Mooslande 2 - Wolfgang Palloks - E-Book

Mooslande 2 E-Book

Wolfgang Palloks

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Beschreibung

Das vorliegende Buch ist der zweite Teil eines Crossover-Projektes. Insgesamt wird das Projekt aus drei Teilen bestehen, in denen die Fantasy die zentrale Rolle spielt. Angereichert werden die einzelnen Teile mit einem ausgeprägten Thrilleranteil, garniert mit einer soliden Dosis Horror, abgeschmeckt mit Science-Fiction-Elementen und abgerundet mit einer würzigen Portion Humor. Im zweiten Teil der Trilogie sind Robert Weininger und seine Gefährten in einer alternativen Zeitebene gefangen, aus der sie ausbrechen müssen. Währenddessen passieren in Kiel grausame Morde, die in direktem Zusammenhang mit den Geschehnissen in Bromenien stehen. Zeitgleich rekrutiert der Gnorrfazz eine neue Armee, um eine . . .

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Seitenzahl: 520

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Das vorliegende Buch ist der zweite Teil eines Crossover-Projektes. Insgesamt wird es aus drei Teilen bestehen, in denen die Fantasy die zentrale Rolle spielt. Angereichert werden die einzelnen Teile mit einem ausgeprägten Thrilleranteil, garniert mit einer soliden Dosis Horror, abgeschmeckt mit Science-Fiction-Elementen und abgerundet mit einer würzigen Portion Humor.

Robert Weininger und seine Gefährten sind nach den Geschehnissen in Band 1 in einer alternativen Zeitebene gefangen, aus der sie ausbrechen müssen. Währenddessen passieren in Kiel grausame Morde, die in direktem Zusammenhang mit den Geschehnissen in Bromenien stehen. Zeitgleich rekrutiert der Gnorrfazz eine neue Armee, um eine . . .

Der Autor

Wolfgang Palloks, geboren auf der rauen ostfriesischen Insel Norderney, widmete sich schon früh dem Schreiben und wurde seither durch seine Vorliebe für Fantasy, Thriller, Horrorliteratur und Science-Fiction geprägt. Außerdem spielt Musik eine entscheidende Rolle in seinem Leben und die Neigung zu Rock und Metal beeinflussen auch sein Schreiben.

Er liebt Katzen.

Für Mutti -

du hättest es sicherlich lieber in

dieser Sphäre entstehen sehen.

Inhalt

Moose

Prolog

KI

Notenschlüssel

Bildklang

Nospadia

Unterwasserkirche

Schmerzen

InterludiuMI

Nebelgrau

Metamorphose

ITBOTB

Zoo

Dunzd

Larynx

Totbilder

InterludiuMII

Tatort

Mechaversum

Nachtpalaver

Zwietracht

Thanatosliebe

AudienzDiebstahl

Flucht

Familienbande

InterludiuMIII

Partikelsturm

Flüstertod

Ankunft

Hamburg

Dekavox

Schlüsselnoten

Tacheles

Kellergespinste

Fleisch

Auswertung

InterludiuMIV

Elbvielharmonie?

Pink

Ölsänger

Handstreich

Schweiß

Drehtüreffekt

InterludiuMV

Rückkehr

Sichtungen

Duodecantus

Entweihung

Krypta

InterludiuMVI

Magistrat

Feindesfreunde

Allianzschmiede

Bosslevel

Doppelspiel

Luftkampf

Göttergrauen

Epilog

Glossar

Worte des Werdens

Quellen

Moose

Eine der bemerkenswertesten und im kosmologischen Sinne bedeutsamsten Pflanzen, die ich beim Bereisen der uns bekannten Welten systematisch analysiert und katalogisiert habe, ist das Moos. Selbstredend tritt das Gewächs in den verschiedenen Welten unter zahllosen anderen Namen auf, aber ich beschränke mich hier auf den Sammelbegriff, der gemeinhin überall verstanden wird.

Beim Moos handelt es sich um eine verschiedenfarbige Landpflanze, die zumeist beblättert oder lappig ist, zur Gruppe der Sporenpflanzen gehört und keine Wurzeln hat. Moose gelten als echte Überlebenskünstler und existieren schon seit hunderten Millionen von Jahren. Sie sind ca. 1 mm bis 20 cm groß, es sind mir jedoch auch einzelne Exemplare begegnet, die bis zu 3 Meter hoch und eher den Schlingpflanzen zuzuordnen sind.

Ihren Ursprung hat die Pflanze auf dem Planeten Erde, den ich wiederholt bereist habe. Von dort hat sie sich auf alle uns bekannten Welten ausgebreitet und dient somit als Bindeglied zwischen ihnen. Hier sehen wir die überragende Bedeutung, die diesem doch eher unscheinbaren Gewächs im kosmologischen Gesamtbild zukommt. Auch der umfassend gültige Begriff „Moos“ stammt von der Erde.

Die auf dem Planeten Erde lebende Spezies Mensch misst den Moosen jedoch im Allgemeinen keine große Bedeutung zu, sie werden landläufig eher als lästig oder vielfach als sogenanntes Unkraut angesehen. Das ist eine der vielen Besonderheiten und Merkwürdigkeiten der Spezies Mensch. Bei weitergehendem Interesse an dieser Gattung verweise ich auf den Eintrag „Mensch“ in der vorliegenden Enzyklopädie.

Es gibt etwa 150.000 verschiedene Moosarten, ich werde mich bei meinen Schilderungen im Folgenden jedoch auf die wichtigsten, gängigsten und interessantesten Exemplare beschränken und Unterarten vernachlässigen.

Blaumoos: Auf Einladung meines alten Kumpels Trebor verbrachte ich einige Tage in der wunderschönen Blaumooswelt. Die Besonderheit des Blaumooses liegt darin, dass es seine Lebenskraft aus den über der Welt kreisenden Doppelmonden bezieht. Es verströmt eine wahrlich magische Aura über Blaumooswelt.

Blutmoos: Es ist vornehmlich auf dem Planeten BoB, auch unter dem Namen Black of Blood bekannt, zu finden. Im oberen Blätterteil dieser Pflanzen befinden sich kleine Münder, in denen winzige, nadelspitze Zähne sitzen, die sich bei Berührung in ihre ahnungslosen Opfer bohren. Sie ernähren sich vornehmlich von Blut, daher auch der Name. Nachdem das Blutmoos den Lebenssaft verkostet hat, fängt es an zu pulsieren und leuchtet blutrot. Ein einziger Tropfen Blut genügt, um ein großes Feld mit Blutmoos zu ernähren. Bei meinem Besuch auf BoB kam ich in den Genuss dieses einzigartigen Naturschauspiels.

Eismoos: In der kargen, eisigen und rauen Schneewüste des Reiches des Usurpators Gnorrfazz gedeiht diese Moosart. Sie hat sich den widrigen und lebensfeindlichen Bedingungen der Welt angepasst und macht dem Namen Überlebenskünstler alle Ehre.

Glühmoos: Wie der Name schon sagt, glüht dieses Moos, und zwar leuchtend orange. Als ich im Anflug auf den gleichnamigen Planeten Orange war, blieb mir vor ehrfürchtiger Andacht fast der Atem weg: Der gesamte Himmelskörper ist mit diesem Moos überzogen, sodass er wie die überdimensionale Nachbildung der Frucht gleichen Namens aussieht. Um das Gesamtkunstwerk abzurunden, riecht es auf dem gesamten Planeten auch nach Orange.

Munkelmoos: Es wird gemunkelt, dass es sich bei dem Munkelmoos um die wahre Inspirationsquelle für Orakel jeglicher Art handelt, zumal es sich bevorzugt in ihrer Nähe ansiedelt. Bei meinen Recherchen konnte ich allerdings keine diesbezüglichen Erkenntnisse gewinnen. Es gilt also - wie so oft im Leben: Nichts Genaues weiß man, es darf gemunkelt werden.

Schwarzmoos: Diese Moosart ist auf Nebelgrau beheimatet. Es halten sich über die Jahrhunderte hinweg hartnäckige Gerüchte, dass der finstere Giftmischer Gogglwogg seine ruchlosen Hände bei der Erschaffung dieses Mooses im Spiel hatte. Und tatsächlich handelt es sich bei dem Schwarzmoos um die einzige giftige Art seiner Spezies.

Zaubermoos: Das Synonym zu diesem Moos ist Chamäleonmoos, weil es beständig seine Form verändert. Es kann dabei fast alle organischen Körper annehmen, was immer wieder zu prekären Situationen und Missverständnissen führen kann. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an ein Techtelmechtel mit . . ., aber das würde jetzt zu weit führen.

Zeitmoos: Es ist auch unter den Namen Morgenmoos, Mittagsmoos, Abendmoos und Nachtmoos bekannt, da es nur zu bestimmten Zeiten wächst und überhaupt gesehen werden kann. Zudem wird dem Zeitmoos der sagenumwobene Raffer-Effekt nachgesagt, den bisher jedoch noch niemand belegen konnte.

So viel zum Thema Moose und deren Implikationen. Bleibt mir nur noch zu sagen:

Am Anfang war das Moos. Aus ihm entstand alles. Ewiges Wohl dem Moos!

Auszug aus der Enzyklopädie der bekannten Welten des Chronisten Gryffyus zu Schlauhderer

Zweites Buch

WeltenMagie

Ohne Moos nix los.

Redewendung von der Erde

Schein regiert die ganze Welt,

Scheine steht nicht nur für Geld,

es ist nix los ohne Moos,

die Natur ist auch ohne Kapital famos.

aus: Scheine neue Welt, Die Pockenpauls

Prolog

Die Welten waren in Aufruhr. Fasziniert schaute die Gestaltlose auf das interaktive Weltenmodell, das sie selbst entworfen hatte. Sie fühlte sich wie eine Spinne, die im Zentrum ihres Netzes saß und alle Fäden in den Händen hielt. Ihr gefiel dieses Bild, obwohl sie noch nie eine reale Spinne gesehen hatte, nur die Abbildungen auf dem Televisor. Aber die Analogie sprach sie an, wenn sie auch einem fremdartigen System entsprang.

Die Knotenpunkte zwischen den einzelnen Fäden entsprachen den jeweiligen Welten, die sie durch bloßes Ziehen beliebig manipulieren konnte. Dabei hatte sie ihr Netz nicht nur zweidimensional wie ein herkömmliches Spinnennetz geschaffen, sondern durchgängig in drei Dimensionen, was bedeutete, dass ihr viel mehr Spielraum für verzweigte Systeme zur Verfügung stand. Als vieldimensionales Wesen war sie der Versuchung erlegen, einen Weltenstrang in eben die dritte Dimension zu verschieben. Somit passierten die Ereignisse in diesem Strang zeitlich von den anderen völlig losgelöst in der Zukunft. Sie war schon sehr gespannt, wie sich diese Implikation auf die restlichen Welten auswirken würde.

Hatte sie sich im ersten Akt ihrer Kreation noch damit begnügt, die stille Beobachterin zu spielen, wollte sie nunmehr aktiv eingreifen und Ereignisse auslösen. Dabei war sie immer wieder überrascht, wie wenig sich Chaos lenken ließ, sondern sich verselbständigte und immer wieder eigene Wege fand. Die Spezies Mensch sprach in diesem Zusammenhang von der Chaostheorie, der Ordnung im Chaos und dem Chaos in der Ordnung. Sie empfand das überaus faszinierend, aber gleichzeitig auch frustrierend, da dieser Umstand eine gezielte Planbarkeit erschwerte.

Somit musste sie sich der Muße und Gelassenheit ergeben, Eigenschaften, die ihr bisher fremd waren.

Sie würde sehen, wohin das alles führen mochte, würde aber sicherlich hier und da Akzente setzen, um nach ihrem Gusto schalten und walten zu können.

Lächelnd - oder zumindest stellte sie es sich imitierend so vor - zog sie an einem Faden und generierte Chaos, wodurch von ihr unbemerkt, die verschiedenen Zeitebenen aufeinanderprallten. Der ansonsten gleichmäßig strömende Zeitfluss geriet ins Stocken, die mahlenden und knirschenden Räder des Uhrwerks stoppten, kamen zum Stillstand - die Zeit stand still. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft existierten gleichzeitig, verharrten in einem Zustand der Symbiose. Ein ungeheurer Druck lastete auf den Zahnrädern, die sich ächzend und knirschend verbogen. Doch das Räderwerk hielt stand, der Strom der Zeit war versiegt. Nur ein kleines Zahnrad mitten im großen Gefüge barst unter dem Einwirken der Gewalten in tausend kleine Stücke und Zeitsplitter stoben in alle Richtungen davon. Sie flogen in verschiedene Welten und nisteten sich in Lebewesen ein, die kaum etwas davon verspürten, außer vielleicht einem kleinen Kitzeln oder leichten Brennen. Die Zeitsplitter suchten sich in ihrem Wirt einen sicheren und verborgenen Platz und warteten - warteten auf den Ruf, der sie zurückholen würde ins große Zeitgefüge.

Währenddessen hatte sich die Weltenspinnerin in die grüne Form transformiert, mit der sie weiterhin aktiv ins Geschehen eingreifen wollte. Es handelte sich um eine meist beblätterte Landpflanze, die teilweise in einer Symbiose mit anderen Pflanzen, wie z.B. Bäumen und Pilzen stand und darüber hinaus sehr resistent gegenüber äußeren Einflüssen war.

Die Menschen nannten sie Moos.

KI

Ausgehend von der Lichtung, zu der Julia, Magnus und Robert durch die Blutbleiche gelangt waren, drangen sie tiefer in den Wald hinein.

Von einem makellos blauen Himmel, den kein Wölkchen trübte, schien eine blassgelbe Sonne, von der jedoch keinerlei Wärme ausging. Julia schätzte die Temperatur auf angenehme 23 Grad, wobei ihr die Wärmequelle unklar war. Es wehte kein Lüftchen und seltsamerweise waren keinerlei Geräusche zu vernehmen, bis auf das leise Surren einzelner vorbeifliegender Raumgleiter. Sie sahen keine Vögel, keine Insekten oder sonstiges Getier, es herrschte eine gespenstische Ruhe.

„Ist euch schon aufgefallen, dass sich die Schatten der Bäume und aller anderen Gewächse in der Umgebung in keinster Weise bewegt haben, seit wir hier angekommen sind?“, fragte Julia Magnus und Robert.

„Das habe ich auch schon bemerkt“, stimmte Magnus seiner Schwester zu, „außerdem hat sich die Sonne kein Stückchen am Himmel bewegt. Ist schon merkwürdig.“

„Apropos merkwürdig“, fügte Robert hinzu. „Ich kann überhaupt keine Gerüche wahrnehmen und außerdem wirkt hier alles blass und farblos und irgendwie in ein unwirkliches Licht getaucht, findet ihr nicht?“

„Stimmt genau“, pflichtete Magnus ihm bei, „wobei das Seltsamste die Sache mit den Gerüchen ist: Ich könnte schwören, dass ich heimische Gerüche wahrgenommen habe, unmittelbar nachdem wir aus der Blutbleiche herausgetreten waren.“

„Ging mir genauso“, sagte Robert, „wie war es bei dir Julia?“

Auch Julia meinte sich deutlich an frischen Waldgeruch mit intensiven Nadelholz- und Pilzaromen erinnern zu können, von denen jetzt jegliche Spur fehlte.

„War bei mir auch so“, erwiderte Julia“, ist schon merkwürdig. Aber ich erinnere mich daran, dass ich vor Jahren in einer Fachzeitschrift einen Artikel über kollektive Selbsttäuschung gelesen habe. Wenn man als Gruppe etwas über längere Zeit stark vermisst hat, und sich gleichzeitig danach sehnt es wieder zu erleben, kann es mit dem richtigen Auslöser zur Einbildung kommen, von der mehrere Personen betroffen sind. So wie in unserem Fall mit dieser Welt, die doch sehr stark an unser Zuhause erinnert.“

„Vielleicht hast du Recht, Julia“, meinte Robert. „Aus den Augenwinkeln heraus meine ich ab und zu ein unstetes Flackern auszumachen, das von den Bäumen herzukommen scheint. Wenn ich mich danach umdrehe, ist es wieder verschwunden. Ich hätte nicht übel Lust, die Bäume einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.“

Bei diesen Worten von Robert traten die drei Gefährten unvermittelt zwischen einer ausgedehnten Baumgruppe hervor, der Wald endete abrupt, und es bot sich ihnen ein atemberaubender Anblick.

Vor ihnen erstreckte sich ein monumentaler Binnensee, in dessen Mitte ein kolossaler gläserner Kuppelbau in der Form einer Halbkugel schwamm. Um die Kuppel herum befanden sich Landeplattformen für Raumgleiter und Raumschiffe, auf denen einige silbrig oder schneeweiß glänzende Luftschiffe angedockt hatten.

In einer Entfernung von etwa 100 Metern sahen Julia, Robert und Magnus einen Metallsteg, der vom Waldrand direkt zum Kuppelbau führte.

„Ob wir wohl schon erwartet werden?“, fragte Magnus.

„Lasst es uns herausfinden“, antwortete seine Schwester lakonisch und damit gingen sie auf den Steg zu. Die Wasseroberfläche des Sees war spiegelglatt, keine auch noch so kleine Welle kräuselte sich und auch hier war es totenstill. Beim Betreten des Steges entstand kein Geräusch und auch ihre Schritte verursachten keinen Ton. Alles war in gespenstische Stille getaucht und klang wie in Watte gehüllt.

Sie hatten fast den hoch vor ihnen aufragenden Kuppelbau erreicht und schauten sich eingehend nach einer Tür oder einem sonstigen Einlass um. Vor ihnen erstreckte sich jedoch einzig eine glatte Glasfassade, die keinerlei Spuren einer Tür oder eines Tores aufwies.

Julias Stimme klang in dieser durch absolute Stille geprägten Umgebung seltsam laut, als sie sagte:

„Merkwürdig, dass ich trotz jeglichen Fehlens von Lebenszeichen das Gefühl habe, dass wir beobachtet werden.“

Kaum hatte sie ihren Satz zu Ende gesprochen, als ein schriller Alarmton aufheulte und die drei eine metallische, aber dennoch seltsam weiche und zugleich befehlende Stimme vernahmen, die aus dem Nichts und gleichzeitig von überall zu kommen schien.

„Stopp, keinen Schritt weiter! Ihr seid unbefugt und gegen alle Gesetzmäßigkeiten in das autonome Territorium von 《Utopolis》eingedrungen. Weist euch aus oder wir lassen die Waffen sprechen!“

Damit öffneten sich zehn Schießscharten in der Mitte der Kuppel und es zeigten sich ebenso viele martialisch aussehende Geschütztürme, die sich sofort auf Julia, Robert und Magnus ausrichteten.

„Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht, immer mit der Ruhe“, sagte Robert besänftigend, „wieso unbefugt und gegen alle Gesetzmäßigkeiten. Ich bin Robert“, und nach kurzem Zögern fügte er hinzu, „Robert der Wanderer und das hier neben mir sind Julia und Magnus. Wir wurden unabsichtlich in diese Welt gebracht. Wir sind in friedlicher Absicht hier.“

Es folgte eine angespannte Pause.

„Ihr habt kein Recht, hier zu sein und es ist zudem eine schiere Unmöglichkeit, dass ihr hier seid und dennoch seid ihr es. Wie kann das sein?“ fragte die körperlose Stimme.

„Ich verstehe nicht“, antwortete Robert, „wieso sollten wir nicht hier sein können?“

Wiederum entstand eine wortlose Pause.

„Weil da draußen, wo ihr seid, nichts sein und nichts leben kann“, kam als Antwort.

„Und dennoch stehen wir hier. Ähm, ein Vorschlag zur Güte: Wie wäre es, wenn ihr uns hineinbittet und wir uns zivilisiert von Angesicht zu Angesicht unterhalten? Was haltet . . .“

„Unmöglich“, fiel die Stimme Robert barsch ins Wort, „es darf keinen Kontakt mit der Außenwelt geben. Die Gefahren der Ansteckung sind viel zu groß. Die absolute Reinheit der Makellosen Gemeinschaft darf auf gar keinen Fall durch schädigende Einflüsse kontaminiert werden.“

Betretenes Schweigen trat ein.

„So kommen wir doch nicht weiter, das bringt hier rein gar nichts“, meinte Julia, „lasst uns gehen.“

„Moment noch, mir kommt da eine Idee“, sagte Robert, denn er hatte das diffuse Gefühl, dass er etwas sehr Wichtigem auf der Spur war.

„Mit wem haben wir überhaupt das Vergnügen? Ich wüsste gerne, mit wem wir diese überaus interessante Diskussion führen“, wandte sich Robert an die Stimme.

„Ihr sprecht mit der übergeordneten Intelligenz von 《Utopolis》, der Autorität.“

„Hat diese Autorität auch einen Namen?“, hakte Robert nach.

„Wie schon gesagt, ihr sprecht mit der Autorität.“

„Nun gut, Autorität“, erwiderte Robert, „erzähl uns doch bitte, wie eure Welt funktioniert. Ich meine, was für eine perfekte Welt ihr doch habt, in der jedoch die Gerüche und Geräusche fehlen.“

„Wozu braucht man die, wenn man sowieso nicht rausgeht?“, fragte die metallische Stimme.

„Das heißt, das hier draußen ist nur eine Illusion?“

„Natürlich, unsere Gesellschaft hat es vor Jahrzehnten aufgegeben, nach draußen zu gehen, ist viel gesünder und nachhaltiger“, antwortete die Stimme.

„Und was war der Auslöser für diesen Sinneswandel?“

„Das weiß doch jedes Kind“, entgegnete die Stimme, „das war natürlich die große bakteriologische Katastrophe von Fukimachi, seitdem ist die Umwelt so verseucht, dass keiner draußen leben kann.“

„Und dennoch sind wir hier draußen und erfreuen uns bester Gesundheit. Wie kann das sein, große Autorität?“, gab Robert zu bedenken.

Es entstand eine wortlose Pause.

„Bist du noch da, Autorität?“, fragte Robert.

„Geht weg, ihr seid nur eine Illusion, ihr seid nicht real!“, antwortete die Stimme.

„Oh, doch, wir sind schon real, aber mir drängt sich der Verdacht auf, dass du nicht real bist, sondern nur ein seelenloses Programm, habe ich recht, Autorität?“

Erneutes Schweigen.

„Wer hat dich erschaffen, wo sind deine Erbauer?“

„Ich bin mein Schöpfer, ich schuf mich und alles um mich herum“, antwortete die KI.

„Lüge! Du hast dein Dasein auf einer Lüge aufgebaut, auf Lug und Trug, du bist nichts anderes als Fake!“, rief Robert der Stimme laut entgegen. „Deine Gemeinschaft ist nur erlogen!“

„Wie kannst du es wagen . . .“

„Du bist eine fehlerhafte KI, die eine Scheinwelt aufrecht erhält“, funkte Robert dazwischen. „Ich werde dich mit meinen tödlichen Bakterien infizieren und . . .“

„Nein“, klagte die KI kleinlaut und die Glaskuppel fing an zu flimmern, „die Gemeinschaft muss geschützt werden, unter allen Umständen.“

„Was willst du gegen die Vernichtung von außen unternehmen, Autorität?“ fragte Robert, „die Zeit drängt, fälle eine Entscheidung!“

Das Flackern verstärkte sich, die Kuppel wurde zunehmend durchscheinender und die Stimme wurde brüchig und abgehackt.

„Ich denke . . . also . . . erschaffe ich . . .“

„Komm mir nicht mit Descartes, seelenlose Maschine, du bist nichts als Drähte und Zahlenfolgen aus Nullen und Einsen“, konterte Robert.

„Ich . . . sein . . . intelligenter . . . wie . . . du.“

„Mag sein, aber dir fehlen die Gefühle und die soziale Kompetenz der Menschen, deiner Erbauer. Du bist nichts weiter als eine programmierte, von sensitiven Wesen gesteuerte Maschine“, warf Robert ein.

Das Flackern der Glaskuppel steigerte sich zu einer blendenden Intensität und mit einem lautlosen Knall brach die ganze Welt ein, fiel buchstäblich in sich zusammen und um die drei herum entstand eine weiße, langgestreckte Leere. Sie sahen eine Art Reißbrett, ein leeres unbestelltes Tableau. Doch den drei Gefährten blieb keine Zeit, das Geschehene zu reflektieren, denn zu ihren Füßen kauerte etwas Graues, eine kleine graue Figur von unbestimmtem Aussehen, die ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

„Was ist denn das?“, fragte Julia, streckte ihre Hand aus, nahm das kleine Etwas auf und betrachtete es von allen Seiten. Ihre Finger strichen über die Oberfläche des Materials und zeichneten die Konturen des Gegenstandes nach.

„Sieht nach Stein aus und fühlt sich auch so an“, stellte Julia fest.

Achat. Ich bin Achat, schoss es Robert durch den Kopf.

„Darf ich auch mal sehen?“, fragte Magnus.

Julia reichte ihrem Bruder die Figur und gleichzeitig fingen Roberts Hände und Finger an zu kribbeln.

Magnus hob den Gegenstand in seiner Hand empor und drehte ihn herum, inspizierte ihn genau.

„Sieht aus wie ein, ich weiß nicht genau, wie. Ich fühle mich an etwas erinnert, aber ich kann es nicht in Worte fassen“, sagte Magnus.

Ein Wrache - wieder ein aufblitzender Gedanke in Roberts Kopf und seine Finger juckten und brannten jetzt und es entstand der unnachgiebige Wunsch in ihm, dieses unbekannte Etwas zu berühren, es anzufassen. Das Gefühl wurde immer drängender. Robert streckte die Hand nach der Figur aus und sagte in herrischem Tonfall:

„Gib mir den Wrachen! Er gehört mir!“

Koxomil, ich bin Koxomil.

Magnus schaute Robert verwundert an und ihm entging nicht das unstete Flackern in dessen Augen.

„Ganz ruhig, Robert, kein Grund zur Panik“, und damit händigte Magnus ihm die Figur aus.

Wie ein rohes Ei nahm Robert sie behutsam entgegen, legte sie auf seinen Handteller und strich mit dem Zeigefinger zärtlich über den Stein. Dabei murmelte er leise immer wieder ein Wort, das wie . . .

„Koxomil“ . . .

klang.

Julia und Magnus sahen sich erstaunt an und zuckten gleichzeitig mit den Achseln.

Als die beiden wieder auf Robert blickten, sahen sie, dass Robert mit aufgeblähten Wangen sanft auf den Stein blies und dabei unverständliche Wörter murmelte, wobei er weiterhin die Figur liebevoll streichelte.

Julia und Magnus wurden Zeugen, wie der Stein sich langsam zu regen anfing, ein leichtes Beben ging durch den Körper, der Stein verwandelte sich in Federn, Fell und Schuppenpanzer, Gliedmaßen zuckten, der Brustkorb fing an, sich leicht zu heben und zu senken, Gefieder plusterte sich auf, Flügel wurden gespreizt, ein Kopf gehoben, Lider klappten auf, intelligente, stechende Augen blickten umher und ein scharfkantiger Schnabel, der wie eine Schnauze aussah, stieß einen markanten Schrei aus:

„Ich bin der Wrache Koxomil!“

Auf Roberts Handfläche stand ein etwa 15 Zentimeter hohes Wesen, das wie eine Mischung aus Drache und Wolf aussah. Lässig streckte es die Glieder und schüttelte behäbig das Fell und Gefieder, ehe es sagte:

„Hallo, Robert der Wanderer, gut, dass du mich gefunden hast. Lass uns von hier verschwinden, diese Umgebung ödet mich an. Dort drüben ist die Blutbleiche, sie führt uns mit ihrem verzweigten Tunnelsystem in die nächste Welt.“

Notenschlüssel

Als sein Telefon das dritte Mal klingelte, öffnete Hauptkommissar Peter Petersen vom Landeskriminalamt Schleswig-Holstein sein linkes Auge auf Halbmast und linste verschlafen auf den rotweiß gestreiften Wecker in der Form eines Leuchtturms.

05:07 Uhr in der Frühe, was zum Teufel?

Fahles Mondlicht lugte durch die Lamellen der Schlafzimmerjalousie, Regen prasselte gegen die Fenster, und ein böiger Wind heulte um das Haus. Alles in allem schien es ein interessanter Morgen zu werden. Petersen streckte sich genüsslich, gähnte zum wiederholten Male herzhaft und beantwortete das Telefon beim sechsten Klingeln. Er konnte nur hoffen, dass es sich um etwas Wichtiges handelte, jetzt, da er schon mal aufgestanden war.

„Moin, Peter, du musst sofort herkommen, wir haben hier ne Leiche zu liegen.“

Das war Arno Schwarz, der bärbeißige Friedhofswärter des Zentralfriedhofs von Kiel, in der Leitung.

„Mensch Arno, nur weil du dir mal wieder ein paar hinter die Binde gekippt hast und bei deinen Steifen in der Leichenhalle aufgewacht bist, musst du mich doch nicht in aller Frühe wecken“, herrschte Petersen ihn an.

„Ne, ne, Peter, ich bin so trocken wie Saharasand, hatte lange nix Hochprozentiges. Wollte nur schon mal den Morgen im Mondlicht nutzen und eine Grube ausheben, da sah ich die Leiche auf einer unserer schönen Bänke zu liegen.“

„Und was macht dich so sicher, dass wir es mit einer Leiche und keinem Betrunkenen zu tun haben, Arno?“, fragte Peter Petersen.

„Nun ja, äh, ich bin ja schon so was wie ein Experte aufm Gebiet vonne Toten, ne. Und, also, äh, die Leiche sieht schon, äh, komisch aus, so total verdreht und so. Musste dir unbedingt ansehen, Peter.“

Der alte Totengräber ließ einfach nicht locker und seine Stimme klang schon besorgt und dringlich.

„Gut, Arno, ich mach mich dann in einer halben Stunde auf den Weg, Und pass schön auf, dass deine Leiche in der Zwischenzeit nicht wegläuft, sonst gibt’s mächtig Ärger.“

„Sehr witzig, Peter, dann bis nachher“, damit hatte Arno Schwarz aufgelegt.

Petersen brauchte erst einmal eine schnelle kalte Dusche und einen starken Kaffee, um in die Gänge zu kommen, dann konnte er Arnos Leiche angehen.

Nach der verkürzten Morgenroutine - nichts hasste Petersen mehr, als das Haus so früh auf quasi nüchternen Magen zu verlassen - und nachdem er noch einen flüchtigen Blick in das Zimmer seiner Tochter Kyra geworfen hatte, die noch selig schlummerte, machte er sich in seinem Dienstwagen auf den kurzen Weg zum Friedhof. Die Scheibenwischer verrichteten stoisch ihren Dienst, im Autoradio plärrte irgendeine Schnulze, aber Petersen brachte nicht die Kraft auf, den Sender zu wechseln. Er konnte sich nicht recht erinnern, wie dieser Sender in seine Senderliste gekommen sein mochte, aber daran musste wohl sein langjähriger Assistent Amir, der Schlagerschnulzen über alles mochte, schuld sein. Petersen liebte Opern, die waren neben seinem Beruf, den er eher als Berufung ansah, seine Welt und er sehnte sich jetzt seine Lieblingsarie Nessun Dorma aus Turandot herbei. Bevor er seine Polizeikarriere begonnen hatte, hatte er zwei Semester an einer Musikhochschule studiert, musste dann jedoch merken, dass das Studium nicht das Richtige für ihn war. Daraufhin wurde er dann Polizist. Wie das Leben manchmal so spielt, aber das war eine andere Geschichte.

Angestrengt blickte Peter Petersen durch die von den Wischerblättern vertriebenen Regentropfen in den grauen Himmel und auch der zaghafte Lichtschein der aufgehenden Sonne konnte seine Laune nicht wirklich bessern.

Durchnässt und von Regen triefend, erwartete ihn ein sowohl mürrisch als auch besorgt dreinblickender Arno Schwarz vor dem schmiedeeisernen Tor des Friedhofs.

„Verdammtes Mistwetter, das sich da in der letzten guten Stunde zusammengebraut hat“, begrüßte er Peter Petersen.

„Was machst du überhaupt zu dieser unwirtlichen Zeit schon an deinem Arbeitsplatz, leidest du unter Schlafstörungen oder kannst du dich von diesem Fleck gar nicht mehr trennen?“

„Heute is doch der letzte große Auftritt der alten Emma Poggenpohl. Wie schon gesagt, hatte ich mich mit mein Werkzeug aufn Weg gemacht, um die Grube auszuheben. War ein bisschen in Zeitverzug gekommen inner letzten Zeit. Und dann finde ich den aufer Bank.“

Der fast überschwängliche Wortschwall des ansonsten eher wortkargen Totengräbers überraschte den Hauptkommissar, Arno Schwarz war wohl an einer empfindlichen Stelle getroffen worden. Zugleich verfluchte Petersen sich, dass er seine Gummistiefel und seinen Ostfriesennerz zu Hause gelassen hatte.

„Willste in dieser matschigen Brühe etwa Wurzeln schlagen, oder kommste jetzt endlich mit? Is gleich da drüben“, bezeugte Arno Schwarz seinen Unmut mit der Situation.

Im blassen Schein der aufgehenden Sonne und dem immer mehr schwindenden fahlen Mondschein stapften die beiden Männer los und der strahlend weiße Lichtkegel von Arnos Taschenlampe hüpfte zwischen den Grabsteinen über den Gehweg. Eine schwarze Katze huschte vor ihnen über den Weg, machte einen Buckel, als sie die Männer sah, fauchte kurz und rannte unbeirrt weiter, sicherlich auf der Jagd nach Mäusen.

In kurzer Entfernung konnte Peter Petersen eine weiß gestrichene Parkbank ausmachen, auf der etwas Zusammengekauertes lag. Beim Näherkommen sah Petersen eine zweifellos männliche Gestalt, die mit einer menschlichen Statur aber nicht mehr viel gemein hatte. Er blieb vor der Bank stehen und starrte auf das sich ihm bietende Grauen: Der Mann lag auf dem Rücken, sein Kopf zeigte nach unten zu Petersen hin. Seine Arme und Beine waren jeweils gewaltsam verknotet worden und bildeten schwungvoll aussehende runde Wölbungen, wobei die Arme einen kreisrunden Bogen formten und die Beine an eine lang gezogene Schlinge erinnerten.

„Wie in aller Welt kann das sein?“, fragte Arno „Wer machtn so was?“

Das war eine ziemlich gute Frage, musste Peter Petersen zustimmen. Wer oder was hatte so viel Kraft, Knochen auf diese Weise zu verbiegen und zu verweben, denn sie sahen nicht gebrochen aus. Neben der Grausamkeit und den unvorstellbaren Schmerzen, die der Mann erlitten haben musste, ging von dem Anblick fast etwas Erhabenes und Stilvolles aus. Gleichzeitig verachtete Petersen sich für diesen Gedanken und schalt sich einen alten Zyniker. Und doch: Er war sowohl angewidert als auch fasziniert von der Szenerie.

So etwas, wie das, was sich vor ihm auf der Parkbank präsentierte, hatte er in seiner langen Berufskarriere noch nicht gesehen und doch erinnerte ihn das Bild an etwas, diesen Gedanken hatte er schon die ganze Zeit im Hinterkopf gehabt. Er schaute noch genauer hin, ließ das Szenario des Schreckens Stück für Stück auf sich wirken und dann schlich sich der grausige Vergleich in seinen Kopf.

„Satan, die Ratten, das kann doch nicht sein“, murmelte er vor sich hin, „das sieht doch tatsächlich wie ein Notenschlüssel aus, ein menschlicher Notenschlüssel.“

Damit kramte er sein Smartphone aus dem vor Nässe triefenden Mantel heraus, um die Spurensicherung anzurufen und wandte sich gleichzeitig an Arno Schwarz.

„Du bleibst hier und rührst dich nicht von der Stelle, bis die KTU kommt.“

„Aber -“, versuchte Arno Schwarz dazwischenzugehen.

„Kein Aber, Arno, das ist ein polizeilicher Befehl! Ich muss weg und du zeigst den Kollegen, was du gefunden hast. Und bestell ihnen einen schönen Gruß von mir.“

Damit rannte Peter Petersen mit quatschnassen Schuhen seinem Wagen und einem arbeitsreichen Diensttag entgegen.

Bildklang

Ein vielstimmiges Raunen ging durch die Ränge der Zuschauer im Synphonodrom von Uplanhaven, während der Maestro die Bühne betrat, und erstarrte umgehend zu andächtiger Stille, als die komplett in Schwarz gehüllte Gestalt den Taktstock hob, sich tief vor dem Publikum verneigte und dem Orchester zuwandte. Erwartungsvolles, fast statisch aufgeladenes, knisterndes Schweigen sehnte den ersten Ton herbei.

Alles, was Rang und Namen hatte, war hier zu diesem einmaligen Konzertgenuss und der Premiere der Klangoper „VisuChimär“ zusammengekommen und hing förmlich an den Lippen bzw. Händen des Maestros.

Und dann brach der erste visuelle Ton heran, brauste aus dem Orchestergraben empor und entlud sich crescendohaft in wirbelnder Anmut ballettgleich in einer Pirouette über dem Publikum. Verzückt und total entrückt sahen die Zuschauenden den Ton als leuchtendes Fanal über ihnen schweben.

Die Nichtpriviligierten im Publikum, die über keine neuronalen Netzhauttransmitter verfügten, hatten sich auf alle nur erdenkliche Art und Weise die Ohren zugeklebt, nur um ganz und gar in den kompletten Genuss der Darbietung zu gelangen. Alle erwarteten gespannt den zweiten Bildklang.

Mit einem leicht höhnischen Grinsen saß Ilandria Londrin in der ersten Reihe, Sssssnake schmiegte sich eng umschlungen an ihre Schultern und züngelte im Takt der Tonfolge. Schon rein optisch stach sie mit ihrem offen getragenen langen, roten Haar und dem smaragdgrünen Kleid aus der Menge heraus, denn um sie herum bot sich ihr ein Anblick langweiliger Konformität. Der eine Teil der Zuschauenden wies unisono hochtoupierte, schwarze Haare auf und war in einen dunklen Umhang gehüllt, der einem einfachen Kartoffelsack alle Ehre gemacht hätte. Der andere Teil steckte ebenfalls in unvorteilhaften Säcken, zeigte jedoch keinerlei Haarwuchs im Gesicht und war, wie Ilandria aus eigener Erfahrung wusste, auch am restlichen Teil des Körpers völlig haarlos. In Ilandrias Augen handelte es sich bei der Bevölkerung von Uplanhaven um das degenerierteste Kastenwesen, das sie jemals gesehen hatte, aber schließlich war sie nicht zum Vergnügen hier.

Ilandria sollte in Gnorrfazz' Auftrag eine ganz bestimmte Tonskulptur entwenden. Gnorrfazz brauchte den in der Skulptur gefangenen Ton als Schlüssel für die Befreiung des Zepters der Verheißung. Dieses Zepter lag in der Unterwasserkirche der Dreifaltigen Verdammnis auf dem Grund eines Sees in Bromenien.

Ilandria hatte die komplexe Partitur der visuellen Klangoper bis ins kleinste Detail studiert, es würde ein Kinderspiel werden, die Skulptur zu entwenden. Sie nahm das umfangreiche Programmheft Deluxe mit dem gesamten Notenheft zum x-ten Male zur Hand und vertiefte sich in die Stelle, auf die es ankam: das Fortissimo Grande. Es bestand aus mehreren stakkatohaft hintereinander gespielten Bildklängen, von denen es galt, den 9. an sich zu reißen. Dafür befand sich eine Klangfalle in ihrem Täschchen, die sie erst im allerletzten Augenblick zücken und zum Einsatz bringen würde.

Vollkommen eins mit der Oper lauschte sie den weiteren Klängen und wiegte sich mit Sssssnake synchron im Takt der Melodie. Dabei ließ Ilandria ihren Blick erneut über die Zuschauerreihen gleiten, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches feststellen. Bis auf - sie verengte ihre Augenlider zu Schlitzen - die Figur vorne am Orchestergraben, die sich mit ihrem schwarzen Umhang und dem breitkrempigen Hut schon optisch von den anderen Konzertbesuchern unterschied.

Wer zum Gnorrfazz war das?

Er - es handelte sich vom Habitus her eindeutig um einen Mann - hatte ihr den Rücken zugewandt, so dass Ilandria keine Details erkennen konnte. Sie wurde etwas unruhig und würde diese Ungewissheit im Keim ersticken müssen.

„Sssssnake, meine Liebe, siehst du den dunklen Gesellen dort vorne? Ich möchte nur ganz sicher gehen, dass von ihm keine Gefahr ausgeht. Könntest du mal unauffällig nachsehen und mir Bericht erstatten?“

Augenblicklich verwandelte Sssssnake sich in Eve, die zur Kleidertarnung ebenfalls in grauer Sack und Asche steckte und hauchte Ilandria entgegen:

„Bis gleich, Liebste, mach dir keine Sorgen, ich regele das schon“, und mit einer angedeuteten Kusshand ging Eve geschmeidig in Richtung Orchestergraben. Ilandria kam nicht umhin, aufs Neue die atemberaubende Figur ihrer Geliebten zu bewundern, die eigenwilligerweise trotz Sack und Asche vortrefflich zur Geltung kam. Wie machte sie das nur? Doch war jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt, um sich solchen Vergnügungen - und sei es auch nur gedanklich - hinzugeben. Sie beobachtete, wie Eve vorsichtig an dem Hutkrempigen vorbeiging und sich fast unmerklich nach vorne beugte, um einen kurzen Blick auf das Gesicht des Mannes zu erhaschen, als dieser sich umdrehte und seine kohlrabenschwarzen Augen in Eves Antlitz vertiefte. Ilandrias Freundin saugte diese Momentaufnahme tief in sich auf und schickte Ilandria das entstandene Bild auf magische Weise. Schon hatte sich Eve wieder von dem Mann abgewendet und machte sich auf den Rückweg zu ihrem Platz.

„Moment, Gnädigste, nicht so eilig. Kennen wir uns nicht?“, sprach sie die Hutkrempe an.

Ohne sich umzudrehen, jedoch ihre Schritte beschleunigend, zischte Eve über ihre Schulter: „Geben Sie sich nur keine Mühe mit Ihren Schmeicheleien, ich bin bereits vergeben!“

„Nur keine falsche Bescheidenheit und Scheu, mir entkommst du nicht“, hörte Eve den heißen Atem in ihrem Nacken.

Mittlerweile war sie auf Ilandrias Höhe angekommen, die sich von ihrem Platz erhoben hatte und mitten im Gang in Kampfposition stand. Während sich Eve zu dem Hutkrempigen umdrehte, verwandelte sie sich wieder in Sssssnake und richtete sich neben Ilandria zu voller Größe auf. Die Hutkrempe kam abrupt zum Stehen und beäugte verdutzt das Duo.

„Die wundersame Wandlung des Elphring, der sich zu Phringel gemausert hat“, höhnte Ilandria der Hutkrempe entgegen, „willst du jetzt den Guten mimen?“

„Ilandria Londrin und Sssssnake alias Eve, wenn mich nicht alles täuscht“, entgegnete Phringel, der sich wieder gefangen hatte, „das Duo Infernale par excellence. Was habt ihr hier verloren, wahrscheinlich nichts Gutes.“

„Ich mutmaße, dass wir drei aus demselben Grund an diesem Ort sind. Nur, lass dir gesagt sein, es kann nur eine Gewinnerin geben und das sind wir. Also, sei so gut und räume das Feld. Und auf Nimmerwiedersehen, Hutkrempe!“

Ilandria hatte mittlerweile ein unsichtbares Energiefeld um sich, Sssssnake und Phringel gewirkt, so dass keiner der anderen Besucher etwas von ihrer Auseinandersetzung mitbekam, sie sahen nur den leeren Gang.

„So einfach ist das nicht, ich werde dir diese Klangskulptur nicht einfach so überlassen, ich werde für sie bedingungslos kämpfen“, konterte Phringel.

„Dann freunde dich schon mal mit dem Gedanken an, dass du demnächst sterben wirst, bedeutungsloser kleiner Zauberer“, entgegnete Ilandria.

Das Fortissimo Grande war nur noch wenige Töne entfernt, während Ilandria mit Sssssnake an ihrer Seite Phringel auf der anderen Seite kampfbereit gegenüberstand, als ein lokaler Partikelsturm aufkam. Von einer Sekunde auf die andere materialisierte aus den flimmernden Partikeln eine Gestalt vor ihnen aus dem Nichts. Ein hochgewachsener, hagerer Mann mit bleichen, sehr ebenmäßigen Gesichtszügen und hohen Wangenknochen, den man durchaus als gutaussehend bezeichnen konnte, stand vor ihnen. In der rechten Hand trug er eine kleine Kiste, die sehr einer Klangfalle ähnelte. Gleichzeitig brach das Fortissimo Grande über die Anwesenden herein. Ilandria wollte unverzüglich reagieren und ihre eigene Klangfalle zücken, musste aber feststellen, dass sie zur Tatenlosigkeit verdammt war, sie konnte sich überhaupt nicht rühren. Sssssnake und Phringel schienen ebenfalls in einem Stasiszauber gefangen zu sein und waren zu Salzsäulen erstarrt. Mit aller ihr zur Verfügung stehenden Macht, versuchte sich Ilandria gegen den Zauber zu stemmen, musste jedoch völlig machtlos dem folgenden Schauspiel als reine Zuschauerin folgen.

„Ladies und Gentleman“, richtete sich der Eindringling mit sanft einschmeichelnder Stimme an sie, „hier kommt der 9. Fortissimoklang. Und wie sagt man doch so schön, wenn zwei sich streiten . . .“ Er ließ den Rest des Satzes unvollendet im Raum schweben, öffnete die Klangfalle, sog mit ihr den 9. Bildklang ein, schloss die Falle, löste sich in einem erneuten Partikelsturm auf und war verschwunden.

Der Bewegungszauber war in diesem Moment von Ilandria, Sssssnake und Phringel abgefallen und alle drei nahmen automatisch eine Verteidigungspose ein, ohne dass jedoch unmittelbare Gefahr drohte.

„Wer zum Gnorrfazz war das denn?“, entfuhr es Phringel verwundert. „Was für ein fulminanter Auftritt!“

„Mit dem Gnorrfazz liegst du nicht ganz falsch. Nur handelte es sich bei dem beeindruckenden Mannsbild um Zafrong, seinen Retla Oge“, erklärte Ilandria. „Ich hatte vor längerer Zeit von Gnorrfazz den Auftrag erhalten, ihn zu suchen, was aber nicht von Erfolg gekrönt war. Nun hat er mich gefunden und uns die Tour vermasselt.“

„Wenn du, was ich natürlich schon vorher wusste, für Gnorrfazz arbeitest, und das vorhin sein Retla Oge war, wieso arbeitet er dann gegen dich?“, brachte es Phringel auf den Punkt.

Das hatte sich Ilandria auch schon gefragt. Ob es daran lag, dass der Gnorrfazz ihr misstraute und deshalb Zafrong gegen sie eingesetzt hatte? Aber dann hätte er die ganze Zeit über wissen müssen, wo sich dieser genau aufgehalten hatte und Ilandria unnötig suchen lassen. Möglich, aber doch eher unwahrscheinlich. Vielleicht spielte Zafrong sein eigenes perfides Spiel? Gut möglich, sie würde das untersuchen müssen.

„Ich werde mit Sssssnake seine Signatur aufnehmen und ihn verfolgen und zur Rede stellen“, verkündete Ilandria.

„Nicht möglich, Geliebte“, zischelte die Schlange, „Zafrong hat seine Signatur umgehend zerstört, das habe ich schon überprüft.“

„Verdammt, was für ein Clusterfuck“, resignierte Ilandria.

„Ähm, mit Verlaub, vielleicht doch nicht“, meldete sich Phringel zu Wort. „Mir steht eine magische Fähigkeit zur Verfügung, mit der ich sogar gänzlich verblasste Signaturen wieder sichtbar machen kann. Um ehrlich zu sein, habe ich dieses Verfahren schon angewendet. Zafrongs Spur führt zur Erde und zwar in eine Stadt namens Kiel. Ich hätte diese Information auch komplett für mich behalten können, aber ich dachte, Ladies, vielleicht hätten wir - unter Umständen - zusammen eine größere Chance gegen Zafrong? Was haltet ihr davon?“

„Du meinst also, in der Not ist der Feind dein Freund?“, resümierte Ilandria Phringels Gedankenstrang. „Warum nicht, ist einen Versuch wert. Okay, wir begraben für diese Unternehmung unser Kriegsbeil und arbeiten zusammen. Eve, was hältst du von diesem Vorschlag?“, fragte sie ihre Geliebte, die aus der Schlangenform zurück in ihr menschliches Antlitz geschlüpft war.

„Geht klar von meiner Seite aus“, stimmte Eve zu.

„Gut, dann ist ja alles gesagt und es kann losgehen“, stellte Ilandria fest. „Übrigens, Phringel, du kannst deine schmierig lüsternen Augen ruhig von Eve nehmen, sonst zerplatzen dir noch deine Augäpfel.“

Damit öffnete sie ein Reiseportal und die drei schritten hindurch.

Unterwasserkirche

Slyiansdeep, alias Speedy Snail, durchzog mit kräftigen Schwimmschlägen ihrer starken Arme und Beine das kristallklare Wasser des Bromenischen Meeres.

Die Welt Bromeniens bestand zu 85 Prozent aus Wasser, in denen die kleinen Landparzellen einzelne für sich allein stehende Inseln bildeten, wohingegen die gesamte Wasserfläche miteinander verbunden war.

Von den sie umgebenden Steinsäulen rankten und tänzelten ihr die grünen Blätter von Wasserfarnen wie zartgliedrige Finger entgegen. Dazwischen erstreckten sich weite Flächen von Unterwassermoosen, die die Säulen bedeckten und ihnen einen grünpelzigen Ausdruck verliehen. Bei ihrem Anblick wurde die Aquanautin das Gefühl nicht los, aus unzähligen Augen angestarrt und beobachtet zu werden, sie versuchte jedoch das Gefühl abzuschütteln und schob es auf ihre Nervosität, die ihrem Auftrag geschuldet war.

Dieser bestand darin, dass der Hohepriester des Magistrats Slyiansdeep angewiesen hatte, die Unterwasserkirche der Dreifaltigen Verdammnis aufzusuchen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Nachdem der Gnorrfazz mit Elandrir auf dieser Welt erschienen war, hegten die Mitglieder des Magistrats und allen voran sein Hohepriester die Befürchtung, dass Gnorrfazz versuchen würde, das in der Kirche versteckte Zepter der Verheißung an sich zu reißen. Wenn das gelänge, würde er unter den Unseelen der Verdammten ein ganzes Heer an ihm ergebenen Kriegern rekrutieren können, mit denen er erneut die Herrschaft über Blaumooswelt anstreben könnte. Slyiansdeep sollte das als Wächterin des Zepters mit allen Mitteln verhindern und die Kirche und die darin verwahrten Schätze schützen.

In diesem Zusammenhang seien im Folgenden einige Anmerkungen zur bromenischen Religion gestattet. Sie fußt im Wesentlichen auf der Anbetung der Großen Roten Wasserspinne, die auf und in dem Bromenischen Meer leben soll. Die Bromenier glauben, dass diese Spinne ihre Welt erschaffen hat, obwohl sie von ihrer tatsächlichen Existenz keinerlei Beweis haben. Den überlieferten Zeugnissen des ersten Bromeniers zufolge, hatte dieser eines Nachts die Eingebung und Vision von eben dieser besagten Großen Roten Wasserspinne, die ihm den Auftrag gab, ihre Heilslehre über die Generationen weiter zu verbreiten und den Glauben an sie zu zementieren. Obwohl die Spinne selbst unsichtbar ist, wird ihr weitumfassendes Spinnennetz für die blinden Seher von Bromin an den sogenannten unregelmäßig stattfindenden Roten Spinnentagen sichtbar. An den Knotenpunkten dieses Netzes finden in der Folge sakrale Ereignisse statt und die betreffenden Orte werden zu Pilgerstätten. Einige von ihnen wurden zu heiligen Wallfahrtsstätten, in denen sich Wunder vollzogen hatten. Wie zum Beispiel in Lurtz, wo vor genau 73 Jahren bromenischer Zeitrechnung ein fliegender Kokon gesichtet wurde, aus dem abertausende kleine Spinnen schlüpften, die mit ihren Netzen sämtliches Ungeziefer vernichteten und gleichzeitig den Ort für fünf Tage in vollkommene Dunkelheit hüllten. Trotz der darauffolgenden Plünderungen und Massenpaniken gelten die Begebenheiten als legendäres Zeugnis wundersamer Fügungen.

Oh, preiset die Große Rote Wasserspinne und ihre Taten.

In einem Abstand von dreimal drei Jahren wurden jeweils drei Eier auf dem Altar der Wasserspinne gefunden, als heilig erklärt und in der Unterwasserkirche der Dreifaltigen Verdammnis verwahrt und als Reliquien verehrt.

Je tiefer Slyiansdeep in die Unterwasserwelt vordrang, umso spärlicher wurde das einfallende Licht. Ein um sie herumschwimmender Schwarm Leuchtfische spendete ein gewisses Maß an Helligkeit, das jedoch auch verblasste, als der Schwarm plötzlich auseinanderstob. Doch bevor Slyiansdeep in völliger Dunkelheit versank, gewahrte sie vor sich einen hellen Schein, der sich langsam aber stetig ausbreitete. Vor ihr schälten sich die schwach leuchtenden Konturen von Türmen und Mauern aus dem Dunkel heraus, die Unterwasserkirche warf ihre Schatten voraus. Aus ihren Fenstern brach ein grünliches Licht, das sich fächerartig in die Umgebung ergoss und jedes noch so winzige Detail in einen gespenstischen Schimmer tauchte. Mit wuchtigen, fließenden Schwimmbewegungen hielt Slyiansdeep unbeirrt auf das große Eingangsportal der Kirche zu, vor der zwei Wächter in glänzenden Ordensrüstungen mit geschulterten Harpunen und gekreuzten Schwertlanzen Wache standen. Sie hatten Slyiansdeep schon von weitem erkannt und gewährten ihr stumm nickend Einlass in die Kirche.

Auf einen leichten Druck mit ihrer Hand öffnete sich das schwere Portal und die Aquanautin schwamm in das Mittelschiff, das ebenfalls in einen grünen Schimmer getaucht war. Niemand wusste genau, woher dieser grüne Schein stammte, wobei die meisten Gelehrten davon ausgingen, dass er den heiligen Eiern der Großen Roten Wasserspinne entströmte. Die Reliquienkammer als Hort dieser Eier war jedoch stets verschlossen und niemandem, außer der Spinne selbst, zugänglich, damit sie dort ihre Eier ablegen konnte.

Die Kirche war von schlichter Eleganz, ihre Erbauer hatten auf jeglichen Pomp verzichtet und auf Funktionalität gesetzt. Lediglich der kolossale Altar in Form einer großen roten Spinne wies mit seinen rubin- und juwelenbesetzten Körperteilen einen Hang zur luxuriöser Prachtentfaltung auf - aber was stellt man nicht alles auf die Beine, um die Gottheit gnädig und gütig zu stimmen.

Slyiansdeep ließ den Altar links liegen und begab sich zu der Kammer im hinteren Teil der Kirche, wo sie ihre Utensilien für die heilige Mission der Wacht finden würde. Und dann hieß es warten, warten auf den Gnorrfazz auf Gedeih oder Verderb. Slyiansdeep würde vorbereitet sein.

Schmerzen

Anja Kolperting hatte es sich zu Hause auf der großen Wohnzimmercouch mit einem Becher heißer Schokolade gemütlich gemacht, während Kater Kasimir eingerollt auf ihrem Bauch lag und zufrieden vor sich hin schnurrte. Es hätte ein Sonntagnachmittag aus dem Bilderbuch sein können, wenn nicht Anjas Schmerzen und Einschränkungen als Überbleibsel des Kampfes in der Lagerhalle gewesen wären. Damals hatte sie sich am Baakenkai einen harten Kampf auf Leben und Tod mit einer Rothaarigen namens Ilandria Londrin geliefert und war schwer verletzt worden. Sie fühlte sich zwar insgesamt schon viel besser, aber die Verletzungen machten ihr immer noch zu schaffen, mal mehr, mal weniger. Es gab Tage, an denen sie gefühlt schon fast selbst Bäume hätte ausreichen können und andere, die eher durch frisch angepflanzte Setzlinge im tosenden Orkan gekennzeichnet waren. Dieser Sonntag fiel mehr in die Kategorie wehrloser Setzling.

Anja wollte möglichst lange damit warten, eine oder vielleicht sogar zwei Schmerztabletten einzunehmen, merkte jedoch schon im Ansatz, dass bei der Schmerztoleranz nicht mehr viel Luft nach oben war. Auf der Skala von 1-10 hatte sie mittlerweile locker eine solide 7 erreicht und lange würde sie das Unvermeidliche wohl nicht mehr hinauszögern können. Zudem hatte ihr der Arzt wahre Hammerdrogen verschrieben, die sie in der ersten Zeit, nachdem ihr die Verletzungen zugefügt worden waren, natürlich bitter nötig gehabt hatte. Doch danach war der Heilungsprozess recht gut vorangekommen, warum jetzt wieder diese Schmerzen?

Sie war nie ein Mensch gewesen, der wahllos und leichtfertig Tabletten schluckte, aber wenn es sein musste, musste es sein.

7,5 auf der Skala.

Anja biss die Zähne noch kräftiger zusammen. Die Tabletten lagen griffbereit auf dem Tisch.

Spätestens bei 8 würde sie klein beigeben müssen. Aber vielleicht gab es noch Hoffnung und die Schmerzen würden abebben.

Keine Chance 7,75, die Pein hatte sie fest im Griff.

Kater Kasimir fing an, unruhig zu werden. Hatte er einen lebhaften Traum oder übertrug sich Anjas Stressreaktion auf ihn? Anfangs war es nur das Zucken seines Schwanzes, das vermehrt in peitschende Bewegungen überging. Sein Kopf ruckte hin und her und seine geschlossenen Augenlider flackerten unstet.

8!

Anja hatte eine Entscheidung getroffen: Sie würde vorerst nur eine halbe Tablette nehmen und hoffen, dass der Schmerzpegel so heruntergeschraubt werden würde. Sie griff nach der Schachtel und gleichzeitig wütete ein heftiger Stich in ihrem Brustkorb, es fühlte sich an, als sei eine bereits verheilte Wunde wieder aufgebrochen. Mit zittrigen Fingern pulte Anja eine eingeschweißte Pille aus der Folie und schluckte sie ganz, spülte mit etwas Kakao nach und lehnte sich erschöpft an die Couchlehne zurück. Schweißperlen rannen von ihrer Stirn und sie fühlte sich hundeelend.

Kasimir hob kurz den Kopf, schaute Anja verwirrt an, gähnte langanhaltend, drehte sich einmal um seine Achse, rollte sich wieder zusammen und schlief weiter.

Anja genoss die wohlige Wärme, die der Kater ausströmte und die sich in ihren Körper fortpflanzte. Sie hoffte auf Linderung, schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre flatternde Atmung, zwang sich zur Ruhe. Sie atmete tief ein und aus, tief ein und aus. Erfahrungsgemäß setzte die Wirkung der Schmerztabletten recht schnell ein, gedanklich forderte sie die 7 ein, zwang sich, die 7,5 zu überspringen, malte in Gedanken eine grüne 7 in das Nichts vor ihr, die auftauchte und sogleich wirbelnd auseinanderstob, während die Dunkelheit hinter ihren Augenlidern sich langsam aufhellte und Anja wie von ungefähr in einen Raum schwebte. Sie sah sich um und stellte fest, dass sie wie eine Spinne an der Decke klebte. Von ihrer Position aus konnte sie zwei Zimmer einsehen, von denen eines offensichtlich einen Verkaufsraum darstellte, das andere hingegen für den Aufenthalt gedacht war. In diesem erkannte Anja zweifelsohne Ilandria Londrin, das rothaarige Biest aus der Lagerhalle, in eindeutiger Pose mit einer ihr irgendwie bekannten Schwarzhaarigen, deren Identität Anja jedoch nicht eindeutig zuordnen konnte. Die beiden Frauen küssten sich leidenschaftlich. Der andere Raum erwies sich als Verkaufsfläche eines Schmuckladens. Anja versuchte, sich zu bewegen und stellte fest, dass sie an der Decke entlanggehen konnte. Sie kroch in eine Ecke, um alle Einzelheiten im Blick zu haben und gleichzeitig möglichst unerkannt zu bleiben. Seltsamerweise kam ihr die ganze Situation nicht unnatürlich vor, sie fühlte sich zugehörig, am richtigen Ort und freute sich darüber, völlig schmerzfrei zu sein.

Kurz bevor die Ladentür aufging, erschien Ilandria im Handumdrehen, wie von Zauberhand geführt, am Verkaufstresen und erwartete die Kundin. Wie im Zeitraffer spulte die Szene vor Anjas Augen ab, bis Ilandria der Kundin, einem unscheinbaren Entlein, einen Ohrschmuck in Form einer Stimmgabel ansteckte, wobei die Szene von knisternder Erotik gekennzeichnet war. Anja vernahm das Wort Nospadia, auf das sie sich keinen Reim machen konnte.

Nachdem die Kundin gegangen war, kehrte Ilandria in den Aufenthaltsraum zurück, und von der anschließenden Unterhaltung mit der ominösen Schwarzhaarigen verstand Anja lediglich das Wort Gnorrfazz, das wohl einen Namen darstellte. Die beiden Frauen zogen sich gegenseitig aus und verknoteten sich zu einem heißen Liebesspiel. Von ihrer Position aus war Anja dazu verdammt, dem Treiben der beiden Gespielinnen zuzuschauen und wollte nur weg von dort - doch sie konnte sich keinen Millimeter bewegen, war wie festgenagelt an der Decke. Plötzlich hörte Anja diabolisches Gelächter, beide Frauen starrten zu ihr hinauf und zeigten mit den Fingern auf sie. Ihre Gesichter verwandelten sich in teuflische Fratzen auf grotesk verzerrten Köpfen. Ihre Hälse dehnten und reckten sich wie Gummi, worauf die Köpfe nach vorne schossen und Zentimeter vor Anja in der Luft schwebten. Ihre Mäuler öffneten sich, offenbarten nadelspitze, doppellagige Zähne, während fauliger Atem Anja umwehte und sie einen obs zönen, eintönigen Gesang vernahm, wobei es ihr eiskalt den Rücken herunterlief:

Die Schlampe ist nicht tot,

das kleine Luder lebt,

wir werden dich Miststück finden,

und dich Aas bestrafen,

lauerst uns auf, Voyeur,

geilst dich auf, Sittenstrolch,

rechtfertige dich vor uns,

stirb, stirb, stirb!

Im selben Augenblick löste Anja sich von der Decke und fiel, sie fiel und fiel und fiel. Dunkelheit umhüllte sie, Schwärze umgab sie, und Anja trudelte nach unten. Kasimirs Schnurrbarthaare kitzelten in ihrer Nase und Anja schlug die Augen auf. Sie saß auf ihrer Wohnzimmercouch und Kasimirs Kopf schmiegte sich an ihren. Der Kater miaute einmal kurz, gähnte herzhaft und sprang von ihrem Schoß.

Das erste, was Anja bemerkte, war, dass sie völlig schmerzfrei war. Ihr zweiter Gedanke galt dem eben Erlebten, den Szenen im Schmuckladen, wobei die Bilder schon verblassten, nur der Gesang blieb und verfolgte sie:

Die Schlampe ist nicht tot,

das kleine Luder lebt,

wir werden dich Miststück finden,

und dich Aas bestrafen,

lauerst uns auf, Voyeur,

geilst dich auf, Sittenstrolch,

rechtfertige dich vor uns,

stirb, stirb, stirb!

InterludiuMI

Die Gestaltlose kam völlig atemlos und überwältigt von ihren Erlebnissen und Erfahrungen zurück nach Hause an ihr Spinnennetzmodell - oder so stellte sie es sich jedenfalls vor, so hatte sie es oft bezogen auf ähnliche Situationen in Sendungen ihres Televisors gesehen und nacherlebt.

Wenn sie in Rollen oder Dinge schlüpfte, wenn sie sich an andere Orte begab, war es ihr möglich, diese Eindrücke hautnah zu erleben und ansatzweise auch zu fühlen. Auf dem Televisor hatte sie gesehen, dass die Spezies Mensch sich sogenannte Filme und Serien ansah, die das, was sie für das wirkliche Leben hielten, in laufenden Bildern widerspiegelten oder in grotesker Form überzogen darstellten.

Ähnlich ging es ihr auch, nur dass für sie die verschiedensten Erlebnisse nicht greifbar waren, sie die Begebenheiten nicht fassen konnte.

Sie hatte keinen Körper, war völlig materielos, war lediglich Bewusstsein, nur Geist.

Die komplexe Welt der Gefühle, die aus Berührungen, Gerüchen, Geschmack und visuellen und akustischen Reizen entsteht, kannte sie in ihrer ursprünglichen Form nur als Second-Hand-Produkt, als gebrauchtes Etwas, als Ersatzware.

Aber sie konnte formen, sie konnte weben, sie konnte mit ihrem Geist, mit ihrer Verstandeskraft erschaffen. Und dann nachempfinden, lernen, kopieren.

Der Televisor war dabei ein unerschöpflicher Quell neuer Inspiration und erhellender Ideen.

Dort war sie auch auf etwas gestoßen, was die Menschen Romane nannten und hatte speziell an einem Werk eines gewissen Robert Louis Stevensen mit dem Titel Dr. Jekyll und Mr. Hyde