Mord im Hotel Savoy - Oliver Thalmann - E-Book

Mord im Hotel Savoy E-Book

Oliver Thalmann

5,0

Beschreibung

Rasant, humorvoll, überraschend. Der Zürcher Unternehmer und Politiker Marc Berger wird tot aufgefunden – vergiftet während seiner eigenen Benefizgala im prestigeträchtigen Hotel Savoy. Kommissar Monti, der den Fall widerwillig übernimmt, steht vor einer heiklen Aufgabe: Auf der Gästeliste stehen einhundert Personen. Eine berühmter als die andere, sogar sein höchster politischer Vorgesetzter befindet sich darunter. Eines haben sie jedoch alle gemeinsam: Jeder hat etwas zu verbergen ...

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Oliver Thalmann wurde 1975 geboren und wuchs in Hergiswil bei Willisau im Kanton Luzern (Schweiz) auf. Seit über fünfzehn Jahren arbeitet er als Unternehmer im Bereich der erneuerbaren Energien. Er lebt mit seiner Ehefrau und seinen zwei Kindern im Kanton Zürich.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: istockphoto.com/AleksandarGeorgiev

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-916-7

Zürich Krimi

Originalausgabe

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Jeder sollte als Individuum respektiert werden, aber niemand vergöttert.

Albert Einstein

1

Er schaute auf seine Uhr.

Noch sieben Stunden.

Er zog den Verschluss seiner HKP30 mit der rechten Hand nach hinten und arretierte ihn. Mit der linken Hand drückte er den Verschlussfanghebel ein und steckte ihn in die Rastposition, bis er ihn herausziehen konnte. Danach stiess er das Griffstück nach vorne, nahm die Schiessfeder und das Rohr aus dem Verschluss. Er hielt die Griffstange des Reinigungsgeräts, um das Rohr zu säubern. Er nahm die Ölflasche vom Küchentisch, presste einen winzigen Tropfen heraus und rieb das Rohr mit dem Putzlappen. Das Gerät glänzte wie neu, es war bereit für den nächsten Einsatz.

Sein Handy klingelte. Als er den Namen auf dem Display aufleuchten sah, wusste er, dass dieser Tag nichts Gutes bringen würde.

«Wo zum Teufel sind Sie?»

«Ausser Dienst.»

«Wir haben einen Auftrag für Sie.»

«Unmöglich. Ich stehe nicht zur Verfügung.»

«Das ist kein Wunschkonzert. Wir haben ein Problem.»

«Sie haben ein Problem, nicht ich. Ich bin eigentlich schon weg.»

«Nicht so schnell.»

Angela Bitterli war penetrant. Es war kein Zufall, dass sie seit Jahren – umgeben von lauter Männern – an der Spitze des Kommandos stand. Das war keine Aufgabe für Duckmäuser. Die Frau war stur wie ein Esel.

«Wo liegt das Problem?»

«Im Hottinger Quartier. Ich schicke Ihnen die Adresse per SMS.»

«Wieder ein kolumbianischer Drogenhändler?»

«Nein. Zur Abwechslung einmal ein Schweizer.»

«Kann das nicht jemand anders übernehmen?»

«Das Dossier ist Ihnen zugewiesen worden.»

Das war die Antwort, die er befürchtet hatte, die er aber nicht hören wollte. «Das war keine gute Idee.»

Nicht dass er eine Vorliebe für Morde an Ausländern hätte, aber es war einfach der falsche Zeitpunkt, um einen neuen Auftrag anzunehmen.

«Machen Sie sich auf den Weg.»

«Sie brauchen einen anderen, ich kann wirklich nicht.» Sein letzter, zaghafter Versuch, sie umzustimmen.

«Nicht möglich. Befehl von ganz oben.»

Nein. Bitte nicht. «Ganz oben? Der Direktor?»

Was will der denn schon wieder von mir?, fragte er sich.

«Erledigen Sie den Fall. Je schneller, desto besser. Für alle. Dann lässt er Sie und uns wieder in Ruhe.»

«Ich habe doch –» Er hörte nur noch drei Pieptöne und ein Knacken in der Leitung. Sie hatte den Hörer bereits aufgelegt.

Er schlug mit der Faust auf den Tisch.

Dio mio!

Er starrte an die Decke und atmete tief durch.

Sein Handy piepte, und die SMS traf ein. Monti schaute sich die Nachricht an, steckte sein Telefon in die Hosentasche und setzte die gereinigten Teile der Pistole wieder zusammen.

2

Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Am Nachmittag wollte er mit Nicole, die vorher noch ihre Talkshow aufzeichnen musste, die sonst immer live am Abend über den Bildschirm flimmerte, für ein paar Tage ins Tessin fahren, um sich von den Strapazen der letzten Monate zu erholen und nicht zuletzt um ihre Beziehung – oder was davon übrig geblieben war – zu retten. Nicole hatte ein Rustico mit wunderschöner Sicht auf den Lago Maggiore reserviert.

Keine zwanzig Minuten später parkierte Monti seinen Audi A5 auf dem gelben Kiesbett, das den Übergang von der Sackgasse der Kempterstrasse zu den Weinreben am Sonnenberg markierte. Er öffnete das Handschuhfach, steckte sich ein Paar Einweghandschuhe und blaue Vinylüberzieher in seine Jacke. Er stieg aus seinem Auto, zündete sich eine Zigarette an und blickte hinunter auf die Innenstadt. Es war ein wolkenverhangener Frühlingstag, der Regen hatte nachgelassen und war in ein Nieseln übergegangen. Monti betrachtete das Strassenschild, das auf Lothar Kempter verwies, einen früheren Komponisten und Kapellmeister am Zürcher Stadttheater. Im Gegensatz zum Klusplatz, der keine zweihundert Meter entfernt lag und der ein lautes Verkehrsdrehkreuz für Autos sowie Trams und Trolleybusse bildete, war es in diesem Wohnquartier gespenstisch ruhig, als ob es vom Rest der Stadt hermetisch abgeriegelt wäre. Einzig eine Nonne lief bedächtig mit einem Regenschirm den Jupitersteig zwischen Rebbergen, wo die Pinot-noir-Sorte angepflanzt wurde, hinunter und grüsste ihn freundlich mit einem Kopfnicken, das er erwiderte.

Er nahm sein Handy aus der Innentasche seines Sakkos und blickte auf das leere Display. Auf der kurzen Fahrt von seiner Wohnung im Seefeld hierher hatte er mehrmals versucht, Nicole zu erreichen. Vergeblich. Vielleicht ahnte sie, was er ihr zu berichten hatte.

Er umlief die zahlreichen Pfützen, die sich wie kleine Krater im Kiesbett gebildet hatten, um seine braunen Lederschuhe nicht in Mitleidenschaft zu ziehen, als er zur angegebenen Adresse marschierte. Erst als er vor dem Haus der Kempterstrasse 26 stand, realisierte er dessen Ausmass. Die Villa thronte wie auf einem Sockel auf einer terrassierten Steinmauer, versetzt von der Strasse. Drei seitlich vom Haus gepflanzte Buchen schützten das Anwesen vor neugierigen Blicken. Allein die Garageneinfahrt war breit genug für drei Geländewagen. Monti erkannte einen der drei Wagen, die davorstanden. Es war der blaue Subaru Impreza von Kollege Urech.

Er hob das rot-weisse Absperrband hoch und marschierte die Steintreppe hinauf. Nach gefühlten hundert Stufen erreichte er den Hauseingang, wo er das Namensschild an der Türklingel musterte.

Marc Berger.

Der Name kam ihm bekannt vor, aber er konnte ihn nicht einordnen.

Er zog die Handschuhe und die Vinylüberzieher an, öffnete die Tür und trat ins Haus ein. Er lief den Korridor entlang, als ihm ein stechender Geruch entgegenkam, sein Magen zog sich zusammen. Urs Schaller nickte ihm kurz zu, zischte an ihm vorbei und schoss eifrig Bilder mit einer Spiegelreflexkamera und Aufsteckblitz.

Monti sah in der hinteren Ecke des Wohnzimmers den Rücken einer Person mit weissem Schutzanzug, die sich über den Spurensicherungskoffer beugte. Er näherte sich ihr; als er sie erkannte, klopfte er ihr auf die Schulter. Der Mann zuckte zusammen und drehte sich ruckartig um.

«Monti. Dich haben sie auch aufgeboten?»

Monti ignorierte die Bemerkung und fragte: «Habt ihr schon etwas Interessantes gefunden? Wonach sieht es aus?»

«Du musst dich gedulden. Wir sind erst seit einer halben Stunde hier.»

Monti unterliess es, nachzuhaken. «Habt ihr eine Atemschutzmaske für mich?»

«Fehlt leider heute in unserem Sortiment.» Hafner lächelte, drehte sich von ihm ab und streute wieder Russpulver auf die Kommode, in der Hoffnung, Fingerabdrücke zu sichern.

Monti schaute sich im Wohnzimmer um. Es war sauber, makellos und aufgeräumt, als ob die britische Königin demnächst zu Besuch käme. Vier silberne Kissen lagen fein säuberlich auf den zwei Sofas verteilt, und zwei Armlehnstühle in passenden Farben standen dazwischen. Ein grosser LED-Flachbildschirm hing an der Wand, links davon war ein offenes Cheminée, das mit Buchenscheiten gefüllt war. An den Wänden hingen drei impressionistische Bilder. Ob sie echt waren, wusste er nicht, aber einen guten Geschmack schien der Mann besessen zu haben.

«Was zum Teufel machst du denn hier?», fragte Urech und streckte den Kopf aus dem angrenzenden Zimmer.

«Arbeiten. Was denn sonst?», sagte Monti und ging auf Urech zu.

«Gestern im Schiesskeller hast du mir vom sonnigen Tessin vorgeschwärmt. Ich dachte, du wolltest mit Nicole ein paar Tage verreisen.»

«Das habe ich auch gedacht.»

«Das wird Nicole aber nicht gefallen. So wirst du wieder zum Junggesellen.»

Monti verzog seinen Mund, antwortete nicht. Ein Junggesellenleben hatte gewisse Vorteile wie die uneingeschränkte Freiheit und Unabhängigkeit, aber er war ein sozialer Typ, der es liebte, stets von Menschen, sei es von noch so komischen Charakteren, umgeben zu sein.

«Jemand anders hätte doch den Fall übernehmen können.» Urech verdrehte die Augen.

«Theoretisch ja, praktisch nein.»

«Weshalb?» Urech sah ihn verdutzt an.

«Befehl von oben.»

«Die Kommandantin?»

«Weiter oben. Ganz oben.» Monti deutete mit dem Zeigefinger nach oben.

«Häfliger?»

«Es sieht so aus.»

«Was mischt der sich wieder ein? Hat er nichts Wichtigeres zu tun?»

Da er das Thema wechseln wollte, fragte Monti: «Wo ist der Staatsanwalt?»

«Den hast du gerade verpasst. Müller, die Nervensäge, ist vor zehn Minuten gegangen. Er war vor mir auf dem Platz, gleich nach der Stadtpolizei.»

Ein Unglück kommt selten allein, dachte Monti. Das Pech schien an ihm zu kleben. Dr. Hans Müller von der Staatsanwaltschaft I, die für schwere Gewaltverbrechen zuständig war, hatte Brandtour und nahm sich des Falls an.

«Er hat ausrichten lassen, dass er dich nachher in seinem Büro sehen möchte», sagte Urech und ging an Monti vorbei.

Monti folgte ihm ins nächste Zimmer. Der penetrante Gestank stach ihm durch die Nase ins Hirn.

«Hier liegt er», sagte Urech.

Nach wenigen Schritten verkrampfte sich Montis Magen weiter. Er hielt die Luft an und unterdrückte den Brechreiz. Er sah die Ursache für den bissigen Geruch. Ein hässliches Bild.

Er sah eine braungelbe Lache von Erbrochenem und Fäkalien, die eine Spur über den Plattenboden des Badezimmers zog. In der Mitte lag der tote Mann. Splitternackt. Aus seinen Mundwinkeln hingen dünne Speichelfäden, die wie zu einem Spinnennetz geformt waren. Die Beine waren angewinkelt, der Kopf seitlich gelagert und der rechte Arm ausgestreckt, als wollte er nach etwas greifen. Die Pupillen waren klein wie Stecknadeln.

Monti schluckte leer. Auch nach fast dreissig Jahren im Polizeidienst war er immer noch nicht immun gegen diese Anblicke und Gerüche.

Er ging in die Knie. Der Mann hatte gerades braunes Haar mit einem Mittelscheitel. Die Haare klebten zusammen, der Mann musste den Kopf in der Lache gedreht haben, ein Rest von Feuchtigkeit schimmerte noch von der Kopfhaut.

«Die Putzfrau hat die Leiche heute Morgen entdeckt», riss ihn Urech aus seinen Gedanken.

«Was hat sie berichtet?»

«Nicht viel. Sie hatte einen Schlüssel und kam gegen acht Uhr in die Wohnung. Sie rief die 117 an. Die Stadtpolizei hat uns angerufen, als sie den Toten auffanden.»

«War die Putzfrau regelmässig hier?»

«Ja, sie kommt jeden Dienstag, um die Wohnung zu putzen und die Wäsche zu machen.»

«Hat sie etwas Besonderes bemerkt?»

«Nein.»

«Ist die Wohnung immer so ordentlich aufgeräumt?» Das kam ihm suspekt vor. Alles hatte seine Ordnung und seinen Platz, aber die Gegenstände gaben nicht viel preis.

«Offenbar. Der Hausherr schien ein ordentlicher Mensch gewesen zu sein.»

«Wo ist sie jetzt?»

«Sie sitzt unten im Wagen bei unserer Psychiaterin.»

«‹Psychologischer Dienst› heisst das.»

Monti wollte Urech gerade nach dem Verbleiben des Notarztes fragen, als er eine bekannte, laute Stimme hinter seinem Rücken hörte, die bereits auf ihn einredete, bevor er sich zu ihr umgedreht hatte. Sie gehörte zu Professor Dr. Heinrich Oberholzer, dem Direktor des Instituts für Rechtsmedizin.

Weshalb war der Chef höchstpersönlich für die Legalinspektion vor Ort? Ihn hatte Monti seit Jahren an keinem Tatort mehr gesehen, gewöhnlich sass er in seinem Büro im Irchelpark an der Winterthurerstrasse 190.

«Der Mann litt an einer starken Exsikkose. Das sieht das geschulte Auge sofort», sagte Oberholzer, ohne Monti zu begrüssen.

«Was bitte ist eine Exsikkose?»

«Dehydration, Herr Monti. Der Mann hat Flüssigkeit verloren.»

«Das sehen wir auch», sagte Monti.

«Der Abgang der Flüssigkeit ist eine typische Abwehrreaktion des Körpers, wenn er fremde Substanzen registriert. Der Mann muss unter starken Krämpfen gelitten haben. Die Muskeln an den Armen und Beinen sind zusammengezogen.» Oberholzer zeigte auf die Waden der Leiche.

«Kommt das von der Einnahme von Drogen?»

«Das ist eine von vielen möglichen Ursachen.»

«Was sieht Ihr geschultes Auge?»

«Haben Sie bitte etwas Geduld. Wir pflegen unsere Arbeit mit maximaler Sorgfalt auszuführen, was ein Mindestmass an Zeit benötigt.»

«Ihnen lässt sich wieder einmal nichts entlocken.»

Das Verschwinden der Goldreserven in Fort Knox war wahrscheinlicher, als dass Oberholzer sich mit einer Aussage auf wackelige Äste wagte.

«Wir werden eine Obduktion und eine detaillierte medizinische Untersuchung der Leiche auf Einstiche, äussere Gewalt und sonstige Einwirkungen durchführen, die durch eine toxikologische Analyse von unseren Experten ergänzt wird.»

Oberholzer gehörte zum alten Eisen des IRM, ohne ihn hätte es nicht seinen hervorragenden Ruf. Er war seit über zwanzig Jahren am selben Ort tätig, neben einigen Gastvorlesungen an in- und ausländischen Universitäten widmete er sich ausnahmslos der Arbeit am Institut. Regelmässig publizierte er wissenschaftliche Artikel in renommierten Fachzeitschriften, was ihm auch den einen oder anderen Wissenschaftspreis eingebracht hatte. Aber was Monti mehr beeindruckte und ihm nicht selten nützlich war in seinen Ermittlungen, waren die nahezu fehlerfreien und sorgfältig verfassten Gutachten. Er konnte sich nicht an einen Fall erinnern, wo die Konklusionen des Rechtsmediziners sich am Schluss als falsch erwiesen hatten.

«Wann wird die Leiche obduziert?», fragte Monti.

«Der Auftrag hat oberste Priorität. Wir werden sie heute Vormittag, unter meiner Leitung und Aufsicht, obduzieren.»

«Der Chef höchstpersönlich legt Hand an?»

«Der Fall ist so delikat, und wir dürfen uns keine Fehler erlauben. Zudem wurde ich von unserem geschätzten Herrn Justizdirektor Dr. Reto Häfliger persönlich darum gebeten.»

Monti nickte Oberholzer zu, obwohl ihm unklar war, weshalb der Fall delikat war. «Wann liegen die Ergebnisse Ihrer Untersuchungen vor?»

«Wir werden der Staatsanwaltschaft unsere Resultate in gewohnter Form eines detaillierten Berichtes, der keine Fragen offenlässt, innert achtundvierzig Stunden in elektronischer Form übermitteln.»

«Wir sind gespannt.» Monti klopfte Oberholzer auf die Schulter.

Oberholzer rümpfte die Nase und drehte sich ab, um einen seiner Mitarbeiter lautstark zurechtzuweisen und ihm Anweisungen zu geben, wie die Leiche konserviert und abtransportiert werden sollte.

«Ich sehe keine Schusswunden, keine Beulen, keine Einstiche», sagte Urech und beugte sich zur Leiche hinunter, als ob er seine Aussage überprüfen wollte.

Der WC-Deckel war hochgeklappt. Die Schüssel war auch bedeckt mit Erbrochenem. Monti zuckte mit den Schultern und ging zur frei stehenden Badewanne, die bis auf einen braunen Waschlappen leer war.

Sie verliessen das Badezimmer und gingen ins Schlafzimmer, das ebenfalls ordentlich aufgeräumt war. Ein Doppelbett mit zwei grossen Kissen, ein seidenes Duvet, ein begehbarer Kleiderschrank mit integriertem Spiegel und zwei Nachttische füllten den Raum. Anschliessend erblickte Monti eine Wodkaflasche, die offen auf dem Nachttisch stand. Der Deckel lag auf dem Boden, und zwei Drittel des Inhalts fehlten. Er hielt die Flasche Urech vor die Nase.

«Wodka Absolut. Gute Qualität», sagte Urech.

Monti lächelte und sagte: «Da kennst du dich aus. Dein Spezialgebiet.»

«Hat er sich totgesoffen?»

Monti schüttelte den Kopf. «Das bezweifle ich. Die Menge Alkohol reicht bei der Grösse und dem Gewicht der Leiche nicht aus.»

«Vielleicht war es nicht die erste Flasche?»

Sie gingen kurz durch das zweite, kleinere Gästebadezimmer, ohne dass ihnen etwas Ungewöhnliches auffiel, bevor sie sich in die Küche begaben.

«Schau mal hier.» Urech hielt eine Schranktür auf, wo sich neben anderen Spirituosen zwei weitere Wodkaflaschen befanden, diese waren allerdings ungeöffnet.

«Der Mann war dem Alkohol nicht abgeneigt», sagte Monti.

Das nächste Zimmer am Ende des Flurs schien als Büro und Bibliothek zu dienen. Ein Wandschrank mit Türen und Schubladen stand links vom Eingang. Urech zog die Schubladen auf und stöberte nach Dokumenten, Notizen, Gegenständen, einem Tagebuch oder einem Abschiedsbrief. Alles vergeblich. Er fand nur ein paar eingerahmte Fotos einer Frau und eines Kindes, die er auf den Schreibtisch legte.

Das Büchergestell aus Nussbaum war voll mit Biografien, Betriebswirtschaftshandbüchern, Enzyklopädien und Schweizer Literatur von Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch und Urs Widmer. Schön alphabetisch, nach Kategorien und Sprachen eingeordnet.

«Der Mann war kultiviert, belesen und diszipliniert», sagte Monti.

«Ein Akademiker.»

«Etwas Kultur täte dir auch gut.» Monti zwinkerte Urech zu.

«Jetzt werde nicht frech. Ich bin Mitglied im Jagd- und Schützenverein. Das ist genug Kultur für mich.»

Monti zog seine Plastikhandschuhe zurecht und durchstöberte die fein säuberlich geordneten Stapel an Dokumenten und Zeitschriften auf dem schwarzen Pult. Als er die Gesetzesentwürfe, die allesamt mit grünen und roten Post-its versehen und mit roten handschriftlichen Notizen übersät waren, entdeckte, griff er sich an die Stirn. Endlich konnte er den Namen einordnen. «Er war ein Politiker, nicht wahr?»

«Bingo. Sag bloss, du hast ihn nicht erkannt?», fragte Urech.

«Nationalrat?»

«Ein Sesselkleber in Bern. Guter Freund und Parteikollege von Häfliger.»

«Deshalb der ganze Aufwand.»

«Klar. Denkst du, Professor Oberholzer würde seinen Arsch aus seinem Büro bewegen, wenn es sich um einen gewöhnlichen Sterblichen handeln würde?»

«Aber unser Herr Justizdirektor ist doch nicht in der Grünen Partei.»

«Nein, der ist alles andere als grün.»

«Berger beschäftigte sich mit dem Wohl der Vögel?» Monti hielt ein Buch mit einem Kuckuck auf der Titelseite in die Höhe.

Urech schüttelte den Kopf, wie er es immer tat, wenn er etwas nicht für gut befand. «Das ist der Brutvogelatlas der Vogelwarte Sempach.»

«Was hat Berger damit zu tun?»

«Vermutlich nichts. Er war Opfer einer Werbeaktion der Grünen, die allen Parlamentariern in Bern während der Frühlingssession einen Vogelatlas und einen toten Vogel aufs Pult gelegt hatten.»

«Das ist aber makaber. Was wollten sie damit erreichen?»

«Aufmerksamkeit für ihre verrückten Anliegen – die Vogelschutzinitiative. Sie wollen das Aussterben des Kuckucks in der Schweiz aufhalten per Verfassungsänderung.»

«Wie soll das denn gehen?»

«Wie immer. Auf Kosten der Bauern, die sich bei der Bewirtschaftung ihrer Parzellen einschränken sollen. Die Grünen schieben ihnen die Schuld am Aussterben der Vögel in die Schuhe. Die Intensivierung der Bodennutzung und die Verwendung von Pestiziden in der Landwirtschaft sollen für das Aussterben der Vögel verantwortlich sein.»

«Da ist wohl etwas dran», sagte Monti und lief an Urech vorbei.

Urech seufzte und rümpfte die Nase. Er stammte aus einer Bauernfamilie aus dem Luzerner Hinterland, die er im Sommer jeweils tatkräftig beim Heuen unterstützte, und vertrat immer deren Interessen bei politischen Diskussionen.

Monti legte das Buch zurück auf den Tisch und näherte sich der Fensterfront auf der gegenüberliegenden Seite, wo eine Schiebetür zur Terrasse führte. Er öffnete sie und trat hinaus, wo ihm die kühle und feuchte Luft entgegenwehte. Er genoss die atemberaubende Aussicht auf das Stadtzentrum und den lang gezogenen schmalen Zürichsee. Urech gesellte sich zu ihm und zündete sich eine Zigarette an.

«Möchtest du auch eine?», fragte ihn Urech.

«Gerne.»

Urech zeigte auf einen Aschenbecher, der überquoll. «Berger war auch ein Glimmstängelabhängiger wie wir.»

«Gott hab ihn selig.»

«Für mich sieht das nicht wie ein Gewaltverbrechen aus», sagte Urech.

«Sammeln wir zuerst einmal alle Fakten, bevor wir falsche Schlüsse ziehen.»

Nachdem sie geraucht hatten, tappten sie zurück ins Bürozimmer. Auf dem Bürotisch stand ein MacBook, dessen Bildschirm zwei Applikationen zeigte, und daneben lag ein Smartphone. Der Firefox-Webbrowser des Laptops war im Vollbild geöffnet, er zeigte die Internetseite der Zürcher Regionalbank mit der in dicker blauer Farbe geschriebenen Meldung «Sie wurden aus Sicherheitsgründen ausgeloggt», und am rechten unteren Rand überlappte ein kleines Fenster mit der Face-Time-App den Webbrowser, das in roter Farbe einen verpassten Telefonanruf um sieben Uhr dreizehn anzeigte.

Reto Häfliger.

«Ist das unser Häfliger?», fragte Urech ungläubig.

«Drück auf das kleine i am Rand, dann wissen wir es.»

Urech streifte sich ein paar Handschuhe über und drückte mit dem Cursor auf das kleine i neben dem Namen. Nun leuchtete die Kontaktinformation zum Namen Reto Häfliger auf. Alle Felder waren leer bis auf die Telefonnummer. Monti nahm sein Handy hervor, tippte die Nummer ein und drückte das grüne Verbindungssymbol. Nach dem ersten Anrufzeichen hängte er auf. Er hielt Urech sein Telefon vor die Nase, der verblüfft darauf schaute. Volltreffer.

Dr. Reto Häfliger, Regierungsrat und Vorsteher des Justizdepartements. Der höchste Vorgesetzte der Staatsanwaltschaft. Urech schoss ein Foto vom Bildschirm des Laptops mit seinem Handy und rümpfte die Nase.

«Wir sind durch. Wir transportieren die Leiche jetzt ab und bringen sie ins Institut.» Oberholzer sprach die Worte aus, ohne Monti auch nur eines Blickes zu würdigen.

Monti nickte. Er ging auf Hafner zu und bat ihn, den Laptop und das Smartphone im Arbeitszimmer ebenfalls mitzunehmen, um die Daten und die Anrufliste zu analysieren sowie die Fingerabdrücke auf den Zigarettenstummeln auf der Terrasse zu überprüfen.

Urech und Monti nahmen die Treppe hinunter zum weissen Kastenwagen des Psychologischen Dienstes, der immer noch vor der Einfahrt stand. Monti klopfte und öffnete die Tür. Im Inneren befand sich eine jüngere Psychologin, die einer älteren Frau mit gewellten schwarzen Haaren gegenübersass. Die ältere Frau stellte sich als Maria Clara González vor. Sie trug einen langen braunen Rock und eine weisse Bluse. Monti setzte sich neben sie, und Urech quetschte sich neben die Psychologin auf die Bank auf der anderen Seite.

«Frau González, können Sie uns erzählen, was heute Morgen passiert ist?», fragte Monti.

Die Frau nahm ein Papiertaschentuch und trocknete die Tränen in ihrem bleichen Gesicht. «Ich kam um acht Uhr ins Haus und wollte meine Jacke aufhängen, als mir ein schrecklicher Geruch entgegenkam.» Ihr versagte die Stimme.

«Und dann?»

«Ich ging ins Badezimmer und sah –»

Sie schnaufte laut, fasste sich mit der Hand an den Mund und begann zu weinen. Die Frau stand unter Schock. Die Psychologin schaute Monti an, um ihm ohne Worte mitzuteilen, dass er sich kurz halten sollte. Etwas, was ihm gewöhnlich nicht leichtfiel, aber sein gesunder Menschenverstand teilte ihm mit, dass es nicht viel Sinn machte, die Frau lange zu befragen. Urech hatte von ihr zuvor bereits einige wenn auch wenig relevante Aussagen erhalten. Als sich die Frau etwas gefasst hatte, entschied er sich, noch zwei Fragen zu stellen.

«Ist Ihnen etwas aufgefallen in der Wohnung?»

«Nein, sie war aufgeräumt wie immer. Herr Berger ist ein ordentlicher Mensch.» Sie sprach im Präsens, als ob Berger noch am Leben war.

«Seit wann arbeiten Sie für Herrn Berger?»

«Seit vier Monaten», sagte Frau González, bevor sie wieder von einem Weinkrampf eingeholt wurde. Und damit war das Gespräch beendet.

Urech und Monti verabschiedeten sich von den beiden Frauen und stiegen aus dem Wagen aus.

Ein gelbes Elektrodreirad kreuzte vor ihnen auf. Es war der Briefträger, der das Absperrband musterte, sich dann entschied, von seinem Sattel herunterzusteigen und mit einem Griff unter die graue Plane aus seinem Anhänger einen Stapel Briefe zu schnappen.

«Was ist denn hier los?», fragte er.

«Polizei», sagte Monti.

«Können Sie die Post entgegennehmen? Es hat einen eingeschriebenen Brief dabei.»

Der Briefträger wollte die Briefe nicht unverrichteter Dinge in die heimische Poststelle zurückbringen, das gab womöglich negative Punkte auf irgendeinem Beurteilungsbogen, die sicherlich auch bei der Post Einzug gehalten hatten, dachte Monti.

Urech nahm den Brief entgegen und kritzelte seine Unterschrift auf den Bildschirm des klobigen Empfangsbestätigungsgeräts, das ihm der Briefträger entgegenstreckte.

«Hier ist der Rest der Post. Ich wünsche einen schönen Tag.» Der Briefträger schwang sich auf den Elektroroller und fuhr zum nächsten Haus.

Urech sortierte die Post und verteilte sie auf der Motorhaube seines Subaru. Der eingeschriebene Brief war vom Steueramt des Kantons Zürich, ein weisser Brief stammte von der Zürcher Regionalbank, und ein dunkelrotes Couvert hatte keinen Absender. Er griff in seine linke Hosentasche und zog sein rotes Sackmesser mit Schweizer Kreuz heraus.

«Was soll das?», fragte Monti.

«Ich öffne die Briefe.»

Bevor er etwas dagegen unternehmen konnte, hatte Urech den Brief vom Steueramt bereits geöffnet.

«Das ist eine Veranlagungsverfügung.»

«Und? Du kannst doch nicht einfach Briefe von fremden Leuten öffnen.»

«Er ist tot, Fabio.»

«Trotzdem.»

Urech schaute auf die aufgeführten Zahlen und legte das Schreiben zurück auf die Motorhaube. «Nicht schlecht. Am Hungertuch hat er nicht genagt.»

Monti beugte sich vor und warf einen Blick auf das Schreiben. «So lässt es sich leben», stimmte er ihm zu, bevor er sich korrigierte: «So liess es sich leben.»

«Genützt hat es ihm auf jeden Fall nicht.»

«Geld schützt nicht vor dem Tod.»

Urech öffnete den nächsten Brief, der eine Einladung der Zürcher Regionalbank zu einer Edvard-Munch-Ausstellung im Kunsthaus enthielt. Der letzte dunkelrote Briefumschlag mit Poststempel Bern hatte eine gewölbte Form und bestand aus dickerem Pergamentpapier im B6-Format. Urech hielt das Couvert an sein linkes Ohr und schüttelte es. Vergeblich. Der Gegenstand im Umschlag bewegte sich nicht.

«Was ist das?» Urech streckte ihm das Couvert vors Gesicht. Es roch nach Parfüm, nach männlichem Parfüm.

Urech schnitt den Umschlag an der Längskante auf, zog den Inhalt vorsichtig heraus und legte ihn vor sich auf die Motorhaube.

Eine pechschwarze Karte.

Eine pechschwarze Karte, die mit Kohlenfarbe grundiert war und in der Mitte ein weisses Kreuz aus zwei Doppelstrichen aufwies, lag vor ihnen. Urech nahm sie in die Hand und öffnete die vierseitige Karte. Auf der linken Innenseite der Karte klebten drei Würfel, die der Absender mit durchsichtigem Leim befestigt hatte.

«Was zum Teufel ist das?», fragte Urech.

«Eine Trauerkarte.»

«Herrgott noch mal! Das sehe ich selber.»

«Das ist aber bizarr.»

«So schnell? Der Mann ist keine vierundzwanzig Stunden tot.»

«Die Post für Sie – einfach versenden, schnell ankommen», zitierte Monti einen Werbeslogan.

Der Würfel links aus Kunststoff wies auf der Oberfläche sechs Augen auf, der mittlere war ein hölzerner Farbwürfel und zeigte einen schwarz ausgefüllten Kreis, und der dritte Würfel rechts, wieder ein Zahlenwürfel, zeigte fünf Augen.

Sie schauten sich verdutzt an.

Was sollte diese Karte? Von wem stammte sie? Welche Bedeutung hatten die beiden Augen und der Kreis?

Sie erblickten auf der rechten Innenseite drei Wörter, die in hellgrauer Farbe und maschinengeschriebener Schrift herausstachen: «Alea iacta est.»

3

Die drei lateinischen Wörter auf der Trauerkarte gingen Monti während der gesamten Fahrt durch den dichten Verkehr der Innenstadt nicht mehr aus dem Kopf. Als ehemaliger, wenn auch nicht besonders fleissiger Lateinschüler kannte er ihre Bedeutung, aber welchen Sinn ergaben sie im vorliegenden Fall? Die Trauerkarte und deren Überlieferung so kurz nach dem Tod machten ihn stutzig.

War es eine Botschaft des Mörders?

Ein Warnruf?

Oder eine Art Abschiedsbrief?

Er ertappte sich, wie er schon erste Hypothesen für den Fall aufstellte, sein Hirn arbeitete mit Hochdruck, aber seine Ferien begannen doch heute Abend, und Nicole würde ein Donnerwetter lostreten, wenn er sie über deren unvermeidliche Verschiebung informierte.

Er parkierte seinen Audi auf dem ihm zugewiesenen Parkplatz, den er selten benutzte, zog er es doch vor, den öffentlichen Verkehr zu benutzen. Er nahm das Handy in die Hand und schaute auf das Display. Leer. Keine SMS, keine WhatsApp-Nachricht, kein verpasster Anruf. Er wählte die Nummer von Nicole, wiederum erreichte er nur den Telefonbeantworter. Er stieg aus und rauchte eine Zigarette, bevor er sich ins Büro begab. Sein Nikotinkonsum hatte in letzter Zeit wieder deutlich zugenommen, was Nicoles Aufmerksamkeit nicht entgangen war; selbst Kettenraucher Urech hatte ihn darauf hingewiesen, so schlimm war es. Der Pförtner am Eingang schob die Zeitung beiseite, stand auf und schüttelte ihm die Hand. Sie gehörten beide zum Inventar der Kantonspolizei Zürich, dachte Monti, seit fast zwanzig Jahren sahen sie sich fast täglich, tauschten ein paar freundliche Worte aus, scherzten über das wechselhafte Wetter, und immer reichten sie sich die Hände zur Begrüssung. Ein Ritual des Respekts, das ihm, so altmodisch es war, stets gefiel.

Monti ignorierte den Lift und lief die Treppe hoch, um seinem Vorsatz, sich mehr zu bewegen, Rechnung zu tragen. Als er im ersten Stock eine Verschnaufpause einlegte, erinnerte er sich, wie er die Räumlichkeiten der Kriminalpolizei das erste Mal betreten hatte. Er war voller Ehrfurcht gewesen, hatte er doch als einer der jüngsten Polizisten den Sprung – in den Olymp der Polizeibeamten – zur Kriminalpolizei geschafft. Seine neuen Vorgesetzten waren streng, hart, aber auch herzlich. Die asketische Innenausstattung der Räumlichkeiten, die den Charme eines Chemielabors versprühten, hatte ihn anfänglich verwundert. Heute war es der Kostendruck, der ihnen zu schaffen machte. Das rigorose Sparprogramm, das der Regierungsrat der Verwaltung auferlegt hatte, machte auch bei ihnen nicht halt. Noch schlimmer als die fehlenden finanziellen Ressourcen heute war früher der tiefe Bestand an weiblichen Fachkräften, den er an allen Ecken und Enden spüren und sehen konnte. Diese Situation hatte sich über die Jahre verbessert. Waren es schon zwanzig oder gar dreissig Prozent Frauen bei der Kriminalpolizei? Fünfzig wären erstrebenswert.

Er nahm die nächsten zwei Etagen in Angriff und erreichte sein Büro im dritten Stock. Auf dem Schild am Türeingang, das nicht den kantonalen Beschilderungsvorschriften entsprach, stand: «Commissario Fabio Monti».

Seine Mutter hatte ihm das Schild zusammen mit einem Kreuz, das ihn beschützen sollte, zum Amtsantritt überreicht, wie sie ihn auch bei der Dekoration des Zimmers unterstützt hatte, wie er sich gerne erinnerte. An den Wänden hingen zwei Gemälde, Duplikate selbstverständlich, von Claude Monet, der Sitzungstisch war aus edlem Nussbaumholz, und darauf stand eine antike Vase, die mit frischen roten Rosen bestückt war. Nicole musste einst lachen, als er ihr erzählt hatte, dass er einen Tag nach Ablauf seiner Probezeit in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf eigene Kosten den abgewetzten Vinylboden durch Parkett aus feinem Eichenholz ersetzt hatte.

Monti war als leitender Ermittler mit seinen zweiundfünfzig Jahren einer der erfahrensten. In zwei Jahren würde er sein Dienstjubiläum zu dreissig Jahren bei der Kantonspolizei feiern und in den Genuss eines Sabbaticals kommen. Nicole und er malten sich in Gedanken eine Weltreise aus, je ein Vierteljahr in Asien, Australien, Amerika und Europa. Das war zumindest der Plan. War er bis vor zwei Jahren bei seinen Dienstkollegen und der Polizeikommandantin unumstritten, so hatten administrative Mängel, die schon immer bestanden hatten, aber jetzt erst an die Oberfläche kamen, seinen Ruf ramponiert. Die Kommandantin hatte ihn bereits mehrfach ermahnt, aber wegen seiner hohen Aufklärungsrate und der anhaltenden Personalknappheit hatte sie keine andere Wahl, als weiterhin an ihm festzuhalten.

Monti ging ins Nebenzimmer. Er klopfte dreimal an die Tür, wartete, bis eine weibliche Stimme ihn hereinbat.

«Guten Tag, Herr Monti», begrüsste ihn Frau Weber, die auf dem Fenstersims den Narzissen Wasser gab. Obwohl es Usus im Polizeikorps war, sich mit Du zu begrüssen, hielt Frau Weber nichts davon. Der Respekt ging bei diesem modernen, unförmlichen Umgang verloren, hatte sie bereits mehrfach bemängelt. Nicht einmal die Polizeikommandantin, die sonst nichts und niemanden scheute, wagte es deshalb, sie zu duzen.

«Frau Weber, rufen Sie Lüscher und Urech zu einer Sitzung um drei Uhr zusammen. Es geht um den Fall Berger.»

«Ich dachte, Sie hätten Ferien.»

«Verschoben. Bis auf Weiteres.»

Frau Weber hielt die Position der Sekretärin inne, seit Monti zum leitenden Ermittler ernannt worden war. Ihre Berufung hatte er keinen Tag bereut, im Gegenteil, ihm graute es bereits beim Gedanken, dass sie in ein paar Jahren das Pensionsalter erreichen würde.

Er forderte sie auf, einen Polizisten zur Witwe, die vorhin nicht in der Wohnung im Hottinger Quartier war, zu schicken, um sie über den Tod ihres Ehemanns zu informieren. Er gab ihr kurz ein paar Informationen zum Fall, da Frau Weber gerne über die Sachlage der Fälle im Bilde war. Sie war äusserst diskret und sprach mit niemandem über polizeiinterne Sachverhalte. Sie sprach auch sonst mit niemandem, ausser die Arbeit erforderte es.

«Ich gehe kurz zur Staatsanwaltschaft.»

«Die Kommandantin hat Sie zu einer Besprechung eingeladen.»

«Das muss warten.»

Frau Weber schritt auf ihn zu. Sie war zwar eher klein gewachsen, sicher zwanzig Zentimeter kleiner als Monti, aber das tat ihrer Aura und ihrer Autorität, die sie versprühte, keinen Abbruch.

Sie streifte sich durch ihre gewellten braunen Haare und sagte: «Scheint mir aber wichtig zu sein.»

«Ja, das ist es immer», seufzte Monti und räusperte sich.

Er machte sich auf in die Molkenstrasse 15, die nicht unweit vom Langstrassenquartier mit seinen Nachtclubs und Etablissements lag. So gesehen war die Ansiedlung der Staatsanwaltschaft strategisch geschickt – nahe bei den Kunden – im Epizentrum der Unterwelt platziert, dachte Monti jedes Mal, wenn er hier durchschritt. Die Räumlichkeiten fanden sich angrenzend an den Helvetiaplatz, auf dem am Dienstag- und Freitagmorgen jeweils Gemüsemarkt war.

Müller war seit zehn Jahren der leitende Staatsanwalt in der Sektion I. Müller und Monti kannten sich seit Jahren. Sie hatten an zahlreichen Fällen zusammengearbeitet, meist mit Erfolg. Trotzdem war nie eine Männerfreundschaft zwischen ihnen entstanden. Die Zusammenarbeit mit Müller war, gelinde gesagt, äusserst anspruchsvoll. Müller war ein Wadenbeisser, der ihm ständig im Nacken lag, der immer über die winzigsten Neuigkeiten informiert werden wollte.

«Guten Tag, Herr Monti, der Chef erwartet Sie bereits», begrüsste ihn Frau Hugentobler, die Sekretärin von Müller, mit einem Lächeln, während sie ein Blatt aus dem Drucker nahm. Die Frau hatte stets gute Laune, dachte er und grüsste sie freundlich zurück, bevor er an die angrenzende Tür klopfte. Ein kleiner, schmächtiger Mann mit schwarzem Anzug und grauer Krawatte sass hinter seinem Bürotisch und unterzeichnete gerade ein Dokument, als Monti eintrat. Müller nickte ihm kurz zu, und Monti nahm Platz auf dem Plastikstuhl vor dem Tisch. Das Büro versprühte die Aura einer in die Jahre gekommenen Zahnarztpraxis, es roch nach Desinfektionsmittel und dem Eau de Toilette von Müller. Sein Rechtsanwaltspatent und seine Doktorurkunde ragten unübersehbar von der Wand hinter seinem Tisch.

«Waren Sie bereits am Tatort? Berger hat schrecklich ausgesehen.»

Monti nickte und sagte: «Das tun Tote immer.»

Müller fuhr fort mit gesenkter, leiser Stimme: «Der Fall ist delikat.»

«Ja, das mag sein, aber es ist absurd, mich mit der Leitung der Ermittlungen zu betrauen. Ich habe Ferien gebucht.»

«Das war nicht mein Wunsch, das dürfen Sie mir glauben. Regierungsrat Häfliger hat Ihre Mitarbeit und unsere Zusammenarbeit ausdrücklich gewünscht und angeordnet.»

«Wirklich?» Weshalb mischt sich Häfliger in die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden ein?, fragte sich Monti, wagte es aber nicht, die Frage auszusprechen.

Müller ignorierte Montis Verwunderung. «Es besteht der begründete Verdacht, dass Berger eines unnatürlichen Todes gestorben ist.»

«Gilt übermässiger Alkoholkonsum neuerdings als unnatürliche Todesursache?»

«Machen Sie keine Witze, Monti.»

«Haben Sie die Wodkaflasche am Tatort nicht gesehen?»

«Ich habe bei Oberholzer das volle Programm in Auftrag gegeben: Obduktion, Tox-Analyse, Urinproben, Blutalkoholtest und Blutanalyse. Das IRM setzt alle Ressourcen auf den Fall, damit wir das medizinische und toxikologische Gutachten spätestens am Donnerstagabend auf unserem Tisch haben.»

Monti drückte die Lippen zusammen. «Ich verstehe, dass ein Politiker gestorben ist, aber weshalb dieses grosse Aufsehen? Sie waren wie der Blitz am Tatort, Oberholzer leitet die rechtsmedizinische Untersuchung und die Obduktion höchstpersönlich, und die Kommandantin pfeift mich aus den Ferien zurück.»

«Aufgrund der Prominenz von Marc Berger möchte Regierungsrat Häfliger, dass wir den Fall mit der nötigen Sorgfalt und Diskretion behandeln. Und das mit den besten Leuten.»

«Machen wir das nicht immer?»

Müller stand auf, lief an Monti vorbei. «Bitte reissen Sie sich zusammen. Wir müssen jetzt konstruktiv arbeiten.»

«Ich gebe mir Mühe.» Monti seufzte erneut und erhob sich.

Müller fasste sich mit der linken Hand ans Kinn und schaute aus dem Fenster. «Berger hatte in letzter Zeit einigen Staub auf dem politischen Parkett aufgewirbelt.»

«Und deshalb hat man ihn umgebracht?»

«Das habe ich nicht gesagt.»

«Aber gemeint.»

«Auch nicht. Legen Sie mir nicht immer falsche Worte in den Mund.» Müller drehte sich zu Monti.

«Was sollen wir tun? Oder was nicht?»

«Wir müssen einen grossen Reputationsschaden für den Kanton vermeiden. Vor allem sollen die Medien aus dem Fall so weit wie möglich rausgehalten werden. Das Letzte, was wir jetzt brauchen, sind wilde Spekulationen.»

Monti fragte sich, wie das gehen sollte, war der Tote doch ein bekannter Politiker gewesen. Solche Fälle waren ein gefundenes Fressen für die Medien. Sie davon abzuhalten, eigene Mutmassungen anzustellen, war genauso unmöglich, wie einem Tiger einen Brocken Fleisch aus dem Mund zu reissen. Müller hatte zwar einen Doktortitel erlangt, aber manchmal schien ihm der Realitätssinn abhandengekommen zu sein.

«Lassen Sie das meine Aufgabe sein. Ich habe da so meine Methoden.»

Monti kannte die Methoden, die der Herr Staatsanwalt anzuwenden gedachte, er zweifelte jedoch an deren Erfolgsaussichten.

«Ziel soll es sein, den Fall rasch aufzuklären und zu den Akten zu legen», sagte Müller mit bestimmter Stimme.

Monti sah ihn zweifelnd an.

Müller fuhr unbeeindruckt fort: «Das kriegen wir hin. Wir dürfen kein Drama aus dem Fall machen. Berger war nicht gut drauf, als ich ihn die letzten Male gesehen habe. Er wirkte stark angeschlagen auf mich, aber ich kannte ihn nicht persönlich.»

«Wann war das?», fragte Monti.

«Vor vier Wochen, an einer Parteiversammlung. Er hat nicht gut ausgesehen: Augenringe, Hustenattacken und fettiges Haar. Und die Auseinandersetzung mit –»

«Die Politik ist ein Haifischbecken.»

«Er hatte sich ein heftiges Wortgefecht mit Häfliger geliefert, nachdem er sich zuvor kräftig Mut angetrunken hatte.»

«Politik und Alkohol sind die engsten Verwandten.»

«Bei Berger definitiv.»

«Was war der Grund für die hitzige Diskussion mit Regierungsrat Häfliger?»

«Sie waren sich hinsichtlich der Stossrichtung der Partei nicht mehr einig.»

Monti wusste, dass Häfliger, Berger und Müller der Freiheitlichen Partei angehörten, die für ihre gesellschaftsliberale und wirtschaftsfreundliche Haltung bekannt war. Wer an welchem Flügel innerhalb der Partei agierte, war ihm hingegen fremd.

«Inwiefern?»

«Berger wollte die Bankenregulierung verschärfen: vollständige Transparenz der Geldflüsse, Einführung einer Lohnobergrenze und vollständige Abschaffung des Bankgeheimnisses.»

«Damit hatte er in der Partei keine Begeisterungsstürme ausgelöst.»

Müller schüttelte den Kopf. «Nein, wir brauchen nicht noch mehr Regeln für unsere Banken. Der Bankbereich trägt bereits heute das engste Korsett in unserer Volkswirtschaft.»

«Aber ein paar Bankiers schaffen es, sich dessen trotzdem immer wieder zu entledigen.»

«Monti, Sie verstehen nichts von Politik, schwarze Schafe gibt es überall. Das kann man nicht verhindern. Sie haben auch eines in Ihrer Abteilung.»

«Das ist so», sagte Monti leise, als ihm bewusst wurde, dass auch er den angesprochenen Urech mit seinen Eskapaden gewähren liess, anstatt entschlossen gegen die Missstände einzuschreiten, wie er es im gleichen Atemzug von den Politikern forderte.

«Berger hat sich in den letzten Monaten wie ein Sozialist aufgeführt. Ich habe ihn kaum wiedererkannt.»

Monti mochte die politischen Ausführungen von Müller nicht mehr weiter anhören. Er schaute auf die Uhr mit der Absicht, Müller in seinem Redefluss zu unterbrechen.

«Monti, wir treffen uns morgen Vormittag um sieben Uhr hier zur Sachbearbeitersitzung. Ich habe das ganze Ermittlungsteam aufgeboten, Oberholzer kommt auch. Ich erwarte alle pünktlich zur Sitzung.»

Monti trug den Termin in seine Agenda ein, um nicht reden zu müssen. Er gehörte noch zu denen, die eine Papieragenda führten. Sieben Uhr am Morgen. Er war überrascht, dass sein Terminkalender überhaupt eine Zeile mit sieben Uhr hatte. Er wusste nicht, über was er sich mehr ärgern sollte: den frühen Arbeitsbeginn oder die Aussicht, wieder mit Müller zusammenarbeiten zu müssen.

Auf dem Rückweg zu seinem Büro versuchte Monti, Nicole zu erreichen, aber anstatt ihrer sanften Stimme hörte er wieder nur die automatische Ansage ihres Telefonbeantworters. Er steckte sein Handy in die Westentasche. Als Nächstes wollte er sein Team über den neuen Fall und das Treffen mit Staatsanwalt Müller informieren. Die Zusammenstellung des Ermittlungsteams fiel Monti leicht. Er zog es vor, wann immer möglich mit denselben Personen zu arbeiten. Das hatte zwei Vorteile: Erstens reduzierte das seinen Koordinationsaufwand, und zweitens wussten die Teammitglieder, wie er tickte.

Sein Kernteam umfasste drei Personen. Mit zweien davon lief die Arbeit immer reibungslos, mit der dritten Person, Urech, hingegen waren Probleme eher die Regel als die Ausnahme.