorurteile angehen und durch besondere Leistungen überzeugen muss. Scheinbar ganz nebenbei engagiert sie sich für Kinder mit schulischen Problemen, indem sie ihnen Nachhilfestunden erteilt. Darüber hinaus arbeitet sie aktiv in der auflebenden Frauenbewegung des patriarchalischen Italiens.

Am 10. Juli 1896 schließt Montessori ihr 1892 aufgenommenes Medizinstudium an der Universität in Rom mit einer Promotion ab. Sie hat sich in den beiden Jahren vor dem Examen auf Kinderheilkunde spezialisiert und wird Expertin für Kleinkinderkrankheiten. Ihre Dissertation liefert einen klinischen Beitrag zum Verfolgungswahn. Als erste Italienerin erlangt sie, mit einer neuropathologischen Arbeit, den Doktortitel in Medizin und Chirurgie an der Universität Rom.

Montessoris Promotionsurkunde

Später berichtet sie, der Papst habe sie in ihrem Drang zu studieren und ihren Ideen zu folgen unterstützt. Sie habe ihm vieles zu verdanken, nicht zuletzt, dass sie nun den Titel Dottoressa tragen dürfe. Ihre erworbene Qualifikation, ihr wissenschaftliches Profil ermöglicht der jungen Ärztin, sich an der Psychiatrischen Klinik der Universität Rom um eine Assistentenstelle zu bewerben. Theoretisch hat sie aufgrund ihrer Ausbildung gute Chancen, in den engen Kreis der Bewerber zu gelangen. Doch Montessori weiß, dass sie als Frau in einer solchen Position wenige Chancen hat. Einfallsreich, mutig und in der ihr eigenen aufmüpfigen Art wendet sie sich in ihrem Bewerbungsschreiben an die zuständige Kommission. Sie stellt sich allerdings nicht mit ihrem Namen vor, sondern verfasst die Bewerbung unter einem männlichen Pseudonym. Die Kommission hat sich wahrscheinlich bei einem persönlichen Kennenlernen gewundert, doch: Die Zeichen der Zeit sind auf ihrer Seite. Sie bekommt die Stelle und es gelingt ihr, sich in der Kinderabteilung als Assistenzärztin zu etablieren. Sie gilt schnell als Expertin für Kinderkrankheiten. Ihre Studien erweitert sie durch die Arbeit mit geistig behinderten Kindern. Nach und nach entwickelt sie ausgehend von diesen Themen ein pädagogisches Interesse.

1.2 Von der Medizin zur Heilpädagogik

Montessori widmet sich in ihren Forschungen immer stärker der geistigen Entwicklung des Kindes, wobei sie nicht nur das organisch kranke Kind beachtet, sondern sich auch auf psychische Auffälligkeiten und deren Entstehung konzentriert.

Hauptamtlich tätig als Assistenzärztin am Krankenhaus San Giovanni, eröffnet Maria Montessori zusätzlich eine eigene Praxis für Kinderheilkunde. Sie lebt für ihr Forschungsgebiet und ist von beruflichem Ehrgeiz getrieben. 1897 übernimmt sie eine Assistentur an der Psychiatrischen Klinik der Universität Rom. Ein viel zitiertes Schlüsselerlebnis ist eine Beobachtung, die Montessoris weiteres Berufsleben prägt. Zu ihrem Berufsprofil gehört es, römische ›Irrenanstalten‹ zu besuchen, um potentielle Patienten für eine Behandlung in der Klinik zu finden. Die Kinder dort fristen ein unwürdiges Dasein. Wie Gefangene gehalten müssen sie in einem kahlen Raum ohne Anregung quasi ihre Lebenszeit absitzen. Montessori ist erschüttert über diese Beobachtungen und schaut genau hin, was die Kinder – die als schwachsinnig bezeichnet werden – den Tag über tun. Nach dem Essen werfen sie sich auf den Boden, greifen nach heruntergefallenen Essensresten, werfen mit Brot, spielen mit Brotkügelchen, die sie formen. Montessori erkennt, dass diese Kinder nicht nach dem Essen gieren, sondern ihrer Sehnsucht nach Erfahrungen, nach Spielen nachgehen. Ihre Umgebung bietet ihnen dazu nichts, aber sie schaffen sich kleine Hoffnungen im Spiel mit heruntergefallenem Brot. Sie fängt an zu fragen, ob diese Kinder sich nicht in einer anderen Umgebung besser entwickeln könnten.

Sie beschäftigt sich fortan intensiv mit den medizinisch-heilpädagogischen Schriften der beiden französischen Ärzte Jean Marc Gaspard Itard (1774–1838) sowie dessen Schüler Éduard Séguin (1812–1880) und findet hier viele Anregungen für ihre spätere pädagogische Arbeit (vgl. Kap. 9).

Ab 1900 arbeitet Montessori zudem in dem medizinisch-pädagogischen Institut zur Ausbildung von Lehrern für die Erziehung geistig behinderter Kinder (Scuola Magistrale Ortofrenica), für dessen Gründung sie sich stark gemacht hatte. Im ersten Ausbildungsjahrgang gehören der Schule 64 Schülerinnen und Schüler an. Es gibt drei Klassen. Den Kern des Lehrplans bilden wissenschaftliche Disziplinen wie allgemeine Psychologie, Physiologie und Anatomie und vor allem Beobachtungskriterien zur Diagnostik von geistigen Behinderungen bei Kindern. Diesen Fächern angeschlossen wird die Lehre von ›besonderen Unterrichtsmethoden‹. Ziel ist es, Methoden eines Sonderunterrichts und Fördermöglichkeiten für Kinder mit besonderen Bedürfnissen zu vermitteln. Die Scuola Magistrale Ortofrenica ist in der damaligen Zeit eine Ausnahme.

Maria Montessori 1913

Aus der engen beruflichen Zusammenarbeit mit ihrem Klinikkollegen Dr. Gui­seppe Montesano ist inzwischen eine Liebesbeziehung geworden, aus der ein Kind hervorgeht. Am 31. 3. 1898 wird ihr Sohn Mario geboren. Dieser wächst jedoch nicht bei seinen unverheirateten Eltern auf, sondern wird von einer Pflegefamilie auf dem Land aufgezogen. Aus heutiger Sicht ist man vielleicht geneigt, dieses Verhalten zu verurteilen, doch im vornehmlich katholischen Italien dieser Zeit ist ein uneheliches Kind einer alleinerziehenden Mutter – zudem einer Frau in einer hohen wissenschaftlichen Position und mit beruflichen wie sozialen Ambitionen – gesellschaftlich indiskutabel.

Wahrscheinlich hat sich Montessori aus Angst, ihre Approbation zu verlieren oder gesellschaftlich ausgeschlossen zu werden, dazu entschlossen, Mario nicht bei sich zu behalten. Unklar ist, warum Montessori und Montesano nicht geheiratet haben. Familiäre Widerstände – besonders seitens beider Mütter – werden als Erklärung gemutmaßt (vgl. Heiland 1999: 32 f., Kramer 1995: 91 ff.).

Der Kontakt zu Montesano bricht bald ab, den zu ihrem Kind behält Montessori ein Leben lang. Sie besucht Mario regelmäßig und nimmt ihn 1912, nach dem Tod ihrer Mutter, zu sich. Die Biografin Kramer vermutet, dass Montessori erst nach dem Tod ihrer Mutter dazu in der Lage war, Mario zu sich zu nehmen, da diese die berufliche Karriere ihrer Tochter nicht riskieren wollte. Maria Montessori und Mario leben und arbeiten später zusammen an der weltweiten Verbreitung der Montessori-Pädagogik.

Als sich Montessori bereits als Ärztin einen Namen gemacht hat, bildet sie sich an der Universität in Rom im Bereich der Pädagogik weiter. Es lässt sich vermuten, dass die Pädagogik­vorlesungen eine Inspirationsquelle für sie sind, sich mit Schriften u. a. von Rousseau, Fröbel und Pestalozzi auseinanderzusetzen.

1.3 Von der Heilpädagogik zur Allgemeinen ­Pädagogik

Mit der Eröffnung ihres ersten Kinderhauses (Casa dei bambini), einer Tagesstätte für noch nicht schulpflichtige Kinder in Roms Elendsviertel San Lorenzo, zeigt sich ab 1907 ein klarer Einschnitt in Montessoris beruflichem Werdegang.

In dem von der Wohnungsbaugesellschaft Roms und von Privatleuten geförderten Projekt vollzieht Montessori die Verknüpfung ihrer facettenreichen Ausbildung. Sie arbeitet mit Kindern aus sozio-ökonomisch schwachen Verhältnissen. Wie sorgfältig und wissenschaftlich engagiert sie ihrer Berufung als Pädagogin nachgeht, kann man nachlesen in ›Il metodo della pedagogica scientifica‹ (1909).Hierin berichtet sie über ihre pädagogischen Entdeckungen und Erfahrungen. Mit Erfolg – denn bereits ein Jahr später beginnt die internationale Verbreitung dieses Werkes, das heute unter dem Titel ›Entdeckung des Kindes‹ bekannt ist.

1911 gibt sie ihre Arztpraxis auf. Mit der Rückgabe ihrer Dozentur im Jahr 1916 bekennt sie sich ausdrücklich als Pädagogin. Aus diesem Selbstverständnis heraus gilt fortan alles berufliche Bemühen der Erweiterung und Modifizierung ihrer pädagogischen Erkenntnisse. Sie publiziert u. a. für pädagogische Fachkreise, modifiziert ihr pädagogisches Konzept, sucht interdisziplinären Austausch und hält internationale Vorträge, um ihre pädagogischen Ideen auf der Welt zu verbreiten. 1929 gründet sie in Berlin gemeinsam mit Mario die »Association Montessori Internationale (AMI), die von 1935 bis heute ihren Hauptsitz in Amsterdam hat.

Montessori ist eine berühmte Persönlichkeit und sehr umtriebig. Sie reist durch die Welt in der Mission, die Lernbedingungen von Kindern zu verbessern. Wo sie auftritt, scheinen ihre pädagogischen Ideen einen starken Einfluss auf die jeweiligen Bildungssysteme zu gewinnen.

Sie pflegt den Austausch mit prominenten Persönlichkeiten wie z. B. dem Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, mit Fachkollegen ihrer Zeit wie Peter Petersen, John Dewey und Helen Parkhurst, mit dem wohl bekanntesten Entwicklungspsychologen Jean Piaget und politischen Größen wie Mahatma Gandhi und Rabindranath Tagore.

Der Faschismus spaltet die bis 1933 gewachsene Montessori-Bewegung. In Deutschland werden ihre Schulen geschlossen. Montessoris Erziehungsmethode provoziert Konflikte mit dem aufkommenden Faschismus. Ihre Idee von Freiheit und Selbsttätigkeit passen nicht zu den pädagogischen Vorstellungen eines diktatorischen Regimes. Auch in Italien wachsen die Widerstände. Mussolini, der zunächst Ehrenvorsitzender und schließlich 1926 Präsident der italienischen ›Montessori-Gesellschaft‹ ist, unterstützt die Gesellschaft und ist an der Popularität der von Montessori durchgeführten Ausbildungskurse für italienische Lehrerinnen interessiert. Als aber der Duce in den Montessori-Schulen den Gruß, die Musik und die Uniformen der Faschisten einführen will, lehnt die Pädagogin dies ab und reagiert mit stillem Protest. Sie lehnt sich gegen die Weisungen des Unterrichtsministers auf. Doch lange kann sie den Widerstand nicht aufrechterhalten. Sie verlässt Italien und siedelt nach Spanien über. Ab 1934 müssen in Italien die Montessori-Schulen geschlossen werden. Montessori hält jedoch weiterhin Ausbildungskurse sowie verschiedene Vorträge, u. a. in Genf, Brüssel, Kopenhagen und Utrecht, in denen sie sich für die Bewahrung des Friedens stark macht. In diese Zeit fällt auch ihre Konzeption einer Sekundarschule auf dem Lande. Die Situation in Europa spitzt sich zu. Im Oktober 1939 verlassen Montessori und ihr Sohn Mario, die zu der Zeit in Holland leben, Europa. In Indien entwickeln sie die Praxis der Kosmischen Erziehung. Sie realisieren einen Ausbildungskurs und verschiedene Vorträge an Universitäten. Bevor sie 1946 nach Europa zurückkehren, entstehen die Studien zur frühkindlichen Bildung (The Absorbend Mind, dt.: Das kreative Kind), die besonders in den letzten Jahren wieder an Bedeutung gewonnen haben.

Maria Montessori mit ihrem Sohn ­Mario in Indien 1940

Ein wissenschaftliches Comeback dokumentieren

Vortragsreisen (1950: Norwegen und Schweden),

internationale Konferenzen (1950: Amsterdam),

Kongresse (1951: letzter internationaler Kongress in London) und

Ausbildungskurse (1951: letzter Kurs in Innsbruck).

Am 6. Mai 1952 stirbt Montessori im niederländischen Noordwijk aan Zee. Ihren wissenschaftlichen Tatendrang hat sie bis in das Alter von 81 Jahren nicht aufgegeben. Es wird berichtet, dass sie noch am Tage ihres plötzlichen Todes einen Vertreter für die Reorganisation des Erziehungssystems in Ghana erwartete.

Die Grabstätte Montessoris befindet sich auf einem kleinen katholischen Friedhof an der niederländischen Nordseeküste. Die Grabinschrift enthält einen Appell, der in ihrer Pädagogik eine zentrale Rolle einnimmt.

Bis heute genießt die Montessori-Pädagogik große Aufmerksamkeit. Allein in Deutschland gibt es nach vorsichtigen Schätzungen ca. 1000 Einrichtungen, die nach den von der italienischen Reformpädagogin entwickelten Prinzipien arbeiten. Darunter sind ca. 600 Kinderhäuser und 400 Schulen. Etwa 22.000 Einrichtungen weltweit sind der Montessori-Methode verpflichtet. Der Einfluss auf das allgemeine Bildungssystem ist groß. Verbreitet sind Elemente der Montessori-Pädagogik in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen.

2. »Werde, der du bist«1Das Bild vom Kind bei Maria Montessori

Kinder, so lautet eine der Grundüberzeugungen Maria Montessoris, dürfen nicht nach den Maßstäben der Erwachsenen beurteilt oder gar manipuliert werden, sondern müssen in ihrer jeweiligen Eigenart ernst genommen werden. Denn die wesentlichsten Impulse für die Entwicklung des Kindes kommen aus ihm selbst – freilich durchaus nach ­gewissen »Gesetzmäßigkeiten«. Die Grundzüge von Montessoris Menschenbild und ­ihrer Konzeption der Entwicklung sind das Thema dieses Kapitels.

Ein sehr schönes Buch Maria Montessoris, das erstmals 1936 als »Il segreto dell’infanzia« (Das Geheimnis der Kindheit) in Italien veröffentlicht wurde, ist heute unter dem deutschen Titel »Kinder sind anders« bekannt. An zahlreichen Beispielen aus der Erziehungspraxis führt die italienische Reformpädagogin ihre Leser in die Weltsicht des Kindes ein und macht deutlich, wie sich Kinder und Erwachsene in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Diese Unterschiedlichkeit bezieht sich auf ihre physische Gestalt, auf ihr Denken, Fühlen, Wollen und Handeln, auf die Art wie sie ihre Welt wahrnehmen, ordnen und gestalten, wie sie leben und lernen.

Hinter der Formel »Kinder sind anders« verbirgt sich Montessoris Auffassung, dass sich der Erwachsene um ein angemessenes Verständnis der kindlichen Persönlichkeit bemühen muss, wenn Erziehung gelingen soll. Er muss Kinder genau studieren, ihr Wesen verstehen, wissen, wie sie lernen und was sie für eine gute Entwicklung benötigen. Um diese anthropologischen (Was ist der Mensch? Was ist das Kind?) und entwicklungspsychologischen (Wie entwickelt sich der junge Mensch?) Grundlagen der Pädagogik Maria Montessoris soll es in diesem Kapitel gehen. Doch zunächst wollen wir uns einmal eines dieser typischen Beispiele aus der Erziehungspraxis anschauen, mit denen Montessori ihre Leserschaft für die besonderen Eigenschaften und Bedürfnisse des Kindes sensibilisieren will. Es handelt sich in dieser Situation um eine junge Mutter und ihren zwei­einhalbjährigen Sohn:

»Eines Tages sah sie, wie das Kind ohne jeden erkennbaren Grund einen gefüllten Wasserkrug aus dem Schlafzimmer in den Salon trug. Sie beobachtete, mit welch angespannter Anstrengung der Kleine sich mühsam vorwärtsbewegte und sagte sich selber unentwegt vor: ›Be careful, be careful!‹ (Sei vorsichtig!) Der Krug war schwer und schließlich hielt es die Mutter nicht länger aus. Sie eilte dem Kind zu Hilfe, nahm ihm den Krug ab und trug ihn dorthin, wo ihn das Kind haben wollte. Der Junge war sichtlich beschämt und begann zu heulen. Der Mutter tat es leid, das Kind gekränkt zu haben, (…) doch habe sie es einfach nicht über sich gebracht zuzusehen, wie er sich abmühte und eine Menge Zeit mit etwas verlor, das sie in einem Augenblick besorgen konnte« (Montessori 2009: 125).

Es ist ersichtlich, dass die junge Frau es nur gut mit ihrem Kind meinte, denn sie »eilte ihm zur Hilfe«, eine doch ganz und gar verständliche Reaktion einer liebevollen Mutter. Und doch war der Junge »beschämt und begann zu heulen«. Denn für für ihn stellte das Eingreifen keine Hilfe dar, sondern eher ein Ärgernis, eine Kränkung seines Stolzes, wurde er doch um den persönlichen Erfolg und seine eigene Leistung gebracht.

Im Stil eines Erziehungsratgebers berichtet Montessori nun, dass die Mutter ihren Fehler einsieht und um Rat bittet. Sie erkennt im Verhalten der jungen Frau »jenes typische Erwachsenengefühl, das man ›Geiz gegenüber dem Kinde‹ nennen könnte« (ebd.). Montessori empfiehlt ihr – wie anderen Müttern in ähnlichen Situationen, die sie in »Kinder sind anders« schildert – mehr auf die inneren Bedürfnisse ihres Jungen zu achten und ihr Kind darin zu unterstützen, diese für seine Entwicklung so wichtige »Arbeit« (zu Montessoris Begriff der Arbeit vgl. Kap. 9.7) ungestört verrichten zu können. Im vorliegenden Fall rät Montessori sogar dazu, dem Zweieinhalbjährigen doch Teile eines feinen Porzellanservices zu überlassen, da er sich so für das Transportieren zerbrechlicher Gegenstände begeistert. Die Episode endet mit Montessoris Hinweis, dass das Befolgen ihres Rates »nicht ohne Einfluss auf seine seelische Gesundheit geblieben ist« (Montessori 2009: 126).

2.1 Das Kind als Baumeister seiner selbst

In Übereinstimmung mit den Erkenntnissen moderner wissenschaftlicher Forschung ist Maria Montessori davon überzeugt, dass der Mensch ein Sonderwesen innerhalb der Schöpfung darstellt. Während das Verhalten von Tieren weitgehend prädeterminiert, d. h. bei Geburt bereits festgelegt ist und ihre Entwicklung durch angeborene Instinkte gesteuert wird, zeichnet sich der Mensch durch ein hohes Maß an Unspezialisiertheit und Weltoffenheit aus. Charakteristisch sind die extreme Hilflosigkeit des Neugeborenen und die lange Kindheit des Menschen, die geradezu auf einen biologischen Rückschritt im Vergleich zu höheren Säugetieren schließen lassen.

Aus Sicht heutiger Gehirnforschung lässt sich dies auf die ausgeprägte Plastizität (Formbarkeit) des menschlichen Nervensystems zurückführen. Der Mensch als instinktreduziertes Wesen zeigt bei der Geburt das, was ihn zum Menschen macht und von höheren Säugetieren unterscheidet, erst in Ansätzen: Intelligenz, Wille, Motivation, Sprache, Religiosität, Charakter oder Reflexionsfähigkeit sind zwar schon angelegt, bedürfen aber zu ihrer weiteren Entwicklung und vollen Entfaltung der Auseinandersetzung mit einer konkreten dinglichen Umwelt und vor allem des mitmenschlichen Dialoges. Der Mensch kommt also nicht fertig zur Welt, sondern muss sich in aktiver Auseinandersetzung mit seiner natürlichen, sozialen und kulturellen Umgebung selbst aufbauen.

Neuere entwicklungspsychologische Forschungen sprechen vom »extrauterinen Frühjahr« des Neugeborenen. Weil sich der Mensch im Vergleich zu anderen Säugetieren, die zum Zeitpunkt ihrer Geburt in der Regel bereits einen deutlich höheren Entwicklungsstand erreicht haben, als »normalisierte Frühgeburt« erweist, gilt der ersten Lebensperiode besondere Aufmerksamkeit. Denn wohl zu keiner Zeit lernt und entwickelt sich das Menschenkind so rasant wie gerade innerhalb des ersten Lebensjahres. Aus diesem Grunde führt der Mensch nach Ansicht Montessoris ein doppeltes embryonales Leben:

Seine erste (pränatale) Embryonalphase durchläuft das Kind im Mutterleib, wo es vor allem zur Ausbildung der physischen Organe kommt. Sie nennt den Menschen in dieser Phase Physischer Embryo. Eine zweite (postnatale) Embryonalphase stellt die Zeit nach der Geburt dar, d. h. die besonders formative Periode der ersten Lebensjahre, in der das Neugeborene in psychischer Hinsicht eine ebenso schöpferische Tätigkeit entwickeln muss, wie während seiner physischen Embryonalphase. Montessori spricht hier vom Psychischen oder Geistigen Embryo.

Das weitgehende Fehlen ererbter Instinkte wird nach Montessori dadurch ausgeglichen, dass das Neugeborene über eine unbegrenzte Adaptionsfähigkeit verfügt, die ihm die biologische und soziale Anpassung an jede Umgebung ermöglicht, in die es hineingeboren wird. Nach Montessori liebt jedes Kind daher seinen Geburtsort unabhängig von den dortigen Lebensbedingungen und kann »anderswo nie gleich glücklich sein« (Montessori 2007: 58). Die ersten Lebensjahre sind dabei von zentraler Bedeutung, vollziehen sich doch hier fundamentale Entwicklungsvorgänge. Erziehung muss daher bereits unmittelbar nach der Geburt einsetzen: In Analogie zum Schutzbedürfnis des physischen Embryos ist auch der geistige Embryo auf eine behütende und wachstumsfördernde Umgebung angewiesen, in welcher er seine vitale Aufgabe der Anpassung an die vorgefundenen Lebens­bedingungen erfüllen kann.

Das Menschenkind ist bei der Geburt nicht alleine überlebensfähig. Es ist auf menschliche Umgebung und liebevolle Erziehung angewiesen. Die mangelnde Festgelegtheit seines Verhaltens einerseits, seine grundsätzliche Erziehungsfähigkeit andererseits, stellen nach Montessori den Schlüssel zur menschlichen Freiheit dar. Diese wurzelt also in der Tatsache, dass »Geist und Intelligenz den Mittelpunkt der individuellen Existenz (…) bilden« (Montessori 2007: 56) und ist die Ursache der Verschiedenheit der Menschen. Als einzigem Lebewesen ist ihm prinzipiell die Möglichkeit und Aufgabe gegeben, zu freiem und sittlichem Handeln zu gelangen, d. h. wertbestimmte Entscheidungen zu treffen und sein Leben in eigener Verantwortung zu führen.

Der Pädagogik Maria Montessoris liegt somit ein christlich-personales Menschenbild zugrunde, nach welchem der Mensch als von Anbeginn an geistbegabtes Wesen und Subjekt seiner Selbst in den Mittelpunkt aller pädagogischen Bemühungen gestellt ist.

Menschliche Entwicklung stellt nach Montessori weder einen rein biologischen Vorgang noch einen Prozess der Prägung durch Umwelteinflüsse dar (vgl. Pütz 2018). Mit Nachdruck stellt sie fest, dass Entwicklung auf einem komplexen Wechselspiel von Anlage, Umwelt und Eigenaktivität beruht. Erst in der Interaktion mit seiner Umwelt baut sich das Individuum auf und vollendet sich. Der Mensch gilt Montessori als aktiver Baumeister und konstruktiver Bildner der eigenen Persönlichkeit und somit als Schöpfer seiner selbst. Wenn Pestalozzi in diesem Zusammenhang vom Werk der Natur, Werk der Gesellschaft (Kultur) und Werk seiner selbst spricht, liegt für Montessori die Betonung eindeutig auf dem dritten Aspekt: Kernpunkt ihrer Anthropologie ist ihre Überzeugung von der Selbstverwirklichungskraft des Menschen, die im Bild des sich auf Kosten seiner Umwelt entwickelnden Kindes zum Ausdruck kommt.

Maria Montessoris idealtypischer Vergleich von Tier und Mensch

Tier

Mensch

Instinktgesteuertes Wesen

Instinktreduziertes Wesen

Artspezifische Kennzeichen sind angeboren

Angeboren ist lediglich das Vermögen zur Ausbildung dieser Kennzeichen

Das Verhalten ist bereits bei der Geburt weitgehend fixiert

Es gibt kein prästabilisiertes Verhalten, nur einige grundlegende Reflexe sind erhalten (z. B. Saugreflex)

Spezialisiertheit des Verhaltens

Unspezialisiertheit des Verhaltens (Plastizität des Nervensystems)

Kurze Kindheit, fortgeschrittener Entwicklungsstand bei der Geburt, rasche Selbstständigkeit

Lange Kindheit, lange Hilflosigkeit nach der Geburt (»normalisierte Frühgeburt«), dafür Erziehungsfähigkeit und Erziehungsbedürftigkeit

Naturwesen, Anpassung an natürliche Umgebung, Arterhaltung

Natur- und Kulturwesen, unbegrenztes Anpassungsvermögen, Freiheitsfähigkeit, Entwicklung von Kultur, da Geist und schöpferische Intelligenz im Mittelpunkt der Existenz stehen

2.2 Das Streben des Kindes nach Unabhängigkeit

Nach Montessori lässt sich menschliche Entwicklung als das Erreichen »sukzessiver Grade von Unabhängigkeit« (Montessori 2007: 77) auffassen. Dieses Streben setzt unmittelbar nach der Geburt ein und beginnt mit der ganzheitlichen Aufnahme von Sinnes­eindrücken, durch die sich das Neugeborene ein erstes Welt- und Selbstbild aufbaut. Fängt es an, sich auf den Bauch zu drehen und vorwärts zu robben, sammelt es neue Eindrücke und erweitert seinen Horizont. Mit der Fähigkeit, feste Nahrung aufzunehmen, demonstriert das Kind nach Ansicht Montessoris einen Grad von Selbstständigkeit. Ähnlich lassen sich die Gehversuche des etwa einjährigen Kindes oder seine ersten Worte verstehen: Jeder Kompetenzzuwachs stellt einen Entwicklungsschritt dar, erweitert die Handlungsmöglichkeiten des Kindes und steigert damit seine Unabhängigkeit. Immer ­weniger ist es auf die Hilfe durch Erwachsene angewiesen.

Dieses universell zu beobachtende Streben nach Unabhängigkeit erfolgt aus einem inneren Antrieb heraus. Ihm liegt eine im Kind angelegte schöpferische Kraft zugrunde, die Montessori als hormé bezeichnet, und die das Kind veranlasst, sich selbst unbewusst aufzubauen: Der zweieinhalbjährige Junge aus unserem Beispiel verspürt das intensive Bedürfnis, vorsichtig und geschickt einen Krug zu tragen, ohne das Wasser zu verschütten. Es ist ihm so wichtig, dass er sich dabei nicht stören lassen will. Niemand darf ihm diese Aufgabe einfach abnehmen! Dass das Kind dabei die Auge-Hand-Koordination verbessert, seine Bewegungen koordiniert und die Feinmotorik schult, ist ihm natürlich nicht bewusst. Als Ziel seiner »Arbeit« könnte es das nicht formulieren!