MORD AUS DEM JENSEITS - Lesley Egan - E-Book

MORD AUS DEM JENSEITS E-Book

Lesley Egan

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Margaret Brandon ist das, was man eine nette Dame in mittleren Jahren nennt: freundlich, verwitwet und reich. Und außerdem ist sie ein wissenschaftlich anerkanntes Medium! Nach einer spiritistischen Sitzung wird Mrs. Brandon ermordet. Doch die Geister, die sie rief, kann man kaum zur Verantwortung ziehen. Hier geht es um einen ausgesprochen realen Mörder...   Der Roman MORD AUS DEM JENSEITS von Lesley Egan (ein Pseudonym der US-amerikanischen Bestseller-Autorin Elizabeth Linington - * 11. März 1921; † 05. April 1988) erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1970. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

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Ähnliche


 

 

 

 

LESLEY EGAN

 

 

Mord aus dem Jenseits

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

MORD AUS DEM JENSEITS 

Die Hauptpersonen dieses Romans 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Margaret Brandon ist das, was man eine nette Dame in mittleren Jahren nennt: freundlich, verwitwet und reich. Und außerdem ist sie ein wissenschaftlich anerkanntes Medium!

Nach einer spiritistischen Sitzung wird Mrs. Brandon ermordet. Doch die Geister, die sie rief, kann man kaum zur Verantwortung ziehen. Hier geht es um einen ausgesprochen realen Mörder...

 

Der Roman Mord aus dem Jenseits von Lesley Egan (ein Pseudonym der US-amerikanischen Bestseller-Autorin Elizabeth Linington - * 11. März 1921; † 05. April 1988) erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1970.

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

 

  MORD AUS DEM JENSEITS

 

 

 

 

 

 

  Die Hauptpersonen dieses Romans

 

 

Jesse Falkenstein: Rechtsanwalt. 

Nell Falkenstein: seine Frau. 

Margaret Brandon: Medium. 

Alex Roper: ihr Neffe. 

Anita Roper: dessen Frau. 

William DeWitt: Wissenschaftler. 

J. Evert Palatine: Schriftsteller. 

Jean Neyland: Geschäftsfrau. 

Eleanor Vatriello: alte Dame. 

Richard Nugent: Hausbesitzer. 

Andrew Clark: Kriminal-Sergeant. 

 

Dieser Roman spielt in Los Angeles.

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Du weißt doch, dass ich viel lieber allein abspüle«, erklärte Nell.

»Na ja, ich dachte nur...«, versetzte Jesse kleinlaut.

»Also wirklich! Ihr Männer seid doch alle gleich. Mir geht’s glänzend.«

Nell drehte den Heißwasserhahn auf und griff nach dem Spülmittel, das im Schrank unter dem Spültisch stand.

»Okay«, sagte Jesse und lächelte von der Küchentür her zu ihr hinüber.

Ja, Nell sah wirklich gut aus. Das lange, dunkle Haar war wie immer im Nachen zu einem dicken Knoten geschlungen. Das leichte Sommerkleid wirkte kühl und frisch. Der fein gezeichnete, etwas zu große Mund lächelte strahlend. Nell machte im Augenblick wirklich einen ausgesprochen zufriedenen und glücklichen Eindruck. Nach all den zeitraubenden Untersuchungen und Tests zu Anfang des Jahres, nach all den Vitaminspritzen, nach den vielen Wochen regelmäßiger Temperaturmessungen hatte sie es - wie sie sich ausdrückte - endlich geschafft. Seit zwei Wochen war es amtlich - Nell erwartete ein Kind. Und es ging ihr, wie sie immer wieder betonte, ausgezeichnet.

»Pass auf«, rief Jesse ihr zu, als sie mit einer geschrubbten Bratpfanne zum Ofen eilte.

»Ja, ja«, erwiderte Nell.

Athelstane, der riesige Bullenbeißer, hatte sich mitten in der Küche niedergelassen. Er hielt sich immer in nächster Nähe der beiden wichtigsten Menschen auf.

»Den Burschen übersieht man nicht so leicht«, meinte Nell. »Bei einem Rehpinscher wäre es was anderes. Setz dich doch ins Wohnzimmer und lies deine Zeitung, Jesse.«

»Na warte nur, wenn du erst vier Sprösslinge hast, wirst du mich auf Knien anflehen, dir zu helfen«, meinte Jesse.

Nell lachte. »Die Mädchen werde ich gleich von Anfang an drillen. Disziplin hat noch keinem geschadet. Und die Jungen werden auch Küchendienst machen«, fügte sie hinzu. »Ich hab’ nie einsehen können, weshalb...«

»Hm«, machte Jesse und lehnte sich etwas bequemer gegen den Türrahmen. »Mädchen wünschst du dir also. Na, da werden die Sorgen nicht lange ausbleiben.«

»Ach ja, diese schreckliche Geschichte«, sagte Nell, die, wie so oft, seine Gedanken erriet.

Sie schwiegen beide einen Augenblick. In den Vier-Uhr-Nach- richten an diesem verschlafenen und heißen Sonntagnachmittag im September hatte man Neues über das Verschwinden der sechsjährigen Michele Friar aus Hollywood zu berichten gewusst. Spielende Kinder hatten das kleine Mädchen am Morgen im Barnsdall Park gefunden, tot und offensichtlich misshandelt. Der Autopsie-Befund lag noch nicht vor, doch man vermutete, dass das Kind auch missbraucht worden war.

»In der Großstadt wird das Leben immer unsicherer«, meinte Nell.

»Ja, manchmal könnte man wirklich meinen, man sei nur noch von Verrückten umgeben«, stimmte Jesse seufzend zu.

»Wo hast du eigentlich Edgars Postkarte hingelegt?«, fragte Nell. »Ich wollte ihm schreiben.«

Jesse grinste. Der alte Mr. Walters war über die Nachricht, dass Jesse und Nell einen Stammhalter erwarteten, so erfreut gewesen, als sei ihm angekündigt worden, ihm würde bald ein weiteres Enkelkind beschert werden. Sein Sohn und seine Schwiegertochter hatten ihn vor drei Wochen auf eine Ferienreise nach Honolulu entführt, und auf den wenigen Ansichtskarten, die er den Falkensteins geschickt hatte, beklagte sich der alte Mann bitterlich über Hetze und Nepp.

»Sie liegt auf dem...«

Das Telefon läutete im Flur.

»Ich gehe schon hin.«

Athelstane, den das Telefon immer wieder faszinierte, rannte in großen Sprüngen voraus und ließ sich dann zu Jesses Füßen nieder. Aufmerksam spitzte er die Ohren, um die geheimnisvollen Stimmen zu vernehmen.

»Jesse?«

»Ja, Andrew. Was gibt’s denn Neues bei Ihnen?«

»Mord«, versetzte Andrew Clock, Sergeant beim Polizeipräsidium von Los Angeles lakonisch. »An sich nichts Ungewöhnliches. Aber es sieht so aus, als hätte sich der Täter eine von Ihren Mandantinnen ausgesucht. Da dachte ich, Sie könnten mir vielleicht ein paar Hinweise geben.«

»Eine Mandantin? Wer ist es denn?«

»Eine Mrs. Margaret Brandon«, antwortete Clock. »Kennen Sie sie?«

Es war ein Schock für Jesse. Er empfand beinahe so etwas wie Schmerz. Margaret Brandon. Vielen Menschen begegnet man im Laufe eines Lebens, guten Menschen, bösen Menschen und solchen, die einem gleichgültig sind. Manche Menschen bedeuten einem mehr als andere. Nur wenige. Merkwürdig, dass ihn die Nachricht von ihrem Tod so schmerzlich treffen sollte. Sie hatte ihm nicht nahegestanden. Er hatte sie gekannt, doch eigentlich nur flüchtig und oberflächlich - als Mandantin und als Freundin, denn Margaret Brandon hatte nur wenige Menschen gekannt, die nicht ihre Freunde waren.

»Jesse? Haben Sie gehört? Haben Sie -?«

»Ja«, erwiderte er. »Ich bin nur - ermordet, sagten Sie? Margaret Brandon? Das ist doch nicht die Möglichkeit. Ich kann es nicht glauben, Andrew. Was, um Himmels willen, ist denn geschehen?«

»Ich weiß selbst noch nichts Genaues. Sie wurde vorhin erst gefunden. Ungefähr vor einer Stunde. Ich habe eben die Kollegen vom Spurensicherungsdienst mobil gemacht. Sie haben sie doch gekannt, nicht wahr? Oder war sie nur eine von vielen Mandanten? Kennen Sie ihre Familie?«

»Nein. Ich kenne sie nur aus ihren Erzählungen. Was ist ihr passiert, Andrew? Wieso ausgerechnet diese Frau! Jeder hatte sie gern.«

Jesse schob Athelstane, der sich eng gegen seine Beine drückte, energisch von sich weg.

»Offenbar«, meinte Clock, »gab es aber doch jemanden, der sie nicht mochte. Ich kann Ihnen im Moment wirklich noch nichts Genaues sagen. Wir haben sie ja eben erst gefunden. Anscheinend sollte ein Unfall vorgetäuscht...«

»Das wäre viel einleuchtender«, warf Jesse ein.

Doch er runzelte die Stirn. Andrew Clock war kein Mensch, der voreilige Schlüsse zog.

»Hm, nach dem, was die beiden Ärzte-zu sagen hatten... Na, wir werden ja sehen, was die Autopsie ergibt. Aber meiner Ansicht nach war das kein Unfall. Hören Sie, Jesse, Sie können uns vielleicht helfen. Ich habe mehrere Zeugen hier, deren Aussagen ich mir anhören will. Wenn Sie später aufs Präsidium kommen könnten...«

»Ich komme jetzt gleich«, unterbrach ihn Jesse. »Ich bin ja sowieso Mrs. Brandons Testamentsvollstrecker. Der Neffe wird, nach allem, was sie mir über ihn erzählt hat, keine große Hilfe sein.«

»Sie hat einen Neffen?«

»Ja, der einzige Blutsverwandte. Andrew, Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was eigentlich geschehen ist.«

»Auf den ersten Blick sah es so aus, als sei sie in der Badewanne ausgerutscht und ertrunken. Aber es sah nur so aus. An ihrem Hals fanden wir Druckstellen und am Kopf eine Verletzung, die von einem Schlag herrühren könnte. Sieht mir sehr nach Gewalttätigkeit aus.«

»Oh«, sagte Jesse.

Clock war seit mehr als dreizehn Jahren bei der Polizei; er hatte nicht nur Erfahrung, sondern war auch intelligent.

»Sind Sie in ihrer Wohnung?«, fragte Jesse.

»Ja, und ich werde auch noch eine Weile dort bleiben. In der Echo Park Avenue. Sie kennen ja sicher die Adresse. Okay, wenn Sie herkommen wollen, wäre mir das sehr lieb. Sie sind ihr Testamentsvollstrecker, sagten Sie? Nun, wenn ich mir die Gegend hier so ansehe, vermute ich, dass da nicht viel zu holen sein wird.«

»Falsch«, widersprach Jesse. »Ich mache mich sofort auf den Weg.« Er legte den Hörer auf die Gabel und stand auf.

Nell, die seinen ersten ungläubigen Ausruf gehört hatte, war aus der Küche gekommen.

»Mrs. Brandon?«, fragte sie jetzt. »Das Medium? Das ist aber merkwürdig.«

»Ich hatte die Frau gern«, erklärte Jesse. »Diese Sache geht mir richtig nahe. Ich fühle mich scheußlich. Sie war eine warmherzige Person, Nell.«

»Ja, das hast du immer gesagt. Schrecklich.«

»Ich fahre jetzt hinüber in ihre Wohnung. Es wird sicher nicht spät werden.«

 

Auf der Fahrt durch Hollywood, gefangen im Gewirr des nie endenden Verkehrs, kreisten Jesses Gedanken um Margaret Brandon, und er rief sich den Tag ins Gedächtnis zurück, an dem er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie war zweiundsechzig Jahre alt gewesen, doch man hatte es ihr nicht angesehen. Eine kleine, zierliche, lebhafte Frau, die früher einmal sehr hübsch gewesen sein musste und auch im Alter noch ansprechend gewirkt hatte. Ihr Geist war jung und beweglich geblieben. Sie hatte die Augen eines jungen Mädchens gehabt - Augen, in denen Frohsinn und Intelligenz standen. Immer war sie elegant angezogen gewesen, und an jenem Tag in seiner Kanzlei hatte sie ein zartlila Kostüm getragen und dazu altmodischen Granatschmuck - eine Brosche, drei Ringe, hängende Ohrringe und ein großes Granatkreuz. Sie hatte ihn auf gesucht, um ihrem Testament ein weiteres Kodizill anzufügen.

»Ich bemühe mich immer, für diese besondere Gabe, die mir Gott geschenkt hat, dankbar zu sein und sie nicht zu missbrauchen, Mr. Falkenstein«, hatte sie damals gesagt. »Eine solche Fähigkeit, die uns größeres Wissen verspricht, darf man nie dazu gebrauchen, materiellen Gewinn einzuheimsen, wissen Sie. Ich bin überzeugt davon, dass ich meine Fähigkeit verlieren würde, wenn ich sie selbstsüchtig gebrauchen würde. Bei der letzten Sitzung haben wir einige recht interessante Feststellungen gemacht, aber diese Zusammenkünfte sind unglaublich anstrengend.«

An jenem Nachmittag hatte man ihr die Anstrengung nicht mehr angemerkt. Sie hatte Jesse angeregt von einem Wissenschaftler und Forscher erzählt, der an irgendeinem Institut tätig war und an der Sitzung teilgenommen hatte, und von der telepathischen Querverbindung zu zwei anderen Medien in England und Frankreich.

Dieses Phänomen der telepathischen Querverbindungen, dachte Jesse, während er die Hyperion Avenue entlangfuhr und dann in den Glendale Boulevard einbog, konnten selbst die ärgsten Zweifler und Skeptiker nicht einfach mit einem spöttischen Lächeln abtun oder erklären. Als Margaret Brandon diesen Begriff zum ersten Mal erwähnte, hatte Jesse natürlich keine Ahnung, wovon sie sprach. Und wenn jemand ihn vor seiner Bekanntschaft mit ihr gefragt hätte, was er von Medien, Spiritismus und Trance halte, hätte er unumwunden eingestanden, dass er auch zu den Ungläubigen gehöre.

Doch sie hatte ihn eines Besseren belehrt, hatte gewissermaßen seinen Bildungshorizont erweitert. Sie war eine sympathische Frau gewesen, die von der Natur eine seltene Gabe mitbekommen hatte. Sie regte Jesse dazu an, Bücher über den Spiritismus zu lesen, wissenschaftliche, ernstzunehmende Bücher. Und nach der Lektüre musste er zugeben, dass man als vernünftiger Mensch die Gültigkeit gewisser Fakten und Dokumentationen einfach nicht leugnen könne. Es hatten sich ganz neue Blickpunkte ergeben. Der letzte Rest von Jesses Skepsis war verflogen, als vor ein paar Monaten die Verschwörung gegen Andrew Clock durch die Hilfe eines Psychometrie-Mediums aufgedeckt wurde. Die Frau hatte nur Andrews Feuerzeug in der Hand gehalten und ihnen dann den Namen genannt, hatte ihn sozusagen einfach aus der Luft gegriffen.

Und jetzt war Margaret Brandon tot, möglicherweise einem Mörder zum Opfer gefallen. Zorn stieg in Jesse auf. Sie war ein Mensch gewesen, der das Leben geliebt hatte und für die Gaben des Lebens dankbar gewesen war. Der Tod war zu früh zu ihr gekommen.

In vieler Hinsicht war sie ganz und gar nicht materialistisch eingestellt gewesen. Sie hatte sich zwar gern gut angezogen und schönen Schmuck getragen, doch ihrer äußeren Umgebung hatte sie nie viel Bedeutung beigemessen. Mehr als fünfundzwanzig Jahre hatte sie in der alten, recht heruntergekommenen Wohnung in der Echo Park Avenue gewohnt und nie ernstlich daran gedacht, umzuziehen.

»Als ich Alex zu mir nahm«, hatte sie ihm erklärt, »da wäre ich natürlich ganz gern in ein richtiges Haus gezogen, irgendwo außerhalb von Los Angeles. Die Gegend in der Echo Park Avenue ist ja wirklich nicht gerade die beste für ein Kind. Allerdings war er damals ja schon fünfzehn Jahre alt, kein Baby mehr. Ella und George haben in Pasadena gewohnt, aber das Haus war bei weitem nicht abbezahlt. Und ich hatte damals einfach nicht das nötige Geld. Wir mussten von dem leben, was ich verdiente, und das hätte für ein Haus nie gereicht.«

Sie hatte fast dreißig Jahre lang als Verkäuferin bei Bullock, einem Warenhaus, gearbeitet. Und so war sie also in der Wohnung in der Echo Park Avenue geblieben. Als ihr dann das Geld zufiel, da war Alex schon selbständig gewesen, und für sie hatte es keine Rolle mehr gespielt, wo sie wohnte.

Vor dem Mietshaus stand jetzt ein Sanitätswagen. Einige neugierige Passanten hatten sich eingefunden und gafften sensationslüstern. Jesse manövrierte seinen Wagen in die einzige freie Parklücke, die in der schmalen Straße zu entdecken war, und stieg aus. Nicht weit entfernt stand Andrew Clocks neuer Pontiac. Als Jesse auf das Haus zuging, kamen die Sanitäter mit der Tragbahre durch die Tür auf die Straße. Der Körper der Toten war zugedeckt, ein anonymes Bündel.

Jesse wandte sich ab, als die Türen des Sanitätswagens zuschlugen, und stieg die ausgetretenen Stufen hinauf. Das Mietshaus aus rostrotem Backstein war mehr als vierzig Jahre alt. Früher einmal hatte in dieser Gegend der gute Mittelstand sich seine Wohnungen gesucht; doch in den letzten zwanzig Jahren war es mit dem Viertel mehr und mehr bergab gegangen.

»Ich wohne gern hier, weil ich den Park in der Nähe habe«, hatte sie erklärt. »Es ist so herrlich entspannend, an dem kleinen Teich zu sitzen. Ich gehe oft auf einen Sprung hinüber und setze mich eine Weile auf eine Bank. Und die Schwäne auf dem Teich. Sie sind prachtvolle Geschöpfe, aber - oh - richtig arrogant.« Und sie hatte gelacht.

Er war noch nie hier gewesen. Die Wohnungstür mit dem Schild Hausmeister stand offen, doch drinnen war niemand zu sehen. An der Wand hingen Briefkästen. Suchend glitten seine Blicke über die Namensschilder. Margaret Brandon, Apartment 22.

Das Haus hatte vier Stockwerke, in jedem Stockwerk befanden sich zehn Wohnungen. Die Treppen waren mit einem fadenscheinigen Läufer belegt. Jesse stieg langsam die Stufen hinauf. Über sich, im ersten Stock, hörte er Stimmen.

Leute standen im Korridor, zusammengedrängt zwischen den kahlen Wänden. Jesses erster Blick fiel auf Clock, Sergeant Andrew Clock vom Morddezernat, hochgewachsen, robust und breitschultrig. Im leicht zerknitterten Anzug stand er da und strich sich mit vertrauter Geste nachdenklich über das ausladende, energisch vorgeschobene Kinn.

Wieso war Andrew eigentlich für diesen Fall eingesetzt worden? Er hatte doch in diesem Monat keine Nachtschicht. Jesse warf einen Blick auf seine Uhr. Es war fünf Minuten vor sieben. Sie hatten wie immer am Sonntag früher als sonst zu Abend gegessen - Nell hatte am Wochenende gern einen langen freien Abend vor sich. Wenn man die Tote vor sechs gefunden hatte, dann war Andrew natürlich noch in seinem Büro gewesen.

»Ich habe keinen Ton gehört«, jammerte eine Frau mit bekümmerter Stimme. Ihr Tonfall verriet nicht Protest oder Angst, er verriet Enttäuschung. »Da passiert nun so was praktisch direkt vor meiner Tür, und ich höre überhaupt nichts. Mein Gott ja, ich kannte Mrs. Brandon seit Jahren. Wenn ich mir vorstelle, dass sie...«

Es war eine alte, aufgedunsene Frau mit schütterem weißem Haar und schlaffen Wangen. Mit einer Gruppe anderer Menschen stand sie vor der offenen Tür zur Wohnung 22.

Etwas abseits standen ein Mann und zwei Frauen. Der Mann hielt eine brennende Zigarette zwischen den Fingern und blickte sich jetzt suchend nach einem Ort um, wo er sie ausdrücken konnte. Schließlich ließ er den Stummel mit schuldbewusstem Gesicht auf den Boden fallen und trat ihn aus. Der Mann war etwa vierzig Jahre alt und hatte ein schmales, intelligentes Gesicht, dunkles Haar, das über der Stirn nicht mehr ganz voll war, und eine schwarzgeränderte Brille. Er hätte ebenso gut ein Anwalt wie ein Geistlicher sein können.

Die eine der beiden Frauen, die bei ihm standen, war eine ausgesprochen elegante Erscheinung; sie trug ein schmales Kleid aus grobem weißem Leinen und dazu einen weißen Hut. Ihre Haut war tief gebräunt, und die Schnüre der mehrreihigen Kette, die um ihren Hals hing, leuchteten bunt und farbenfroh. Doch ihre Züge wirkten müde und abgespannt, von einem Ausdruck großer Erregung gezeichnet. Sie war nicht mehr jung.

Die andere Frau hingegen war jung. Sie war jung und unscheinbar und offensichtlich höchst aufgeregt und interessiert.

Vor der offenen Tür tuschelten noch immer die Nachbarn, mehrere Frauen und ein kleiner Mann im Morgenrock.

»Das hätte ich doch hören müssen«, lamentierte die dicke Weißhaarige aufgebracht.

Jesse klopfte Clock leicht auf den Arm, und der Sergeant drehte sich um. Er sah erschöpft aus. Drinnen, in der Wohnung Nummer 22, waren die Beamten vom Spurensicherungsdienst an der Arbeit, bestäubten die Möbelstücke mit Puder, um Fingerabdrücke sicherzustellen, und suchten nach Spuren und Hinweisen.

»Jesse!«, rief Clock. »Ich wäre Ihnen allen dankbar«, sagte er dann zu der kleinen Gruppe vor der Tür, »wenn Sie sich jetzt wieder in Ihre Wohnungen begeben würden. Später werden wir Sie dann bitten, Ihre Aussagen zu machen. - Mr. DeWitt...« - er wandte sich dem Mann zu, der mit den beiden Frauen etwas abseits stand - »...es tut mir leid, dass ich Sie warten lassen muss, aber ich hätte gern von Ihnen und von Miss Duffy und Mrs. Neyland nachher eine amtliche Aussage. Wir erledigen das am besten im Präsidium, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Der Mann mit dem scharfgeschnittenen Gesicht nickte ruhig.

»Selbstverständlich«, erwiderte die ältere Frau. »Wir stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung. Ich kann es einfach nicht fassen. Margaret. Ich kann...«

»Pete!«, rief Clock, und der rundgesichtige, stupsnasige Petrovsky tauchte prompt aus der Wohnung Nummer 22 auf. »Nehmen Sie doch meinen Wagen und bringen Sie die Herrschaften hier inzwischen in mein Büro. Dann können Sie gleich mit den Vernehmungen anfangen. Jesse kann mich nachher in seinem Wagen mitnehmen, okay? Die Wohnung überlassen wir inzwischen den Kollegen.«

Petrovsky nickte, nahm die Wagenschlüssel und führte seine drei Zeugen davon.

Clock nahm Jesse am Arm und machte Anstalten, der Gruppe zu folgen, doch Jesse drehte sich um und spähte durch die offene Wohnungstür in das Wohnzimmer.

Der Raum war von Mrs. Brandons Persönlichkeit geprägt. Er war hell und sauber und ordentlich aufgeräumt. Die Möbel waren alt, doch gepflegt. An der einen Wand hing eine Landschaft in prachtvollen Farben, eine Renoir-Reproduktion. Auf dem Bücherregal stand die kunstvoll geschnitzte Teakholzstatuette Kuan-jins, der Göttin der Barmherzigkeit. Die Regale waren mit Büchern vollgestopft. Über dem Sofa lag eine bunte mexikanische Decke.

»Kommen Sie«, forderte Clock ihn auf.

Jesse neigte den Kopf zur Seite und starrte nachdenklich in das Zimmer. Margaret Brandon war ein Medium gewesen, und offenbar hatte hier in diesem Raum erst vor kurzem eine Sitzung stattgefunden. Séance sagte man nicht mehr. Heute nannte man das Sitzung. In der Mitte des Zimmers stand ein Tisch, ein rechteckiger Speisetisch, der normalerweise - das sah man - seinen Platz an der Wand linker Hand hatte. Rundherum standen Stühle, achtlos zurückgeschoben von den Menschen, die sie benutzt hatten. Es waren acht Stühle.

»Na?«, fragte Clock.

»Na, was?«

»Sie haben offensichtlich festgestellt, was wir auch schon bemerkt haben«, meinte Clock. »Dass hier gestern eine Séance stattgefunden haben muss. Klar. Aber das ist vorläufig alles, was wir wissen. Kommen Sie jetzt, Jesse. Sehr kompliziert oder mysteriös wird die Sache nicht sein - das sind Mordfälle ja selten -, aber dies und jenes gibt mir natürlich doch zu denken.« Er rieb sich das Kinn. »Was meinten Sie eigentlich mit der letzten Bemerkung, die Sie am Telefon machten? Ich meine wegen des Geldes? Wenn sie wirklich Geld gehabt hat, wieso wohnte sie dann hier?«

»Sie hatte einen ganz netten Batzen Geld, mein Lieber«, versetzte Jesse. »So um die Million herum, und zwar in mündelsicheren Papieren.«

»Heiliges Kanonenrohr!«, sagte Clock ehrfürchtig. »Die Wohnungen hier kosten keine siebzig Dollar im Monat.«

»Stimmt«, meinte Jesse. »Aber sie fand die Lage gut und hatte sich an die Wohnung gewöhnt. Sie hatte den Park in der Nähe und den See, mehr wollte sie nicht. Bis vor sechs Jahren, als ihr das Geld zufiel, arbeitete sie bei Bullock. Das Geld erbte sie von einer gewissen Mrs. Gertrude Morgan, die keine Angehörigen hatte und von Mrs. Brandons - äh - Fähigkeiten als Medium beeindruckt war.«

»Mein Gott«, ächzte Clock. »Ein Medium! Vermittlerin zum Jenseits.«

Jesse warf ihm einen Seitenblick zu.

»Sie war eine sympathische Frau, Andrew«, bemerkte er ruhig.

»Und sie besaß wirklich übernatürliche Kräfte. Oh, doch! Sie sollten zum Spaß einmal etwas darüber lesen. Es gibt sehr fundierte Dokumentationen. Interessante Lektüre. Ich will Ihnen gar nicht verheimlichen, dass mich Mrs. Brandons plötzlicher Tod ziemlich getroffen hat. Ich möchte wirklich wissen, was hier geschehen ist.«

»Ich auch«, bestätigte Clock. »Es kann natürlich ein Unfall gewesen sein, aber ich glaube einfach nicht daran.«

Sie stiegen in Jesses Wagen, und Clock zog seine Zigaretten heraus. Er bot Jesse eine Zigarette an und drückte auf den Anzünder im Armaturenbrett.

»Was wir bis jetzt über die Sache wissen, kann ich Ihnen in ein paar Worten sagen. Dieser DeWitt berichtete mir, dass gestern Abend in der Wohnung so eine Art Séance oder wie man das nennt stattgefunden hat. Seine Sekretärin, diese Miss Duffy, hat alles auf Band aufgenommen und heute Morgen eine Art Protokoll geschrieben. Sie wollten sich um zwei Uhr hier mit Mrs. Brandon treffen, um die Ergebnisse der Sitzung durchzusprechen.«

»Wer ist DeWitt?«

»Er erwähnte etwas von einem Institut. Forschung irgendwelcher Art. Na schön - er und seine Sekretärin kamen hier an, pünktlich um zwei wie ausgemacht, aber auf ihr Läuten rührte sich niemand. Sie fanden das merkwürdig, weil Mrs. Brandon, wie sie mir erklärten, immer pünktlich war. Sie warteten also eine Weile, läuteten noch ein paarmal, aber es geschah gar nichts. Daraufhin telefonierte die Sekretärin mit ein paar Leuten, weil sie hoffte, Mrs. Brandon auf diese Weise ausfindig zu machen. Ich vermute, sie rief die Personen an, die an der Sitzung am vergangenen Abend teilgenommen hatten. Diese Mrs. Neyland zum Beispiel ist schon seit Jahren mit Mrs. Brandon befreundet gewesen und...«

»Hm«, machte Jesse. »Hören Sie mal, Andrew, Mrs. Brandon besaß ziemlich viel Schmuck. Keines der Stücke war besonders wertvoll, aber insgesamt sind die Sachen meiner Schätzung nach doch ihre zehntausend Dollar wert.«

Clock wedelte mit der Hand.

»Wird alles überprüft. Aber die Wohnung sah nicht danach aus, als sei ein Einbruch verübt worden. In der Wohnung war alles in Ordnung, nichts war beschädigt. - Na ja, als DeWitt dann mit Mrs. Neyland sprach, wurde diese gleich ziemlich unruhig, weil sie davon überzeugt war, dass Mrs. Brandon ganz sicher abgesagt hätte, wenn es ihr nicht möglich gewesen wäre, die Verabredung einzuhalten. Mrs. Neyland fürchtete sofort, dass etwas passiert sein könnte. Kurz und gut, Mrs. Neyland kam in die Echo Park Avenue und überredete die Hausmeisterin, die Wohnung aufzusperren. Und da fanden sie dann die Tote. Auf den ersten Blick sah es, wie gesagt, ganz nach einem Unfall aus. Aber als die Ärzte sie sahen - und ich hab’ ja auch Augen im Kopf«, sagte Clock. »Die Druckspuren am Hals waren gar nicht zu übersehen. Also wenn Sie mich fragen - das war kein Unfall. Der Täter packte sie an der Kehle - vielleicht um zu verhindern, dass sie schrie - und versetzte ihr dann einen Schlag auf den Kopf. Danach zog er sie aus und traf die notwendigen Maßnahmen, um seine Tat als Unfall zu tarnen.«

»Ist sie ertrunken oder...«

»Das wissen wir noch nicht«, erwiderte Clock. »Da müssen wir den Obduktionsbefund abwarten. Ich schlage vor, wir fahren. Mal sehen, was die Zeugen zu sagen haben.«

Jesse ließ den Motor an.

»Aber es kann doch niemand einen Grund gehabt haben, Mrs. Brandon zu töten. Ich verstehe das nicht. - Wie sind Sie übrigens dahintergekommen, dass ich ihr Anwalt war?«

»Das erfuhren wir von Mrs. Neyland«, antwortete Clock. »Sie war ganz durcheinander und redete ziemlich viel. Sie erwähnte unter anderem auch, dass Margaret Brandon ihr erzählt habe, sie wolle demnächst ihren Anwalt, Mr. Falkenstein, anrufen, um einen Termin zu vereinbaren, weil sie ihrem Testament etwas hinzufügen wolle.«

»Oh«, meinte Jesse. »Schon wieder. Ich glaube, das Testament hat inzwischen vierzehn Zusätze.«

»Tatsächlich? Und woher wollen Sie wissen, dass niemand einen Grund gehabt haben könnte, sie zu töten?«, erkundigte sich Clock etwas zynisch. »Die Frau hatte Geld, sie besaß Schmuck - so was ist erfahrungsgemäß Motiv genug, mein Lieber. Wie steht es denn mit dem Neffen, den Sie erwähnten? Wem hat sie eigentlich ihr Geld vermacht, Jesse?«

Jesse seufzte und steuerte den Wagen auf den Glendale Boulevard hinaus.

»Hm. Aber das kann ich mir nicht recht vorstellen - ich meine, nach dem, was sie mir so über ihn erzählt hat. Ich habe ihn allerdings nie persönlich kennengelernt. Aber sie war eine scharfsichtige Frau, Andrew. Sie hatte Menschenkenntnis.«

»Ich wollte wissen, wem sie ihr Geld vermacht hat«, mahnte Clock mit leichter Ungeduld.

»Ach so, ja«, sagte Jesse. »Ihre Schwester und ihr Schwager kamen bei einem Autounfall ums Leben, als der Neffe - Alex Roper - fünfzehn Jahre alt war. Das muss vor ungefähr fünfzehn Jahren gewesen sein. Damals hatte sie das Geld noch nicht. Sie nahm den Jungen trotzdem zu sich. Er muss recht verwöhnt gewesen sein. Ein schwieriges Kind. Er lebte nur drei - vier Jahre bei ihr. Danach besuchte er ein College, und später führte er sein eigenes Leben. Oder versuchte es jedenfalls. Ihren Berichten nach muss er ein recht labiler junger Mann sein. In keiner Stellung hält er es lange aus. Das Mädchen, das er vor ein paar Jahren heiratete, gefiel Mrs. Brandon gar nicht. Sie war eine tolerante Frau, Andrew, aber sie hatte auch eine kräftige Portion gesunden Menschenverstand. Und ihrer Auffassung nach hatte das Mädchen, das ihr Neffe heiratete, einen entschieden schlechten Einfluss auf den jungen Mann.«

»Was ist mit dem Testament, Jesse?«

»Na, von dem Schmuck habe ich Ihnen ja schon erzählt. Keines der Stücke besitzt großen Wert, aber ihr waren die Sachen wichtig. Sie hing an ihnen. In den Zusätzen zu ihrem Testament verfügte sie über die einzelnen Schmuckstücke. Ich kann Ihnen ja später das Testament zeigen. Doch der größte Teil ihres Vermögens«, sagte Jesse, »an die achthunderttausend Dollar nach Abzug der Steuern, geht an das Institut für Parapsychologie.«

»Was!« Clock riss die Augen auf. »Mann, das ist doch das Institut, bei dem dieser DeWitt tätig ist. Er hat mir seine Karte gegeben. Achthunderttausend Dollar! Und dem Neffen hat sie keinen Cent hinterlassen?«

»Doch, fünfundzwanzigtausend Dollar. Sie sagte mir, sie habe sich ihre Entscheidung lange und gründlich überlegt. Sie meinte damals, wenn ihr Mrs. Morgan nicht das Geld hinterlassen hätte, könne sie ihrem Neffen gar nichts vererben. Und sie war der Meinung, dass so viel Geld für ihren Neffen gar nicht gesund sei. Es würde höchstens seinen Charakter verderben. Sie kam deshalb zu dem Schluss, dass sie ihm keinen Dienst erweisen würde, wenn sie ihm einen solchen Betrag hinterlasse.«

»Da wird sich der Neffe aber freuen«, stellte Clock fest.

»Kann sein. Dieses Institut für Parapsychologie ist übrigens ein angesehenes Forschungszentrum, Andrew.«

»Der Neffe hat natürlich keine Ahnung davon, dass er das Geld nicht erben wird, oder?«, erkundigte sich Clock.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Jesse und lenkte den Wagen auf den großen Parkplatz hinter dem Polizeipräsidium in der Los Angeles Street.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

»Es muss gestern Abend geschehen sein - nachdem wir alle gegangen waren«, sagte Jean Neyland tonlos.

DeWitt und die beiden Frauen saßen im Halbkreis um Clocks Schreibtisch in dem großen Dienstzimmer. Petrovsky hatte sich an seinem Schreibtisch in der Nähe niedergelassen, und neben Clock wartete mit gezücktem Bleistift und aufgeschlagenem Block ein uniformierter Beamter. Jesse hatte es sich am Schreibtisch nebenan, der unbesetzt war, bequem gemacht.

»Aber ich kann es einfach nicht verstehen«, fuhr Mrs. Neyland fort. Sie war etwas ruhiger geworden. Mit zitternden Fingern zündete sie sich eine Zigarette an. »Das war doch gar nicht ihre Gewohnheit. Ich meine...«

»Was war nicht ihre Gewohnheit, Mrs. Neyland?«, fragte Clock.

»Nach einer Sitzung noch ein Bad zu nehmen«, erwiderte Jean Neyland. »Sie war nach diesen Zusammenkünften immer so erschöpft. Es war eine Anstrengung für sie, müssen Sie wissen. Sie ging sonst immer unmittelbar danach zu Bett. Und außerdem - im Wohnzimmer war nicht aufgeräumt, als wir ankamen. Alles sah noch genauso aus wie gestern Abend, als wir gingen. Normalerweise hätte sie aber heute Morgen zuallererst aufgeräumt, wenn...«

»Ja, es sieht so aus, als sei es gestern Abend geschehen«, stimmte Clock zu. »Wenn wir den Obduktionsbefund haben, werden wir mehr sagen können. Sie waren gestern Abend alle drei bei Mrs. Brandon?« Er sah DeWitt an.

»Ja«, erklärte DeWitt sachlich. »Wir waren acht Leute. Ich möchte dazu erklären, dass ich aus besonderem Grund an einer Reihe von Sitzungen bei Mrs. Brandon teilnehme - teilgenommen habe. Auf Veranlassung des Instituts. Anfang Mai traten bei ihren regelmäßigen Sitzungen Störungen durch telepathische Querverbindungen auf, und sie machte dem Institut davon Mitteilung. Ich nahm an den Sitzungen teil, um diese Erscheinungen zu überprüfen und Einzelheiten schriftlich festzuhalten. Die Ergebnisse waren teilweise recht interessant.« Er schlug die Beine übereinander. Mit einem durchdringenden Blick auf Clock fuhr er fort: »Es handelte sich hierbei nicht um eine Ermittlung - ich meine, über Mrs. Brandons Person. Vor einigen Jahren schon hatten Mitglieder unseres Instituts, die hier ansässig sind, Mrs. Brandon einer eingehenden Prüfung unterzogen und waren zu dem Schluss gekommen, dass Mrs. Brandons Integrität nicht in Zweifel gezogen werden konnte.« Er sah plötzlich bekümmert aus. »Ihr Tod ist ein Verlust«, sagte er. »Gute Medien, die ehrlich und zuverlässig sind, gibt es nur selten. Und ich hatte die Frau gern.«

»Um welche Zeit haben Sie gestern Abend die Wohnung verlassen? Und wer nahm sonst noch an der Sitzung teil?«

DeWitt sah ihn erstaunt an, doch er antwortete sofort.

»Mrs. Neyland, Mr. und Mrs. Robert Talbot, Mrs. Vatriello, Mr. Palatine, Miss Duffy und ich. Miss Duffy ist übrigens an unserem Institut beschäftigt und hilft mir im Augenblick als Sekretärin aus.«

»Es waren dieselben Menschen wie immer«, erklärte Mrs. Neyland. »Abgesehen natürlich von Mr. DeWitt und Palatine.« Sie beugte sich vor und drückte ihre Zigarette aus. »Wir - wir sind alle ganz normale Leute und haben eigentlich nur interessehalber an den Sitzungen teilgenommen. Wir trafen uns ziemlich regelmäßig jeden Samstagabend bei Margaret. Bei Mr. DeWitt war das natürlich etwas anderes. Ich meine, er hatte berufliches Interesse an der Sache. Margaret hat mehrmals für ihn allein gesessen. Aber wir anderen - ich meine, wir sind keine...« Sie machte eine hilflose Handbewegung. »Die Talbots sind beide ausgebildete Apotheker und besitzen eine Apotheke. Eleanor Vatriello ist wie ich eine alte Freundin von Margaret. Unser Interesse an Parapsychologie wurde eigentlich erst durch Margaret geweckt. Mr. Palatine ist Schriftsteller. Er hat eine ganze Reihe Bücher zum Thema der Parapsychologie geschrieben.« Sie hielt einen Moment inne und fügte dann zögernd hinzu: »Der Mann liegt mir eigentlich gar nicht. Ich hatte immer das Gefühl, dass er zu den Skeptikern gehört und nur darauf wartete, Margaret eines Schwindels überführen zu können. Aber gesagt hat er nie etwas.«

»Wann sind Sie gegangen?«, erkundigte sich Clock. »Brachen Sie alle zur gleichen Zeit auf?«

Jean Neyland warf DeWitt einen Blick zu. Miss Duffy saß schweigend da und blickte auf ihre gefalteten Hände.

»Wir kamen wie üblich um halb neun Uhr an«, erklärte Mrs. Neyland. »Als wir gingen, muss es zwischen elf und halb zwölf gewesen sein. Genau kann ich es nicht sagen. Wenn - wenn sie aus der Trance aufwacht, ist sie immer erschöpft und wir bleiben - blieben dann nicht lange. Ich ging zusammen mit den Talbots. Ich glaube, Mr. DeWitt war noch da, als wir gingen, und Mr. Palatine auch. Ich weiß, dass Eleanor unmittelbar hinter mir die Treppe hinunterkam.«

»Ich vermute«, schaltete sich DeWitt ein, »dass sich an Hand des Obduktionsbefunds die Todeszeit ungefähr feststellen lässt, Sergeant, wenn es das sein sollte, worauf Sie...«

»Ja«, sagte Clock. »Können Sie mir die Adressen der anderen Gäste geben?«

Mrs. Neyland nannte ihm die Adressen der Talbots - Normandie Avenue - und Mrs. Vatriellos - Cahuenga Boulevard.

»Mr. Palatine wohnt, glaube ich, in Westwood. Die genaue Anschrift weiß ich nicht. Aber ich verstehe nicht, wozu Sie die Adressen überhaupt brauchen. Ich meine...«

»Das soll doch nicht etwa heißen, Sergeant«, bemerkte DeWitt ruhig, »dass Sie glauben, es sei gar kein Unfall gewesen?«

»Wir müssen gründlich arbeiten«, versetzte Clock. »Das ist alles.«

»Wie? Sie glauben - Sie glauben, dass jemand Margaret...« Mrs. Neyland starrte ihn ungläubig an. »Es soll kein Unfall gewesen sein? Aber das ist doch unmöglich! Kein Mensch hatte einen Grund...« Sie brach ab. »Aber merkwürdig ist es doch! Ich meine, dass sie ein Bad nehmen wollte. Das hat sie sonst nach einer Sitzung nie getan.«

»Wirkte Mrs. Brandon gestern Abend wie sonst? Oder machte sie vielleicht einen nervösen oder unruhigen Eindruck? Sie kannten sie doch sicher so gut, dass Ihnen das aufgefallen wäre.«

»Nein, sie war - das heißt, diese Mrs. Breck hat sie natürlich ein bisschen geärgert, aber das war nichts Tragisches.«

»Mrs. Breck?«

»Eine aufdringliche Person. Sie ist uns allen auf die Nerven gefallen. Sie kam einfach unangemeldet vorbei und wollte unbedingt bleiben. Margaret hätte sie gar nicht erst hereinlassen sollen.« Jean Neyland zündete sich eine neue Zigarette an. »Sie ist ein exaltiertes, durch und durch sentimentales Geschöpf und bereit, alles zu glauben«, sagte sie zu DeWitt. »Sie wissen schon, was ich meine. Margaret hat Ihnen ja von ihr erzählt. Sie hatte ihren Sohn verloren, hatte einige dieser unverantwortlich laienhaft geschriebenen Bücher über Spiritismus gelesen. Eleanor, die sie flüchtig kannte, machte sie mit Margaret bekannt. Gleich bei der ersten Sitzung bildete sie sich ein, sie habe über Margaret mit ihrem Sohn Verbindung bekommen, und danach wurden wir sie nicht mehr los. Vielleicht hatte sie wirklich mit ihrem Sohn an jenem Abend Kontakt aufgenommen, aber wir konnten sie in unseren Kreis nicht aufnehmen. Sie war - äh - ein störendes Element. Einmal bekam sie einen hysterischen Anfall. Daraufhin luden wir sie nicht mehr ein. Doch gestern Abend tauchte sie plötzlich auf. Margaret versuchte in aller Freundschaft und Güte ihr klarzumachen, dass ihre Gegenwart unerwünscht sei, aber es kam trotzdem zu einem kleinen Auftritt, ehe sie endlich ging und wir mit der Sitzung anfangen konnten.«

»Wissen Sie ihren vollen Namen?«