Mord für Anfänger und Fortgeschrittene - Elisabeth Schmidauer - E-Book

Mord für Anfänger und Fortgeschrittene E-Book

Elisabeth Schmidauer

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Beschreibung

Griechischer Strand, ein wenig Wein und ein großes Rätsel: Elisabeth Schmidauers neuer Roman, ein Krimi um Liebe und Eifersucht, Vertrauen und finstere Geheimnisse. Luise fährt erwartungsvoll nach Zakynthos, so wie die letzten Jahre auch: Zwei Wochen lang wird sie die Sommerakademie besuchen und hofft auf kreative Impulse. Gleich in den ersten Minuten ihres Aufenthalts trifft sie auf Paul. Er wird ihr Lehrer im Schreibkurs sein und Luise hat sich ein bisschen in ihn verschaut. Aber zunächst kommt es anders: Paul scheint sich viel mehr für eine andere, jüngere Kursteilnehmerin zu interessieren. Als sich Luise und Paul schließlich doch annähern und alles sich zum Guten zu wenden scheint, findet Luise eine Leiche am Strand, und plötzlich stimmt nichts mehr, was man von den anderen zu wissen geglaubt hat …

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Seitenzahl: 245

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Copyright © 2019 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © mauritius images/Manfred Habel

ISBN 978-3-7117-2078-8

eISBN 978-3-7117-5392-2

Informationen über das aktuelle Programm

des Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at

Elisabeth Schmidauer, geboren 1961 in Linz, Studium der Germanistik und Geschichte, lebt und arbeitet in Wien. Mitglied des ur.theaters, Improvisationsschauspielerin im Theater Drachengasse in Wien. Im Picus Verlag erschienen ihre Romane »Das Grün in Doras Augen« (2015) sowie »Am dunklen Fluss« (2016).

ELISABETH SCHMIDAUER

Mord für Anfängerund Fortgeschrittene

ROMAN

PICUS VERLAG WIEN

Dem Team

Inhalt

ANKUNFT

1. WOCHE

1. TAG / SAMSTAG

AMPHITHEATER

IONION

MÖRDERKURS I

IMMER NOCH IN DER LAUBE VOR DEM SEKRETARIAT

LUISES PLATZ

IONION. UND WEIT WEG

2. TAG / SONNTAG

MÖRDERKURS II

LUISES PLATZ

AM SWIMMINGPOOL BEIM WEISSEN HAUS

NOCH EINMAL LUISES PLATZ

AMPHITHEATER

VOR DER HÜTTE, IM SCHATTEN

UNTER EINEM HIMMEL, AM WASSER

VOR DER HÜTTE UND AM WASSER

3. TAG / MONTAG

MORGENMEER

MÖRDERKURS III

IONION

IMMER NOCH IONION

AM BAUERNHOF

STRANDPLATZ MIT NETZ. BEI NIKOS

AMPHITHEATER

4. TAG / DIENSTAG

DA UND DORT UND ÜBERALL

DORT UND DA

5. TAG / MITTWOCH

KEIN MORGENMEER UND MÖRDERKURS IV

DEN STRAND ENTLANG ZU DEN TAUCHERFELSEN

UNTER EINEM SCHIRM AM STRAND

IM OLIVENHAIN

AM BAUERNHOF

IMMER NOCH AM BAUERNHOF. UND WOANDERS

6. TAG / DONNERSTAG

MÖRDERKURS V

ÜBERALL UND NIRGENDS

7. TAG / FREITAG

STRAND. UND WOANDERS

STRAND. WEIT WEG. NICHT ZUHAUSE

PAULS TERRASSE

2. WOCHE

1. TAG / SAMSTAG

PAULS TERRASSE

AMPHITHEATER. EIN MÄUERCHEN ZUM MEER HIN

IN EINEM ZIMMER MIT BLICK AUF EINEN FEIGENBAUM

LUISES TERRASSE

WASSER UND SAND UND SCHWEIGEN

IONION

NOCH IMMER IONION

SAND UND WASSER

2. TAG / SONNTAG

ÜBERALL DAZWISCHEN 1

IN DER STADT, AUF DEM KOMMISSARIAT

ÜBERALL DAZWISCHEN 2

IN DER STADT, AUF DEM KOMMISSARIAT

ÜBERALL DAZWISCHEN 3

IN DER STADT, AUF DEM KOMMISSARIAT

ÜBERALL DAZWISCHEN 4

IM DORF

3. TAG / MONTAG

MORGENMEER. IONION

IN DER WELT

4. TAG / DIENSTAG

AUF STRASSEN UND WEGEN, IN DÖRFERN UND HAINEN

5. TAG / MITTWOCH

AUF DER STRASSE IN DIE STADT

IN DER STADT, AUF DEM KOMMISSARIAT

AUF DER STRASSE ZURÜCK

BEI NIKOS

UND WIEDER LUISES PLATZ

AM BAUERNHOF

6. TAG / DONNERSTAG

AM ENDE VON ALLEM

7. TAG / FREITAG

UND DANN NOCH DORT

IN DER STADT, AUF DEM KOMMISSARIAT

IM DUNKLEN LORBEER

Wacker ausschreiten, wacker fürbassschreiten, das muss man, wenn es einen friert. Etwas glitzert im Sand. Sie bückt sich. Ein Medaillon. Strandgut. Sie schiebt das Medaillon in ihre Hosentasche.

Jemand ist schon vor ihr zu den Felsen gekommen. Sie winkt, sie ruft, die Wellen schwappen bis zu dem Felsen, an dem die Person lehnt. Etwas ist mit dem Kopf der Person, und was ist mit dem Haar, klebrig, etwas stimmt nicht mit dem Gesicht, sie beißt auf ihre Hand, um nicht zu schreien, und dann läuft sie und läuft, fällt, kommt wieder hoch, fällt wieder und läuft und läuft und läuft.

ANKUNFT

Luise liegt am Strand und schaut aufs Meer. Das Meer kräuselt sich und rülpst einmal kurz. Inselheimat, denkt sie. Wiedergefundenes Paradies. Zakynthos, Blume der Levante, hingespuckt ins Ionische Meer, das lächelnd Luise empfangen hat.

Es ist alles noch da. Das Dörfchen Vasilikos, die Läden an der Dorfstraße, die Olivenbäume, die Ziegen in den Hainen. Dass sie davon nie genug bekommen kann, nicht von Olivenbäumen, nicht von Schafen und Ziegen und nicht vom Meer und vom Himmel, die beide sich in immer wechselnden Farben präsentieren, Äther und Okeanos, und nicht vom Duft des Landes in flimmernder Sommerhitze – sich in etwas Großes auflösen, denkt sie, als ginge das, und wie ihr, wenn sie in Griechenland ist, immer scheint, es müsste doch jedenfalls ein gesteigertes Leben möglich sein, befreit von jeglicher Vergangenheit.

Hinter dem Dörfchen liegt das Kursgelände. Verstreut zwischen Kiefern und Oleandern stehen kleine Häuser mit Balkonen und Terrassen, Stein und Ziegel, Holz und Kalk. Luise seufzt zufrieden, das Meer gurgelt.

Müsste sie sich, denkt sie, zwischen Meer und See entscheiden – vor ein paar Tagen noch ist sie im Haus der Großeltern gewesen, Kindheitssommerhaus, rote Geranien in Fensterkästen, an einem blauen oder grauen oder grünen Wasser –, könnte sie an einem See im Salzkammergut leben, sie müsste nie mehr in irgendeine Welt hinaus, es wäre doch alles, was sie von der Welt brauchte, bei ihr. Regenkühle, blitzende Wiesen, Seengrün, die Schwärze eines Gewitterhimmels, zwischen den Bergen wandernde Donnerkaskaden und Muster im verwitterten Holz der Veranda.

Aber vielleicht, an irgendeinem Tag, weil ein Licht durch das Fenster fällt oder der See dunkel gluckst, weil eine Kuh im Dämmerschatten steht und die Erde krumig und feucht ist, oder ein Wind geht, der etwas mit sich trägt, und sie würde das Meer vermissen, mit einer Schärfe, als wollte es sie das Leben kosten.

DRAMA, Luise, denkt Luise. Du immer mit deinem Hang zum Drama. So schnell kostet eine Sehnsucht kein Leben.

Weitere Neuankömmlinge erobern sich den Strand. Nickend wird abgehakt: Liegen, Sonnenschirme, die Taverne, die Poolbar, der Pool, der Steg, der alte, zahnlose Grieche, der seinen Ouzo trinkt – alles wie im Prospekt, alles da, wofür man bezahlt hat. Alte Bekannte begrüßen einander kreischend, ziehen wild gestikulierend Richtung Taverne. Andere stehen still versunken und lassen, in theatralischen Posen gegen den Wind gestellt, Seidentücher und Haare flattern. Ein Sonnenbrand, denkt Luise, würde jedenfalls jegliche Form gesteigerten Lebens zunichtemachen.

Kursleiter stapfen vorbei. Sport, im enthusiastischen Gespräch mit Maskenbau. Dahinter Alejandro, für lateinamerikanischen Tanz zuständig, Hartmut und der bärtige Berti – ein gefürchtetes Trio – im Schlepptau einer heftig geschminkten Dürren. Immer noch Birgit und Berti, wundert sich Luise. Das hat doch im Vorjahr schon nicht mehr funktioniert.

Ein Mädchen, eine junge Frau kommt aus der Gegenrichtung, schimmernde Haut, rötliche Locken, Alejandro und Hartmut brechen in Pfiffe und anfeuernde Rufe aus, sie führen einen seltsamen Tanz um das Mädchen auf, das, als existierten die Männer nicht, Locken schwingend weitermarschiert. Das scheue Lächeln, das die junge Frau Berti zuwirft, entgeht Luise nicht, und auch nicht, dass Berti verlegen zurückzulächeln scheint. Birgit zieht Berti weiter.

Soso, denkt Luise. Der bärtige Berti verliebt.

»Fischen im Team«, hat er ihr einmal, da war er schon sehr betrunken, erklärt. Gemeinsam mit anderen Kursleitern losziehen, die Mädels aus den Kursen sammeln, easy, hat er gesagt, weil alle Mädels aus den Kursen gerne mit den Kursleitern plauderten, und dann ergab sich schon was. Es ergab sich immer etwas, wenn man nur lange genug plauderte und tief genug in Augen schaute und, je nachdem, sich langsam oder auch offensiv vortastete, im wörtlichen Sinn. Ein Kurs außer Programm, hat er gesagt, für manche der wichtigste Kurs, und nur die Anfängerinnen glaubten, es gehe um LIEBE.

»Hör mir auf mit der Liebe!«

Männliche Verachtung allen Varianten weiblicher Liebessehnsucht gegenüber, die doch nur anstrenge und ermüde, man möge ihn verschonen.

Ermüdend also, hat Luise gedacht. Anstrengend. Als sie ihm zuhörte, meinte sie, etwas über sich beschließen zu können: Man nahm sich doch immer viel zu ernst mit seiner Sehnsucht, das wäre doch endlich einmal auch zu begreifen.

Später an diesem Abend, oder schon fast in der Früh, erzählte er ihr eine wirre Geschichte, von seiner ersten Freundin, Dani, die er zum Krüppel gefahren hatte. Er hatte sie im Krankenhaus besucht, die Krankenschwester hatte ihn hinausgeschickt, weil sie Dani den Katheter wechseln musste, er war nicht mehr zurückgekommen. So habe er sich sein Leben nicht vorgestellt, so habe er sich die Liebe nicht vorgestellt, der Freundin den Arsch wischen, womöglich, er habe sich aus dem Staub gemacht.

Und, sagte Luise nach einer langen Pause, ob das jetzt sein Lebensmotto sei: Einmal Scheißkerl, immer Scheißkerl?

Am nächsten Tag schien er sich nicht mehr an das Gespräch zu erinnern. Aber manchmal, wenn Luise ihm nun zusah, wie er sich betrank, mit System, wie er Kursteilnehmerinnen abschleppte, wie er mit den Freundinnen und Frauen der Kursleiter flirtete, manchmal meinte sie zu sehen, was unter seinem Aufreißergebaren lag.

Das Meer räuspert sich, einmal, zweimal.

DIE LIEBE, denkt Luise. DIENERVIGESACHEMITDERLIEBE.

Ein plötzliches Verlangen überschwallt sie, und eine Erinnerung, du wirst nicht, ermahnt sie sich, hörst du?, du wirst absolut nicht in alten Geschichten versinken. Absolut nicht. Sie richtet sich auf, sie atmet durch, sie trinkt aus ihrer Wasserflasche.

Die Insel also und Luise, mit ihren bescheidenen Vorstellungen vom gesteigerten Leben: Salzige Luft atmen, eine bestimmte Brechung des Lichts sie im Herzen treffen lassen, sich mit anderen verbinden, zwei Wochen lang, mit sich selbst verbunden sein – Luise rekelt sich auf ihrer Liege.

Sie weiß, wie das hier abläuft. Spätestens am zweiten Tag ist man eingeschworenes Mitglied der Sing-Tanz-Theatergruppe, am dritten Tag hat man bis dahin Unbekannten sein Leben erzählt und am vierten Tag weiß man, wie man sein Leben ganz anders und viel besser führen wird. Am fünften Tag hebt man ab, und wenn man zwei, gar drei Wochen gebucht hat, hat man eine Ewigkeit, um zwischen Logos Bar, Ionion und Coffee House, dem Meer, dem Berg und den Olivenhainen ein ganz neuer Mensch zu werden.

Sie aber, abgeklärt und kurserfahren, wird sich aus allen Versuchungen und Verstrickungen, aus außerprogrammmäßigen Sonderkursen und Eigendynamiken heraushalten. Die kleinen menschlichen Dramen, die sich aus der Leichtigkeit des Seins unter griechischer Sonne ergeben, werden vor ihr abrollen: Anflüge von Heroischem, wenn jemand ernsthafte Konsequenzen für sein weiteres Leben zieht, Aspekte des Tragischen, wenn sich jemand tatsächlich und unglücklich verliebt, oder die Heiterkeit, auch das eine Möglichkeit, die Heiterkeit einer Sommerliebe – Luise wird, leicht amüsiert, zuschauen, und sicher sein.

Ein Schatten fällt auf Luise. Fanni, die voriges Jahr im Singkurs neben ihr gesessen ist, wackere Mitstreiterin im Bemühen um den richtigen Ton und Rhythmus; 7/8-Takt bei Lemonaki, Sommerfreundin.

Luise kreischt auf, sie umarmt Fanni. Und dann marschieren sie, wild gestikulierend, Richtung Taverne, wo Fannis Mann und ihre zwei Kinder schon das erste Moussaka, die ersten Spießchen, den ersten Tsatsiki bestellt haben.

Am Abend der Begrüßungscocktail unter bunten Lämpchen und blinkenden Sternen. Heftiger Austausch von Klatsch und Tratsch. Luise radebrecht sich mit dem schwarz gelockten Sänger der Inselband durch ein Gespräch – Musik, Frieden, Ewigkeit. Tagsüber gibt Vassilis sich existenzialistisch umflort, nie in einer Badehose am Strand gesichtet, aber nächtlicher Nacktbader – so jedenfalls hört man von verzückten Mädchenfrauenscharen. Eine tragische Schöne schleppt ihn ab.

Nicht kursleiterkompatibel, notiert Luise am Ende des Tages in ihr Inselbuch. Nicht, dass sie das wollen würde. Aber es ist festzustellen: Zu wenig hiervon, zu viel davon – nicht kompatibel.

Das Meer tut, was von ihm zu erwarten ist. Es rauscht. So lange, bis Luise eingeschlafen ist. Und auch noch, als sie am nächsten Tag aufwacht. Es ist der erste Tag.

1. WOCHE

1. TAG / SAMSTAG

AMPHITHEATER

Das Meer rauschte. Durch die halb geöffneten Fensterläden sickerte das Morgenlicht. Luise öffnete die Tür. Sie hüpfte ein paar Schritte über die Terrasse, sie grub die Zehen in den sandigen Boden. Vor ihr lag ein kleines Wäldchen, dahinter das Amphitheater, das auf einem steil zum Wasser abfallenden Hügel thronte. Ein großes weißes Segel spannte sich über einen Plankenboden und das aufsteigende Halbrund der Sitzreihen. Nach vorne war der Blick frei auf das Meer, morgenblau.

Das kleine Glück des Tagesanfangs: Weißbrot, Butter, Honig. Ein runder blauer Tisch, auf dem lagen zwei Muscheln, die hatten ihre Vorgänger hiergelassen. Gegen neun Uhr dann griechische Melodien – Sirenengesang, dem die Sommerakademiker ins Amphitheater folgten. Luise winkte nach allen Richtungen. Der Sopran vom Vorjahr, der so streng mit Fanni und ihr gewesen war, weil sie, statt Terzen zu singen, immer in die Oktav gegangen waren. Käthe und ihre Tochter Irene, ihre Terrassennachbarn im letzten Sommer; das Paar aus dem Aquarellkurs, die Mathelehrerin aus Wien, der Typ mit dem Steine- und Schmuckladen …

»Es hat schon was«, sagte sie zu Fanni, als sie sich neben sie setzte. »Du kommst her und es ist, als wärst du nie weg gewesen.«

»Nur wir werden älter«, seufzte Fanni.

Luise sah sie erstaunt an.

»Es ist nur«, sagte Fanni. »Die Kinder werden so schnell groß. Lara ist elf, Timmi wird im Herbst zehn. Dann gehen sie fort und wir sind alleine, Harry und ich …«

»Und?«

Barbara betrat die Bühne, wünschte »Kaliméra« und warf sich in ihren Sermon, den Luise schon von früheren Sommern kannte: Keine Zimmerhandtücher am Strand, Leintücher seien keine Sonnensegel, das Kanalsystem der Insel sei veraltet, dementsprechend kein Papier in die Toiletten; es sei sparsam mit dem Wasser umzugehen, der Bus in die Stadt fahre bei der Bäckerei ab, man solle aber nicht auf Pünktlichkeit pochen, in Griechenland gingen die Uhren anders – »Sígas, sígas!«, fiel der Chor der Alteingesessenen ein. Einen Bankomat gebe es nur in der Stadt, Informationen zu Kursen und Ausflügen seien gleich hinter dem Amphitheater beim Sekretariat ausgehängt, Anmeldungen zur Morgenwanderung auf den Skopos, zum Segeltörn, zur Inselrundfahrt erfolgten ebenfalls dort.

Luise hatte einen Moment höchsten Glücks. Ihre nackten Füße streiften über den rauen Holzboden, über den Sand, den der Nachtwind vom Strand heraufgeweht hatte. Die Luft roch schon nach der kommenden Hitze, nach Kräutern und Harz; leise fächelte Grünes. Ein einsames Segel stand still im Blau.

Einer nach dem anderen wurden die Kurse vorgestellt. Freundlicher bis enthusiastischer Applaus begrüßte die Leiter und Leiterinnen. Volleyball, Wandern und Radfahren, Kinderbetreuung, Schmuck, Trommeln, Theater; Singen mit Marios und Julie, Fotografie mit Berti, Aquarell mit Marlies – Frida, fast zwei, ein geblümtes Häubchen auf den Ringellocken, äugte neugierig ins Publikum und stakte hinter der Mama her. Aktzeichnen sah auch nicht schlecht aus, dann Acryl. Farbbekleckste Leinenhosen. Ein weißes, bis zum Nabel offenes Hemd und das schwarze Gekräusel auf Brust und Bauch signalisierten Männlichkeit, Potenz. Fanni verdrehte die Augen.

Mit einer ungeduldigen Geste würgte Teddy den Applaus ab: »Keine falsche Cheflichkeit … Warum wird chier applaudiert?«

»Harry hat gemeint, wir sollen seinen Kurs boykottieren«, zischte Fanni Luise zu.

Idioten, so habe er am Vorabend die Sommerakademiker genannt, unfähige, eingebildete Stümper, denen man, weil sie zahlten, Honig ums Maul schmiere, denen man vorgaukle, sie wären zu Größerem berufen, Schweine, vor die er, Teddy, seine Perlen werfe.

Dass Harry gesagt habe, Teddy könne mit seinen Perlen sonst wohin abziehen, es sei doch keiner neugierig auf ihn, woraufhin sich Teddy habe prügeln wollen, seine Frau habe Teddy aber weggezogen.

Luise warf einen Blick auf Teddys Frau, Isolde, die, groß gewachsen, schön, unter dem Eukalyptusbaum bei den Duschen stand. Sie hatte, erzählte man sich, ihre eigene Karriere hintangestellt, als die Kinder gekommen waren, ein Bub und ein Mädchen, die jetzt zu quengeln begannen. Sie sei die Begabtere gewesen, die Originellere, wilde, rohe Kraft auf der Leinwand, Malerei als Gewaltakt. Auf ihren großflächigen Bildern stellten Frauen ihr Geschlecht zur Schau, oder es sprangen vaginaförmige Muscheln, Blüten, Astlöcher blutrot den Betrachter an. Teddy sei im Vergleich zu ihr ein Kleckser gewesen, das hätte beinahe ihre Beziehung gesprengt, die Kinder hatten dem ein Ende gemacht. Oder jedenfalls Isoldes Karriere ein Ende gemacht. Jahrelang nichts, jetzt male sie wieder, hieß es, winzige Bilder von steinernen Gehäusen, die ein wertvolles Kleinod schützen.

Mechanismen weiblicher Unterwerfung, dachte Luise. Und dass sie sich dem nicht mehr ausliefern würde, dass eine Sehnsucht, ein Begehren, ein Verlangen, eine Leere von einem anderen gefüllt, gestillt werden sollte.

Isolde zog die quengelnden Kinder fort.

»Und, werdet ihr?«, fragte Luise.

»Werden wir was?«

»Euch weigern, den Kurs zu besuchen?«

»Wenn die Damen nicht interessiert sind …«, schnarrte Teddy in ihre Richtung. »Ich bin es nicht gewöhnt, vor einem Chühnerstall zu reden.«

Das Auditorium hielt den Atem an.

»Wer den Kienstler nicht schätzt, schätzt auch die Kunst nicht. Wer die Kunst nicht schätzt, ist cherzlos, geistlos, chirnlos. Kunst ist Kampf. Kunst ist Krieg.«

Abgang Teddy.

Barbara murmelte etwas von eigenwilliger Persönlichkeit und spannender Auseinandersetzung, sie gab die Kurszeiten bekannt und ging dann erleichtert zum nächsten Kursleiter über.

»Gut, dass Harry nicht da ist«, sagte Fanni. »Mord und Totschlag, ich schwöre dir.«

Weiter ging es mit Yoga und Tai-Chi, mit Meeresbiologie und Tauchen. Jemand kam von der Meerseite auf das Amphitheater zu. Es war die junge Frau mit den roten Haaren. Ihre Haare, ihr oranges Kleid, ihre weißen Arme leuchteten. Harry ging neben ihr. Er berührte sie an der Schulter, sagte etwas mit einer Dringlichkeit, das Mädchen lächelte. Fanni zog scharf den Atem ein.

Die junge Frau ging quer über die Bühne zum Halbkreis der Sitzenden, Harry schien ihr folgen zu wollen, dann sah er Fanni und Luise. Wie verlegen und als zöge eine Röte über sein Gesicht steuerte er auf seine Frau zu. Luises Blick blieb an Berti hängen, auch er hatte diesen Ausdruck in den Augen, wie hungrig.

Ein neuer Kursleiter wurde vorgestellt. Das Mädchen mit den roten Haaren setzte sich.

»War das jetzt der Typ vom Mörderkurs?«, fragte Luise. »Apropos Mörder«, sagte sie mit Blick auf einen Schwall roter Haare, »… willst du gleich damit anfangen oder wartest du damit bis um zwölf?«

Fanni zuckte die Schultern. »Ich kann warten. Wie wär’s mit Frühstück?«

IONION

Harry und die Kinder hatten den besten Platz im Ionion besetzt – unter der Kiefer, mit Blick auf das Meer. Nach links hin sah man bis zu den Taucherfelsen, am Horizont stieg aus dem Dunst Kefalonia auf, nach rechts blickte man über rote Ziegeldächer und die Küstenlinie, geradeaus war das Meer, das Meer, das Meer.

Vielleicht war es ein Glück, dachte Luise, dass sich ihr Empfinden so stark mit Orten verknüpfte. Mit Bäumen, mit wogendem Gras, mit der Kühle in einem Durchgang, mit der Wärme eines Steins, mit Nebel, der an Mauern drängte, einer Gasse im Dämmerlicht, einem Straßengewirr. Mit Marmorsäulen, natürlich, mit Steinbänken, Kuppelbauten, Plätzen vor Kirchen und regenglänzendem Asphalt.

Dass es mehr Orte gab als Menschen, die sie aufsuchen konnte, dachte sie. Und was sagte das über sie?

Ein Kellner brachte knusprigen Speck mit Eiern, Joghurt mit Honig, bitteren griechischen Kaffee.

»Es ist doch unglaublich, was sich dieser Mensch leistet!«, sagte Harry, als er sich eine Frühstückszigarette anzündete. »Wir sind jetzt das vierte Mal hier und es ist jedes Jahr dasselbe. Irgendwann gibt es immer Ärger mit Teddy, aber dass er jetzt schon bei der Vorstellungsrunde ausfällig wird, das ist neu!«

»Er scheint Stress zu haben«, bemerkte Fanni. »Was weiß man, was in den letzten Wochen passiert ist.«

»Er hat immer Stress und es passiert immer etwas! Weißt du nicht mehr, wie er voriges Jahr aus heiterem Himmel am Bauernhof das Essen vom Tisch gefegt hat? Weil es den Tisch entweiht hat, auf dem er arbeitet!«

Fanni, durch Harrys heftige Reaktion auf Teddys beleidigendes Benehmen wieder im inneren Gleichgewicht, erzählte abwechselnd mit Harry aus dem reichen Teddy-Anekdotenschatz. Wie er einmal einen Teilnehmer, der seine Farbtuben nicht zugeschraubt hatte, von oben bis unten mit Farbe beschmiert hatte, um ihm das Ausmaß der Ignoranz gegenüber dem Material vor Augen zu führen. Wie er sich prinzipiell mit leicht geschürzten Mädchen umgab. Wie er seine Frau als unfähige Kuh beschimpfte, wenn die Kinder während der Siesta seine Ruhe störten.

Und trotzdem fänden sich noch Teilnehmer für seine Kurse?, fragte Luise. Typen, die meinten, ohne Neandertal-Gehabe funktioniere das Künstlersein nicht? Der Urschrei in der Malerei sozusagen? Tarzan goes art?

»Ich will einfach malen!«, sagte Harry. Und trotz all seiner Eigenheiten habe er Teddy – wenigstens als Maler – bisher vertraut.

»Und das tust du jetzt nicht mehr?«, fragte Luise.

»Wir müssen«, sagte Harry und winkte dem Kellner. Sie zahlten, dann zerstreuten sie sich in alle Richtungen. Harry warf sich in den Theaterkurs, Lara schaute zur Meeresbiologie, Timmi zum Schmuck. Fanni und Luise gingen morden.

MÖRDERKURS I

In der Laube vor dem Sekretariat tanzten Licht und Schatten.

Hübsch, dachte Luise. Und dass doch immer die Idylle der Geburtsort des Grauens war.

Sie ließ den Blick über die Anwesenden gleiten, nickte Käthe und Irene zu, sie wunderte sich über Bertis Anwesenheit, als sich aber das Mädchen mit den roten Haaren auf den vorletzten freien Sessel setzte, wunderte sie sich nicht mehr. Durch halb geschlossene Augen betrachtet färbte sich die Welt rot.

Der Kursleiter, Paul, stellte sich vor. Er komme, sagte er, vom Theater. Was er ihnen im Rahmen des Schreibkurses anbiete, seien Schreibanlässe, Möglichkeiten, alleine und in der Gruppe Geschichten zu erfinden. Er sehe sich weniger als einen, der stilistisch eingreife – »da soll jeder für sich experimentieren« –, seine Herangehensweise sei eine eher dramaturgische.

»Wie nutzen wir bereits vorhandenes Material? Wie können wir Geschichten verschärfen, zuspitzen?«

Dialogarbeit, sehr gerne – wenn hier brauchbare Theatertexte entstünden, könne in der nächsten Woche eventuell die Theatergruppe damit arbeiten.

Schreibanlässe, dachte Luise. Die eine oder andere Idee würde sie für die Schule abwandeln können. Ohne den Zwang zur Perfektion. Jenseits der Argumentation, jenseits der Analyse und Interpretation. Die Notwendigkeit für Jugendliche, sich die Welt zu erschreiben, eine eigene Sprache zu finden. Und gälte das nicht auch für sie.

Paul lächelte in die Runde. Bisherige Erfahrungen mit dem Geschäft des Mordens?

Wenig praktische, stellte sich heraus, aber doch einige theoretische Kenntnisse. Schon teilte sich die Gruppe in die Hard-boiled und in die Rationalen, in die, die klassische englsche Atmosphäre und in die, die realistische Polizeiarbeitkrimis vorzogen. Nationale Gruppierungen, Grausliches auch, und dann gab es noch die, die Wolf Haas liebten und die anderen.

Ganz klar auch, was einen Krimi ausmachte. Zuerst einmal: ein Mord. Logisch. Herausfinden, wer der Täter war und warum gemordet wurde. Überhaupt das Rätselraten, die Spannung. Entlarven, aufdecken, Rekonstruktion von bereits Geschehenem. Das Spiel mit Motiven, mit Verdächtigen. Spuren, die zum Ziel führten und falsche Spuren, red herrings.

Immer spielte die Vergangenheit eine Rolle. Klassischerweise stand der Mord am Beginn der Handlung, die aufzudeckende Geschichte war schon passiert. Der Weg führte von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück, und am Ende, nach der Aufdeckung, würde sich etwas verändert haben.

Figuren im Kriminalroman? Das Opfer. Der Mörder, die Mörderin. Die Verdächtigen. Der Detektiv: eine Privatperson, ein Berufsdetektiv, ein Polizeibeamter, alte Damen.

»Fein«, sagte Paul. »Alles Expertinnen und Experten. Wunderbar.«

Dass er Grübchen hatte, dachte Luise versonnen.

Passend zum Ort, sagte Paul, wolle er ihnen noch ein paar Anregungen aus der reichen Fundgrube der griechischen Mythen mitgeben. Angefangen bei der Schöpfungsgeschichte stolpere man bei den Griechen von einem grausigen Verbrechen zum nächsten. Am liebsten im Kreis der Familie – Vatermord, Muttermord, Kindsmord, Abschlachtung von Ehegatten, Kannibalismus – von diesem Horrorkabinett könne man sich durchaus inspirieren lassen.

Grübchen, dachte Luise. Eine feine Narbe über der Augenbraue.

Weiters finde man bei den alten Griechen die Personifikationen von übergeordneten Gewalten, die auch im modernen Kriminalroman, gebrochen oder ungebrochen, eine Rolle spielten. Themis, die Göttin der Gerechtigkeit etwa, oder Mnemosyne, das Gedächtnis. Die Ordnung, die durch das Verbrechen gestört worden sei, müsse wiederhergestellt werden. Das Vergangene sei nicht tot, das Tote nicht ausgelöscht, die Erinnerung bewahre das Wissen über das Unrecht und endlich werde das Böse geahndet und gesühnt, der Verbrecher seiner gerechten Strafe zugeführt. Erst Aufklärung und Sühne brächten so etwas wie Frieden – und jedenfalls das Ende jeder Kriminalgeschichte.

Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar.

Hübsch, dachte Luise. Wuschelhaar.

Dass es ein großes Glück sein müsste, dachte sie, GLÜCK, GROSSES, fallen zu können. Besinnungslos fallen, wie fliegen, und obwohl das doch entgegengesetzte Bewegungen waren, schien ihr, es müsste eine einzige sein, fallen also, aber nicht stürzen. Nicht aufprallen, dumpf und stumpf, in einer empfindungslosen Gegenwart.

Wissen und Nichtwissen, sagte der Typ in Schwarz, Philipp. Viele Verbrechen geschähen, weil Dinge nicht gewusst oder im Dunkeln gehalten würden. Stichwort Ödipus: Aus Unwissenheit zum Vatermörder werden. Andererseits: Stichwort Atriden: Weil eben nicht vergessen, nicht vergeben werden konnte, reihte sich ein grausiges Verbrechen ans noch grausigere, Opfer und Täter mitleidlos miteinander verstrickt.

Eine der beiden älteren Damen räusperte sich. »Eine Erlösung gibt es ja bei den Griechen nicht, oder?«

Nein, sagte ihre Schwester, aber es gebe Nemesis, die Gottheit des rächenden Schicksals, die jede Verletzung der ewigen Ordnung der Dinge strafe. Und es gebe die Erinnyen, Dienerinnen der Nemesis. Aus dem Blut des Uranos hervorgegangen, der von seinem eigenen Sohn entmannt wurde. Alekto, der unversöhnliche Groll, Tisiphone, die Blutrache, Megaera, der Neid mit dem bösen Blick, blutstinkend.

Wilde, nachtragende Weiber, dachte Luise. Dienerinnen, aber mächtig innerhalb eines Rahmens. Und durfte denn das sein: Dass die dunkelsten, die mörderischsten Gefühle eine Rechtsordnung stützten? Oder begann hier die Zähmung der Finsternis, indem man sie ans Licht holte, das ein kaltes Licht war, ohne Gnade?

Paul blätterte in einem Buch. »Die Erinnyen«, las er vor, »hellen mit ihren Fackeln das Verborgene auf und verfolgen erbarmungslos und ohne Unterlass den Verbrecher, den ihre Schlangenhaare, ihre furchtbaren Augen in den Wahnsinn oder in den Tod treiben …«

»Cool«, sagte Alex, einer der beiden jungen Burschen.

»Man könnte also sagen«, meinte Simon, Alex’ Freund, »dass die modernen Erinnyen die Detektive sind, die nicht ruhen, bis sie den Täter geschnappt und überführt haben.«

Schallendes Gelächter. Der Alte mit Schlangenhaar, Kottan als grimmer Todesgott.

Und schließlich, sagte Paul, weiter in seinem Buch blätternd, gebe es noch die Moiren, die Schwestern der Erinnyen, denen Menschen und Götter untertan seien. Klotho spinne den Schicksalsfaden, Lachesis, die Zuteilende, bemesse die Länge des Lebensfadens. Sie sei der Zufall, das Los. Atropos, die Unbeugsame, sei die Todesstunde, der keiner entrinne.

Heiße das also, sagte eine der beiden älteren Damen, dass Zufall und Schicksal eins seien und das Leben sowieso von wem anderen gesponnen werde, nicht von uns? Wie gehe man dann aber mit der Frage nach Schuld und Verantwortung um? Erfüllten Mörder nur ihre Bestimmung? Oder gebe es eine absolute Freiheit des Handelns, sei man immer Herr – und Herrin!, fügte ihre Schwester hinzu – der Entscheidungen und Taten, die man setze? Wie viel Unfreiheit trage man in sich, was alles bestimme unser Tun?

»Drei alte Frauen als Herrinnen über Leben und Tod«, sagte ihre Schwester, das sei doch jedenfalls bemerkenswert. Und ob das nicht eine Idee für einen Krimi sei, drei Schwestern, die Schicksal spielten?

»Mir gefällt das mit den Erinnyen«, sagte Lili, das Mädchen mit den roten Haaren.

»Ja?«, fragte Paul.

Dass die böse Tat dem Täter folge. Dass das Blut schrie und den Mörder suche. Es solle keiner davonkommen. Keiner.

Eine Blüte löste sich vom Zweig und fiel, sich um sich selbst drehend, zu Boden. Brennendes Rot auf steinernem Grund.

IMMER NOCH IN DER LAUBE VOR DEM SEKRETARIAT

»Ich«, sagte Luise, »ich würde ja das hier als Schauplatz wählen.« Mit einer Handbewegung umfasste sie das Gelände der Sommerakademie.

Ganz wie bei Agatha Christie sei doch die Insel der ideale Ort, um einander bekannte und unbekannte Personen aufeinandertreffen zu lassen. Die zufällige oder auch nicht zufällige Begegnung bringe etwas in Bewegung, das sonst nicht passiert wäre. Irrungen und Wirrungen, dunkle Geheimnisse, emotionale Verstrickungen. Dazwischen würden Cocktails gereicht.

»Der Mord passiert während der Schlusspräsentation«, schlug Helene vor, »auf offener Bühne!«

»Oder es geht einer beim Segeln über Bord!«

»Viele erkranken an einer Lebensmittelvergiftung, aber nur einer stirbt!«

»Es muss natürlich jemand aus dem Schreibkurs sein!« Alex sah düster in die Runde. »Einer von uns hat eine dunkle Vergangenheit. Einer von uns hat etwas getan, das keiner weiß. Einer von uns ist ein Mörder.«

»Danke für die Überleitung«, sagte Paul und lächelte Alex und Luise zu.

Braune Augen?, dachte Luise. Grüne? Und jedenfalls Grübchen.

»Wir haben also den Krimi als Genrevorgabe. Wir haben die griechischen Mythen als mögliche Inspiration, wir haben allgemeine Prinzipien, die mit Leben und Tod in Verbindung stehen. Wir haben die Insel, die Sommerakademie, möglicherweise diese Laube hier als Handlungsort. Und«, Paul sah in die Runde, »wir haben uns selbst als Material.«

Definitiv grün mit goldenen Einsprengseln.

»Mit uns selbst meinen Sie«, Hilde – oder Martha? – tat sich noch schwer mit dem hierorts üblichen Du-Wort, »unsere eigene Vergangenheit? Also Dinge, die wir getan haben? Oder die uns passiert sind?«

Ihre Schwester, Martha – oder Hilde? – rief: »Immer nur heraus mit den dunklen Geheimnissen!«

»Quasi die Leichen im Keller«, grinste Simon.

Berti ächzte.

»Mein Vorschlag ist, ihr geht einmal in euch selbst und erforscht eure mörderische Seite.«

»Aaaaaaaarrrrrgh!«

Ein grässlicher Schrei ertönte. Alex zog ein imaginäres Messer, stürzte sich auf Simon und stach auf ihn ein. Simon verröchelte unter schrecklichen Zuckungen zu Alex’ Füßen.

»So circa«, sagte Paul.

Die dunkle Seite anschauen, fuhr er fort. Die nicht öffentliche Seite. Den eigenen Hass, die eigene Wut und Aggression, die eigene Hilflosigkeit vielleicht als Ausgangspunkt des Schreibens. Schichten des eigenen Ichs als Material für Figuren.

Aber, dachte Luise, sie war ihrer eigenen Gefühle so überdrüssig, des immer gleichen Wühlens im immer gleichen Sumpf unendlich überdrüssig. »Nein?«, fragte Paul.

»Ich weiß nicht«, sagte sie.

Philipp schnaubte laut auf. Die Annahme, die hier zugrunde liege, dass sich Literatur vorrangig aus der Person des Schreibenden erkläre, halte er für höchst unzulässig, aber, er schnaubte noch einmal, sie möge für diesen Kurs genügen. Was ihn als Schreibenden, als Krimischreibenden interessiere – und damit warf er sich in einen längeren Exkurs, in dem er mehrfach die Frankfurter Schule nannte, Adorno, Horkheimer, Marcuse, Bloch und Brecht, er endete mit »… ist von der Struktur her immer noch eine Schlacke kapitalistisch-kleinbürgerlichen Denkens und Empfindens. Ich frage mich, ob das wohl aufzubrechen ist?«

»Hört, hört«, sagte Berti und fixierte Philipp aus zusammengekniffenen Augen.

Die Gruppe starrte Philipp gebannt an. Da hatte einer seine Hausübungen gemacht. Aller Augen richteten sich auf Paul.

Paul nickte, lächelte.

»Du spielst hier auf Béla Balászs’ Schrift ›Der Detektivroman‹ an, nicht wahr?« Er fuhr sich durchs Haar.

Dass manches von Balászs’ theoretischem Ansatz – die Kapitalismuskritik, die Auseinandersetzung mit dem Bürgertum, Kleinbürgertum – sicher auch heute noch sehr brauchbar sei – wenn jemand sich für Krimitheorie interessiere, er habe eine kleine Bibliothek mitgenommen. Dass es sicher möglich sei, einen Krimi zu konstruieren, der von diesen theoretischen Ansätzen gespeist werde. Postmodernes Verwirrspiel, große intellektuelle Herausforderung! Die endgültige Überwindung des klassischen Krimikonzepts. Der Tod des Kleinbürgers, wieder einmal!, und das Ende der Romantik im Kriminalroman! Wenn Philipp das untersuchen wolle – er sei dabei.