Mord am Main - Du gehörst mir - Monika Rielau - E-Book

Mord am Main - Du gehörst mir E-Book

Monika Rielau

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Beschreibung

„Mord am Main – Du gehörst mir“ Eigentlich will Kommissar Khalil Saleh nur weg von der Mordkommission im Frankfurter Polizeipräsidium. Die eigene Familie verwickelt in Mord und Totschlag! Sein Ansehen stark beschädigt. Doch die Polizeipräsidentin will ihn nicht ziehen lassen. Sie braucht seine Expertise für die neuen Fälle. So, zur Aufklärung des Todes einer adeligen Engländerin. Wurde sie von ihrem Ex-Mann ermordet, oder waren es doch nur tragische Umstände? Und, als hätte er nicht schon genug Unheil angerichtet, wird sein des Mordes angeklagter Schwager auf dem Transport zum Gericht durch einen spektakulären Gewaltakt von Islamisten freigepresst. Eine Blamage für die Polizei. In all dem dramatischen Geschehen eine leidenschaftliche Liebesgeschichte und ein betrogener Liebhaber, der seine Rache auf fatale Weise inszeniert.

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 1

»Fahr doch zur Hölle« waren die letzten Worte, die er Valerie nachrief.

Die ganze Zeit hatten sie sich heftig gestritten. Wieder einmal hatte Felix’ Eifersucht die Stimmung vergiftet. Sie hatte es so satt. Verbittert kletterte sie die steile Klippe hinauf, als sie ein plötzlicher Windstoß vom Meer und eine von ihr übersehene Wurzel zum Straucheln brachten. Vergeblich hatte sie noch versucht, sich an Felix’ Arm zu klammern. Doch er war einfach zurückgetreten. Sie fand keinen Halt, taumelte und stürzte in die Tiefe. Einmal noch konnte sie sich kurz an dem Ast einer verkrüppelten Seekiefer festhalten, bevor es weiter abwärtsging. Der Wind sang in ihren Ohren, als sie mit einem alles durchdringenden Schrei, der folgenlos im hellblauen Sommerhimmel verhallte, nach einem Sturz aus wenigen Metern auf einen lockeren Haufen trockenen Tangs fiel.

Die Wucht des Aufpralls ließ sie sofort bewusstlos werden. Nur die große Ansammlung von Algen hatte verhindert, dass sie sich nichts gebrochen hatte. Sie war auf dem Rücken gelandet. Als sie wieder zu sich kam, blickte sie den Felsen hinauf. Von Felix keine Spur. Ihr war, als hätte sie eine Dampfwalze überrollt. Arme und Beine waren beweglich, aber sie hatte keine Kraft zum Aufstehen.

Ihre rechte Hand umklammerte noch ein Büschel des Myrtenstrauches, an dem sie sich vergeblich festgeklammert hatte und von dem ein schwacher Duft nach Eukalyptus ausging.

Sie schaute sich um. Wo war Felix? Hatte er wirklich gesagt »Fahr zur Hölle«? Sie konnte es nicht glauben. Wieso hatte er nichts getan, um sie vor dem Sturz zu bewahren? War es ihm egal, ob sie sich verletzte oder sogar starb?

Sie musste sich unbedingt von ihm trennen. Das hatte sie sich schon häufig vorgenommen, aber letztlich war ihre Angst vor dem Alleinsein immer stärker gewesen als ihr Wunsch nach Trennung. Jetzt allerdings hatte er eine Grenze überschritten. Das müsste er nach seinem unverzeihlichen Verhalten vielleicht sogar selbst einsehen.

Was würde ihr Vater zu Felix sagen? Sicher würde er ihr raten, sich sofort von ihm zu trennen.

Zu ihrem Vater, der sie nach dem frühen Krebstod seiner von ihm abgöttisch geliebten Frau aufzog, hatte sie eine enge Beziehung gehabt. Das war nicht immer so gewesen. Der Horror nach dem Begräbnis der Mutter. Monatelang verharrte er in einer schweren Depression und konnte seiner damals zwölfjährigen Tochter keine Hilfe sein. An dem Tag, als sich endlich ein Funken Hoffnung in sein versteinertes Herz wagte, blickte er zum ersten Mal bewusst in ihre traurigen Augen. Ihr stummes Leid traf ihn ins Mark. Für sein Mädchen würde er sich wieder dem Leben stellen. Er nahm sie fest in seine Arme. »Wir beide« wurde ihr Lebensmotto.

Er war ein großzügiger und liebevoller Vater, half ihr bei den Schularbeiten, brachte sie durch eine schwierige Pubertät und ertrug geduldig ihre ersten Freundschaften mit jungen Männern. In seinem eigenen Leben spielten die Frauen nur kurze Gastrollen. Keine reichte an seine verstorbene Frau heran. Für ihn war Valerie die wichtigste Person in seinem Leben. Mit ihren schwarzen Haaren, die ihr bis auf die Schultern fielen, und den dunkelblauen Augen in ihrem ebenmäßigen Gesicht hatte sie die Schönheit und den Charme ihrer Mutter geerbt. Er war sehr stolz auf sein »Schneewittchen«, wie er sie manchmal nannte.

Ihre enge Beziehung änderte sich erst, als ihr Vater auf einer Ausstellung seines Malerfreundes Theo eine deutlich jüngere Frau kennenlernte. Die beiden verliebten sich ineinander. Lisa wurde schwanger. Der Vater kümmerte sich nun um sein eigenes Leben. Valerie war eifersüchtig und fühlte sich im Stich gelassen. Aus Trotz und gegen seinen Willen ging sie nach dem Abitur mit einer Freundin zum Studium nach München, während der Vater mit seiner jungen Frau in Frankfurt ein Nest für das gemeinsame Kind baute.

In einem Außenbezirk von München, in einer gemischten Wohngemeinschaft, fanden die beiden Freundinnen nach langer Suche eine Unterkunft. Dort traf Valerie auf Alexander, von jedem nur Alex genannt. Für beide war es Liebe auf den ersten Blick.

»Ich liebe dich mehr als du mich«, sagte Alex.

»Nein, meine Liebe zu dir ist tiefer.« Valerie schüttelte ihr rabenschwarzes Haar und schaute ihn verliebt an. »Du liebst nur deine Vorstellung von mir.«

»Keine Ahnung, was du damit meinst. Ich liebe dich so, wie du bist.«

Alex war der schönste Mann auf dem Campus. Aber davon wusste er nichts. Er war völlig uneitel. Für ihn war Valerie die schönste Frau der Welt. Dass sie seine Freundin war, machte ihn unglaublich stolz. Er liebte es, wenn andere Männer sie mit ihren Blicken verfolgten, und sonnte sich in ihrem Glanz.

Als Alex bei einem Marathonlauf der Uni den ersten Platz belegte und sein sportlich-markantes Porträt in der örtlichen Tageszeitung erschien, begann sein Aufstieg in den Medien. Ein überregionales Sportmagazin veröffentlichte seine Geschichte und brachte seinen makellosen Körper auf die Titelseite. Jetzt zahlte es sich aus, dass er neben seinem Wirtschaftsstudium schon immer viel Sport getrieben hatte und aus einem diskussionsfreudigen Elternhaus kam. Er sah nicht nur gut aus, er war auch schlagfertig und konnte locker und unterhaltsam über die unterschiedlichsten Themen reden.

Plötzlich war er der angesagteste Student im Lande. Verblüfft stellte er fest, dass man ihm viel Geld für seine Fotos und seine Meinung bot. Es dauerte nicht lange und sein Konto zeigte nicht mehr das übliche Minus, sondern einen beträchtlichen Überschuss.

»Wir sind reich, Vally! Komm, lass uns ausgehen. Ich lade dich ein. Du musst auch nicht das Billigste auf der Speisekarte bestellen.«

Alex fand Gefallen am Ausgehen und an der Leichtigkeit des Geldausgebens, während Valerie den plötzlichen Ruhm und Reichtum ihres Freundes misstrauisch beobachtete.

»Aber ehrlich Vally, ich habe keine Ahnung, was die Pressefuzzis von mir wollen. Du müsstest eigentlich im Fokus stehen. Du bist doch die Schönere von uns beiden.«

»Du hast etwas, das man fotogen nennt, mein Schatz! Die Kameras lieben dein Gesicht. Die Fotografen machen etwas aus dir, dass beim Betrachter, besonders bei den Frauen, der Wunsch entsteht, mit dir zusammen sein zu wollen.«

Alex leuchteten die Erklärungen nicht ein, aber wenn es denn seinen Lebensstil verbesserte, dann nahm er es gerne hin.

Es zeigte sich bald, dass er viel Zeit für Fotoshootings brauchte und dass er Valerie häufig alleine ließ. Der Ehrgeiz hatte ihn gepackt.

Valerie war gekränkt. So hatte sie sich ihr Leben mit Alex nicht vorgestellt. Selbst an den Wochenenden war er viel unterwegs. Dass er sein Studium vernachlässigte, war ihm unangenehm, aber das Versäumte könne er leicht in den Semesterferien nachholen, sagte er sich.

Mit der Zeit kam Alex in den Dunstkreis der Münchner Schickeria und war rasch geblendet vom Glanz und Glamour dieser Welt. Machtlos musste Valerie erkennen, dass er von der Welt der Reichen und Schönen angezogen wurde wie eine Motte vom Licht, während sie selbst keinen Zugang zu diesen Leuten fand. Mit der Anziehungskraft dieser Menschen konnte sie nicht konkurrieren. Alex hatte kaum mehr Zeit für sie. Sie wurde zur Bittstellerin bei ihm, eine Rolle, die sie erniedrigend fand.

»Wann bist du letzte Nacht nach Hause gekommen? Bleib doch ganz bei deinen reichen Freunden! Bei uns findest du es wahrscheinlich nicht mehr glamourös genug. Liebst du mich eigentlich noch?« Valerie war frustriert.

Alex war von ihren Vorwürfen genervt. »Natürlich liebe ich dich. Aber ich muss jetzt meine Chance nutzen. Wer weiß, wann meine Glückssträhne wieder vorbei ist. Die Götter sind unberechenbar.«

»Du hast eine andere«, sagte ihm Valerie eines Tages auf den Kopf zu.

Überrascht zögerte Alex eine Sekunde zu lange mit der Antwort. Valerie wurde klar, dass sie ihn verloren hatte. Der Traum von einer gemeinsamen Zukunft war geplatzt. Sie war tief verletzt.

»Geh mir aus den Augen! Zieh zu deiner neuen Freundin!«

Es dauerte lange, bevor Valerie ihre Enttäuschung überwunden hatte. Niemals, schwor sie sich, niemals mehr würde sie sich so naiv auf eine Beziehung einlassen.

Nach dem Studium kam Valerie nach Frankfurt zurück und nahm dort eine Stelle als Übersetzerin an. Mit der neuen Familie ihres Vaters pflegte sie ein freundschaftliches, aber distanziertes Verhältnis. Und obwohl sie wusste, dass es falsch und dumm von ihr war, konnte sie ihrem Vater nicht verzeihen, dass sie nicht mehr der Mittelpunkt seines Lebens war.

Hin und wieder hatte sie Beziehungen zu Männern, manchmal dauerten sie Jahre, aber die meisten endeten nach Monaten. Woran sie scheiterten, sie wusste es nicht und tröstete sich damit, dass der Richtige noch kommen würde.

Als sie Felix traf, hatte sie einige Zeit die Illusion, er könne der Richtige sein, aber sein schwieriger Charakter ließ sie bald daran zweifeln. Seine Schwäche für Alkohol und das daraus folgende aggressive Verhalten, auch ihr gegenüber, hielten sie davon ab, ernsthafte Zukunftspläne mit ihm zu schmieden.

Felix hingegen war vom ersten Tag des Kennenlernens von ihr besessen. Er liebte sie mit allen Fasern seines Herzens. Deswegen hatte er sich die ersten Monate sehr zusammengenommen, hatte wenig getrunken und sich in rhetorischer Zurückhaltung geübt. Aber auf Dauer konnte er seinen wahren Charakter nicht unterdrücken. Es gab harten Streit und leidenschaftliche Versöhnungen. Ein Karussell der Gefühle. Er machte ihr Angst. So wollte sie nicht leben. Eines Tages würde sie ihn verlassen, das stand für sie fest. Die letzten turbulenten Wochen hatten ihre Absicht noch verstärkt. Aber der geeignete Moment für eine Aussprache hatte sich bisher nicht ergeben. Jeder noch so harmlose Hinweis, dass sie sich von ihm trennen könnte, hatte ihn zur Raserei getrieben. Stundenlang konnte er sie mit seinen Verdächtigungen bis zur völligen Erschöpfung quälen. Sie musste sich unbedingt aus diesem toxischen Verhältnis befreien. Ohne sein Wissen hatte sie alte Freunde getroffen. Schon die Tatsache, dass sie ihm das verheimlichte, zeigte ihr, wie wenig vertrauensvoll sie miteinander umgingen.

Diesen Gedanken hing sie nach, als sie sah, wie Felix plötzlich die Felsen herunterrutschte. Schützend legte sie ihre Arme über das Gesicht.

Leichenblass sackte er vor ihr auf die Knie, zog ihr behutsam die Arme aus dem Gesicht und schaute sie verzweifelt an. »So weit hat es kommen müssen«, flüsterte er. Dann legte er sich neben sie, nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen. Aus ihren geschlossenen Augen lösten sich Tränen. Er drehte sich seitlich zu ihr, legte seinen Arm unter ihren Kopf und zog sie an sich. Trotz der Schmerzen wandte Valerie sich ihm zu. Bedrückt küsste er ihr die Tränen von den Wimpern. Sie sah in sein Gesicht. Er klammerte sich an sie und murmelte immer wieder: »Meine Süße, meine Süße, ich liebe dich doch, du meine einzige Liebe.«

Lange lagen sie nebeneinander, die Hände ineinander verflochten. Er schaute sie an. Das geliebte Gesicht. Was hatte er getan? Er hatte sie einfach fallen lassen. Keinen Finger hatte er gerührt, um sie vor dem Sturz zu bewahren. Das würde sie ihm nie verzeihen und er sich selbst auch nicht. Er hatte ihren Tod billigend in Kauf genommen. Was hatte ihn dazu gebracht? Er wusste es. Sie hatte ihn dazu getrieben. Mit ihrem Hochmut, ihrer Gleichgültigkeit seinen Gefühlen gegenüber. Weil sie sich langweilte und mit ihm spielte und ihm etwas vorgaukelte, von dem sie nicht vorhatte, es jemals einzulösen.

Valerie liebte die geschliffenen Auseinandersetzungen mit Felix, ihre wilden Wortspiele, bei denen sie sich Dinge vorstellten, die jeglicher Realität entbehrten, aber ihre Sinne anstachelten. Es gab keinen anderen, mit dem sie die Sprachakrobatik so perfekt zelebrieren konnte. Ja, sie hatte ihm das Gefühl geben, dass er der Einzige in ihrem Leben war. Das war er aber nicht. Sie war eine gute Hüterin ihrer Geheimnisse. Nie hatte sie ihm gegenüber Andeutungen gemacht, dass er nicht der einzige Gast in ihrem Garten der Liebe war.

Das war erst herausgekommen, als sie gestern unabsichtlich ihr Handy auf dem Tisch eines Straßencafés liegengelassen hatte, weil sie überstürzt die Toilette aufsuchen musste. Obwohl sie es stumm geschaltet hatte, sah Felix das plötzliche Aufleuchten des Displays und den kurz auftauchenden Text einer WhatsApp-Nachricht, die mit drei knallroten Kuss-Emojis garniert war. »Freu mich auf dich und deinen sexy Body«, stand da. Neugierig hatte er das Gerät in die Hand genommen. Alexander Bell hieß der Absender. Das Blut schoss ihm ins Gesicht. Sie betrog ihn! Und er Trottel war sich ihrer so sicher gewesen. Nie hätte er vermutet, dass sie ihn hinterging. Blicklos starrte er in den wolkenlosen Himmel der Algarve. Sein nächster Gedanke war, wie leichtsinnig sie gewesen war, ihr Handy so offen auf dem Tisch liegen zu lassen.

Mit einem strahlenden Lächeln kam Valerie zurück, sah den Text auf dem Handy, warf einen Blick auf sein versteinertes Gesicht, setzte sich hin und straffte die Schultern. »Es ist nicht so, wie es aussieht.« Sie sah ihm fest in die Augen und nahm das Handy an sich. »Nein, das ist mein schwuler Freund Alex. Wir wollten uns nach meiner Reise in Frankfurt treffen.«

Wie dreist sie log. »Eine dümmere Erklärung hättest du dir nicht ausdenken können. Und dann schickt er dir drei Küsse und schreibt ›dein sexy Body‹. Lass mich mal den Rest des Textes lesen. Für wie einfältig hältst du mich eigentlich?«

Er griff nach dem Handy und wollte es ihr entreißen, doch Valerie war schneller und ließ es in ihrer Handtasche verschwinden.

Abrupt stand er auf und ging, ohne zu zahlen. Hastig beglich sie die Rechnung und folgte ihm. Als sie versuchte, sich bei ihm einzuhängen, stieß er sie so heftig von sich, dass sie fast zu Boden stürzte. »Felix, warte doch, lass uns darüber reden.«

»Was gibt es da zu reden, Valerie? Es ist aus! Lass mich in Ruhe!«

Wütend stürmte er voran, dass sie kaum Schritt halten konnte.

»Wo willst du denn hin?«

»Zurück ins Hotel.«

Im Zimmer führte sein Weg direkt zur Minibar. Dort griff er sich ein Bier und irgendeines der kleinen Fläschchen mit Hochprozentigem und stürzte beides in kürzester Zeit hinunter. Dem folgten ein weiteres Bier und ein Whisky.

»Setz dich hin«, herrschte er sie an und drückte sie in einen Sessel. »Seit wann geht das?«

»Was meinst du?«

»Tu nicht so! Seit wann geht das schon mit diesem Alexander? Und liebst du ihn? Denn dass du mit ihm rumvögelst, das kann man ja aus seiner Nachricht herauslesen.«

»Du bist ja betrunken. So können wir uns nicht unterhalten.«

»Ich bin nüchtern genug, um mir deine Lügengeschichten anzuhören.« Er ging drohend auf sie zu und packte sie fest am Arm.

»Wie lange kennen wir uns? Über ein Jahr. Wie kommt es, dass ich dachte, ich bin der einzige Mann in deinem Leben?«

»Du bist doch der einzige. Das mit diesem Alex war nur eine kurze Affäre.« Sie löste seine Hand, rieb sich den schmerzenden Arm und erhob sich aus dem Sessel.

»Wo willst du hin? Du bleibst hier und erzählst mir, was es mit diesem Alex auf sich hat.«

»Ich will mir auch was zum Trinken holen.«

Sein harter Blick verfolgte jede ihrer Bewegungen.

Was sollte Valerie ihm sagen? Dass sie ihm nicht die Wahrheit erzählen konnte, war klar. Aber welche Version war die harmlosere, die er schlucken konnte? Sie hatte eine Mordswut auf Alex. Dieser dumme Kerl! Hatte sie ihm nicht gesagt, dass sie während ihres Urlaubs, in der sie mit Felix unterwegs war, keine Nachrichten von ihm empfangen wollte. Warum nur hatte sie seine Nummer nicht blockiert? Wie kam sie aus dieser Geschichte wieder heraus? Sie zermarterte ihr Gehirn, mit welchen glaubhaften Schwindeleien sie sich aus der Affäre ziehen könnte.

»Seit wann geht das mit dir und diesem Alex und wo hast du ihn kennengelernt? Und lüg mich nicht an!« Er blickte sie drohend an, dass sie die Mordlust in seinen Augen schimmern sah.

»Da gibt es nichts zu erzählen.«

Doch Felix setzte ihr so zu, dass es ihm gelang, die Affäre mit Alex Stück für Stück aus ihr herauszuquetschen.

Zu ihrer größten Überraschung hatte Alex sie vor einigen Wochen angerufen. Ihre erste große Liebe während ihrer Studienzeit in München. Seit ihrer Trennung wegen seiner Untreue hatte sie nie mehr von ihm gehört. Valerie hatte alle seine Versuche, den Kontakt mit ihr zu halten, rigoros abgeblockt.

»Vally, erinnerst du dich noch an mich? Hier ist Alexander.«

Valerie, die gerade bei der Übersetzung eines englischen Buches mit sich und dem Autor des Werkes haderte, fiel fast vom Stuhl. Alex nach so vielen Jahren.

»Vally, wir müssen uns unbedingt sehen. Ein Projekt meiner Firma wird mich ein paar Monate in Frankfurt beschäftigen und da dachte ich, es wäre doch schön, wenn wir uns mal wiedersehen könnten. Lass uns das Vergangene vergessen.«

Bei Valerie wechselten sich Wut und Neugier ab. Wut auf seine Frechheit, dass er es wagte, sie überhaupt anzurufen, und Neugier, was aus ihm geworden war. Sollte sie sich wirklich mit ihm treffen?

»Wie hast du mich eigentlich gefunden?«

»Über deine Freundin, mit der du in München in der WG gewohnt hast.«

So kam es, wie es nicht hätte kommen sollen. Die Neugier war stärker als die Wut. Sie trafen sich an der Bar seines Hotels. Es knisterte noch zwischen ihnen. Mindestens fünfzehn Jahre waren inzwischen vergangen. Sie hatten ihnen beiden nicht geschadet. Eine seltsame Vertrautheit schlich sich in ihre Herzen. Nur zwei Cocktails später lagen sie sich in den Armen.

Kurz vor Mitternacht verließ Valerie sein Hotelzimmer und fragte sich, auf welche Torheit sie sich da eingelassen hatte.

»Ich melde mich bei dir«, rief er ihr nach.

Schuldbewusst fuhr Valerie mit einem Taxi nach Hause. Vom Feuer der ersten Liebe hatte sich noch eine leichte Glut über die Zeit gerettet. Niemals durfte Felix von dieser Geschichte erfahren.

Felix war ein Mann, der ihr jeden Wunsch von den Lippen ablesen konnte, wenn er wollte, und mit ihr ein durchaus zufriedenstellendes Liebesleben hatte. Nie hätte sie sich vorstellen können, dass sie neben ihm noch einen anderen Liebhaber haben könnte. Aber Alex, ihr Freund aus Studienzeiten, so könnte sie Felix sagen, hätte sie in einem schwachen Moment überrumpelt. Sie wäre da in etwas hineingestolpert, das sie gar nicht gewollt hatte. Denn damals, als es zwischen ihr und Felix zu einer Funkstille wegen irgendeines unnötigen Streits gekommen war und sie für Tröstungen offen war, da, genau in den Tagen kam es zum Wiedersehen mit Alex. Ja, so könnte sie ihm die Schuld an ihrem Seitensprung sogar noch in seine eigenen Schuhe schieben.

All das ging ihr durch den Kopf, als Felix neben ihr auf dem Haufen Tang lag und sein unverzeihliches Handeln zutiefst bereute. Aber dass er sie nicht vor dem Sturz bewahrt hatte, blieb wie ein vergifteter Stachel in ihrem Herzen stecken.

Schließlich half Felix ihr beim Aufstehen. Er drückte sie so fest an sich, als wolle er sie niemals mehr loslassen. Eine seltsam melancholische Stimmung umfing sie. Bei Valerie verstärkten sich die Zweifel an einer gemeinsamen Zukunft. Sie war zutiefst verstört wegen seiner unterlassenen Hilfeleistung. Bei dem Sturz hätte sie sich auch den Hals brechen können. Das hatte er billigend in Kauf genommen. Es war diese rücksichtlose Seite von Felix, die sie davon abhielt, ihn vorbehaltlos zu lieben und der Grund, warum sie seit einiger Zeit auch manchmal anderen Männern hinterher sah.

Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie ihre erste gemeinsame Nacht in einem Hotel im Taunus verbracht hatten. Schon damals war ihr seine Eifersucht aufgefallen, aber dieser übertriebene Besitzanspruch hatte ihr als Zeichen seiner großen Verliebtheit geschmeichelt.

Nach einem Abendessen mit viel Alkohol war Valerie mitten in der Nacht in absoluter Dunkelheit aufgewacht. Sie musste auf die Toilette. Hektisch suchte sie den Schalter der Nachttischlampe. Vergeblich! Bei ihrer Suche ertastete sie den warmen Körper ihres Begleiters. Sie war also nicht allein. Ihr Freund musste bei ihr sein. In ihrem benebelten Gehirn herrschte absolute Amnesie. Weder erinnerte sie sich an den Namen des Mannes, der neben ihr im Bett lag, noch wie das Hotel hieß, in dem sie die Nacht verbrachten und schon gar nicht, warum sie hier waren.

Die blickdichten Gardinen ließen keinen noch so winzigen Lichtschein ins Zimmer. Ihr Handy war vermutlich in ihrer Handtasche, von der sie nicht wusste, wo sie lag. Keine Möglichkeit, sich zu orientieren. Sie wurde panisch, ihr war übel, sie musste dringend auf die Toilette. Wenn ihr doch nur der Name ihres Freundes einfallen würde.

Sie konnte nicht länger warten. Heftig rüttelte sie ihn am Arm und rief: »Uli, Klaus, Alex, Felix.« Und weil er nicht sofort reagierte, rief sie noch einmal die Namen in der gleichen Reihenfolge. Dann fiel ihr sein Name wieder ein. Felix, er hieß Felix.

Felix, unsanft geweckt durch ihr Geschrei, fiel vor Schreck aus dem Bett, stieß mit dem Kopf gegen die Minibar, rappelte sich mühsam auf und knipste schließlich das Nachtlicht an.

Endlich konnte sie ins Bad. Mein Gott, war ihr schlecht! So viel Alkohol und so wenig gegessen. Und bei dem wenigen Essen war zu viel Spinat dabei gewesen. Sie erbrach sich in die Kloschüssel. Dunkelgrün, eigentlich eine schöne Farbe, stellte sie fest, wenn ihr nur nicht so speiübel wäre. Sie spülte sich den Mund und ekelte sich vor dem pelzigen Belag auf der Zunge. Widerlich! Sie kletterte zurück ins Bett, in dem Felix jetzt aufrecht saß und sie anstarrte.

»An so viele Männer erinnerst du dich noch fast im Schlaf?«

Valerie, die inzwischen ihre Vergesslichkeit abgeschüttelt hatte, wurde sich der Komik der Szene bewusst und fing an zu lachen. Es war ihr erster gemeinsamer Aufenthalt in einem Hotel und sie hatten sicher zu viel getrunken. Natürlich war es ihr peinlich, in seiner Anwesenheit, wenn auch hinter einer geschlossenen Toilettentür, sich übergeben zu müssen. So lange waren sie noch nicht zusammen, dass es sie gleichgültig ließ. War es ein Problem für ihn, dass ihr sein Name nicht gleich eingefallen war? Sie fand es einfach nur witzig. Wieso ihr auch die Vornamen von ihren beiden Brüdern eingefallen waren, wusste sie nicht.

»Felix, gib mir mal die Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Meine Kehle ist so trocken wie die Wüste Gobi. Außerdem habe ich einen ganz schlechten Geschmack im Mund.« Valerie konnte ein Kichern nicht unterdrücken.

»Sag mal, könnte es sein, dass du neben mir noch andere Männer triffst? Mit der Leichtigkeit, wie du die Namen der Männer aus dem Ärmel geschüttelt hast, müssen sie dir sehr geläufig sein.«

Valerie trank gierig aus der Wasserflasche. Sie fand die ganze Situation so verrückt und aberwitzig, dass sie wieder lachen musste.

Felix konnte ihrem Lachanfall nichts abgewinnen.

»Lass uns morgen darüber sprechen. Jetzt will ich nur noch schlafen. Ich bin hundemüde. Mir ist noch immer ein wenig übel. Ich hätte den Spinat nicht essen sollen.«

Mit diesen Worten wickelte sie sich in die Bettdecke und fiel augenblicklich in einen tiefen Schlaf.

Felix aber fühlte den scharfen Stachel der Eifersucht und konnte längere Zeit kein Auge schließen. Was trieb diese Frau, wenn er nicht mit ihr zusammen war? Vergeblich versuchte er, Valerie vom Schlaf abzuhalten und sie in ein Gespräch zu verwickeln. Sie war ihm entglitten und schlief fest in Morpheus’ Armen. Morgen früh würde er sich Valerie zur Brust nehmen. Er hasste es, wenn er Zweifel an seiner Alleinstellung haben musste.

Kapitel 2

Vier Uhr morgens. Mit offenen Augen lag Kommissar Khalil Saleh im Bett. Vom vielen Drehen und Wenden war sein Bettlaken schon stark zerknittert. Lag er auf dem Bauch, drückten ihn die Hüftknochen, lag er auf dem Rücken, konnte er erst recht nicht schlafen, und in der Seitenlage, egal ob links oder rechts, meinte er keine Luft zu bekommen. Immer um diese Zeit kamen ihm seit ein paar Wochen die schwärzesten aller schwarzen Gedanken, die ihn daran hinderten, direkt wieder in einen tiefen Schlaf zu versinken und den begonnenen Traum nahtlos weiterzuführen. Er seufzte tief, woraufhin seine hellhörige Frau Brigitte sich ebenfalls regte. Sofort stellte er sich tot. Auf keinen Fall wollte er sie wecken und schon gar nicht um diese Zeit mit ihr diskutieren. Zu spät, sie drehte sich zu ihm um und tätschelte ihn leicht am Arm. Er blieb bei seiner Totenstarre. Jetzt nur keine Gespräche, die ihn noch mehr aufregten.

Sie legte vorsichtig das Deckbett zur Seite, stand auf und ging in völliger Dunkelheit zur Toilette. Er wunderte sich, mit welch schlafwandlerischer Sicherheit sie allen Hindernissen auswich, ohne jemals anzustoßen. Dabei hatte sie sogar die Augen geschlossen, wie sie ihm einmal sagte. Vermutlich war seine geliebte Frau in einem früheren Leben eine Fledermaus gewesen, deren Art sich mittels Ultraschalls orientiert. Brigitte kam zurück, legte sich geräuschlos ins Bett, schaute noch einmal in der Dunkelheit zu ihm herüber, zog die Bettdecke über den Kopf und schlief gleich wieder ein. Er merkte es am regelmäßigen Ein- und Ausatmen, wobei er sich wunderte, wie sie überhaupt Luft bekam, nachdem sie den ganzen Kopf bedeckt hatte und wie üblich nur einen winzigen Schlitz für Mund und Nase offenließ. Beneidenswert, mit welcher Leichtigkeit sie von einer Minute auf die andere in einen anderen Bewusstseinszustand glitt.

Seine angespannten Muskeln schmerzten, als er es wagte, seinen Körper zu bewegen. In dem verstörenden Traum, der ihn vorhin abrupt hatte aufwachen lassen, hatte er mitansehen müssen, wie sein Schwager Omar, der demnächst wegen heimtückischen Mordes vor dem Oberlandesgericht Frankfurt angeklagt werden sollte, sich in einer Verhandlungspause unbemerkt aus einem Fenster der Toilette abgeseilt und dann aus dem Staub gemacht hatte. Er sah noch, wie Omar die Füße auf die Straße setzte und sich dann im Gewimmel einer Demonstration von Klimaschützern verlor.

Beim Aufwachen fiel Khalil in aller Klarheit wieder ein, welche plumpen Fehler er bei seinem letzten Fall begangen hatte. Wie hatte er nur glauben können, ungestraft davonzukommen, wenn er als Kommissar bei Verbrechen in der eigenen Familie selbst ermittelte? Er hatte Beweismittel unterschlagen und in seinem Eifer, den Mörder seines Vaters zu finden, völlig verblendet weiterermittelt, obschon er recht früh wusste, dass er befangen war. Dabei waren seine Ermittlungen völlig unnütz, denn es stellte sich bald heraus, dass nicht der von ihm verfolgte Mann der Täter war, sondern sein eigener Schwager Omar, der Khalils Vater kaltblütig im Swimmingpool des Hilton Hotels ermordet hatte. Ausgerechnet dort, wo er gerade seine eigene Hochzeit mit Brigitte und seiner zahlreichen Verwandtschaft aus Frankfurt und Jordanien feierte. Die Auflösung des Verbrechens war für ihn selbst die größte Überraschung. Nie hätte er geglaubt, dass sein eigener Schwager zu solch einer Bluttat fähig gewesen wäre.

Auf der Suche nach der idealen Schlafposition drehte sich Khalil noch einmal um die eigene Achse. Dabei wurde er immer munterer, besonders als er sich in Erinnerung rief, wie seine Chefin, Polizeipräsidentin Annalene Waldau, ihm eine scharfe Rüge wegen seines Alleingangs und der offensichtlichen Vertuschung seiner Befangenheit erteilte und ihn dann rigoros kaltgestellt hatte. In seiner ganzen Zeit bei der Polizei hatte ihn keine Maßregelung schwerer getroffen.

Um den immer sinnloser werdenden inneren Film zu stoppen, erzwang er einen kompletten Reset seiner Gedanken und konzentrierte sich auf die erfreuliche Aussicht des kommenden Urlaubs mit Brigitte in der portugiesischen Algarve. Sommer, Sonne, blaues Meer. Sorgloses Strandleben mit Baden, Schnorcheln und gutem Essen in kleinen Lokalen am Meer. Sosehr er auch seine Fantasie bemühte, die im Hintergrund weiterlaufenden Bilder seines polizeilichen Versagens überschatteten seinen Traum von einem perfekten Sommerurlaub. Es dauerte noch eine ganze Stunde, bevor sein rastloses Hirn ein Einsehen hatte und ihn in einen unruhigen Schlaf entließ, ehe er sich am Morgen aus dem Bett quälte.

»Schatz, hast du gut geschlafen?«, fragte ihn Brigitte. »Lass uns eine Tasse Kaffee zusammen trinken.«

»Ja, ganz gut«, log Khalil. »Mach mir doch bitte einen extrastarken Kaffee, damit ich wach werde.«

»Du siehst übernächtigt aus. Hast du schlecht geträumt?«

Khalil wollte jetzt keine Erörterung der Gründe für seine schlaflosen Nächte. »Jede Menge sinnloser Träume, die bei

Tageslicht wie Seifenblasen zerplatzen.«

»Du machst dir viele Gedanken um deine Arbeit, nicht wahr?«

»Möglich, ich weiß nicht. Ist der Kaffee schon fertig?« Brigitte reichte ihm den Kaffee. Gerne hätte sie Khalil in den Arm genommen, aber seine abweisende Miene sagte ihr, dass er jetzt dafür nicht empfänglich war.

»Mach’s gut, mein Schatz, bis heute Abend. Wir müssen uns noch um einige Sachen für unsere Reise in die Algarve kümmern.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und verließ die Wohnung.

Kapitel 3

Nervös griff Kommissar Khalil Saleh in die Innentasche seines Jacketts. Die Tickets waren da. Wo aber war seine Frau? Sie stand hinter ihm und deutete auf eine Tür, die zu einer Damentoilette führte. Sie hatten noch genügend Zeit, er konnte sich setzen. Als er sich nach einer Weile umdrehte, sah er, wie Brigitte zusammen mit einem Mann die Damentoilette verließ. Die beiden lachten so laut, dass es nicht nur ihm auffiel. Glucksend vor Lachen ließ sich Brigitte auf dem Sitz neben ihn fallen.

»Was ist, warum lachst du so? Und warum kommt der Mann mit dir zusammen aus der Damentoilette?« Khalil wandte sich erstaunt an Brigitte.

»Das ist ja das Witzige. Der Mann hatte sich in die Damentoilette verirrt und mich angemacht, was ich dort zu suchen habe. Es hat ein bisschen gedauert, bis er verstand, dass es nicht die Herrentoilette war. Ich glaube, er hatte schon etwas getrunken. Er erzählte mir von seiner quälenden Flugangst und dass er nur mit einem gewissen Alkoholpegel in ein Flugzeug steigen könne. Schließlich konnte ich ihn davon überzeugen, dass er in der Damentoilette war. Darum mussten wir beide so herzhaft lachen.«

Khalil warf einen kurzen Blick auf den verwirrten Mann und einen längeren auf seine Frau Brigitte. Seine Frau! Noch immer fiel es ihm nicht leicht, von Brigitte als seiner Frau zu sprechen. Sie hatten erst vor einigen Wochen geheiratet und wollten jetzt ihre Flitterwochen in der portugiesischen Algarve verbringen. Ausruhen, nach all dem Chaos der letzten Wochen, dem Ärger im Polizeipräsidium und der Tragödie in seiner Familie. Ja, es war gut, dass er mit Brigitte Abstand von dem Drama zuhause nehmen konnte.

Der Aufruf zum Boarding ertönte. Sie erhoben sich, zeigten dem Personal ihre Bordkarten und folgten den anderen Passagieren in das Flugzeug.

Brigitte hatte auf einem Fensterplatz bestanden, weil sie gerne die Erde von oben betrachten wollte. Khalil war es egal, wo er saß. Sie deutete auf eine Person zwei Reihen vor ihnen.

»Da sitzt der Mann, mit dem ich beinahe die Toilette geteilt hätte«, sagte sie augenzwinkernd, »und die Frau an seiner Seite muss wohl zu ihm gehören. Er hat anscheinend vor dem Abflug schon ziemlich viel getrunken. Seine Stimme klang verwaschen und seiner Begleitung schien die Situation etwas peinlich zu sein.«

Khalil reckte den Kopf und erkannte den Typ von vorhin wieder. Ein ganz normales Pärchen. Aber was ging es ihn an? Er hatte andere Sorgen. In seinem Kopf lief seit vielen Tagen ein Film ab, der ihm immer wieder die Bilder seines Versagens vor Augen führte.

Seine oberste Chefin, die Frankfurter Polizeipräsidentin, hatte ihm dringend geraten, seinen Urlaub vorzuziehen. Er solle sich von den schlecht gelaufenen Ermittlungen des letzten Mordfalles erholen. Wegen der Verstrickung seiner Familie in einen Zweifachmord war es zu einem eklatanten Fehlverhalten seinerseits gekommen. Dafür hatte sie ihn, noch während die Ermittlungen liefen, schwer gemaßregelt. Seinem Ego war das nicht gut bekommen. Lange hatte er überlegt, ob er sich in eine andere Stadt versetzen lassen sollte. Das ganze Präsidium wusste über das Drama in seiner Familie Bescheid. Einer der Auslöser des tragischen Geschehens war sein eigener Vater, der zusammen mit seiner Mutter, die ebenfalls Ärztin war, eine gutgehende Gemeinschaftspraxis im Zentrum von Frankfurt führte.

Zum Kummer seiner Frau Leyla hatte er sich Hals über Kopf in die gemeinsame Sprechstundenhilfe verliebt und wollte sich von seiner Frau scheiden lassen, damit er seine Geliebte heiraten konnte. So weit war es allerdings nicht gekommen, da sowohl sein Vater als auch dessen Geliebte vorher ermordet wurden. Und dennoch hatte Khalil seinen Vater immer gemocht und vermisste ihn sehr. Mit seiner Mutter hingegen hatte er von dem Moment an Probleme gehabt, als er ihr mitteilte, dass er seine deutsche Freundin Brigitte heiraten wolle.

»Was soll das, Khalil? Es gibt so viele gutaussehende muslimische Frauen. Warum willst du unbedingt eine Deutsche heiraten? Sie ist nicht aus unserem Kulturkreis. Du wirst immer Probleme mit ihr haben.«

»Mutter, lass es endlich sein. Ich heirate Brigitte. Davon wirst du mich nicht mehr abbringen.«

Sie hatte seine Heiratsabsichten von Anfang an abgelehnt und nichts unversucht gelassen, Brigitte schlechtzumachen. Seitdem war ihr Verhältnis etwas distanziert.

Schließlich hatte er sich an die Polizeipräsidentin gewandt und sie um Versetzung in ein anderes hessisches Polizeipräsidium gebeten. Wiesbaden oder Darmstadt seien ihm recht. Annalene Waldau sah das Elend in seinen Augen und erinnerte sich daran, dass sie vor gar nicht allzu langer Zeit einen Anflug von Zuneigung für ihn empfunden hatte. Er war ein attraktiver Mann und sehr guter Ermittler.

»Sie haben in letzter Zeit viel mitmachen müssen und ich kann verstehen, dass Ihnen unter den gegebenen Umständen der Dienst hier im Frankfurter Präsidium nicht leichtfällt. Aber Sie sind auch ein sehr fähiger Polizist und ich würde Sie nur sehr ungern ziehen lassen. Im Gegenteil, ich würde alles tun, damit Sie weiterhin bei uns in Frankfurt blieben.« Strahlend schaute sie ihn an. In ihrer Stimme schwang eine gewisse Wärme mit.

Khalil meinte nur fatalistisch: »Jeder hier im Haus weiß, was mit meiner Familie passiert ist. Das belastet mich. Ich kann diesen Leuten nicht mehr unbefangen gegenübertreten.«

Er hatte recht. Natürlich dachte jeder, der ihn kannte, sofort an die verstörenden Ereignisse während seiner Hochzeitsfeier im Hilton, den grausamen Tod seines Vaters im Swimmingpool des Hotels und den Mord an dessen Geliebter. Was könnte sie ihm noch anbieten, um ihn zu halten? Vielleicht eine andere wichtige Aufgabe, um seine Position aufzuwerten?

»Ich glaube, das Beste wird sein, Sie fahren mit Ihrer Frau erst einmal in die Flitterwochen und versuchen das Ganze so weit wie möglich zu vergessen. Vielleicht kann ich Sie nach Ihrer Rückkehr für einen neuen Posten bei uns im Präsidium vorschlagen. Ich weiß, dass unser Pressesprecher demnächst in den Ruhestand geht. Wäre das nicht ein guter Job für Sie?«

Khalil hob den Kopf und schaute verständnislos in die erwartungsvollen blauen Augen seiner Chefin. Nein, das könne er sich überhaupt nicht vorstellen. Dafür war er überhaupt nicht ausgebildet.

»Denken Sie darüber nach. Mir ist schon immer aufgefallen, wie gut Sie die Kriminalfälle bei Pressekonferenzen darstellen konnten. Das kann nicht jeder. Aus dieser Begabung sollten Sie was machen. Vielleicht könnten Sie noch eine Zusatzausbildung in diese Richtung machen.«

Khalil wies alles ab. Er sei mit Leib und Seele Polizist und könne sich nichts anderes vorstellen. Außerdem wäre er dann weiterhin im selben Präsidium.

»Khalil, Liebster, was ist denn? Du machst so ein finsteres Gesicht.« Brigitte fasste Khalil am Arm und schaute ihn fragend an.

»Ach, ich war nur in Gedanken. Du hast Glück. Bei dem Sonnenschein hast du einen tollen Blick auf unsere wunderschöne Erde.«

Brigitte wusste genau, was ihren Mann umtrieb. Sie hatten schon mehrfach über die Möglichkeit einer Versetzung diskutiert, wenn er glaubte, die Situation in Frankfurt nicht mehr ertragen zu können.

Aber jetzt wollten sie doch ihren Urlaub, ihre Flitterwochen genießen. Sie drückte seinen Arm und küsste ihn auf die Wange. »Alles wird gut, mein Schatz.«

Am Flughafen in Faro begrüßte sie ein frischer Wind. Es war Juni und der Himmel von einem stählernen Blau, das noch keinen Gedanken an die Hitze des Sommers zuließ.

Beim Aussteigen aus dem Flieger fiel ihnen das Pärchen auf, das vor ihnen gesessen hatte. Der Mann schwankte sichtbar. Seine attraktive Begleiterin hatte ihn fest untergehakt und steuerte ihn zur Gepäckausgabe. Sie hörten, wie sie ihn scharf ermahnte, sich nicht so auffällig zu benehmen, sie schäme sich für ihn. Ihm schien es egal zu sein.

Am Flughafen wartete ein Shuttlebus auf sie und brachte sie, zusammen mit anderen Gästen, in ihr Hotel in dem nahegelegenen Badeort Praia da Rocha.

Nachdem sie die Koffer ausgepackt hatten, gingen sie zur Rezeption, ließen sich ein paar Prospekte über das Hotel und die Umgebung geben und setzten sich in das luftige Café des Hotels, das inmitten eines blühenden Gartens lag.

»So warm ist es hier an der Atlantikküste nicht. Ob wir hier baden können, das werden wir die Tage sehen«, meinte Khalil zweifelnd. »Die Temperaturen sind noch etwas niedrig. Der Wind nimmt der Sonne die Kraft. Wer weiß, ob du deinen schönen neuen Bikini überhaupt anziehen kannst.«

»Ich habe mir noch in Frankfurt die Wetterkarte für die Algarve angesehen. In den nächsten Tagen soll es wärmer werden. Der neue Bikini wird auf jeden Fall hier eingeweiht werden.«

Kapitel 4

Khalil und Brigitte machten noch einen Spaziergang durch den Ort, bevor sie sich zu ungewohnt später Stunde in einem Lokal zum Abendessen niederließen. Das Angebot war so verführerisch, dass sie mehr auf ihre Teller häuften, als ihnen guttat. Schließlich erhoben sie sich mit übervollen Mägen, um noch ein paar Schritte zur Verdauung auf der Promenade zu gehen. Bald lockte sie jedoch eine an der Straße liegende Bar mit brasilianischer Sambamusik.

»Lass uns hier noch etwas trinken, bevor wir ins Hotel zurückkehren.« Khalil brauchte jetzt einen Drink. Seit dem Geschehen auf seiner Hochzeitsfeier waren seine Nächte kurz. Meistens schlief er zügig ein, aber gegen vier Uhr früh wachte er häufig auf und dann drehten sich seine Gedanken in einer unaufhörlichen Spirale, die er nicht stoppen konnte, und zeigten ihm Bilder, die er nicht sehen wollte. Seine hohlwangige Schwester Fatma, deren Augen in dem schmaler werdenden Gesicht immer größer und verzweifelter leuchteten. Ihr eigener Mann ein Mörder, der ihren Vater umgebracht hatte. Die Mutter zwischen Genugtuung und Verzweiflung, dass der untreue Mann ihr wenigstens nicht mehr die Schmach einer Scheidung und der Heirat mit der jungen Deutschen antun konnte. Auf der anderen Seite die Zerstörung der einstmals intakten Familie Saleh. Alle drei hatten noch nicht wieder den vertrauten Umgang miteinander gefunden.

»Was wollen wir denn trinken?« Brigitte hatte einen schönen Platz an der Bar gefunden und sah Khalil auffordernd an. »Ich nehme einen Singapore Sling, und du?«

»Für mich?« Er sah sich um. »Für mich einen Whisky on the Rocks.«