Mord im Altmühltal - Martin Meyer - E-Book

Mord im Altmühltal E-Book

Martin Meyer

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Beschreibung

Der Großgastronom Pit Baldauf möchte einen Biergarten eröffnen - ausgerechnet am Karlsgraben bei Treuchtlingen, der unter Denkmalschutz steht. Das erhitzt die Gemüter der Anwohner sowie der Historikerin Ricarda Held, die über die Geschichte des Landstrichs forscht. Das Projekt soll zu Fall gebracht werden. Da kommt die Leiche des Hobby-Archäologen Meindl, die im Karlsgraben entdeckt wird, gerade recht. KOK Hans Wörle ermittelt: Hat die Tat mit dem Biergarten zu tun? War Meindl einem Geheimnis im Karlsgraben auf der Spur?

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Martin Meyer

Mord im Altmühltal

Kriminalroman

Zum Buch

Tod am KarlsgrabenAltmühltal, Jahrhundertsommer 2018. Großgastronom Pit Baldauf möchte einen Biergarten eröffnen, ausgerechnet am Karlsgraben bei Treuchtlingen, der von Karl dem Großen errichteten und unter Denkmalschutz stehenden Kanalrinne zwischen Altmühl und Rezat. Eine Bürgerinitiative sowie die Historikerin Ricarda Held, die über die Geschichte dieses Landstrichs forscht, wollen das Projekt unbedingt zu Fall bringen. Ricarda Held befürchtet, dass der Biergarten dort für den umtriebigen Baldauf nur der Versuchsballon für ein überdimensioniertes Luxushotel ist. In dieser explosiven Gemengelage wird der Hobby-Archäologe Max Meindl im Karlsgraben ermordet. Neben der Leiche liegt ein Spaten. KOK Hans Wörle von der Kripo Ansbach ermittelt und auch Ricarda Held geht der Sache nach. Hat die Tat mit Baldaufs Biergarten zu tun? War Meindl, ohne es zu ahnen, einem Geheimnis im Karlsgraben auf der Spur?

Martin Meyer, geboren 1967, studierte Jura und war in Bamberg als Staatsanwalt und Richter tätig. Nach seinem Ausscheiden aus dem Justizdienst im Jahr 2007 öffnete er sich seinen literarischen Begabungen und schreibt seither Romane, Kurzgeschichten und Gedichte. Er spürt in seinen Texten den Wunden und Brüchen im Menschen nach. Sein juristisches Fachwissen gibt er heute als Dozent in Workshops weiter. Außerdem spielt er Orgel und Posaune. So gilt sein Ohrenmerk stets dem Dreiklang von Sinn, Text und Wort. Martin Meyer lebt mit seiner Frau in Franken. Im Sommer 2020 erschien sein Romandebüt »Der falsche Karl Valentin«.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Vera Trescher; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Karlsgraben,_Panorama.jpg

ISBN 978-3-8392-7136-0

 

 

Montag 23.07.2018

19 Uhr. Max Meindl.

Meindl gab Gas, als er in seinem Mercedes-Kombi auf dem abendlichen Heimweg vom Karlsgraben zu seiner Doppelhaushälfte am Rande der Eisenbahnerstadt Treuchtlingen fuhr. Wieder hatte der Hobbyarchäologe mehrere Stunden mit Graben verbracht, auf der Suche nach Karlsreliquien, wie so oft seit seiner Pensionierung.

Seit Tagen wartete er auf Post aus Mainz. Wann bekam er endlich die Münze zurück, die er gefunden hatte? Und vor allem: Stammte sie von den Karolingern?

Schon von Weitem sah er es, ein Umschlag spitzte durch das Sichtfenster seines Briefkastens an der Haustür. Doch den konnte er nur von innen öffnen. Er nahm den Spaten aus dem Kofferraum und brachte ihn in den Schuppen. Setzte sich anschließend auf die Treppe zur Haustür und quälte sich aus seinen Gummistiefeln. Denn seine Knöchel waren wieder bedrohlich geschwollen.

Die Watteweste, die er beim Graben stets trug, war zu warm, der Schweiß rann ihm den Buckel hinunter, mehr als zuvor in diesem Jahrhundertsommer. Zu heiß für sein schwächelndes Herz.

»Jetzt sei so gut!«

Er zerrte den zweiten Stiefel vom Bein, stellte die Treter auf die oberste Stufe der Vortreppe und hebelte sich aus dem Sitzen. In Socken schlurfte er zur Tür, schloss auf, öffnete den Briefkasten, schlitzte das Kuvert noch im Windfang mit dem Zeigefinger auf und entnahm die darin enthaltene Münze, die er vor etwa drei Wochen im Karlsgraben ausgegraben hatte, sowie das beigefügte Schreiben des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz. Das zu mickrig war, um das erhoffte Gutachten zu enthalten. Es war also, wie befürchtet, kein erfreulicher Brief. Er lautete knapp:

Es handelt sich nicht um eine karolingische Münze, sodass wir von der erbetenen Expertise absehen. Sie ist eindeutig römischen Ursprungs.

Die Provenienz (Kastell Biriciana, jetzt Weißenburg/Bayern) dürfen wir als bekannt voraussetzen.

In seiner Enttäuschung fasste Meindl in die Brusttasche nach dem roten Kugelschreiber, welchen er, Studiendirektor blieb schließlich Studiendirektor, auf Schritt und Tritt bei sich hatte, und versah das »Hochachtungsvoll« unter dem Schreiben mit einer tadelnden Wellenlinie. Er steckte den Kuli wieder ein, schlüpfte in seine Filzpantoffeln und schlurfte in sein Studierzimmer, wo er den Briefumschlag zu vier Zetteln für schnelle Notizen zerschnitt und den Brief in seinem Biedermeier-Sekretär verschwinden ließ. Mit einem Blutdruck jenseits von 180 sank er auf den Schreibtischstuhl und rang nach Luft.

Wie lange würde er noch graben können, um in der Fossa Carolina, wie der Karlsgraben von den Historikern genannt wurde, eine Münze oder eine goldene Stiefelschnalle des Frankenkaisers zu finden?

Hinter ihm ein Winseln, das Meindl aus den Grübeleien riss. Sein Dackel Pippin, der ihn auf allen Grabungen begleitete, dürstete nach Wasser.

»Langsam, langsam. Wirst du dich noch den einen Moment gedulden?«

Meindl erhob sich schwerfällig, ging in die Küche und gab Pippin zu trinken.

Blieb die Münze, über die sich sein bester Freund Wendelin Hartnagel freuen dürfte.

Zurück in seinem Studierzimmer, setzte sich Meindl an seinen Schreibtisch, nahm einen wattierten Briefumschlag aus der Schublade und adressierte ihn an Wendelin. Sein Freund war, wie er selbst, auch ein Außenseiter, ein kleiner Postbeamter im Vorruhestand, der nun auf Minijobbasis die Mesnerstelle an der katholischen Kirche bekleidete und damit seine dürftige Pension aufbesserte.

Meindl ließ die Münze in das Kuvert gleiten. Er legte, da kein Mann feierlicher Worte, nur einen Notizzettel mit »Zu treuen Händen« und »Pass gut auf Dich auf« mit hinein. Klebte den Briefumschlag mit zwei Streifen Tesafilm zu und versah ihn mit einer Briefmarke. Wendelin Hartnagel stiftete die Römermünze vermutlich dem Reichsstadtmuseum Weißenburg, in dessen Beirat er saß.

Noch.

Zu viele, die Wendelin bloß für einen Schmarotzer hielten. Was geradezu absurd war. Als ob man reich werden könnte mit dem kargen Sitzungsgeld. Auch in der Kirchengemeinde wollten ihn viele loswerden. Weil er an den Gottesdiensten die Kirchentüren sofort nach dem Ende des Glockengeläuts schloss. Recht so. Wer zu spät zur heiligen Messe kam, der hatte darin auch nichts verloren.

»Pippin, los jetzt!«

Meindl überlegte, sich umzuziehen, doch dies rentierte sich nicht für einen Gang durch das Städtchen. Und weil es ihm nicht schnell genug gehen konnte mit dem Brief. Daher würde er, statt zum nächsten Briefkasten, zu der im Zentrum Treuchtlingens gelegenen Mietwohnung Wendelins laufen und seinem Freund das Schreiben selbst zustellen. Meindl glitt in seine alten Sandalen und machte sich auf den Weg.

Als er am Ziel war, behagte ihm etwas nicht. Er fühlte sich nackt. Und erschrak bei dem Griff in die Hosentasche. Sein Geldbeutel fehlte, zwar die Grabengeldbörse ohne größere Barschaft, aber mit der PIN seiner Bankkarte. Wie fahrlässig von ihm!

Meindl sammelte sich. Er warf den Brief bei Wendelin ein, eilte durch die Bahnunterführung zurück nach Hause, den Dackel im Schlepptau. Immer wenn es pressierte, kam der nicht auf Touren.

»Scheißköter, hundselendiger!«

Es dämmerte schon, doch noch war es hell genug. Meindl ging rasch ins Haus, holte seine Stirnlampe und zog feste Halbschuhe an. Wieder zurück am Wagen, befahl er Pippin einzusteigen. Setzte sich ans Steuer, um noch einmal zum Karlsgraben zu fahren und nach dem Geldbeutel Ausschau zu halten.

Er hatte den Motor schon gestartet, zögerte dann aber. An der Stelle, wo er am Nachmittag gegraben hatte, war er auf etwas Seltsames gestoßen. Dem er, zu entkräftet von der stundenlangen Arbeit, nicht mehr auf den Grund gegangen war. Das wollte er nun nachholen.

Meindl stieg aus, streifte die Halbschuhe ab und quälte sich in die Gummistiefel. Er holte den Spaten aus dem Schuppen, lud ihn in den Kofferraum und machte sich eilig auf den Weg zum Karlsgraben.

Zum Glück fand sich dort schnell das Portemonnaie und er konnte in aller Ruhe weitergraben. Doch dieses Mal ohne den Hund, der störte ihn bloß.

Er steckte den Geldbeutel ein, führte Pippin zurück zum Auto und sperrte ihn in den Kofferraum seines Kombis. Nahm den Spaten und lief zurück zur Grabungsstelle.

20.45 Uhr. Pit Baldauf.

München, am selben Abend.

Pit Baldauf zog das Sicherungsseil der Abdeckung durch die Ösen am Anhänger und befestigte es sorgfältig. Darunter, fürs Erste, 200 Meter Stacheldraht in Rollen, um sein Grundstück am Karlsgraben einzuzäunen und damit die Fäden in Sachen »Biergarten am Karlsgraben« zu ziehen. Also um vollendete Besitztatsachen zu schaffen.

Stacheldraht, für den er ins anonyme München gefahren war, in einem von seinem Schwager geborgten BMW-SUV mit großem Hänger. In Altmühlfranken hätte sich der Kauf herumgesprochen, noch ehe der Draht verladen gewesen wäre.

Pit nahm sein neues Phone aus der schwarzen Five-Pocket-Edeljeans, aktivierte die Selfie-Kamera und bespiegelte sein Outfit. Betätigte den Auslöser und begutachtete das Resultat. Faszinierend, trotz der einsetzenden Dämmerung: sein markantes, sonnengebräuntes Gesicht, sein schlanker Hals und der Haifischkragen seines weißen Hemdes, dessen schnittige kurze Ärmel Bizeps und Trizeps bestens in Szene setzten.

»Passt!«

Er sicherte das Foto in der Cloud, steckte das Smartphone ein und lief noch einmal kontrollierend um den Anhänger. Machte sich auf den Weg, bretterte, so schnell es eben ging, durch die Ausfallstraßen des Münchner Nordens und erreichte rasch die Autobahn nach Nürnberg. Dort gab er Gas, trotz des Hängers. No risk, no fun. Sollte er geblitzt werden, dann saß er in einem fremden Auto, und sein Schwager war bei der Polizei und kannte daher seine Rechte. Nichts kam Tätern so zugute wie der treudeutsch hypertrophierte Rechts- und Gesetzesstaat.

Die Knarre!

Pit, bereits kurz vor Ingolstadt, ging unwillkürlich vom Gas. Er hatte das Jagdgewehr völlig vergessen, das er zusammen mit passender Munition vor dem Kauf des Stacheldrahts in einem Waffenladen besorgt hatte. Für einen Jagdgenossen, ganz legal, dank Jägerdiplom und Waffenschein.

Das Gewehr lag im Fond. Nicht sichtbar auf der Rückbank, sondern zwischen Rück- und Vordersitzen und noch in der originalen Sicherheitsverpackung. Doch sollte man das Schicksal auch nicht herausfordern.

Er fuhr mit 100 km/h weiter, bremste sogar brav auf 80, wo es vorgeschrieben war, und verließ die A9 an der Ausfahrt Altmühltal.

Auf der Hochstraße nach Eichstätt bog er im Wald kurz nach Pfahldorf in einen nach rechts abzweigenden Flurweg ab, dem er sicherheitshalber noch einen halben Kilometer folgte. Dann hielt er an, stieg aus, öffnete die Heckklappe des SUV und liftete die Bodenabdeckung des Kofferraums. Zum Glück hatte sein Schwager das Notrad aus dem Hohlraum entfernt. So war Platz genug für Knarre und Munition.

Rasch war Eichstätt erreicht. Die Grenzen der Schwerkraft voll auslotend, fegte Pit die kurvenreiche B13 hoch. Oben auf dem Jura angelangt, gab er Vollgas, besann sich jedoch, dass er mit seiner delikaten Fracht die letzten Kilometer bis zum Graben besser nicht auf Durchgangsstraßen zurücklegen sollte. So bog er bei Laubenthal von der B13 ab und fuhr auf Straßen dritter Ordnung über Suffersheim, Haardt und Dettenheim. Von wo aus er auf noch kleineren Straßen an das westliche Ende des Karlsgrabens gelangte. Zu seinem Grundstück. Ackerland, das er für ein wenig Geld den Bauern abgekauft hatte. Es lag direkt am Karlsgraben-Spielplatz und war nur durch die wenig befahrene Straße nach Grönhart vom Karlsgraben getrennt. Der ideale Ort für den geplanten Biergarten.

Mittlerweile war es Nacht, kurz vor 23 Uhr. Dennoch standen Pit Schweißtropfen auf der Denkerstirn, als er den Anhänger zum Abladen in Position rangierte.

Ganz zu schweigen von den schweren Drahtrollen. In München hatten kräftige Angestellte des Händlers mit angepackt; hier war er auf sich allein gestellt.

Nach der ersten Drahtrolle strich Pit die Segel. Trotz zweier ordentlicher Bizepse dank Fitnessstudio hob er sich einen Wolf mit dem Draht. Zumal die Stacheln piekten und ihm die Arme, ja sogar sein Gesicht zu malträtieren drohten.

Was tun, sprach Zeus?

Nein, ein Zeus verletzte sich nicht, sondern trommelte in aller Frühe die Göttin der Morgenröte und den Rest der Mannschaft zusammen. Pit ließ also die bereits abgeladene Rolle Draht am Rand des Grundstücks zurück und befestigte die Plane wieder am Hänger.

Denn Umsicht tat not. Was sich auch immer im Umkreis des Grundstücks abspielte, bedurfte stetiger Kontrolle. Zu viele Gegner und Neider im Lande, die ihm Pest und Cholera an den Hals wünschten, vor allem die links-grün-versiffte Gruppierung »Rettet den Karlsgraben«.

Der ging es nur vordergründig um Rettung von irgendetwas, in Wahrheit wollte diese Gruppe allein seinen Biergarten torpedieren.

Zornig, wie er war, hatte sich Pit in Wallung gelaufen. Hatte die Straße überquert und stand jetzt auf dem Spielplatz, der nicht mehr als ein Alibi war. Nur ein Tisch mit Bänken, Schaukel, Rutsche, Kletterturm und eine Wippe. Das lockte die Kids heute nicht mehr hinterm Ofen hervor.

Gut für ihn. Käme es darauf an, dann könnte er Gemeinde und Landratsamt ködern. Indem er selbst einen Spielplatz sponserte, der diesen Namen auch verdiente. Und allen Gästen des Biergartens zugutekam.

Ein Unbehagen aber blieb, denn vom Spielplatz aus hatten die Ämter einen weiteren Weg angelegt, der über eine hölzerne Brücke zum Wanderweg auf der anderen Seite des Grabens führte. Und nur um Haaresbreite an der Katastrophe vorbei.

Hätte man die Brücke lediglich fünf Meter weiter nach Norden gebaut, dann …

Pit schrak zusammen. Nahe der Brücke und genau diese paar Meter weit nach Norden, sprich links des Weges, dem Pit unwillkürlich ein Stück gefolgt war, flackerte ein Licht, das zu einer Stirnlampe gehören musste.

Keine Panik. Erst mal die Lage checken. Pit sammelte sich und trat etwas näher. Was er dank der hellen Nacht sah, bestätigte seine Befürchtungen. Diese Stirnlampe hatte einen Spaten dabei.

Da grub einer. Das konnte nur dieser Meindl sein. Dieser abgehalfterte Schulmeister, der mit der Pension des Studiendirektors allen Leistungsträgern auf der Tasche lag. Sich anscheinend zum Ziel gesetzt hatte, Karl den Großen persönlich auszugraben. Ausgerechnet dort, wo er auf gar keinen Fall graben durfte, sonst …

Die Knarre!

Die Chance, Meindls Grabungen an seinem Biergarten zu unterbinden. Mit der Waffe, die er bei sich hatte.

Kurz entschlossen schlich Pit zurück zum Wagen. Öffnete den Kofferraum.

Obacht, Handschuhe!

Diese gehörten zum Glück bei seinem Schwager quasi zur Berufskleidung. Ein Polizeibeamter war schließlich immer im Dienst.

Pit behielt recht, nach kurzer Suche fand sich eine Packung Gummi-Einweghandschuhe. Die sogar noch unberührt, also verschlossen war.

Das Weitere ergab sich von selbst. Mit spitzen Fingern zog Pit ein Paar aus der Packung und streifte sie sich über. Dann nahm er auf der Ladefläche des Kofferraums die Flinte aus der Verpackung, öffnete die Schachtel mit der Munition und lud die Waffe gleich durch.

Blieb die Gefahr seiner Designer-Sneaker mit ihrem typischen Sohlenprofil, das sich auf den sandigen Wegen abzeichnete, ein Fest für die Spurensicherung. Barfuß ging auch nicht, da fänden sie DNA. So nahm er ein weiteres Paar Handschuhe aus der Schachtel und streifte sie wie Gamaschen über seine Sneakers. Nun los!

Pits Schritte zitterten. Nahe, sehr nahe musste er an Meindl ran, um ihn in der Dunkelheit anvisieren zu können. Da half auch das Zielfernrohr nur wenig.

Ein paar Meter vor dem Waldweg zur Brücke horchte Pit auf. Aus dem Graben gellten Schreie, wie von verwundetem Wild.

Pit fokussierte sich. Versuchte den Atem zu beruhigen. Schritt auf die Brücke zu.

Meindl kauerte auf der Brücke. Hechelte, röchelte, rang nach Luft. Klammerte sich hilflos, wie es Pit schien, am Geländer fest.

Pit triumphierte. Meindl sah ihn erst gar nicht, auch war er zu keiner Gegenwehr imstande. Und ein echter Baldauf ließ nicht zu, dass ihm etwas missriet.

Ein Schuss genügte. Meindl sank zu Boden. Pit wartete eine Minute, dann trat er an den Leblosen heran und stieß ihn mit einem derben Tritt unter dem Geländer der Brücke durch, sodass er in den Graben fiel.

Pit lief zum Auto. Als das Adrenalin abriegelte, pochte ihm das Herz bis unter die Kopfhaut. Er überlegte. Was waren das für Schreie gewesen kurz vor dem Schuss, was war mit Meindl los gewesen?

»Reiß dich zusammen!«, rief Pit sich zur Ordnung. Ja nicht herumgrübeln, so schnell wie möglich davon. Zu langwierig und gefährlich wäre es, die Leiche ins Auto des Schwagers zu schaffen. Waffe, Bekleidung und Handschuhe jedoch musste er schleunigst verschwinden lassen. Aber nicht hier, sondern irgendwo im Niemandsland, am besten außerhalb des Bereichs der hiesigen Kripo.

Dienstag 24.07.2018

0.15 Uhr. Ricarda Held.

Ricarda Held saß im letzten Zug der Regionalbahn Nürnberg–Treuchtlingen, weil ihr Auto den Geist aufgegeben hatte. Am Mittag hatte sie den Hybrid-Honda wegen akuter Überhitzung und geplatzten Kühlers zu einer Erlanger Werkstatt abschleppen lassen.

In Weißenburg waren die letzten Mitreisenden ausgestiegen; Ricarda war nun die Letzte im Waggon. Die Zunge klebte ihr am Gaumen. Sie hatte heute viel zu wenig getrunken, weil sie zu sehr mit Klausuren beschäftigt gewesen war, die sie an ihrem Lehrstuhl in Erlangen noch hatte korrigieren wollen, um zu Hause in Treuchtlingen ruhige Semesterferien zu haben.

Aber was war bei einer Historikerin schon ruhig? Jeder Tag konnte Geschichte schreiben.

In fünf Minuten hielt der Zug in Treuchtlingen. Ricarda stand auf, streckte sich und fasste in die Gepäckablage nach ihrem Trolley.

Vollbremsung. Ein Zug in den Eisen.

Sie verlor den Halt, stieß mit den Rippen gegen die Lehne des nächstvorderen Sitzes und ließ ihren Rollkoffer fallen.

Ricardas Herz setzte einen Schlag aus. Harrte des Aufpralls, der »Person im Gleis«. Wenige Sekunden bloß, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten. Dann kam der Zug mit einem Ruck zum Stehen.

Ricarda sank auf ihren Sitz, zog den Trolley zu ihren Füßen. Das Licht im Wagen war erloschen. Finsternis rings umher. Weißenburg mit seinen beleuchteten Fabrikhallen lag hinter ihnen. Ricarda rückte ans Fenster, hielt sich die rechte Handkante gegen die Stirn, um das Notlicht an der Decke abzuschirmen, und blickte hinaus. Nur allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit.

Der Zug war vor dem Karlsgraben zum Stehen gekommen, an dem frei stehenden Anwesen am Nordrand. Unberührte Natur, die Ricarda sowie die Initiative »Rettet den Karlsgraben« vor der »Heuschrecke« Pit Baldauf retten wollten. Baldauf besaß an der Altmühl und in Nürnberg bereits vier Luxushotels. Und wollte nun am Rande des Karlsgrabens einen kleinen, bescheidenen Biergarten eröffnen. Aber, da war sich Ricarda sicher, er würde keine Ruhe geben, bis man ihm nicht nur den Biergarten, sondern ein Hotel am Karlsgraben genehmigte. Baldauf-Disneyland an der Altmühl, das allen Bemühungen von Stadt und Landkreis um sanften Tourismus hohnsprach. Womöglich hatte er sich schon ein Grundstück unter den Nagel gerissen. Wenn ja, würde er es baldmöglichst einzäunen.

Der Zug fuhr wieder an – anscheinend war es nichts Ernstes gewesen. Warum aber die Vollbremsung? Hatte die etwa mit Baldauf zu tun?

Voller Adrenalin fasste Ricarda nach ihrem Trolley und schritt zur Waggontür. Aus war der Traum von ruhigen Semesterferien. Ricarda indes hatte es bis dato noch mit jedem aufgenommen.

Mit Baldauf. Und mit allen anderen hier im Lande, denen ihre heiklen Forschungen zu dem Nazi-Internierungslager auf der Wülzburg oberhalb Weißenburgs ein Dorn im Auge waren. Geschichten, über die man hier im Lande am liebsten den Mantel des Schweigens ausbreiten wollte. Vieles rund um das Lager lag noch immer im Dunkeln. Vor allem das Schicksal eines Inhaftierten, dem kurz vor Ende des Krieges die Flucht von der Burg gelungen sein musste.

Ebenfalls im Dunkeln lag ihre ureigene Biografie, wegen der sie auch nach dem Krebstod ihres geliebten Ehemanns Matthias im gemeinsamen Haus an ihrem Geburtsort Treuchtlingen wohnen geblieben war. Alle Fragen nach ihrem Vater, der ihr verheimlicht worden war, waren unbeantwortet. Ein Schweigen, das Wunden bei Ricarda hinterlassen hatte.

»Kind, dafür bist du noch zu klein«, hatte ihre Mutter zuerst gesagt. »Ich trage selbst schwer daran, verstehst du nicht?«, hieß es später. Ein »Ratschluss Gottes«, den zu hinterfragen sich für ein »Mädel« nicht schicke. »Er wurde bei einem Verkehrsunfall getötet«, so ihre Mutter zuletzt. Kurz nachdem er sich von ihr getrennt habe. Ricardas Fragen nach Unfallort und -hergang hatte sie abgeblockt – und so das Geheimnis um Ricardas Vater mit in ihr Grab genommen.

Ricarda wusste also bis heute nicht, wer ihr Vater war – im Gegensatz zu einigen Treuchtlingern, da war sie sich sicher. Diese tuschelten hinter ihrem Rücken und blickten ihr hinterher, vor allem rings um die katholische Kirche neben dem Bahnhof.

Der Zug hielt. Heute dürfte ihr auf dem Heimweg vom Bahnhof allerdings keiner mehr begegnen.

Hierin aber irrte sich Ricarda. Als sie auf dem rechten Gehsteig stadteinwärts schlenderte, kam ihr von der Elkan-Naumburg-Straße her ein SUV mit Anhänger wie ein silberner Blitz entgegen und bog dann haarscharf vor ihr nach links ab zur Bahnunterführung.

Beinahe hätte der Anhänger sie trotz ihres Satzes nach hinten erfasst. Einen Atemzug später preschte ein Polizeiauto mit Blaulicht und Martinshorn artistisch ums selbe Eck. Dem Flüchtigen dicht auf den Fersen.

Gedankenunterspült griff Ricarda nach dem Trolley und eilte ihrer Wohnung zu, ein Weg von 15 Minuten. Zeit, das Erlebte zu resümieren.

War das Baldauf gewesen? War er vom Karlsgraben gekommen? Wollte er dort vollendete Tatsachen schaffen, ehe Ricarda und »Rettet den Karlsgraben« ausreichend Unterschriften für ein Bürgerbegehren gegen den Biergarten gewinnen konnten?

Ricarda hielt erschrocken inne. Die Hände frei. Sie hatte den Trolley nicht mehr.

Ach Gott, ja – sie hatte ihn vor dem Rathaus losgelassen, um sich nach den aufgegangenen Schnürsenkeln ihrer Sneakers zu bücken.

Sie ging zurück und fand den Rollkoffer zum Glück unversehrt im Rinnstein der Straße.

Daheim angelangt, ließ sie ihren Trolley im Windfang stehen, denn was ihr nun entgegenschlug, raubte ihr den Atem. Die Hitze des Jahrhundertsommers.

Ricarda ging kontrollierend durch sämtliche Räume und riss die Fenster auf. Ihr lieber Matthias, ein Freund von Licht und Transparenz, hatte das Haus selbst entworfen. Ein Zuhause, das sie liebte wie Matthias.

Jetzt, seit er tot war, fühlte sich Ricarda darin nur noch nackt und wund. Ausgedörrt von der Sommerhitze.

Genug der Gedanken, der Sorgen. Erst zu Hause ankommen, eins nach dem anderen.

Dann aber griff Ricarda doch zum Telefon. Völlig egal ob es Baldauf war oder nicht, der flüchtige BMW am Bahnhof hätte sie um ein Haar erfasst und niedergestreckt. Hierfür sollte es zumindest ein saftiges Bußgeld geben.

Ricarda nahm das Telefon aus der Ladeschale. Rief bei der PI Treuchtlingen an und berichtete eingehend.

»Haben Sie den Fahrer erwischt?«, fragte sie abschließend. »Steht der Flüchtige fest?«

»Nein, noch nicht«, antwortete der hörbar junge Polizist nach auffällig langem Zögern.

»Warum nicht?«

Worauf der Beamte schmallippig auf den Dienstgruppenleiter verwies und das Gespräch beendete.

Ricarda zitterte vor Wut. Statt auf die rote »Anruf beenden«-Taste drückte sie deshalb aus Versehen auf die Wahlwiederholung. Einen Moment hielt sie inne: Sollte sie ihnen auf den hohlen Zahn fühlen?

Sie tat es nicht, zu spät der Abend, zu trocken ihre Kehle für ein längeres, außerdem heikles Gespräch. Also kappte sie die sich anbahnende Verbindung zur Polizei. Legte das Telefon zurück in die Ladeschale, ging in die Küche und trank gegen den quälenden Durst dieses Jahrhundertsommers eine ganze Flasche Mineralwasser.

Daraufhin ging sie zu Bett. Wo ihr nur wenig Schlaf beschieden sein dürfte. Mit Träumen, die sie sich im Halbschlaf notieren musste. Denn am Morgen würden sie sich verflüchtigt haben. Ein Grauen, das sie nicht zu fassen bekam, wie schon so oft zuvor.

1.30 Uhr. Pit Baldauf.

Ein Palazzo im Florentiner Stil war sein gediegener Firmen- und Wohnsitz im Neubaugebiet Reutberg in Gunzenhausen. Auch ein Penthouse in Nürnberg-Erlenstegen nannte Pit Baldauf sein Eigen. Ja mei, wer kann, der kann – bestens geführte Hotels mit jeweils vier Sternen, drei im Seenland, eines in Nürnberg.

Bloß gut, dass seine Garage so geräumig war, um auch den Anhänger noch darin unterzubringen. Dazu mit direktem Zugang zum Palazzo.

Pit stellte den Motor ab, zog den Zündschlüssel vom BMW des Schwagers und steckte ihn ein. Dann nahm er den eigenen Schlüsselbund zur Hand und betätigte vom Fahrersitz aus die Fernbedienung der Garagentür, sodass sie sich sanft hinter ihm schloss.

Noch immer schäumte das Adrenalin, außerdem war er nun fast nackt. Er hatte sich nicht nur der Waffe, sondern auch der gesamten Oberbekleidung entledigt und war auf dem Weg nach Hause in eine Kontrollstelle der Treuchtlinger Polizei geraten. Als Mörder und nur im Slip. Mit dem Hänger hätte er auf freier Strecke gegen den BMW der Polente keine Chance gehabt. Daher war ihm nur Harakiri, die Hatz durch Treuchtlingen, geblieben. Und er hatte das Glück des Tüchtigen behalten und den sicher unerfahrenen POM am Steuer des Streifenwagens abgehängt. Ein Glück, dass er den Anhänger am Graben wieder abgedeckt und die Plane vertäut hatte, sodass der Draht für die Bullen nicht zu sehen gewesen war. Zuvor hatte er die Flinte, die Munition, die Verpackung und seine Oberbekleidung in einem alten Silo eines verwaisten Bauernhofs im Donau-Ries-Kreis versteckt. Abseits der Hauptstraßen, im Niemandsland zwischen Franken, Schwaben und Oberbayern.

Pit saß im SUV und genoss sein Schurkenstück noch ein wenig. Danach der Blick auf seine Smartwatch. Die Herzfrequenz bereits nahe am Ruhepuls. Einen echten Baldauf brachte halt nichts aus der Fassung.

Liefe ihm im Korridor Britta, seine Frau, über den Weg, würde sie mächtig schlucken, weil er unbekleidet war, aber den Mund halten. Ach wo, die lag im Bett und wärmte es an für ihn.

Blieb ein Problem: Sein Schwager Tom war Oberbulle, also ein Dienstgruppenleiter der PI Treuchtlingen und damit wohl der Chef des Polizisten, den Pit auf der Flucht abgeschüttelt hatte. Außerdem wegen des Tatfahrzeugs in die Chose verwickelt.

Und Pit hatte die Waffe nicht mehr. Die er für Jost Saalfrank, einen befreundeten Jäger, in dessen Auftrag gekauft und ihm für morgen früh versprochen hatte. Auch dafür würde Pit sich eine Ausrede einfallen lassen müssen, die so gut war, dass Jost ihm gewogen blieb. Sein Freund war mit ihm stets durch dick und dünn gegangen. Er würde ihm auch helfen, falls alle anderen Stricke reißen sollten.

Prompt schüttelte es Pit. Er stieg aus dem BMW, sperrte ihn zu und schritt durch den Garagenkorridor ins Souterrain des Palazzo, mit einer leer stehenden Einliegerwohnung und den Wirtschaftsräumen.

Dort suchte er das Badezimmer mit der Waschmaschine auf, in dem immer was zum Anziehen zu finden war.

Diesmal Fehlanzeige. Kein Poloshirt, nicht einmal Shorts, nur seine alten Flip-Flops. Nichts war frisch gewaschen. Asche auf Brittas Haupt.

Er glitt in die Zehentrenner und stieg die Treppe hoch in sein Reich, das großzügige Erdgeschoss mit Salon, Büroräumen, Herrenzimmer und Bad. Checkte dabei das Phone, es blinkte rot, ein eingegangener Anruf der PI Treuchtlingen. Klar, sein Schwager Tom hatte jetzt ein Problem.

Pit schlurfte ins Bad und zog sich einen Morgenmantel an. Nein, ihn fror nicht.

Ankommen. Herunterfahren. Genießen.

Er ging in das Herrenzimmer, zu den Cognacs. Schenkte sich zwei Fingerbreit »VSOP Reserve« ein und hob das Glas. Dann plärrte das Handy, wieder war es Tom. Zum Teufel, hatte der nicht Zeit bis morgen?

Pit ging lieber dran. »Hör zu«, blaffte er, kaum dass sich Tom gemeldet hatte, »keine Hektik, war nur eine Bagatelle, die ich mir bei meinem Punktekonto in Flensburg leider Gottes nicht leisten kann.« Denn Fahren ohne Hüllen war ordnungswidrig. »Daher also die Flucht. Host mi?«

Das von Pit erhoffte »I hob di« blieb aber aus. Schweigen am anderen Ende der Leitung.

Pits Blick gefror. Seine Füße schwitzten. Rochen nach altem Gummi, nach den Pedalen von Toms BMW. Ahnte der, dass mehr dahintersteckte?

»Da irrst du dich. Die Kacke ist schon am Dampfen, und zwar nicht nur für dich.«

Pit griff nach dem Cognac und kippte ihn in einem Zug runter. »Inwiefern?«

»Du hast jemanden fast über den Haufen gefahren.«

»Ja, und weiter?« Pit sank in den Sessel. Klar erinnerte er sich. Das fehlte gerade noch.

»Eine Frau, mit der nicht gut Schäufele essen ist, hat dich angezeigt.«

»Spann mich nicht auf die Folter!«

»Ricarda Held.« Geraune im Hintergrund – ein Rundspruch des Polizeifunks, den sein Schwager mit anderen Beamten erörterte. Erst nach einigen hörbaren Schritten fuhr er fort, also offenbar aus einem anderen Raum. »Ihrer Schilderung nach war das nicht nur ordnungswidrig, sondern könnte dich demnächst den Lappen kosten – Paragraf 315c StGB, Gefährdung des Straßenverkehrs.«

»Nie im Leben.«

»Und das mit meinem Wagen!«

Es folgten drei weitere doppelte Cognac. Denn jetzt hatte Pit nicht nur den Mord und die Polente an der Backe, sondern auch Ricarda Held zur Gegnerin. Die, Pit spürte es bereits, für ihn viel gefährlicher war, als es Meindl je hätte werden können. Weil sie, so die Fama im Ort, als Historikerin der Uni Erlangen nicht zum alten Frankenkaiser, sondern über die jüngere Geschichte dieses Landstrichs forschte. Namentlich über die Wülzburg. Welche wiederum schicksalshaft mit der Familiengeschichte der Baldaufs verknotet war.

Überdies lag die Drahtrolle neben dem Karlsgraben nur etwa 100 Meter von der Leiche entfernt.

Als Pit aufschaute, stand seine Frau Britta an der Tür, in ihrem weißen Pyjama.

Ihr Blick auf den Cognacschwenker sprach Bände. »Ich habe es dir immer gesagt: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.«

»Ist dir nicht warm?«, fragte er bewusst beiläufig. Lief an ihr vorüber ins Büro und sperrte hinter sich zu. Britta Espenlaub. Ihr gegenüber würde er keine Schwäche zeigen.

Steve, sein Jüngster, war aber von bestem Schrot und Korn. Gott sei Dank. Ganz der Vater – er kannte keine Skrupel, und loyal war er auch. Ein Nachfolger wie aus dem Bilderbuch.

Vorher jedoch musste sich Steve bewähren, und zwar jetzt, wo die Kacke am Dampfen war. Er musste die abgeladene Drahtrolle am Karlsgraben verschwinden lassen, bevor die Leiche entdeckt wurde. Was kein Problem war, denn auch Steve verfügte über einen Anhänger.

Pit griff zum Smartphone. »Pass auf«, erklärte er ohne Umschweife, »ich habe heute den Draht für den Biergarten gekauft und schon eine Rolle am Graben abgeladen. Tu die wieder fort, jetzt gleich, mit deinem Anhänger, und bring sie in die Schlungenhofer Scheune.« Das übliche »Kapiert?« verkniff er sich. Stattdessen fügte er defensiv hinzu: »Du weißt, unser Projekt stößt nicht überall auf Zustimmung. Lass uns also die Pferde nicht vor der Zeit scheu machen.«

»Hast du was ausgefressen?«

»Fahr den Draht so schnell wie möglich dort weg. Wir reden morgen darüber, um 14 Uhr an der Scheune. Ich bring morgen den restlichen Draht dorthin. Kapiert?«

Steve aber weigerte sich: »Nur wenn du mir sagst, was dahintersteckt.«

»Nichts da.« Pit kappte die Verbindung. Muckte sein Filius auf? Er überlegte. Vielleicht hatte Steve recht. Ein anderer sollte es tun.

Pit griff nochmals zum Handy und klingelte Jochen aus dem Schlaf, einen guten Freund, der in dem Dorf am Karlsgraben wohnte und auch einen Anhänger besaß. Er bat ihn, die Drahtrolle noch in der Nacht wegzufahren.

7 Uhr. Pit Baldauf.

Pit hatte im Büro auf seiner Chaiselongue geschlafen. Die für ihn zwar zu kurz war, aber weit weg von Brittas verängstigten und bohrenden Fragen.

Um Punkt 7 Uhr wachte er auf. Aus tiefem, erholsamem Schlaf. Er räkelte sich. Schwang sich mit einem Ruck empor und glitt in Flip-Flops und Morgenmantel. Danach schaltete er den Laptop auf dem Schreibtisch ein, denn diesen brauchte er jetzt für allererste Ermittlungen. Erst dann würde er, damit Britta nicht vollends die Nerven verlor, in die Wohnung hinauf und an ihren gedeckten Frühstückstisch kommen.

Er startete den Browser und gab »Max Meindl« in die Suchzeile ein.

Ausgerechnet »Max«. Kein Vorname für einen Schulmeister. Sondern einer, den Pit gern selbst trüge, weil Ausweis echter Größe.

Pit drückte auf Return. Was ihm daraufhin angezeigt wurde, und dies war nicht viel, bestätigte sein Gefühl, das ihn schon am Tatort beschlichen hatte: Er hatte den Falschen gekillt!

Dieser Meindl war harmlos. Ein asthmatischer Hobbygräber mit teigiger, rot unterlaufener Visage, den bereits beim ersten tiefen Spatenstich der Schlag getroffen hätte. Der hätte nicht derart tief gegraben, dass es für Pit tatsächlich hätte brenzlig werden können.

Umso wichtiger, den Biergarten nun zu verwirklichen, gegen die Widerstände der linken Zecken hier im Lande. Die gegen alle Tüchtigen opponierten. Steuern und Abgaben erhöhten, abschöpften, umverteilten, aber nie einen müden Cent selbst erwirtschaftet hatten. Archäologiestudenten, die in der Fossa Carolina sinnfreie Forschungsgrabungen durchführten, allein um dem Herrn Ordinarius wieder eine karolingische Scherbe unter die Nase zu halten. Befeuert von den Ricarda Helds der Republik, die sich, statt mit anzupacken und so den Wohlstand Altmühlfrankens zu fördern, im Nazi-Unrecht wälzten.

Pit war nun auf Betriebstemperatur. Er gab »Ricarda Held« in die Suchmaschine ein. Die er längst hätte auf dem Schirm haben müssen. Doch sie war an der Uni in Erlangen tätig und eher selten in Treuchtlingen.

Ein Blick auf Helds Homepage bestätigte sein Urteil: linke Zecke. Je weiter Pit hinunterscrollte, umso mehr schwoll ihm der Kamm. Immer wieder erschien das Wort »Wülzburg« auf dem Bildschirm, stets im Zusammenhang mit ihren aktuellen Forschungen. Als ob dadurch auch nur ein Kriegsgefangener wieder lebendig würde.

Eines musste er klären: Was hatte Ricarda Held genau mit der Wülzburg zu tun?

Plötzlich fiel ihm Meindl wieder ein, mit Schrecken: »Herrgott noch mal!« Er hatte versäumt, nach der Tat dessen Spaten verschwinden zu lassen!

»Kommst du bitte zum Frühstück?«

Pit merkte auf. Britta stand in der Tür, zu breitbeinig, um sie lässig zu ignorieren. Schon ihr Aufkreuzen in der Nacht hatte ihn irritiert.

Also gut. Ja nichts anmerken lassen. »Business as usual«, die Hotels warteten auf ihn.

Noch war Pit im Morgenoutfit. Um sich gescheit anzukleiden, musste er nach oben in die Wohnung.

»Danke, Schätzchen, komme gleich.«

Anziehen, frühstücken, Ruhe bewahren. Heidingsfelder hat ihn schließlich immer rausgehauen.

8.15 Uhr. Studiendirektor Kurt Remmel.

Zu dieser morgendlichen Stunde wanderte die Klasse 7b des Weißenburger Gymnasiums zum Karlsgraben. Kurt Remmel, der Klassenlehrer, behandelte im Geschichtsunterricht gerade Karl den Großen. Und hatte das »Och nö« mehrerer Schüler, die den Wandertag lieber bei Shopping und Hamburgern in Nürnberg verbracht hätten, am Bahnhof mit pädagogischer Strenge gekontert: »Halt! Hiergeblieben! Sonst gibt es einen verschärften Verweis!«

Nach Weißenburgs Speckgürtel zerfiel der Klassenverband in Grüppchen. Remmel ließ sie gewähren, daran gewöhnt, dass Ordnungsrufe und Armrudern vergeblich waren. So ließ er die vorneweg marschierenden Vorzugsschüler ein ums andere Mal anhalten, bis sich die Reihen wieder schlossen, und versuchte es auch mit pädagogischem Zuckerbrot: »Im Karlsgraben-Museum gibt es etwas zu trinken, da lade ich euch ein.«

Normalerweise hatte das Museum dienstags geschlossen, doch er hatte eigens für seine Klasse eine Sonderführung mit Eis und kühlen Getränken organisiert.

Prompt ging es schneller voran. Gegen 9 Uhr erreichte der Zug den Grabenmund der Fossa Carolina, die im Ried zwischen der Schwäbischen Rezat und der Altmühl noch immer gut zu erkennen war. Zur Linken das einsame Anwesen an der Bahnstrecke Treuchtlingen–Nürnberg, wenige Hundert Meter weiter der Spielplatz am Westrand des Karlsgrabens, zu dem Remmel die Schüler für die nun fällige Pause lotste. Idylle pur. Fragte sich, wie lange noch. Seit Monaten hieß es in Treuchtlingen und Weißenburg, Hotelier Pit Baldauf werde ausgerechnet hier am Karlsgraben ein Grundstück erwerben, um einen Biergarten zu eröffnen, womöglich als Probelauf für etwas noch Größeres wie ein Luxushotel. Vier hatte er schließlich schon.

Ein polarisierendes Projekt, das die an sich nicht rebellischen Treuchtlinger in Scharen in eine Bürgerinitiative gegen Herrn Baldauf trieb.

Völlig zu Recht. Die Fossa Carolina war ein archäologisches Denkmal und stand deshalb unter Naturschutz. Jedoch hatte Baldauf auch Unterstützer, die Treuchtlingen, das Reiseziel mit Thermalbad, aber ohne luxuriöse Hotels, im Hintertreffen sahen, zumal gegenüber dem Urlaubsparadies Fränkisches Seenland bei Gunzenhausen. Auch am Karlsgraben selbst wiesen lediglich knappe Hinweistafeln auf die geschichtliche Bedeutung dieser Stätte hin.

Für diese Gegend leider typisch. Man stellte sein Licht unter den Scheffel.

Nach zehn Minuten erreichte die Klasse den Spielplatz, wo Remmel lagern ließ. Die Schüler stürmten in den Schatten der Bäume, tranken aus ihren Wasserflaschen und zückten ihre Smartphones für ein Selfie.

»Mann, gibt es hier kein Netz?«

»Scheißwandern!«

»Scheißgraben!«

Gekicher. Blinkende Zahnspangen.

Zeit, die Zügel anzuziehen. Remmel setzte seinen Rucksack ab. Er nahm die Arbeitsblätter heraus, die er für den Graben-Rundgang angefertigt hatte. Ein Geländespiel. Vermutlich ein etwas zu ambitioniertes Vorhaben für diesen brütend heißen Tag kurz vor den Sommerferien.

»Herr Remmel?«

Der Lehrer drehte sich nach der ihm vertrauten Stimme um. Klassenprimus Franz Binninger faltete beflissen den kleinen Flyer über das Graben-Museum auf, den Remmel in der Klasse verteilt hatte, und fragte: »Ist überhaupt Wasser im Graben, ich mein wegen der Dürre und dem Klimawandel?«

Gute Frage. Remmel zeigte in Richtung der Holzbrücke, die, einen Steinwurf vom Spielplatz entfernt, die beiden Uferwege der Fossa Carolina miteinander verband. »Schau doch dort mal rein«, antwortete er und nickte Franz zu.

Was sich der nicht zweimal auftragen ließ.

Der Lehrer nahm ein Papiertaschentuch und fuhr damit über den Schweiß auf der Stirn. Wandertage waren immer Stress, und bei 30 Grad des Teufels. Er ließ sich kurz auf der Wippe des Spielplatzes nieder und atmete durch. Nichts wie weiter. Im Graben war es schattig.

»Sammeln! Los jetzt, weiter geht’s!«

Es sollte anders kommen, denn in das Wort »weiter« fuhr ein markerschütternder Schrei.

Wenige Atemzüge später kam der Klassenprimus hergerannt. »Herr Remmel, kommen Sie bitte schnell, im Graben liegt ein toter Mann!«

Remmel stürzte zur Brücke. Was er sah, sollte ihm jahrelang Albträume bereiten.

Der Tote war sein früherer Kollege Max Meindl – Studiendirektor a. D. am Gymnasium in Weißenburg. Für Deutsch, Latein und Karzer, wie man in der Schule noch heute hinter vorgehaltener Hand raunte.

9.45 Uhr. KOK Hans Wörle.

Der rieselnde Ficus sah zum Greinen aus. Abermals hatte er über Nacht Blätter eingebüßt, die nun halb im Übertopf, halb auf dem Boden lagen. Ein Stillleben, das KOK Hans Wörle derart deprimierte, dass er beklommen das tat, wozu er in der Hektik der Verbrecherjagd viel zu selten kam. Er lief mit der Gießkanne in den Sozialraum und füllte sie mit Wasser. Zumal es Julia Grünbergs Ficus war.

Vor einigen Tagen hatte er allen Mut zusammengenommen und Julia, die Gruppenleiterin der Staatsanwaltschaft Ansbach war, zu einem privaten Date auf sein Dienstzimmer eingeladen. Sie war am selben Tag nochmals aufgekreuzt und hatte ihm mit den Worten »Hans, ein Büroraum benötigt Grün« den Benjamin geschenkt, samt Gießkanne und Übertopf.

Weil er so in Gedanken versunken war, lief die Kanne über; er goss ein wenig Wasser zurück ins Becken, um auf dem Weg in sein Büro nichts zu verschütten. Julias Liebe durfte er auf keinen Fall verdursten lassen. Daher hatte er sie für den morgigen Abend in ein schickes mexikanisches Restaurant in der Stadt eingeladen.

Für das Treffen wollte – musste – er unbedingt noch eine neue Jeans kaufen. Weil er zugelegt hatte. Der Stress im Job kostete Körner und ließ ihn nach Dienstschluss öfters beim Systemgastronomen stranden.

Als er, zurück im Büro, zu Julias Ficus trat, meldete sich das Telefon. Wörle hielt inne. Er lief zum Schreibtisch, stellte die volle Kanne darauf und nahm das Gespräch entgegen. Es war EKHK, Erster Kriminalhauptkommissar, Fred Arnschwanger, Leiter des Kommissariats Tötungsdelikte und somit Wörles unmittelbarer Vorgesetzter. Verhieß meist nichts Gutes.

»An die Arbeit, Hans! Eine Leiche in der Fossa Carolina!«

Nur Bahnhof. »Wo?«

»Im Karlsgraben.«

Wörle griff nach Papier und Bleistift. Typisch Arnschwanger, bei jeder Gelegenheit ließ er raushängen, dass er auf einem humanistischen Gymnasium gewesen war. »Weiß man denn schon Näheres?«