Mooslande - Wolfgang Palloks - E-Book

Mooslande E-Book

Wolfgang Palloks

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Beschreibung

Mooslande Blaumooswelt Eismooswelt drei entlegene Welten und der Beginn eines großen Fantasy-Abenteuers Robert Weininger befindet sich im Urlaub in der Fränkischen Schweiz. Während einer Wanderung durch einen zauberhaft bemoosten Wald wird er in eine andere Welt voller Magie gezogen, die Blaumooswelt genannt wird. Dort trifft er viele skurrile und liebenswerte Gestalten, von denen einige zu treuen Gefährten werden. Robert muss gefährliche Abenteuer bestehen und erlangt dabei Fähigkeiten, die das Geschehen nachhaltig beeinflussen. Sein Gegenspieler ist der Gnorrfazz, ein Usurpator und Bösewicht aus Eismooswelt, der auch die schwarze Magie beherrscht . . .

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Seitenzahl: 328

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das Buch

Das vorliegende Buch ist der erste Teil eines Crossover-Projektes. Insgesamt wird das Projekt aus drei Teilen bestehen, in denen die Fantasy die zentrale Rolle spielt. Angereichert werden die einzelnen Teile mit einem ausgeprägten Thrilleranteil, garniert mit einer soliden Dosis Horror, abgeschmeckt mit Science-Fiction-Elementen und abgerundet mit einer würzigen Portion Humor.

Wir begleiten dabei den zentralen Charakter, Robert Weininger, bei seinen Abenteuern durch Raum und Zeit. Diese führen ihn von unserer Welt in ein phantastisches Reich voller skurriler, aber ebenso liebenswürdiger Figuren - bis auf die Bösewichte, die natürlich auch nicht fehlen dürfen. Gleichzeitig haben die Ereignisse in der Fantasy-Welt gravierende Auswirkungen auf unsere Welt.

Der Autor

Wolfgang Palloks, geboren auf der rauen ostfriesischen Insel Norderney, widmete sich schon früh dem Schreiben und wurde seither durch seine Vorliebe für Fantasy, Thriller, Horrorliteratur und Science Fiction geprägt. Außerdem spielt Musik eine entscheidende Rolle in seinem Leben und die Neigung zu Rock und Metal beeinflussen auch sein Schreiben.

Er liebt Katzen.

Für Isrid - meine Inspiration, mein Leben - DANKE!

Inhalt

Weinzeit

Prolog

Wald

Nachtmoos

Jahrmarkt

Blaumooswelt

Gnorrfazz

Verhandlungen

Nachtschnecke

Tümpel

Traum

Julia

Zeitsplitter

Kraa

Burg

Großbierseidel

Werdend

Gefährten

Gromnu

Suche

Morklus

Magnus

Schnatt

Lagerhallen

Frostfriedhof

Naurik

Eismooswelt

Annäherung

Sieben

Ukrat Tross

Balance

Bromenien

Epilog

Nachtrag zu Schnatts Dark Blue Story

Glossar

Worte der Würdigung

Weinzeit

Es war ein grauer, regnerischer, kalter Nachmittag Ende November, der klagend den Blues über Hamburg rieseln ließ.

Robert Weininger saß in seinem Wohnzimmer auf der Couch, vor sich einen Standspiegel und eine Flasche Rotwein auf dem Glastisch, ein guter Tropfen, ein Cabernet Sauvignon, halb geleert. Für ihn war es die Zeit der Entscheidung, alles oder nichts, Neustart oder Ende, rien ne va plus oder voller Einsatz. Und so führte er Zwiegespräche mit seinem Spiegel-Ich, um zu einer Entscheidung zu kommen. Andere schrieben eine Pro- und Contraliste, um abzuwägen, was das Beste für sie war, Robert hatte sich schon immer in Ausnahmesituationen mit seinem Spiegelbild unterhalten, das fast wie ein Alter Ego fungierte.

It’s all over now baby blue von Van Morrison - der Song geisterte durch Roberts Kopf und spiegelte seine Gefühle perfekt wider - wie kaum ein anderer: verloren, verlassen, verraten. Sie hatte ihn geschasst, er war nicht darauf gefasst, und doch hat er sie nicht gehasst.

Wehmut.

Tristesse.

Melancholie.

Alter, was ist los ist dir? Soll alles den Bach runtergehen? Get a grip on yourself!

Zeit, sich wieder in den Griff zu bekommen, am Riemen zu reißen, sich auf das Wesentliche zu besinnen, zu machen, die Initiative zu ergreifen!

Und sein Alter Ego schrie.

Doch sein Spiegelbild verharrte.

Und sein Alter Ego verstummte.

Doch sein Spiegelbild heulte.

Aus dem Spiegel schaute ihn sein unrasiertes Gesicht an, eingerahmt von zerzaustem Haar, mit müden Augen, herunterhängenden Mundwinkeln, und sorgenvoller Stirn, in deren Furchen das Wort Krise eingemeißelt war. Robert bot einen Anblick des Jammerns, er war noch nicht einmal aus seinem Schlafanzug herausgekommen. Mit 30 Jahren fühlte er sich alt, zerbrochen, gescheitert.

Seine Beziehung war im Eimer, der Job lief nicht mehr richtig rund, die Geheimratsecken wurden merklich prominenter. Dabei hatte es vor einem halben Jahr noch ganz anders ausgesehen, eine neue Liebe hatte seinen Lebensmut befeuert und seine Motorik in Schwung gebracht. Alles lief wie geschmiert, nur der Himmel schien seine hehren Ziele begrenzen zu können. Doch dann gesellten sich die ersten Körnchen ins Getriebe, es fing an zu knirschen und zu knacksen, die Risse wurden größer und größer, ließen sich nicht mehr kitten. Und dann war es aus, sie wollte nicht mehr, packte ihre Sachen und zog aus. Obwohl er immer gedacht hatte, dass er beim anderen Geschlecht einen Stein im Brett habe, wurde er doch erneut eines Besseren belehrt. Es lief, wie es immer lief nach seiner großen Liebe, nachdem sie zerbrochen war, die in der Rückschau doch das Maß aller Dinge gewesen war, nur damals nicht zu retten schien: Julia.

If I could turn back time, schoss Robert die Titelzeile aus Chers Song von 1989 durch den Kopf.

Das wäre schon etwas Feines, wenn man die Zeit manipulieren könnte, einfach zurückdrehen und begangene Fehler geradebiegen könnte.

Oder wenn man eine Zeitmaschine hätte.

Time is on my Side von den Rolling Stones, Clocks von Coldplay über tickende Uhren und verpasste Chancen, Time Machine von Beggars Opera, Songs über Songs wirbelten durch Roberts Erinnerung an Highlights seiner musikalischen Lieblingsmarotte.

Er griff zur Weinflasche, um sein Glas zu füllen und stieß es dabei dreiviertel voll mit dem Ärmel seines Schlafanzuges um. Der rote Rebensaft ergoss sich über den Glastisch und schwappte auf den Spiegel.

„Verflucht und zugenäht“, entfuhr es Robert und zugleich gesellte sich der Gedanke Im Wein steckt Wahrheit hinzu.

Er musste kichern und schaute erneut in den Spiegel. Der Wein tropfte über die Oberfläche und zog Schlieren über das Glas, verzerrte seine Züge.

Einen schönen Mann entstellt so leicht nichts, dachte Robert, musste erneut gniggern und fühlte sich gleichzeitig hundeelend.

In die Oberfläche des Spiegels kam Bewegung. Roberts eigene Gesichtszüge verschwammen hinter den Weinschlieren und ein neues Antlitz schälte sich heraus und trat immer deutlicher hervor: spitze Nase, schmale Lippen, tiefstehende, fast schwarze Augen, entschlossenes Kinn, kein Haarwuchs.

„Wer stört die Ruhe des Vermächtnisses des Ewig Blinden Sehers?“, hörte Robert eine donnernde, gebieterische Stimme fragen, die aus dem Mund des im Spiegel schwebenden Kopfes kam. Eine lange, klebrige Zunge schnellte aus dem Mund im Spiegel heraus und schleckte über Roberts Gesicht, wobei sie zischend einen Befehl schnalzte:

„Suche den Nuai, fern von hier und doch so nah!“

Instinktiv war Robert vom Spiegel zurückgewichen und hatte dabei die Weinflasche vom Tisch gerissen, was gleichzeitig die Verbindung zum Gesicht im Spiegel unterbrach, das sich urplötzlich auflöste, so dass der Spiegel wieder nur Roberts verzerrte Züge zeigte. Konsterniert schaute er sich um und begutachtete die Sauerei, die er angerichtet hatte. Die Couch, der Teppich und der Parkettfußboden wiesen großflächige Rotweinflecken auf.

„Schöne Bescherung und Weihnachten ist auch nicht mehr weit“, sinnierte Robert düster, als ihm schlagartig bewusst wurde, dass es in diesem Jahr ein einsames Fest der Liebe für ihn sein würde.

Erstes Buch BlauMagie

It’s a kind of magic.

Queen

Prolog

Die dürre, hoch aufgeschossene Gestalt betrat das Studierzimmer und lief ruhelos umher. Die noch warme Abendsonne schien durch die breiten Fenster und tauchte das Zimmer in eine wohlige Atmosphäre, die in krassem Gegensatz zu der aufgewühlten Seelenlandschaft des Mannes stand.

„Was habe ich nur getan? Wie konnte ich mich nur dazu hinreißen lassen? Was habe ich mir dabei gedacht?", murmelte er gedankenverloren vor sich hin.

Zu viel stand auf dem Spiel, das hatte er vorher gewusst.

Und dennoch.

„Diese verdammten Triebe!"

Eine dunkle Romanze mit fatalen Folgen und das nicht nur im privaten Bereich. Die Auswirkungen auf das gesamte Land würden dramatisch sein.

Und dennoch.

„Verdammt!", er stampfte mit dem Fuß auf und ballte die Fäuste.

Die Konsequenzen.

Die Geburt seines Sohnes würde alles Bestehende aus den Fugen reißen und neu ordnen. Das würde sein Vermächtnis werden, das, woran sich nachfolgende Generationen erinnern und worunter sie leiden würden.

Doch alles Lamentieren und wütendes Brüten halfen nichts. Jetzt galt es, weitsichtige und abgewogene Vorbereitungen zu treffen, um eine entstandene Schieflage wieder ins Lot zu bringen und möglichst Kapital daraus zu schlagen.

„Ich sollte eine großzügige Opfergabe für unsere erhabene Gottheit Cetacerisch in Betracht ziehen, ein bisschen Unterstützung könnte ich in dieser Situation gut gebrauchen."

Ein düsteres Grinsen zeichnete sich in seinem blassen Gesicht ab. Er würde wieder zu alter Stärke zurückfinden und die Selbstzweifel hinter sich lassen.

„Erfolg ist nichts für Zauderer und Unentschlossene, die Welt gehört den Hasardeuren. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!"

Damit machte er auf dem Absatz kehrt und verließ schnellen Schrittes das Studierzimmer mit neuer Zuversicht und wehendem Umhang.

Wald

Er fühlte sich, als sei er in eine Märchenwelt versetzt. Dabei war er höchstens eine Stunde vom Rest der Zivilisation entfernt.

Robert Weininger befand sich auf einer Herbstreise durch die Fränkische Schweiz und hatte einen Stopp nahe Großbierseidel eingelegt. Wie schon so oft auf seinen ausgedehnten Exkursionen, hatte er einfach aufs Geratewohl eine lange Wanderung begonnen. Obwohl - wenn er genau darüber nachdachte, stimmte das nicht ganz. Wie es in letzter Zeit verstärkt vorgekommen war, verspürte Robert wieder dieses brennende Kribbeln in seiner Magengrube, ein Gefühl, das ihm sagte, er müsse etwas Bestimmtes erledigen. Er hatte sich Zeit seines Lebens als selbstbestimmten, rationalen Menschen angesehen, der seine eigenen Entscheidungen traf und sich dabei nicht Gefühlen oder dem Glauben an eine höhere Macht unterwarf. Doch dieses unbestimmbare Gefühl hatte ihn unter anderem dazu veranlasst, die Urlaubsreise in die Fränkische Schweiz und nach Großbierseidel überhaupt zu buchen. Er wollte nicht von einem unterschwelligen Zwang sprechen, aber Robert verspürte einen latenten Drang, der ihn dazu veranlasst hatte, diese Reise zu anzutreten.

Das Gefühl hatte vor etwa drei Monaten begonnen, als er mit Freunden bei einem Fußballspiel war. Anfangs war es ein fast unmerkliches kleines Kitzeln oder leichtes Brennen gewesen, das er plötzlich verspürte, so als habe ihn etwas gestochen. Robert hatte sich natürlich nichts weiter dabei gedacht, zumal das Gefühl verschwand und danach nur noch wie der graue Schatten eines nicht abklingen wollenden Mückenstichs nachschwang. Später meldete sich das brennende Kribbeln in seiner Magengrube zum ersten Mal. Im Nachhinein, wenn er genauer darüber nachdachte, war das der unerklärliche Impuls gewesen, der ihn dazu gedrängt hatte, eine neue Uhr zu kaufen. Eine Schweizer Präzisionsuhr, die ihn ein kleines Vermögen gekostet hatte, die für ihn seitdem zu einem zuverlässigen Begleiter geworden war.

Und jetzt war er hier, in dieser Märchenwelt, wobei ihn seine Wanderung durch einen derart grünen Wald führte, wie er noch nie zuvor einen gesehen hatte.

Verschiedene Schattierungen von Grün breiteten sich wie ein riesiger Moosteppich vor ihm aus. Moose und Farne so weit das Auge reichte, angereichert mit diversen Pilzen und abgefallen Blättern in herbstlicher Verfärbung, von Sonnenstrahlen beschienen. Sanfte Anhöhen wechselten mit steil aufragenden Hügelwänden. Wilder Efeu rankte sich um massige Baumstämme wie auch gertenschlanke staksige Bäumchen. Erhabene, mächtige Dolomitfelsen ruhten gelassen im Moos.

Robert hatte schon etliche Fotos mit seinem Smartphone geschossen und sich am Ergebnis erfreut. Motive, wo immer er hinschaute, jede neue Perspektive offenbarte weitere Highlights, die es verdienten eingefangen zu werden.

Sein Smartphone war für ihn auch hinsichtlich der Fotografie zum ständigen Begleiter geworden.

Früher hatte er als wahrer Purist natürlich auch eine Spiegelreflexkamera besessen, ein richtiges Ungetüm mit Riesenteleobjektiv. Aber über die Jahre waren die Kameras immer kleiner geworden, bis hin zu besagtem Smartphone. Es gab zwar nicht so viele individuelle Einstellungsmöglichkeiten wie bei einer großen Kamera, aber Robert schätzte die schnelle Verfügbarkeit und vor allem die Schnappschüsse des moderneren Mediums.

Er war gerade in eine seiner neueren Aufnahmen vertieft, begutachtete das Ergebnis und verglich es mit der freien Natur.

Alles um ihn herum war verstummt, kein Laut war zu hören, kein Vogelgezwitscher, kein Rauschen des Windes, der Bäume, der fallenden Blätter. Nichts.

Und doch vermeinte Robert ein weit entferntes, fast gehauchtes Wispern und Raunen zu vernehmen.

Er konzentrierte sich wieder auf das Foto.

Wurde dort sein Name gerufen?

Aus den Augenwinkeln gewahrte Robert eine Bewegung, während er auf das Foto schaute. Hatte sich nicht dort etwas am hinteren Baumstamm bewegt? Aber das war doch unmöglich, er schaute doch auf ein Foto.

Höhnisches, gespenstisches Kichern?

Er machte sich wieder an die lupenhafte Untersuchung des Bildes, Detail für Detail, verglich es mit der realen Waldlandschaft vor sich.

Im Augenblick hörte er nur seinen eigenen Atem und den etwas erhöhten Herzschlag. Und doch:

Ein Wispern, ein Raunen - gespenstisches Kichern?

Sie schienen aus dem Bild zu kommen.

Unmöglich, du fantasierst.

Auf dem Foto, was war das dort neben der Pilzgruppe, die wie Reizker aussahen? Robert zoomte näher heran, die Aufnahme war gestochen scharf. Noch ein wenig näher.

Und Robert gewahrte einen mit uralten Runen verzierten und mit Metall beschlagenen wehrhaft aussehenden Stab, angelehnt an einen mannshohen Steinmonolith, in silbriges Mondlicht getaucht.

Robert hörte gleichzeitig ein leises Winseln, ein Klagen und Stöhnen.

Wieder verglich er das Foto mit dem vor ihm liegenden, in helles Sonnenlicht getauchte Naturbild.

Das Foto fing unvermittelt an zu wackeln, zu zittern, die Konturen zu verschwimmen, der Übergang vom Foto zum Wald verschwamm.

Pranken wuchsen aus dem Foto, Zischen und Rauschen, Knurren und Fauchen nahmen stetig zu. Ein seltsamer Geruch entströmte dem Foto, erinnerte entfernt an Veilchen.

Farben mäanderten ineinander. Ein verschwommenes, dunkles Antlitz schälte sich aus den unterschiedlich grünen Lagen Mooses und Robert wurde in die Szenerie hineingezogen und vom Grünblau aufgesogen.

Nachtmoos

Blau.

Nachtblau.

Mondblau.

Robert Weininger schaute sich um.

Wo war er? Wie war er hierhergekommen? Und warum?

Sein Kopf fühlte sich wund an, als hätte ihn etwas Hartes, Spitzes und Unnachgiebiges getroffen.

Pranken?

Um ihn herum war nur Blau und Robert vernahm den intensiven Duft nach Veilchen.

Der schwere, zähe, betörende Duft nach Mitternacht, schoss es ihm durch den Kopf.

Mitternachtsblau.

„Pst, Robert, hier drüben.“

Robert schaute sich um. Die silbrigen Strahlen des Doppelmondes erhellten die Umgebung und gaben den Blick auf eine blau schimmernde Wald- und Mooslandschaft frei, umgeben von großen Bäumen und hohen kargen Felsblöcken.

„Hey, Robert, hierher!"

Wieder diese leise und doch tief grollende Stimme, malmende und gleichzeitig fordernde Worte.

Woher kam die Stimme? Was war ihr Ursprung?

So sehr sich Robert auch anstrengte und abmühte, er konnte die Stimme nicht lokalisieren.

Erneut diese mahlenden und knirschenden Laute.

„Robert, nun mach schon, zu mir".

Die Stimme kam unmittelbar direkt von vorne, doch da war nichts, außer einem mannshohen Steinmonolithen. Uralt und verwittert stand er inmitten des Moosteppichs. Efeu und üppige Moose rankten an ihm empor, verströmten eine magische Aura, die Robert ergriff und vereinnahmte.

„Hast du mich endlich gefunden?"

Robert wollte seinen Augen nicht trauen: Bewegte sich der Steinmonolith, sprach er etwa zu ihm?

„Komm näher, habe keine Angst!"

Zögerlich ging Robert auf den Monolithen zu, gebannt starrte er auf den Stein, in dem ein grob geschnitztes, eingekerbtes, von Moosen durchfurchtes Gesicht zu erkennen war. Unsicher blieb Robert vor ihm stehen.

„Ich bin Trebor, dein Retla Oge in Blaumooswelt", malmte der Monolith knirschend.

Robert war viel zu verwundert, um auch nur einen Ton herauszubekommen. Was sollte das alles nur?

„Ich habe dich hierher geholt und wenn ich etwas zu grob war, tut es mir leid, aber es blieb keine Zeit, da die Konstellation nun mal sehr günstig war."

„Was soll das alles hier?", presste Robert mühsam hervor. „Wo bin ich hier überhaupt hingelangt?"

„Ich weiß, dass du tausend Fragen haben musst, aber momentan ist nicht die Zeit für ausschweifendes Palaver. Die Zeit drängt und der Gnorrfazz steht kurz bevor. Nimm den Runenstab Elphring und beginne deine Quest."

Robert war viel zu konsterniert, um auch nur einen klaren Gedanken fassen zu können. Fast war ihm, als bemächtige sich eine fremde Präsenz seiner selbst. Zuerst zögerlich, dann immer willensstärker streckte Robert seine Hand nach dem Stab aus und ergriff den oberen Schaft. Das kühle mit metallenen Runen verzierte Holz schmiegte sich einschmeichelnd an seine Hand, während blau züngelnde Flammen aus dem Stab emporschossen und Roberts Gesicht hell erstrahlend auflodern ließen.

Die Flammen tanzten und züngelten um die Spitze des Stabes, verdichteten sich zu einem blendend weißen Energiebündel und mit einem ohrenbetäubenden Knall wurde Robert durch die Luft gewirbelt.

Jahrmarkt

Vor vielen Jahren war Robert mit Julia, seiner damaligen Lebensgefährtin, auf einem Jahrmarkt gewesen. Ein schöner, unbeschwerter Sonntagnachmittag zu einer Zeit, als die Liebe grenzenlos und die Probleme weitestgehend im Taumel der Leidenschaft verblassten. Was hatte Julia doch immer über ihre Beziehung gesagt:

„Fast wie bei dem großen Liebesdrama von Shakespeare. Leider steuerst du ja nur die ersten beiden Buchstaben bei."

Robert war sich nie sicher gewesen, ob das ironisch gemeint war, aber mit der Ironie ist es bekanntlich so eine Sache.

Jedenfalls waren sie an besagtem Tag Arm in Arm über den Jahrmarkt geschlendert, vorbei an den bunten Buden, das freudige Kindergeschrei im Ohr, die verlockenden Düfte nach gebrannten Mandeln, Bratwürsten und Maronen in der Nase, den Alltag mit seinen kleinen und großen Widrigkeiten vergessend.

Da sie Durst verspürten, gingen sie gerade auf einen Getränkestand zu, als Robert von einer fremden Frau leicht angerempelt wurde. Wie um ihre Balance wiederzuerlangen, fasste die Fremde Robert am Arm.

Robert schaute sich um und sah in unergründlich tiefgrüne Augen und wallend rotes Haar. Die Frau hatte Roberts rechte Handfläche nach außen gekehrt und schaute nunmehr intensiv darauf.

Ein pulsierender, elektrisierender Schauder durchzuckte Roberts Körper.

Wie durch Watte gedämpft, vernahm er einen kehligen, rauen Singsang:

„Es wird dir verheißt,

damit du es nur weißt,

in vielen Jahren von heut,

wirst du treffen ein Leut,

wird dir erscheinen ein Bild,

das als Eben neben dich quillt.

Schicksal, nimm deinen Lauf!"

Noch ehe Robert überhaupt reagieren konnte, war die Unbekannte in der Menschenmenge verschwunden.

„Was war das denn eben?" fragte Julia. „Eine verflossene alte Flamme? Oh je, du bist ja ganz blass geworden."

„Ich glaube, ich brauche erst einmal etwas Hochprozentiges", versuchte Robert die Situation zu überspielen.

Er hatte Julia nie im Detail von den Worten der Fremden erzählt und obwohl er als bodenständiger Mensch nicht an Hokuspokus glaubte, wollten ihn diese kurzen Momente vom Jahrmarkt nie ganz loslassen.

Blaumooswelt

Robert erwachte auf einer Anhöhe, in die eine Behausung eingebaut war. Unschlüssig blieb er vor der geschlossenen Tür stehen.

Aus dem Schornstein quoll weißer Rauch.

Was wurde in dieser Welt von ihm verlangt, was war der nächste logische Schritt?

Sollte er tollkühn losstürmen oder doch lieber verhalten und umsichtig agieren? Halt suchend umfasste Robert den Runenstab noch fester.

„Hey, lass mir gefälligst noch etwas Luft zum Atmen, großer Abenteurer!", meldete sich eine krächzende Stimme aus der Richtung seiner rechten Hand.

Robert schaute verwundert auf den Runenstab, rechnete jedoch hier mittlerweile mit so einigem.

„Du kannst sprechen?", fragte er den Stab und kam sich dabei doch etwas merkwürdig vor.

„Na klar, was denkst du denn? Wer sollte denn sonst auf dich aufpassen und dir mit Rat und Tat zur Seite stehen? Nenn mich Elphring, aber bitte keine Anspielungen auf meinen Namen, die kenne ich alle schon und bin ihrer überdrüssig."

„Na, dann mal los: Warum bin ich hier, wo bin ich hier genau, ist es hier eigentlich immer so blau und dunkel, wer ist Trebor, wie komme ich zurück . . ."

„Moment, Moment, gemach, gemach", fiel ihm Elphring ins Wort, „ich habe nicht gesagt, dass ich dir alle deine Fragen beantworten werde. Wäre ja noch schöner! Nee, nee, darin liegt ja deine Hauptaufgabe: Durch aufmerksames Suchen und Entdecken herauszufinden, wozu das alles hier gut ist", führte Elphring weiter oberlehrerhaft aus.

Robert schaute frustriert und resigniert drein.

„Wer wird denn gleich am Anfang die Hellebarde ins Moos werfen?"

„Die Flinte ins Korn", versuchte Robert zu korrigieren.

„Wie, äh, nein, hier ist es eben anders. Aber ist ja auch egal. Was ich ausführen wollte, ist Folgendes: Du bist nicht allein, wirst Helfer und Tipps finden, aber das meiste an Leistung muss ganz von dir alleine kommen, oh, edler und mutiger Robert", konterte Elphring.

Voller Tatendrang steuerte Robert auf die Tür der Behausung zu.

„Nicht so überhastet", mischte sich Elphring ein", wie ich schon sagte, es gilt zu suchen und zu entdecken. Schau dich genau um und entscheide dich dann folgerichtig."

Langsam fing Elphring an, ihm auf die Nerven zu gehen, aber da sich Robert nicht mit den Gesetzen dieser Welt auskannte, musste er wohl oder übel gute Miene zum bösen Spiel machen.

Er schaute sich um, bemerkte aber nichts Besonderes, sah auf Elphring, der ihn stumm und stoisch ermunterte weiterzumachen. Roberts Blick schweifte den Waldesrand entlang, er zwang sich jedes noch so kleine Detail zu untersuchen. Und siehe da, er hatte Erfolg: Am dichten Baumbestand erspähte er zwei weitere Türen.

„Damit haben wir das klassische Drei-Türen-Rätsel", verkündete Elphring. „Wähle weise und schreite durch eine der Türen!"

Ohne zu zögern, machte Robert auf dem Absatz kehrt, ging auf die linke Tür zu, stieß sie heftig auf und marschierte hindurch.

Ihn empfing eine weitere Blaumoosebene mit Wald und Felsformationen. Etwas enttäuscht wandte er sich an Elphring.

„Scheint mir keine gute Wahl gewesen zu sein, etwas langweilig hier. Wohin ich wohl gekommen wäre, wenn ich eine der anderen Türen genommen hätte?"

„Dreh dich um und schau nach", erwiderte Elphring.

Als Robert sich umdrehte, sah er zu seinem Erstaunen und langsam wütend werdend, exakt dieselbe Anordnung der Türen wie vor dem Durchschreiten der linken Tür.

Von Elphring kam ein gutturales Kichern und Glucksen.

Vorwurfsvoll blickte Robert ihn an.

„Ha, ha, sehr witzig."

„Okay, okay, ein kleiner Scherz am Rande. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Doch jetzt im Ernst." Und mit einem ohrenbetäubenden Knall und zischendem Feuerschweif wurden beide wieder auf Anfang zurück katapultiert. „Nun denn, jetzt zählt es!" Mit einer dramatischen Geste deutete Elphring nacheinander auf jede einzelne Tür.

„Triff deine Wahl! Wähle sorgsam!"

Robert dachte intensiv nach, kramte sämtliche Erinnerungen, Sprüche und Allgemeinplätze hervor, die er in seinem Leben angehäuft hatte:

Der leichte Weg ist immer der schwerste.

Der leichte Weg ist auch der richtige Weg.

Wer den bequemsten Weg sucht, erreicht keinen Gipfel.

Pessimisten gehen jeder Hoffnung aus dem Wege.

Der große Weg ist sehr einfach, aber die Menschen lieben die Umwege.

Der Weg des Paradoxons ist der Weg zur Wahrheit.

Alles sorgfältig abwägend, wählte Robert die Tür mit dem großen verrosteten Vorhängeschloss.

Er ergriff Elphring mit beiden Händen und begann maßnehmend vor dem Schloss herumzufuchteln.

„Ähm, Moment mal, was machst du da", meldete sich Elphring, „mir wird schon ganz schwindelig und ich kriege Kopfschmerzen von dem ganzen Herumgeschüttele."

„Ich versuche einen Weg zu finden, die Tür zu öffnen", entgegnete Robert.

„Aber die Sache mit Harry Potter kannst du vergessen, ich bin kein Zauberstab", ereiferte sich Elphring.

„Und wie funktionierst du, erlauchtester aller Runenstäbe?", begehrte Robert ironisch auf.

„Nun werd mal nicht frech, Kleiner! Also, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Ich habe ein eigenes Bewusstsein, eine eigene Motorik und handele autonom. Ergo kannst du die Excalibur-Theorie auch gleich ans rostige Schloss hängen. Von wegen du alleine kannst mich führen und hast mich aus meiner Lethargie befreit. Pah, da musst du dich aber echt mehr strecken, Freundchen."

Diese langen Monologe gingen Robert immer mehr auf den Senkel.

„Und wie setze ich dich nun überhaupt in Gang?"wollte Robert wissen.

„Jetzt kommen wir langsam zum Wesentlichen", fing Elphring an zu dozieren. „Wir müssen eine Symbiose eingehen, eine Einheit werden. Du und ich, oder besser gesagt dein Arm und ich verschmelzen zu einem gemeinsamen Instrument. Doch das erfordert gegenseitiges Vertrauen und Einfühlungsvermögen. Bis das erreicht ist, wirst du mich wohl oder übel bitten müssen, dir zu dienen."

Robert wurde ganz flau zumute. Das wurde ja immer schöner, von einem Stab so vorgeführt zu werden. Doch musste er klein beigeben, schließlich wollte er weiterkommen.

„Na schön“, knirschte er, „dann mach bitte dein Ding und öffne diese Tür. . ."

„Ein bisschen höflicher . . ."

„Treib es nicht auf die Spitze, Elphring!"

„Ist ja schon gut, okay, so sei es denn", wiegelte Elphring ab und schoss einen dünnen, geballten Energiestrahl auf das Schloss, das krachend zu Boden fiel.

„Voila! Zufrieden?"

Robert brummte etwas Unverständliches und machte sich an der Tür zu schaffen. Mit einem Quietschen und Knarzen gab sie nach und den Blick in eine dunkle Höhle frei. Robert trat ein und augenblicklich schlug die Tür mit einem lauten Knall zu und ließ sie im Stockfinsteren zurück. Robert konnte seine Hand nicht vor den Augen sehen. Es roch recht muffig nach abgestandener Luft.

„Sag mal Elfie, kann ich dich auch als Fackel benutzen?"

Er spürte förmlich, wie Elphring zu beben anfing, als würde er vor Wut kochen und schäumen. Ein glutrot gelber Feuerball schoss in die Höhe empor und erleuchtete die Höhle.

„Keine Kosenamen, hab ich gesagt, Donnerlittchen noch mal, sei gewarnt Robert."

Der Feuerball schwebte noch immer hoch oben und tauchte die Umgebung in warmes orangefarbenes Licht. Robert pfiff leise durch die Zähne, trotz der nun vorhandenen Helligkeit waren weder Decke noch Wände zu erahnen. Die Höhle musste unvorstellbar groß sein.

„Was willst du denn, Elphring, sei nicht so etepetete, jetzt haben wir wenigstens Licht. Sollte ich etwa einen geheimen Knopf bei dir . . .?"

„Sei still", zischte Elphring ihm zu, „hörst du das?"

Wenn Elphring so etwas unkommentiert ließ, musste Gefahr im Verzuge sein. Angestrengt lauschte Robert, doch er hörte nichts.

„Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, sind wir in einem Höllenschlamassel."

Jetzt konnte auch Robert entfernt ein dumpfes Poltern und Schleifen erahnen, das ihn aber an nichts Bekanntes erinnerte. Die Geräusche kamen schnell näher.

„Oh Schreck, oh Schreck", sinnierte Elphring, „gegen Höhlentrolle bin ich völlig machtlos, die sind gegen Magie immun."

Und schon schälten sich die groben Umrisse eines riesigen Ungeheuers aus den hinteren Schemen der Höhle. Der Troll musste gut und gerne über drei Meter groß sein und schleppte eine grobe Riesenkeule hinter sich her, die über den Boden schleifte. Sabbernder Geifer triefte aus seinem Maul und sein fauliger Atem umwehte Robert und Elphring.

„Nichts wie weg von hier", keuchte der Runenstab entsetzt, „wir müssen schleunigst einen Ausgang finden, sonst macht er uns platt."

Robert rannte los, der Feuerball spendete weiterhin sein magisches Licht, war in seiner Intensität sogar noch stärker geworden. Der Troll hatte die Verfolgung aufgenommen, er witterte Menschenfleisch.

Robert erreichte eine Höhlenwand, doch kein Ausweg war zu sehen. Er tastete über den nackten Fels, aber er konnte keine Vertiefung, keinen geheimen Mechanismus ausmachen. Grollend und polternd kam der Troll immer näher und fing an, mit der Keule nach ihnen zu schlagen. Der Boden vibrierte wie bei einem mittleren Erdbeben.

Weiter zur nächsten Wand, aber auch dort kein Ausgang.

Robert stolperte weiter, spürte den heißen, stinkenden Atem des Trolls in seinem Nacken und wäre beinahe in das abgrundtiefe Loch gefallen, das sich urplötzlich vor ihm auftat.

Er trat heran und blickte nach unten: Wie er vermutet hatte, sah er nur bodenlose Schwärze.

Der nächste Keulenschlag ließ den Boden erbeben, schleuderte kleinere Gesteinsbrocken hoch, von denen einige im Schlund landeten. Es war kein Aufprall zu hören.

„Jetzt ist List und Tücke gefragt", meinte Robert, „und ich hab da auch schon eine Idee. Vertrau mir nur, Elphring."

Es hing alles von Schnelligkeit und Präzision ab.

Mit Gebrüll lief Robert auf den Troll zu, der sich massig vor ihm aufbaute. Robert hechtete durch die Beine des Trolls und rollte auf der anderen Seite geschickt ab.

„Hey, du Riesenbaby, komm zu Daddy, lass dich umarmen!"

Robert sprang und tanzte vor dem Troll umher und fuchtelte wild mit den Armen.

Der Troll wurde immer wütender, fing an zu brüllen und rannte auf Robert zu. Der wich einem ausholenden Fuß aus, hechtete erneut dem Troll zwischen die Beine und rannte so schnell er konnte auf das Loch zu.

Unbeholfen machte der klobige Troll kehrt und begab sich brüllend an die Verfolgung.

Noch gut 20 Meter bis zum Loch, Robert rannte weiter, 15 Meter, 10 Meter, der gähnende Rand kam näher. Hinter ihm holte der Troll erneut zu einem Keulenschlag aus.

Fünf Meter vor dem Abgrund hechtete Robert im letzten Moment mit einem Riesensatz zur Seite und blieb Zentimeter vom Rand des Abgrunds keuchend liegen.

Durch den Schwung des Keulenschlags konnte der Troll nicht mehr rechtzeitig abbremsen, kam vor dem Rand des Abgrunds ins Taumeln, ruderte hektisch mit den Armen, doch sein Gewicht ließ ihn nach vorne kippen und der Troll fiel kopfüber in den Schlund. Wie Robert vermutet hatte, blieb der Troll dank seiner Leibesfülle im Loch stecken und konnte sich nicht bewegen.

„Los komm, Elphring, keine Atempause, jetzt brauchen wir nur zwischen dem Troll und der Steinwand nach unten zu klettern!"

Der Runenstab hatte bisher keinen Ton rausgebracht.

„Alle Achtung, Mann, was für ein Husarenstück! Lass uns klettern!"

Der Troll winselte herzerweichend vor sich hin und versuchte, sich ruckartig aus seiner misslichen Lage zu befreien. Doch es half alles nichts, er steckte fest. Robert stieg vorsichtig auf den gewaltigen linken Fuß des Trolls und setzte seinen Weg über das dicht behaarte Bein bis zur Hüfte fort. Noch immer versuchte das Ungetüm sich loszureißen, aber es war zu fest im Stein verkeilt. Über die riesige Brust war Robert mittlerweile bis zum Kopf des Trolls vorgestoßen. Er hangelte sich gerade über die struppigen Haarfetzen bis zur Nase herunter, als Elphring sich mit seiner metallbeschlagenen Spitze in dem rechten Nasenloch des Trolls verfing. Anfangs ging nur ein leichtes Beben durch den Körper des Trolls, der Atem des Ungeheuers beschleunigte sich, gutturale Töne entsprangen seiner Brust und schließlich erfüllte ein markerschütterndes Niesen den bebenden Trollkörper und den Abgrund.

Es folgte Totenstille.

Dann hörte Robert die platzenden Geräusche von Rissen im Gestein, gefolgt von rieselndem Steinstaub. Der Troll wandte und drehte sich, so gut er konnte, der ganze Körper geriet in Bewegung. Der Troll fing ganz langsam und ruckartig an abzurutschen. Robert krallte sich fester in die Haare des Trolls, in den immer mehr Bewegung kam. Schließlich behinderten nur noch ein paar kleine, spitze Gesteinsbrocken den freien Fall. Kreischend und brüllend sauste das Dreigespann unvermittelt in die Tiefe.

Robert spürte den Fallwind in seinen Haaren und dem Gesicht. Er vermochte nicht zu sagen, wie lange der Sturz dauerte. Es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor.

Jäh wurde der Fall gestoppt, als der Troll auf etwas Hartes und Spitzes aufschlug. Sein Körper wurde von einem dicken Baumstamm durchbohrt. Zähes, warmes Blut spritzte auf Roberts Gesicht, und er prallte gegen den Kopf des Trolls und verlor das Bewusstsein.

Veilchenduft.

Als Robert erwachte, umspielte Veilchenduft seine Nasenflügel.

Wohlig inhalierend, streckte er seine Glieder aus und schlug die Augen auf.

Er lag ausgestreckt auf dem toten Körper des Trolls. Das Blut war mittlerweile verkrustet, der Körper kalt und starr und der intensive Veilchenduft schien vom Kadaver des Trolls auszugehen. Angeekelt rümpfte Robert die Nase.

Elphring lag etwas abseits, wie ein eingeklemmter Stift im linken Ohr des Trolls.

„Was für ein Ritt", meldete sich der Runenstab zu Wort, „was für eine Glanzleistung. Aber bevor du gänzlich abhebst, lass dir gesagt sein, dass du dich nicht immer wirst auf dich alleine verlassen können. Du wirst Hilfe brauchen."

„Du neigst offensichtlich zur Wiederholung. Das sagtest du nämlich bereits", merkte Robert an.

„Wenn du mich nicht immer so rüde unterbrechen würdest, könnte ich mit neuen Informationen aufwarten. Also schweig und hör zu."

Bedeutungsvoll wartete Elphring einen Einwand ab, aber Robert sagte nichts.

„Geht doch! Lass dir gesagt sein, dass du auf deinen Wanderungen in Blaumooswelt immer wieder auf Wesen treffen wirst, deren Hilfe du gebrauchen können wirst. Jedes einzelne Wesen hat spezielle Fähigkeiten, die dir bei dem einen oder anderen Problem zu Gute kommen. Aber Obacht, das ist natürlich kein Selbstläufer. Wesen helfen dir nur, wenn sie dir freundlich gesinnt sind. Und das hast du selbst in der Hand. Capice?"

„Ein ständiges Geben und Nehmen, wie im richtigen Leben, schon klar."

„Was heißt hier wie im richtigen Leben", ereiferte sich Elphring, „das ist das richtige Leben hier. Wenn du hier stirbst, bist du rattentot."

Mausetot, korrigierte Robert in Gedanken, hatte aber keine Lust, es laut auszusprechen.

War da ein Anflug von Heimweh?

Bereitete ihm der Gedanke an seine Welt Unbehagen oder schon jetzt sehnsuchtsvolle Rückkehrwünsche?

Nun war es nicht gerade so, dass Robert als selbständiger Immobilienmakler momentan aus dem Vollen schöpfte. Die Auftragslage war eher mau, kaum neue Großaufträge, das letzte wirklich anspruchsvolle Projekt lag auch schon knapp zwei Jahre zurück. Mit dem Umzug in eine sehr teure, toll gelegene Eigentumswohnung in Hamburg hatte er sich finanziell etwas übernommen, sein Kontostand sah somit eher mickrig aus. Zu allem Überfluss lief es auch amourös in letzter Zeit nicht zufriedenstellend. Nach der Trennung von Julia hatte es zwar ein paar eher belanglose Beziehungen gegeben, aber leider nichts Festes.

Das einzige, worauf Robert wirklich stolz sein konnte, waren seine Fitness und seine Körperkondition, auf die er stets viel Wert legte. Ausgewogene und gesunde Ernährung waren für ihn ebenso wichtig wie regelmäßiger Sport. Er sah sich selbst gerne als durchtrainierten, gut aussehenden und fitten Mittdreißiger. Eigentlich gar keine so schlechte Partie . . .

Somit konnte er sich doch ruhig voll und ganz auf seine Aufgaben hier in Blaumooswelt konzentrieren, denn was trieb ihn schon zurück ins alte Leben? Auf ins nächste Abenteuer.

Zumal sich etwas in Roberts Bauchgegend zu regen begann, ein warmes Gefühl, das sich immer mehr ausbreitete, verbunden mit dem kribbelnden Brennen in der Magengrube, das alles andere als unangenehm war. Fremde Gedanken schossen in seinen Kopf, er sah die Ferne des Alls, Planeten und Galaxien stürzten an ihm vorbei. Das alles war verbunden mit dem drängenden Gefühl einer Aufgabe, die es zu erledigen galt. Das Bauchgefühl sandte die Botschaft, dass es jetzt gut war, dass er angekommen war, nahe am Kollektiv angelangt war. Robert hatte zwar keine Ahnung, was dieses Kollektiv sein sollte, das sollte ihm jedoch keine schlaflosen Nächte bereiten. Es fühlte sich einfach alles richtig und irgendwie vorherbestimmt an.

„Hey, Elphring, ich muss mal austreten, bin gleich wieder hier."

„Soll ich nicht lieber mitkommen und Händchen halten? Ist nicht ganz ungefährlich hier in der Gegend."

„Ne, ne, lass mal stecken, hat die letzten Jahre über ganz gut allein geklappt", beschwichtige Robert.

Der tote Troll lag am Ende eines lotrechten Tunnels, in den das fahl silbrige Mondlicht fiel, an das sich Robert mittlerweile gewöhnt hatte.

Mit steifen Knochen hangelte sich Robert vom Troll herab.

Draußen empfing ihn eine einzigartige Blaumooslandschaft mit bewaldeten Hügeln und großen, satt grünen Laubbäumen. Robert steuerte auf einen der Bäume zu. Je näher er ihm kam, desto mehr fühlte er sich beobachtet.

Das ist sicherlich nur Einbildung. Wer soll hier schon sein?

Während er sich erleichterte, spürte Robert einen bohrenden Blick im Nacken und vermeinte ein leises, gequältes Miauen zu hören. Robert liebte Katzen über alles und suchte angestrengt die Gegend ab.

„Komm her, Miez, wo bist du? Miez, miez, miez."

Bewegte sich nicht dort etwas am blaugrünen Busch?

Tatsächlich huschte oder besser gesagt humpelte eine Katze ins Bild.

Sie miaute kläglich, umstrich Robert mit ihrem kleinen Körper und drückte sich an ihn.

„Oh je, du kleiner Racker, was hast du denn für ein Problem? Lass mal sehen."

Robert beugte sich zur Katze herunter und hob vorsichtig die rechte Pfote hoch. Ein ziemlich dicker Splitter hatte sich ins Fleisch gebohrt und verursachte Schmerzen.

Behutsam entfernte Robert den Splitter, ohne auch nur einen Tropfen Blut zu vergießen.

Die Katze beäugte ihre Pfote sorgfältig und fing an, die Wunde gründlich abzulecken.

Dann hob sie den Kopf und blickte Robert kurz und fest in die Augen, blinzelte dreimal und verschwand blitzschnell im nächsten Gebüsch.

Robert machte sich auf den Rückweg und nachdem er den Kadaver des Trolls wieder erklommen hatte, erzählte er Elphring von seiner Begegnung.

„Sehr gut, sehr gut! Damit hast du die Mondkatze Musch für dich eingenommen. Sie ist der Joker und kann an jeder Stelle deiner Quest und für jede Problemlösung eingesetzt werden. Aber Vorsicht ist geboten: Einige Wesen kannst du mehrere Male einsetzen, andere nur ein einziges Mal. Das läuft nach der Trial-and-Error-Methode. Also . . ."

„Wähle weise, ja, ja", ergänzte Robert.

Er hatte sich inzwischen in einer Mulde zwischen Nasenwurzel und dem linken Auge des Kolosses gemütlich im Schneidersitz eingerichtet. Geschickt ergriff er Elphring.

„Apropos weise, oh, weiser Hüter der Runen: Beherrscht du die hohe Kunst der Nekromantie?"

Es ertönte eine durch Mark und Bein gehende Fanfare und Elphring posaunte eindringlich und würdevoll:

„Scheideweg, Scheideweg, Scheideweg!" Es entstand eine gewichtige Pause.

„Einen Troll oder ein anderes Wesen zu untotem Leben zu beschwören, ist ein düsteres und gefährliches Unterfangen. Hast du einmal den Weg der Schwarzen Magie eingeschlagen, gibt es kein Zurück mehr." Eine weitere effekthascherische Pause entstand.

„Die Schwarze Magie, die ich selbstverständlich bis ins kleinste Detail beherrsche, ist eine dichotomische Diva, die dem Nießnutzer alles abverlangt. Nicht selten auch seine Seele. Andererseits verlockt sie mit unendlichem Reichtum und Macht."

„Wer nicht wagt, der nicht gewinnt", resümierte Robert, „The winner takes it all!"

„Mit Trebor steht dir schon ein Wesen der Kraft zur Verfügung. Mit dem untoten Troll käme noch die Gabe der Rasenden Zerstörung hinzu, die durchaus hilfreich sein könnte. Dennoch ist gerade ein untoter Troll nur sehr schwer zu kontrollieren. Es gibt ein paar bekannte Fälle, in denen sie sich gegen ihren Herrn und Meister gewandt haben. Ich muss dich eindringlich warnen: Wäge sorgsam ab."

Bei Robert ging es mit der ihm wohl bekannten Zockermentalität durch:

„Du machst das schon, Elphring, ich setze vollstes Vertrauen in deine Fähigkeiten. Wir haben einen Schwarzen Deal. Let‘s rock the place!"

„Der Haken an der Sache ist, dass du meine Spezialfähigkeit schon sehr früh einsetzen würdest und sie damit für spätere Herausforderungen blockiert wäre."

„Und was ist das für eine Fähigkeit?"

„Meine Eloquenz."

„Bedeutet das, dass ich für den Rest der Quest auf deine überaus inspirierenden und treffenden Statements verzichten müsste?"

„Soweit würde es natürlich nicht kommen, meine allgemeine Redekunst bliebe selbstverständlich von allen Eventualitäten unberührt. Zu früh gefreut, falls du auf unsere verbalen Scharmützel keinen gesteigerten Wert mehr legen solltest."

„So schreite denn verbal zur Sache, edler Recke und lass leben, was tot ist." Damit rutschte Robert über die Nase, die Brust und den Bauch des Kadavers nach unten auf den Waldboden. Nachdem er einen gehörigen Sicherheitsabstand zum Troll eingenommen hatte, schaute er Elphring erwartungsvoll an.

„Lass es krachen, Meister, ich bin gespannt wie ein Flitzebogen."

Umgehend vernahm Robert einen hypnotischen Singsang.

„Was tot ist, soll nicht tot bleiben,

tot ist nicht tot, sondern lebt.

Erwache, totes Fleisch,

lass dich beseelen mit schwarzer Materie,

wandle umher und gehorche meiner Macht,

unterwirf dich mir und atme,

atme die schwarze Essenz und lebe!

Erhebe dich und lebe, lebe, lebe!"

Dreimal intonierte Elphring die Litanei und beendete sie mit einem geballten Energiestrahl direkt ins Herz des Trolls. Ein leichtes Zucken und Beben durchströmte seinen Körper, dem ein kurzes Aufbäumen folgte. Erste Gesteinsbrocken lösten sich von der Tunnelwand und der Troll fing an, mit den Armen zu rudern. Seine Beine stemmten sich gegen den Boden und mit seinem massigen Oberkörper brachte er die gesamte Tunnelwand zum Einsturz. Nunmehr stehend, wagte der Troll seinen ersten Schritt, warf gebieterisch seinen voluminösen Kopf nach vorn und brüllte ihnen sein verfluchtes untotes Leben entgegen.

Mit einem donnernden „Keine Bewegung" erstarrte der Troll in seinem Vorwärtsdrang.

„In dieser Position wird der Troll solange verharren, bis du ihn um Hilfe rufst und dann Gnade uns Gnorrfazz", erklärte Elphring.

„Wie rufe ich überhaupt jemanden?" wollte Robert wissen.

„Indem du laut und vernehmlich den Namen des Betreffenden rufst und mich dreimal heftig auf den Boden stampfst", erwiderte Elphring. „Und nun lass uns schleunigst von hier verschwinden, damit wir Land gewinnen."

Mit einem leichten Grinsen im Gesicht zog Robert los.

Gnorrfazz

Der Gnorrfazz spürte die schleichende Verschiebung der Kräfte im Reich Blaumooswelt.

Auf Elandrir, seinem gepanzerten EisGreif, schwebte er durch die Lüfte und inspizierte wie jeden Tag sein Reich Eismooswelt, immer auf der Suche nach dem Großen Riss. Das Ereignis kam jeden Tag näher, die uralte Prophezeiung würde sich bald bestätigen.

Dann gäbe es keine unsichtbare, aber dennoch unüberwindbare Barriere mehr, die ihn davon abhielt, den rechtmäßigen Besitz über Blaumooswelt an sich zu reißen.

Während einer der immer wieder sporadisch auftretenden kleinen Risse, hatte Gnorrfazz vor gut zwei Wochen einen Spion nach Blaumooswelt gesandt. Der Troll sollte Erkundigungen einholen und spätestens bis heute Bericht erstattet haben. Bisher hatte der Gnorrfazz noch nichts von ihm gehört und er hoffte, dass diese Tatsache nichts mit der Verschiebung der Kräfte zu tun hatte.

Unentwegt lenkte er Elandrir wie jeden Tag in jeden Winkel seines Reiches bis an die Peripherie.