Sommer in Ephesos - Elisabeth Schmidauer - E-Book

Sommer in Ephesos E-Book

Elisabeth Schmidauer

4,9

Beschreibung

Erste Liebe und begrabene Hoffnungen: Nach diesem Sommer ist alles anders. Einen Sommer lang verbringt Anastasia in Ephesos, da ist sie siebzehn. Statt ihre Mutter, die Tänzerin, mit deren wechselnden Liebhabern durch Amerika zu begleiten, lernt sie bei den Grabungen die lebenslange Obsession ihres Vaters kennen, an der nicht nur seine Ehe zerbrochen ist - Ephesos, die Stadt, die immer nur in ihren Träumen existierte und in den Büchern des Vaters, eines berühmten Archäologen. Dort trifft sie auch Hubert wieder, ihre erste Liebe, seinen Lieblingsschüler, der einmal im Haus der Eltern ein und aus ging, doch das ist lange her. In diesem Sommer glaubt Anastasia noch, ihre Zukunft würde beginnen, doch der Sommer endet in einer Katastrophe... Als sie viele Jahre später die Nachricht erhält, dass ihr Vater tot ist, erfährt sie, was damals und davor wirklich geschehen ist. Und warum er und auch Hubert nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten - das war am Ende dieses Sommers.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 323

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
14
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Elisabeth Schmidauer

Sommerin Ephesos

Roman

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2012 Residenz Verlagim Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:978-3-7017-4287-8

ISBN Printausgabe:978-3-7017-1586-2

eISBN978-3-7017-4287-8

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

I

Manchmal, zwischen Schlafen und Wachen, sehe ich die weiße Stadt. Manchmal gehe ich, im Traum, die Marmorstraße entlang, die Kuretenstraße, die Arkadiane. Die Malven schaukeln im Wind, die Zikaden schrillen in den Hanghäusern, und die aufgehende Sonne taucht die Kapitelle und Säulen der Bibliothek in rosiges Gold. Ich gehe durch die leere Stadt, als gehörte ich hierher, ich weiß es wieder, dass ich hierher gehöre, immer habe ich es gewusst, und einmal, da war ich siebzehn, einen Sommer lang, gehörte die Stadt mir.

Dass mein Vater gestorben war, erfuhr ich während einer Besprechung. Ich hatte mein Handy auf Empfang gestellt, ich erwartete einen Anruf, es hatte Probleme mit Materiallieferungen gegeben, am Display sah ich, dass Eva anrief, meine Mutter, es war 15 Uhr 47. Ich kann jetzt nicht, sagte ich, dein Vater ist tot, etwas rauschte in meinen Ohren, ich ruf dich zurück, sagte ich und unterbrach die Verbindung. Ich klärte die Sache mit den verschollenen Lieferungen, ich vereinbarte Termine für Objektbegehungen in den nächsten Tagen, ich diskutierte das neue Projekt, Bürotürme aus Stahl und Glas, in meinen Ohren rauschte es wie von Flügeln.

Erst am Abend fand ich den Mut, Eva anzurufen. Ich bin in L. A., sagte sie, ich weiß nicht, ob ich kommen kann, du kümmerst dich doch darum.

Worum, fragte ich, das Begräbnis, sagte sie ungeduldig, wer soll es sonst machen, da ist sonst keiner, das weißt du.

Ich wusste es nicht, woher hätte ich es wissen sollen, was wusste ich von meinem Vater, ich hatte ihn seit dreizehn Jahren nicht mehr gesehen, seit dreizehn Jahren nichts von ihm gehört. Hin und wieder hatte meine Mutter, aber was wusste sie von seinem Leben oder von meinem, hatte Eva etwas erzählt, am Telefon, oder wenn wir einander kurz sahen, wenn sie in Wien war. Jahre nach der Scheidung, die Mutter war da schon lange in Amerika, hatte der Vater sie manchmal angerufen, das erzählte sie mir dann, dass er daran dachte, das Haus zu verkaufen, ist dir das gleichgültig, fragte sie mich, es ist sein Haus, sagte ich. Dass er auf Kur gewesen war, dein Vater auf Kur, sagte sie und sie schüttelte den Kopf, er wird alt, sagte sie, und es klang, als hätte sie das nicht von ihm erwartet, nicht von meinem Vater, der doch fünfundzwanzig Jahre älter war als sie. Dass er sie, aus heiterem Himmel mitten in der Nacht, wie soll das gehen, Eva, hätte mein Vater gesagt, aus heiterem Himmel mitten in der Nacht, er hatte sie angerufen, die Mutter hatte geflucht, ruf morgen an, und aufgelegt. Was wollte er wissen, fragte ich, er hat sich nicht mehr gemeldet, sagte die Mutter.

Dass er ein Buch publiziert hatte, erzählte mir die Mutter, es war sein letztes gewesen, ich hatte die Rezensionen gelesen. Es war zurückhaltend besprochen worden, man hatte etwas anderes erwartet, etwas Größeres, ein Alterswerk, das alles Bisherige zusammenfassen und übertreffen sollte. Die Fachwelt, so hieß es in den Besprechungen, die ich mit Beklemmung las, die Fachwelt wartete seit Jahren auf dieses Werk, es war aber nur ein schmales Bändchen geworden, meine Schuld, dass es kein Alterswerk gab, nur ein schmales Bändchen, Inschriften in Carnuntum.

Was geht es mich an, sage ich zu Friedrich. Wieso soll ich das machen, sein Begräbnis planen, sage ich, eine Feier für ihn ausrichten, was geht es mich an, für mich ist er vor langer Zeit gestorben, und ich für ihn.

Friedrich zieht die Augenbrauen hoch. Wir sitzen in einer Pizzeria in der Nähe meines Büros, mein Vater ist tot, sagte ich, als ich ihn in der Früh angerufen habe, warum, mein Vater ist tot, der Satz fiel in einen hohlen Raum, sodass ich nicht hörte, was Friedrich sagte. Ich legte auf, aber zu Mittag stand Friedrich im Büro, mir ist übel von den Gerüchen nach warmem Teig und Knoblauch, und Friedrich zieht die Augenbrauen hoch. Gleich wird er sagen, er ist dein Vater, wenn er das sagt, denke ich, er ist dein Vater, er sagt aber, wenn es dich nichts angeht.

Eben, sage ich und verstumme, und ich weiß, ich werde es tun müssen. Friedrich mustert mich, seine klaren hellen Augen, ich zwinge mich, nicht zu weinen, warum sollte ich weinen.

Anastasia, sagt Friedrich, und ich verschließe mich vor seinen Augen, er sieht mich an, ich schüttle den Kopf.

Anastasia. Was für ein schrecklicher Name. A-na-stasi-a. Fünf Vokale, und mein Vater musste auch noch das I betonen, Anastasía. Warum, habe ich ihn einmal gefragt, warum habt ihr mir diesen Namen gegeben, warum gerade diesen?

Weil, hat mein Vater gesagt und die Brille hochgeschoben, weil es ein schöner Name ist.

Was ist daran schön?, habe ich ihn gefragt, A-nasta-siii-a, das nimmt ja kein Ende, habe ich gesagt. Bis ich den Namen ausgesprochen habe, sind alle schon weg, die vielleicht danach gefragt haben, langweilig und altmodisch, habe ich gesagt.

Mein Vater hat mich streng über den Rand der Brille hinweg angeschaut. Es ist ein schöner Name, hat er wiederholt. Die auferstehen wird, ist das nicht schön?

Weil ich vor seinem Schreibtisch stehen geblieben bin, ich sah ihm gerne zu, wenn er las und schrieb und zeichnete, grün fiel das Licht über seine Schulter auf die Bücher, in denen er las, rotes Leder, braunes Leder und grauer Karton, blaue Buchrücken oder schwarze und aschweiße, braungelbe Blätter, ist noch was, fragte er, weil ich, von einem Fuß auf den andern tretend, noch immer vor seinem Schreibtisch stand, nein, sagte ich und ging und suchte meine Mutter, die sich dehnte in ihrem Studio, Kopf zum Knie, die Fingerspitzen bei den Zehen, die Beine gestreckt und in einer Linie am Boden, der schmale Rücken meiner Mutter. Wenn sie so, Brust und Bauch am Boden, die Arme wie anbetend, sich ergebend, auf dem hellen Parkettboden, weil sie das Haar hochgebunden hatte, sah ich ihre Halswirbel, Rückenwirbel unter ihrem Trikot, wenn sie so, wie in ein Gebet versunken, ihre Übungen machte, durfte ich sie nicht stören. Ich setzte mich auf den Boden und sah ihr zu, dehnen, strecken, hoch und nieder, Arabeske, Pirouette, Sprung.

Meine schöne Mutter, die über die Oberfläche des Spiegels flog, ihre Waden waren hart, manchmal sah sie alt aus, wieso quälst du dich, fragte mein Vater. Wie soll ich denn sonst mit den Jungen mithalten, sagte sie, meine Mutter kniff ihre Augen zusammen und den Mund, dünnlippig plötzlich, wenn mein Vater sagte, wieso quälst du dich, du musst das nicht mehr tun. Das Bild meiner Mutter im Spiegel, wenn sie sich zu mir umdrehte, war sie eine andere.

Manchmal setzte sie sich nach dem Training zu mir, sie schlüpfte in eine Jacke, zog dicke bunte Wollsocken über die Füße, ich mochte den Geruch nach Schweiß und Wolle, sie trank, gierig, ihr Wasser, eine halbe Zitrone auf einen Liter, was war in der Schule?, fragte sie, hast du gegessen?, wie war es bei den Großeltern?, gut, sagte ich, was heißt vorlaut?, fragte ich, wer sagt das, die Lehrerin, sagte ich, ich bin eine vorlaute Person, sagt sie, aber sie hat gelacht, als ich gesagt habe, also bin ich ja eigentlich leise.

Manchmal tanzte die Mutter mit mir, wild, keine Pirouetten, keine Arabesken, wild und laut tanzten wir zur Musik, die in unseren Köpfen war oder die sie aufdrehte, so laut, bis der Vater kam, Eva, sagte er, das geht nicht, und sie sah ihn an, und die Musik tobte, er musste schreien. Ich höre euch bis hinunter, schrie er, was, schrie ich, was was was, ich warf mich ihm in die Arme, was was was, schrie ich, du regst das Kind auf, sagte der Vater, aber wenn ich mich ihm in die Arme warf, hob er mich hoch, tanzen, schrie ich, komm tanzen. Er sah mir in die Augen und lächelte, dann stellte er mich wieder auf meine Beine, später, sagte er, mach die Musik leiser, Eva, sagte er, und obwohl er nicht mehr schrie, hatte ihn die Mutter verstanden und drehte die Musik ab. Der Vater hat auch später nicht mit mir getanzt, dafür ist deine Mutter zuständig, sagte er, aber er erzählte mir, das weiß ich plötzlich wieder, die schönsten Geschichten, die mir je ein Mensch erzählt hat.

Im Sommer waren wir allein, die Mutter und ich, der Vater war nicht da. In manchen Jahren verschwand er schon im Frühling, er kam zurück für ein paar Tage und brachte Geschenke, bunte Klimperketten mit blauen Augen, Seifen und weiche Tücher, die rochen fremd, und erzählte von weißen Steinen und Störchen und brennenden Städten. Die aufgeregten Stimmen der Eltern, auf dem Flur standen Koffer, und das Kind, sagte der Vater, sie kann zu meinen Eltern, sagte die Mutter, eine Mutter gehört zu ihrem Kind, die Mutter lachte auf, hart. Wenn der Vater sagte, und das Kind, wo ist das Kind, wo soll das Kind hin, du kannst doch das Kind nicht alleine lassen, und du, sagte die Mutter, du bist doch immer weg, du bist doch der, der wochenlang, monatelang, das ist mein Beruf, wir leben davon, wenn ich dich daran erinnern darf, was ist mit meinem Beruf, dann lachte der Vater, Beruf, lachte er, wo ist er denn, dein Beruf.

Die weiße Stadt, die brennende Stadt, die Sehnsuchtsstadt meiner Kindheit. Nimm mich mit, bettelte ich, wenn der Vater wieder fuhr, jedes Mal, nimm mich mit. Ich hatte Bilder gesehen in dicken Bänden, Fotos, die mein Vater gemacht hatte, Filmaufnahmen. Lange, bevor ich dort war, bin ich den Weg durch die Stadt gegangen, und oft. Mein Vater hatte mir die Stadt erzählt, ich wusste, wie die Marmorstraße glänzte, wie der Mohn rot im Frühling blühte, ich wusste es, wie die Kuretenstraße – Kuretenstraße, sagte ich mir leise vor, niemand im Kindergarten, niemand in meiner Klasse kannte solche Wörter – wie die Kuretenstraße zur Bibliothek hinunterführte, wie im Odeion, auf der oberen Agora die reichen Einwohner, die Priester und die Politiker die Zukunft der Stadt besprachen, wie auf der Prozessionsstraße, die vom Artemision zur Stadt führte, weißgekleidete Menschen das Bild der Göttin trugen, die Vielbrüstige, sagte der Vater und die Mutter lachte.

Da ist nichts zu lachen, sagte der Vater. Das ist ein uralter Kult, ich mochte das Wort »Kult«. Der Göttin ansichtig sein, sagte ich, wie das Kind spricht, sagte der Vater stolz, wenn ich so etwas sagte, ansichtig sein. Ich studierte die Pläne von Ephesos, ich buchstabierte mir die Namen der Gebäude zusammen, P-r-y-t-a-n-e-i-on, O-de-i-on, Ba-si-li-ke Sto-a, meine Zunge stolperte über Lysimachos, Skolastikia, Hypokaustensystem. Ich lernte Reiseführer auswendig, die Räume des Hafenbades, Frigidarium, Apodyterium, Tepidarium. Wenn mein Vater zurückkam, zählte ich ihm die Gebäude auf, der Hadrianstempel, sagte ich, die Hanghäuser, das Oktogon und der Brunnen des Gründers Androklos, die Latrina, das Bordell, die Celsusbibliothek. Hast du gewusst, fragte ich ihn, dass die früher am Klo nebeneinander gesessen sind, ganz ohne Wand dazwischen, ich kicherte, ich möchte auch so ein Klo, sagte ich und wir überlegten, wo denn im Haus noch Platz wäre für eine Latrine. Wenn ich vom Bordell sprach, ärgerte er sich, das ist ein Märchen, sagte er, das erzählen die Reiseführer, weil es die Touristen gerne hören, dort war kein Bordell, völliger Blödsinn. Die Frage nach dem Bordell beantwortete er mit einem langatmigen Exkurs über Prostitution in der Antike, findest du nicht, dass das zu weit geht?, fragte die Mutter, sie ist erst sechs.

Die Tatsachen des Lebens, sagte mein Vater, kann man gar nicht früh genug erfahren, und dann erklärte er mir, dass es Agorá hieß, Betonung auf dem zweiten a, dass aber Strabo kein Geograpf, sondern ein Geograph gewesen war, das war ein Druckfehler im Reiseführer.

Wenn ich an Ephesos dachte, sah ich die weißen Segel der Schiffe, die in den Hafen einfuhren und Waren brachten von überall her. Wein in Amphoren und Öl, Getreide und duftende Salben, Ballen von Seide, glänzende Stoffe und Farben, die Stoffe zu färben, Gewürze in Säcken, die rochen betäubend, thasischer Marmor, Elfenbein von den Küsten Afrikas und Zedernholz aus dem Libanon, Gold und Silber und Edelsteine, Bernstein und Pelze und wilde Tiere, das gesamte römische Imperium war auf diesen Schiffen, war in Ephesos.

Ich dachte mir die weiße Stadt und das bunte Gewühl. In den Nischen, in den Gewölben, in den Tempeln und auf den Straßen ballte sich das Leben, ich sah die Matrosen, die Händler, die Gelehrten, die Soldaten und die Huren, die dachte ich mir in schillernden Gewändern mit einem grellen Lachen, oder sie rochen sanft. Die ehrbaren Frauen, dachte ich, die Vestalinnen, die Sklaven und die Senatoren, die sich auf den Plätzen drängten, die Gladiatoren, die Theaterbesucher, die Handwerker, die Priester und die Prediger. Paulus dachte ich mir, wie er gegen die Göttin wetterte, seine Anhänger und seine Gegner, groß ist die Artemis von Ephesos, schrieen dreißigtausend im Theater. Silberschmiede dachte ich mir, und Johannes und die Gottesmutter, Artemis und Maria, dass sie beide dort gewesen waren, das erstaunte mich, wie kam denn das zusammen.

Ich liebte die Katzen, die in der alten Stadt lebten, der Vater fotografierte sie für mich. Nachkommen, sagte mein Vater und zwinkerte mir zu, Nachkommen der griechischen Katzen, der römischen Katzen, der orientalischen Katzen, die jahrtausendelang dort gelebt haben. Ich betrachtete sie ehrfürchtig, und ich sah das Griechische, das Römische, das Orientalische in ihren Gesichtern, die waren schmal, ihre Körper waren schlank und ihre Augen standen schräg.

Im Kindergarten zeichnete ich Frauen mit Brüsten und die Tante lud die Eltern vor, das war das einzige Mal, dass mein Vater in eine Sprechstunde ging. Frühreif, sagte die Tante und errötete, Humbug, sagte der Vater. Als ich das Wort »Stierhoden« einwarf, beendete die Tante die Unterhaltung. Ich hatte Erbarmen und unterließ es, den Gott Bes, dessen riesiger Phallus mich faszinierte, zu zeichnen.

Die weiße Stadt und mein Vater, der kam und ging, der im Frühling verschwand und im Herbst wiederkehrte. Der Vater schickte Postkarten, auf die hatte er Zypressen hingeworfen vor einem violetten Himmel und umgestürzte Säulen, um die sich Grünes rankte. Am Telefon beschrieb er mir die Mosaike in den Hanghäusern, er sang mir Lieder vor, die die türkischen Arbeiter auf ihren Festen sangen, wenn du größer bist, sagte er, nehme ich dich mit, versprochen. Aber dann war etwas passiert zwischen meinen Eltern und wir hatten das große Haus verlassen, meine Mutter und ich, die Villa in dem Park, in dem die Bäume das Licht grün filterten, mein Zimmer unter dem Dach, von dem aus ich auf den kleinen Teich sah und auf die Linden und Buchen, auf die Ahornallee. Wir verließen das helle Studio meiner Mutter und die Bibliothek des Vaters, in der es einen Kamin gab, an dem ich im Winter saß, und mein Vater breitete Karten vor mir aus, die eine alte Welt zeigten, mit Meeresungeheuern und Menschenmonstern. Die Winde bliesen, wir trieben gemeinsam in schwarzen Ozeanen, vollbackig aus allen Himmelsrichtungen, und hinter uns knackte das Holz im Feuer.

Etwas war passiert und die Villa, das grüne Licht, die Bibliothek meines Vaters und die weiße Stadt versanken, ich ließ sie hinter mir, weil es keinen Platz dafür gab in der Wohnung, in der ich dann mit der Mutter lebte. Du kannst jederzeit zu mir kommen, hatte der Vater gesagt, das ist dein Zuhause, aber irgendwie war nie die Zeit, in der es passte. Manchmal verbrachte ich ein Wochenende in der Villa, der Vater arbeitete in der Bibliothek, er sah auf, wenn ich die Tür einen Spalt öffnete, als ob er sich erinnern müsste, wer ich war, ich bin draußen, sagte ich, er nickte, ich wäre gerne mit ihm in der Bibliothek gesessen, ich hätte ihn nicht gestört. Er hätte geschrieben, ich hätte gelesen, in den dicken Wälzern geblättert, wie ich es früher getan hatte, aber etwas war passiert und das ging nicht mehr. Also hatte ich lieber etwas anderes zu tun, wenn er mich zu sich einlud, er tat es nur halbherzig, schien mir, und war erleichtert, das war er doch, wenn ich ablehnte. Ich bin bei einer Freundin, sagte ich, wir haben Besuch, ich muss lernen. Kannst du das nicht bei mir?, fragte er, ich verdrehte die Augen und er fragte nicht mehr.

Als ich größer war, gingen wir, wenn er in Wien war und Zeit hatte, einmal in der Woche essen, wir trafen einander zum Frühstück im Imperial oder zum Mittagessen beim Plachutta, manchmal abends im Steirereck, Esskultur, sagte er und weigerte sich, mit mir zu McDonald’s zu gehen. Die Länge eines Essens, das ertrugen wir, befangen beide, weil es nichts mehr gab, worüber wir reden konnten. Wenn ich ihm erzählte, was ich las, entspannte er sich. Er lachte über meine Beschreibungen von Mitschülern, von Lehrern, manchmal erzählte er vom Institut, Seltsames und Abstruses, wenn wir uns verabschiedeten, bis nächste Woche, sagte er, und immer schien es mir, als würde er aufatmen, oder auf etwas warten, bis nächste Woche, und wir hatten nichts von uns erzählt.

Du kannst bei mir übernachten, sagte er, wenn es spät wurde. Ich sagte jedes Mal Nein, weil ich es nicht ertragen hätte, das große Haus und er und ich, weil es uns beide überfordert hätte. Er würde nicht wissen, wo die Bettwäsche war, er würde versuchen, mir beim Bettüberziehen zu helfen, das würde mich ungeduldig machen, er würde das Gefühl haben, er müsste etwas Väterliches sagen oder mit mir über meine Mutter reden. Ich hasste es, wenn er mich fragte, wie geht es deiner Mutter, was geht es dich an, habe ich einmal gesagt, danach hat er auch das nicht mehr gefragt. Beim Frühstück würde er über meine Zukunft reden wollen, vor lauter Verlegenheit würde er große Wörter in den Mund nehmen, »Verantwortung« und »Zielstrebigkeit« und »Vision«, ich war dreizehn, vierzehn, ich war fünfzehn, was kam er mir mit Verantwortung, also sagte ich Nein, wenn er mich fragte, ob ich nicht bei ihm übernachten wolle. Ich bring dich heim, sagte er, ich nehme die Straßenbahn, sagte ich, als ich schon älter war, also gab er mir Geld für ein Taxi, das nahm ich und fuhr mit der Straßenbahn nach Hause.

Wenn er von Ephesos erzählte, das tat er immer noch, hätte ich mir gerne die Fäuste in die Ohren gestopft. Ephesos gab es nicht mehr, nicht für mich, und ich wollte vergessen, was mir die weiße Stadt gewesen war.

Das Bestattungsinstitut, das mein Vater beauftragt hat, heißt Elysium. Elysium, höre ich die Stimme meines Vaters, die Insel der Seligen, ein Ort oder Zustand vollkommener Glückseligkeit. In der griechischen Mythologie, sagte der Vater, ist es der Ort, an den die antiken Helden, die Außerordentliches geleistet haben, entrückt werden, ohne dass sie den Tod erleiden.

Er schrieb mir das Wort auf: ελύσιον, und ich buchstabierte: E-l-y-s-i-o-n.

Nach Vergil, sagte mein Vater, herrscht dort der ewige Frühling, dort scheint eine eigene Sonne und die Sterne, die die Nacht erhellen, sind nicht von dieser Welt. Es war ja die Geograpfie, sagte er und ich kicherte, die Geograpfie, wiederholte er mit fester Stimme und ohne eine Miene zu verziehen, die Geograpfie der antiken Unterwelt eine wesentlich vielfältigere und interessantere als die christliche Vorstellung vom Jenseits. Himmel, Hölle, Fegefeuer, eventuell noch der Limbus, aber wer kennt den heute noch?

Wir schüttelten besorgt die Köpfe.

Erzähl, sagte ich, erzähl von der Unterwelt.

Mein Vater sprang auf. Warte, sagte er. Wenn er sagte, warte, dann war ihm etwas eingefallen, dann musste er etwas suchen, das er mir zeigen wollte. Hades kennst du, sagte er.

Ich nickte, der grässliche Herrscher der Unterwelt.

Er schlug verschiedene Bücher vor mir auf. Hades, der Persephone raubte, die Büste eines bärtigen Mannes mit wild gelocktem Haupthaar, über die nackte Schulter ein schwarzes Tuch geworfen, Hades und Persephone, lächelnd auf einem Thron, mit Früchten und Weizengarben in den Händen.

Siehst du, sagte der Vater, er ist nicht nur grässlich. Mit Persephone an seiner Seite ist er nicht nur grässlich.

Die Unterwelt also, sagte mein Vater und blätterte in den Bänden, das schaurige, öde Reich des Hades schließt den Tartarus ein, das ist die tiefste Region, in die die Frevler gestoßen werden, die Verdammten, die hier ewige Qualen erleiden. Der Tartarus, die asphodelischen Felder, die elysischen Gefilde.

In meinem Kopf explodierten Farben und Klänge. Asphodelische Felder, sagte ich, wie sehen die aus?

Dort wachsen Blumen, sagte der Vater, bleiche, blasse Blumen mit violetten Blättern. Davon ernähren sich die Seelen, die dort leben. Auf den asphodelischen Feldern leben, wenn man das noch so nennen kann, die, die weder im Guten noch im Bösen Besonderes geleistet haben.

Ist das gut, fragte ich, ist es dort gut?

Mein Vater wiegte den Kopf. Was denkst du, fragte er, und ich wusste nicht, was es hieß, im Guten oder im Bösen etwas Besonderes zu leisten.

Der Eingang zum Totenreich, sagte mein Vater schließlich, ist eine Kluft, die sich am Ende der Welt am Ufer des Okeanos befindet, im Land der Kimmerier, im Hain der Persephone, wo Pappeln und Erlen und Weiden wachsen.

Ich mag Pappeln, sagte ich. Und Erlen. Und Weiden.

Mein Vater lächelte. Ja, sagte er. Ich auch.

Seine Augen, sah ich, hatten die Farbe der Pappeln im Frühling. Wenn dort Pappeln wachsen, dachte ich, ist es gut.

Es gibt fünf Flüsse, sagte mein Vater und schlug ein anderes Buch auf. Den Styx kennst du? Er umfließt die Unterwelt neun Mal und ist die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Totenreich. Er schlug ein Bild auf, das zeigte Charon in einem Boot, wie er durch einen Fluss voller Leiber fuhr, mich schauderte, ein Fluss voller Leiber, die sich übereinander wälzten, im Untergehen sich an anderen Leibern festhielten, andere in die Fluten drückten, um selbst nicht unterzugehen, nimm uns mit, hörte ich sie flehen, ein Fluss voller Leiber, nimm uns mit, Arme, die sich nach dem Boot ausstreckten, Köpfe, die sich aus den Fluten erhoben, der Fährmann stieß sie erbarmungslos mit seinem Ruder zurück und etwas knirschte, als er auf ihre Arme und Beine, ihre Köpfe schlug, knirschte und hallte dumpf, und zwei standen aufrecht im Nachen, nur zwei, groß und aufrecht im Nachen.

Dann ist da noch der Acheron, sagte mein Vater, an dessen Mündung steht ein Totenorakel, dann der Kokytos, der Fluss des Wehklagens.

Kokytos, wiederholte ich, Fluss des Wehklagens.

Wenn die Verstorbenen aus diesem Fluss trinken, sagte mein Vater, erkennen sie, dass sie ihr Leben in der Oberwelt verloren haben. Der Pyriphlegethon, Py-ri-phle-ge-thon, wiederholte ich, der Flammende, führt kein Wasser, sondern kochendes Blut und Flammen, kochendes Blut und Flammen, stöhnte ich, die schwarz und feurig alles verbrennen und niemals erlöschen.

Ich seufzte tief auf.

Im Lethestrom, dem Strom des Vergessens, fuhr mein Vater fort, verlieren die Verstorbenen die Erinnerung an ihr Leben in der Oberwelt. Das ist gut, sagte mein Vater, die Erinnerung verlieren, wie könnten sie sonst ohne das Licht der Sonne, du kennst die griechische Sonne nicht, ohne das Licht der Sonne dort sein.

Dann wissen sie nichts mehr, fragte ich, von dem, was vorher war?

Nichts mehr, sagte mein Vater. Die Sonne nicht, das Wasser nicht, den Geschmack der Feigen nicht. Wie ein Baby riecht, im Schlaf, wissen sie nicht, oder wie ein Lied klingt am Morgen und nicht den Schmerz, wenn ein anderer stirbt.

Der Vater sah mich nachdenklich an.

Wie riecht ein Baby im Schlaf?, fragte ich.

Süß, sagte er und lachte und hob mich hoch, und seine Augen, die Farbe der Pappeln im Frühling, leuchteten.

Die Dame vom Bestattungsinstitut schnäuzt sich. Heuschnupfen, sagt sie, das ganze Jahr über, schrecklich. Die Blumen, die unsere Branche verlangt, machen es nicht besser, schauen Sie mich an, wie ich aussehe, vorbildlich, sage ich, für Ihr Unternehmen.

Sie sieht mich mit geröteten Augen verständnislos an, wie kann ich Ihnen helfen, fragt sie.

Ich habe angerufen, sage ich. In der Sache Reiterer.

Ach ja, sagt sie und stopft umständlich ihr nasses Taschentuch in den Ärmel ihrer Bluse. Der gute Herr Professor. Ist er also von uns gegangen. Mein herzliches Beileid.

Sie streckt mir eine feuchte Hand entgegen.

Was muss ich tun, sage ich, es ist das erste Mal, dass ich –

Die Dame unterbricht mich strahlend. Machen Sie sich keine Sorgen, flötet sie, der gute Herr Professor hat sich um alles gekümmert. Es darf etwas kosten, hat er gesagt, es soll etwas gleichschauen, und es soll alles von Ihnen, also von uns, erledigt sein, er wollte nicht, dass sich irgendjemand noch mit irgendetwas belasten muss.

Das heißt?, frage ich.

Schauen Sie, sagt sie begeistert, die Linie unseres Unternehmens ist da ganz klar. Mit dem Kunden, dem zu Bestattenden durch dick und dünn. Sie sollen sich wohlfühlen als zu Bestattender! Sie sollen das Gefühl haben, nach Hause zu kommen! Sie sollen, die Dame jauchzt beinahe, feuertrunken diese Erde verlassen! Sie schiebt mir eine Broschüre zu, wir machen Sie selig, unser Firmenmotto, strahlt sie mich an. Das hat übrigens der Herr Professor vorgeschlagen.

Verblüfft nehme ich die Broschüre entgegen. Und Sie sind, fragt mich die Dame, in welchem Verhältnis standen Sie zu dem teuren Verstorbenen?

Ich bin die Tochter, sage ich.

Ach, das ist schön, strahlt die Dame, die Tochter. Das freut mich für den lieben Herrn Professor!

Wenn Sie mir, sage ich verwirrt, sagen könnten, was mein Vater vorgesehen hat und was ich noch zu erledigen habe, es gibt doch sicher Dinge, Bürokratisches, die Parte, die Messfeier, ist er wo aufgebahrt? Erst jetzt fällt mir ein, dass mein Vater wahrscheinlich hier irgendwo untergebracht ist, Blumen, stottere ich, und Kränze, ist denn ein Anzug da?

Die Dame sieht mich enttäuscht an. Aus dem zweiten Blusenärmel fischt sie ein ebenso unansehnliches Taschentuch und wischt sich Augen und Nase. Aber ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir uns um alles kümmern, murmelt sie in das Tuch hinein. Sie weist auf die Broschüre, Seite fünf bis sieben, sagt sie und verstaut das Taschentuch, das sind die Leistungen, die Sie von uns erwarten können.

Verschiedenes ist schon erledigt, sagt die Dame, die Verständigung des Totenbeschauarztes natürlich oder die Beurkundung am Standesamt, die Benachrichtigung der zuständigen Pfarre. Wir haben Ihre Mutter benachrichtigt, die Sie dann anrufen sollte, das hat der Herr Professor so gewollt, das Kind soll es nicht von einem Fremden hören, hat der Herr Professor gesagt. Ich habe Sie mir gar nicht vorstellen können, sagt die Dame und sieht mich neugierig an, der Herr Professor hat immer vom Kind gesprochen.

Ja, sage ich, und blättere auf die Seite fünf, Ihr lieber Herr Vater, strahlt die Dame, hat das Komplettprogramm gebucht. Keine Seebestattung und kein Einbalsamieren, das wollen die wenigsten, aber ansonsten, sie schlägt eine Mappe auf, ich kann Ihnen das gerne mitgeben, haben wir ganz genaue Instruktionen Ihres Vaters bezüglich jedes dieser Punkte. Und das, sagt sie, sie reicht mir einen verschlossenen Umschlag, wenn das Kind kommt, hat Ihr Herr Vater gesagt, geben Sie ihm das.

Ich nehme den Umschlag, der ist groß, Anastasia Reiterer steht darauf und meine Adresse, ich stopfe den Umschlag in meine Handtasche.

Der gute Herr Professor, sagt die Dame und tupft sich die Augen, hat gerne hier vorbeigeschaut, dann haben wir seinen letzten Weg besprochen. Er konnte sich lange nicht entscheiden, was auf der Parte stehen sollte, geboren, gestorben, was gibt es mehr zu sagen. Es soll sich niemand verdrehen müssen, hat er gesagt. Ewiges Gedenken, was für ein Humbug, hat er gesagt. Nie vergessen, Blödsinn, es ist das Vergessen eine Gnade, Frau Pölzinger, hat er gesagt. Frau Pölzinger, das bin ich, sagt die Dame verschämt und birgt ihr Gesicht in einem neuen Taschentuch.

Er hat sich für eine Grabstelle auf dem Friedhof Kahlenbergerdorf entschieden, sagt die Frau Pölzinger, ich habe Ihnen die wichtigsten Informationen aufgeschrieben, seine Adresse gewissermaßen, Reihe 17 Grab 9, Name und Telefonnummer des Pfarrers, falls Sie mit ihm reden wollen. Es ist aber der Ablauf, die musikalische Gestaltung, das ist alles mit dem Organisten, den Musikern und dem Chor abgesprochen, der Herr Professor hat das alles noch zu Lebzeiten gemacht.

Blumenschmuck, lese ich, keiner. Neben meinem Sarg, hat der Vater geschrieben, der verschlossen ist, es soll mir keiner ins Gesicht starren, eine Indiskretion ist das, neben dem Sarg ein Foto, wir haben es schon gerahmt, sagt die Dame.

Sie kramt in einem Kasten, macht Laden auf und zu, hier, sagt sie.

Was ich sehe, erinnert mich, Steine, Licht und Gras.

Es wird alles bereit sein, sagt die Dame, machen Sie sich keine Sorgen.

Und die Kosten?, fragte ich.

Sterben ist nicht billig, sagte die Dame, aber es ist alles bezahlt, ausgenommen die Musik, das ist Ehrensache, haben die Musiker gesagt, nette junge Leute, das sind Kollegen Ihres Vaters. Die wollen nichts nehmen, Frau Pölzinger, hat Ihr Vater gesagt, soll noch einmal einer über die Jugend schimpfen. Aber alles andere ist erledigt, selbst die Trinkgelder für die Leichenwäscher. Das ist nicht üblich, habe ich ihm gesagt, aber er hat darauf bestanden, die Trinkgelder für die Leichenträger, etwas für die Ministranten, den Vorbeter, es soll doch alles seine Ordnung haben, hat er gesagt.

Dann lacht die Dame auf. Der Leichenschmaus, sagt sie vergnügt, der Leichenschmaus war ihm ganz besonders wichtig. Hier darf nicht geknausert werden, Frau Pölzinger, hat er gesagt, eine gute Nachrede in diesem Punkt ist von höchster Dringlichkeit. Er hat einen feinen Humor gehabt, der Herr Professor, und, wenn ich das so sagen darf, er war ein Kavalier der alten Schule.

Die Dame schnäuzt sich heftig, diesmal aus einer tränenden Rührung heraus. Sehen Sie, sagt sie, das ist die Liste, an wen aller die Parte geht, und das ist die Liste mit denen, die ausdrücklich persönlich zum Leichenschmaus geladen sind.

Ich überfliege die Leichenschmausliste. Freunde und Weggefährten meines Vaters aus dem In- und Ausland, ich stocke kurz bei einem Namen, einen anderen Namen suche ich vergeblich. Hier, sagt die Dame und zeigt auf das Ende der Liste, eine ganz besondere Ehre ist es mir, hat der Vater geschrieben, Sie, liebe Frau Pölzinger, bei diesem Schmaus im Geiste begrüßen zu dürfen.

Das freut mich, sage ich, und die Dame bricht in Tränen aus. Es ist alles bezahlt, sagt sie, Sie werden in keiner Weise belastet. Wollen Sie die Menüfolge sehen?, fragt mich die Dame, ich winke ab, der schwere Duft der Buketts verursacht mir Kopfweh.

Sie tätschelt meine Hand, das ist eine schwere Zeit, sagt sie, aber der Herr Professor ist gut vorbereitet von uns gegangen. Und jetzt, sagt sie, jetzt wollen Sie sicher Ihren Vater sehen, wir haben ihn für Sie vorbereitet.

Nein, will ich sagen, das muss nicht sein, aber sie hat mich schon sanft am Unterarm genommen, es ist nicht schlimm, sagt sie, er sieht sehr gut aus. Sie führt mich in den hinteren Bereich, in einen kühlen Raum, der ist mit Samt ausgeschlagen, da steht ein Sarg, rotgoldenes Holz, die Blumen, sagt sie, die habe ich ihm hingestellt, es ist doch sonst so leer. Ich lasse Sie jetzt allein, sagt sie, ich starre auf meinen Vater hinunter, ich habe ihn nicht gekannt als alten Mann.

Ich hatte die weiße Stadt vergessen und was sie mir gewesen war. Ich hatte vergessen, dass ich, seit ich denken konnte, den Vater angebettelt hatte, mich dorthin mitzunehmen. Ich hatte vergessen, dass das meine Stadt war und dass sie mir gehörte.

Ich war mit der Mutter aus der Villa ausgezogen, ich war vom Vater weggegangen, der hatte mich nicht aufgehalten, da hatte ich es nicht mehr wissen wollen. Vielleicht hatte es einen Schmerz gegeben, Phantomschmerz, eine Zeit lang, aber als meine Mutter sagte, da war ich siebzehn, du fährst im Sommer zu deinem Vater nach Ephesos oder du bleibst hier, da war die Türkei, Ephesos, der letzte Ort gewesen, an dem ich meine Sommerferien verbringen wollte.

Du hast gesagt, schrie ich meine Mutter an, ich kann mit dir nach Amerika kommen! Du hast es versprochen! Ich nehme mir Zeit, hast du gesagt, wir mieten uns einen Wohnwagen nach den Auftritten, hast du gesagt, das war dein Maturageschenk, wieso geht das jetzt nicht?

Mach nicht so ein Theater, sagte meine Mutter, das ist einmal so im Leben, man kriegt nicht immer das, was man will.

Aber du hast es versprochen!, schrie ich. Seit einem halben Jahr reden wir von nichts anderem als von Amerika, wie ich mit dir die Städtetournee machen kann, Seattle, Detroit, Washington, New Orleans, L. A., San Francisco, wie wir mit dem Wohnwagen herumfahren, die Great Plains, der Yellowstone Nationalpark, du hast es versprochen!

Sie haben das Programm geändert, sagte meine Mutter. Es ist viel straffer, ich hätte kaum Zeit für dich, ich werde todmüde sein, es gibt noch Termine in der Zeit, wo ich mir freinehmen wollte, es geht nicht.

Es ist wegen dem Typ, richtig? schrie ich die Mutter an. Du willst, dass er mitfährt, wie heißt er, Julio? Roberto? Du nimmst ihn mit und lässt mich da, das ist nicht fair, das ist einfach nicht fair.

Was ist schon fair im Leben, sagte meine Mutter und in ihrer Stimme war eine Härte. Es ist, wie ich es dir gesagt habe, ich werde keine Zeit haben, ich werde todmüde sein, ja, Claudio fährt mit, aber das hat nichts damit zu tun, ich brauche ihn.

Wozu, sagte ich, dass er dich fickt?

Einen Moment, nur einen Moment lang dachte ich, dass sie darauf reagieren würde, dann lächelte sie, ihr sehr gelassenes Lächeln, das sie immer hat, wenn da einer ist, mit dem sie schläft, werd jetzt nicht unverschämt, sagte sie, du fährst zu deinem Vater nach Ephesos oder du bleibst hier. Amerika ist nicht, tut mir leid.

Im Leben meiner Mutter hat es viele Männer gegeben. Vielleicht war das schon so gewesen, als sie noch mit meinem Vater verheiratet war, es war jedenfalls so, als wir beide dann alleine lebten. Ich nahm es hin, dass fremde Männer in der Küche auftauchten, wenn ich mir mein Frühstück machte, wenn ich von der Schule nach Hause kam, das heißt nichts, sagte die Mutter, lass mir meinen Spaß, es nimmt dir keiner was weg. Manche sah ich nur einmal, andere kamen wieder und besetzten vormittags das Badezimmer und nachts das Schlafzimmer meiner Mutter. Seit sie mit ihrer Tanztruppe die ersten Erfolge hatte, lebten wir in einer größeren Wohnung, trotzdem bekam ich es mit, wenn diese Robertos und Claudios mit meiner Mutter im Schlafzimmer zugange waren, dann lag ich wach und dachte, dass ich nie, nie nie nie so lieben wollte wie die Mutter.

Freiheit, sagte sie, wenn die Igors und Julios wieder aus ihrem Leben verschwunden waren, nur wir zwei, sagte sie und sah beim Frühstück wieder so alt aus, wie sie war, dann fühlte ich mich fast wohl in unserer Wohnung. Die Mutter blieb zu Hause, oder wir gingen, wenn sie keine Auftritte hatte, gemeinsam ins Kino und danach zu McDonald’s, sie besuchte mit mir die Großeltern. Ich mochte es, wenn wir nur wir zwei waren, aber das war nie für lange, dann wurde sie unruhig. Du solltest mehr unter junge Leute, sagte sie, mir geht es gut, sagte ich, ihr Jungen, sagte sie, feiert ihr nicht die Nächte durch, ich nicht, sagte ich, und dann begann meine Mutter wieder alleine auszugehen und an einem Morgen fand ich wieder das Badezimmer besetzt, während meine Mutter mit einem Frühstück für zwei in ihrem Schlafzimmer verschwand.

An meinem siebzehnten Geburtstag hatte sie darauf bestanden, dass ich mit ihr ins Sacher ging. Noch vor dem Kaffee hatte sie das erste Glas Champagner getrunken. Nach ihrem dritten Glas hatte sie mich gefragt, warum da keine Burschen waren in meinem Leben. Wenn du dich für Mädchen interessierst, sagte sie, ist es auch recht, ich hab damit kein Problem.

Mama, sagte ich, bitte.

Sie verzog ihr Gesicht. Ich heiße Eva, sagte sie und sah sich nach dem Kellner um, ist es so schwierig, sich das zu merken? Weil ich nichts darauf erwiderte, wiederholte sie ihre Frage. Du bist doch ein hübsches Mädel, sagte sie, wenn du dich noch ein wenig auswächst, könntest du eine Schönheit werden, doch, sagte sie, als ich die Augen verdrehte, das sage ich nicht als Mutter, das sage ich als Profi, ich habe genug Mädchen gesehen, du machst nur einfach zu wenig aus dir.

Sie musterte mich mit ihrem Kennerblick, den ich hasste, du hast eine gute Knochenstruktur, sagte sie, ich drehte den Kopf weg, als sie nach meinem Kiefer griff. Gute Zähne, gute Haare, ich bin kein Pferd, Mama, sagte ich, hör auf damit.

Warum du deinen Busen versteckst, verstehe ich nicht, fuhr meine Mutter fort, zieh dir einen BH an und zeig, was du hast, Männer wollen was sehen, Männer funktionieren über die Augen, merk dir das. Sie winkte dem Kellner und bestellte noch ein Glas Champagner.

Das interessiert mich nicht, Mama, sagte ich. Wieso soll ich mich herausputzen wie ein Zirkuspferd, für wen und wozu, das ist so lächerlich. Wenn ich mir die Mädchen aus meiner Klasse anschaue, sobald so ein Typ auftaucht, kennst du sie nicht wieder, das ist ein blödes Herumgetue, die sind doch alle sowas von daneben, sagte ich.

Daneben, wiederholte die Mutter, und was heißt das?

Das heißt, sagte ich ungeduldig, dass sie sich in hirnlose Idiotinnen verwandeln, in dumme Gänse, kuhäugige Zombies, das ist mir doch echt zu blöd. Und schau dich an, sagte ich, wütend, weil wir dieses Gespräch nicht zum ersten Mal führten.

Ja, sagte meine Mutter lauernd, was ist mit mir?

Nichts, sagte ich. Ich stopfte mir ein Lachsbrötchen in den Mund.

Hast du ein Problem damit, dass ich mir nehme, was ich will?, fragte meine Mutter.

Nein, sagte ich.

Hast du ein Problem damit, dass ich mein Leben so lebe, wie ich es will?

Nein, sagte ich.

Und dazu gehört, das kann dir ja nur schwerlich entgangen sein, auch ein erfülltes Sexualleben.

Ja, sagte ich. Klar, sagte ich. Ich hab kein Problem damit, du tust, wie du willst. Aber lass mich tun, wie ich will.

Meine Mutter lehnte sich lächelnd zurück. Sie fuhr sich mit den Händen durch ihr langes Haar, das war kastanienbraun wie meines, mit einem rotgoldenen Schimmer darin, du wirst schon noch draufkommen, sagte sie.

Worauf?, fragte ich unvorsichtigerweise.

Wie gut das tut, sagte meine Mutter, ein guter Fick, sagte sie, vielleicht um sich dafür zu rächen, dass ich sie während des gesamten Frühstücks nie Eva genannt hatte. Ein Morgenfick, sagte sie und ihre Augen glitzerten, ein Abendfick, ein Nachmittagsfick.

Hör auf, sagte ich, ich kann das nicht hören.

Meine kleine prüde Tochter, sagte sie. Wie komme ich bloß zu einer so prüden Tochter?

Ich bin nicht prüde, sagte ich. Ich hasse es nur, wenn du so redest.