Mord im Zoo - Sabine Bramm - E-Book

Mord im Zoo E-Book

Sabine Bramm

4,7

Beschreibung

Die Raubkatzen im städtischen Zoo trauen ihren Ohren nicht. Warum schreit denn der Papagei Jogi heute so laut? Spielt er sich wieder einmal auf, um im Mittelpunkt zu stehen? Kurz darauf sehen sie mit eigenen Augen den Grund: Der Tierpfleger Guido Hart liegt tot im Vorraum des Raubtiergeheges, und ein Messer steckt tief in seiner Brust. Die Polizei beginnt im Zoo zu ermitteln und stellt fest, dass das Opfer bei seinen Kollegen alles andere als beliebt war. Von Tag zu Tag wird der Kreis der Verdächtigen größer. Da beschließen die Tiere, nicht länger tatenlos zuzusehen, sondern auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen. „Chefermittler“ wird der rührige Papagei Jogi, welcher dabei seine Kontakte zu Tieren in und außerhalb des Zoos nützt. Was wissen die „doofen“ Flamingos? Wie hilfreich ist der Geruchssinn der Mäuse bei der Suche nach dem Täter? Und was hat die Eule Elsa in der Nacht beobachtet? Wie es den schlauen Tieren gelingt, der Polizei den Täter quasi auf dem Silbertablett zu servieren, das beschreibt Sabine Bramm in diesem Buch mit viel Liebe zum Detail – und zu den Tieren.

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und dem Flug der Gänse lernen –

nur wenn die Stärkeren den Schwächeren

helfen, erreichen alle das Ziel.

Rena Lessner

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

1

Leo, der bis vor ein paar Sekunden noch tief und fest geschlafen hat, springt als Erstes mit einem Ruck auf seine vier Pfoten. Irritiert, aber auch erschrocken schaut er sich aufmerksam im Gehege um, um den Störenfried, der ihn so unsanft aus dem Schlaf gerissen hat, ausfindig zu machen. Als er das bunte Etwas entdeckt, welches im Raubtiergehege hektisch und wild um sich flatternd auf- und abspringt und immer wieder »Tot, er ist tot« aus voller Kehle plärrt, ist ihm auch schon alles klar. Jogi, der großschnäbelige und vorwitzige Papagei, muss sich wieder einmal in den Vordergrund spielen und versucht einmal mehr alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Heute hat er sich dazu die Raubkatzen ausgesucht, bei welchen er seine Masche inszeniert. Aber muss das ausgerechnet in aller Herrgottsfrühe sein? Er hätte damit gerne noch mindestens zwei bis drei Stunden warten können, dann hätten es ihm die Tiere mit Sicherheit weniger krummgenommen als zu dieser unchristlichen frühen Morgenstunde. Aber das ist nun leider nicht mehr zu ändern, denn mit seinem Geschrei hat der doofe Vogel bestimmt bald alle hier aus ihrem friedlichen und tiefen Schlummer gerissen. Daran kann auch ein ausgewachsener Löwe nichts ändern, schon gar nicht, wenn er hinter Gittern sitzt und den Papagei somit nicht erreichen kann, um ihm seinen vorwitzigen Schnabel zu stopfen. Lust dazu hätte er allemal und seine Gefährten sehen das bestimmt nicht anders, wenn Jogi erst einmal alle aufgeweckt hat.

Missmutig marschiert Leo nun an den Rand seiner Gitterstäbe, um mehr von dem zu sehen, was den Papagei ganz offensichtlich in eine solche Aufregung versetzt hat. Irgendetwas scheint da vorne auf dem Boden zu liegen. Aber was sollte das schon sein? Hier drinnen kann doch gar nicht groß etwas passieren, denn das Gehege wird nachts immer von außen abgeschlossen, so dass sich in dem Vorraum, in welchem Jogi sich gerade befindet, eigentlich gar niemand aufhalten kann. Vielleicht hat der Ara ein Stückchen rohes Fleisch entdeckt, das von der gestrigen Fütterung übriggeblieben ist und um das sich die Raubkatzen jetzt streiten sollen, damit es eine von ihnen schließlich von ihm als Vorspeise vor dem Frühstück serviert bekommt. Um mehr kann es gar nicht gehen. Schließlich ist der Papagei im ganzen Zoo dafür bekannt, dass er nur zu gerne die anderen Insassen ärgert. Aber da sollte sich Leo gründlich getäuscht haben!

Erst jetzt, nachdem er noch etwas wacher geworden ist, dringen die Worte, die er gerade gehört hat, bis zu seinem Bewusstsein durch. Tot? Was schreit Jogi da? Wer ist tot? Warum sollte in seinem heiligen Raubtiergehege jemand sterben, sofern er es nicht selbst angeordnet hat? Er ist hier der Chef, und wenn hier jemand sterben soll, dann würde alleine er eine solche Entscheidung treffen und niemand anders! Er kann sich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass er in letzter Zeit einen solchen Befehl gegeben hätte. Wenn er so recht darüber nachdenkt, war dies tatsächlich schon ewig nicht mehr der Fall, hoffentlich verweichlicht er hier nicht vollkommen. Aber es fällt ihm niemand ein, der dieses Schicksal verdient hätte. Schließlich geht es den Raubkatzen hier im Zoo gut. Sie können sich zusammen im Freien tummeln und fast jede von ihnen hat sogar eine eigene kleine Bleibe, in welche sie sich zum Schlafen und Faulenzen zurückziehen kann, wenn sie keine Lust mehr auf Geselligkeit hat. Weder Leo noch seine Brüder, die hier in friedlicher Eintracht zusammenleben und so gut wie nie in Streit geraten, müssen noch auf die Jagd gehen. Sie erhalten ihr Futter bereits fein säuberlich tranchiert und teilweise sogar in maulgerechte Häppchen zerlegt auf dem Silbertablett präsentiert und müssen sich nur noch bedienen. Keiner hat es mehr nötig, sein Futter selbst zu erlegen oder sich gar darum zu streiten, es ist immer genug für alle da. Durch diesen Luxus verwöhnt und bequem geworden, hat auch gar keiner mehr so richtige Gelüste, auf die Jagd zu gehen. Er wüsste nicht, dass einer der anderen diese Beschäftigung tatsächlich vermisst. Da muss ein kleiner Nager schon so dumm sein und direkt in ein Gehege rennen, um die großen Katzen dazu zu bewegen, sich ihr Futter doch selbst zu fangen, wenn es sich schon derart anbietet, aber ansonsten machen sich die Tiere keine Tatze mehr schmutzig.

Aber was Leo jetzt, als er direkt vor dem nervösen Papagei auf den Boden schaut, entdeckt, entlockt selbst ihm, der als abgebrühter und erfahrener Löwe gilt, einen Schrei des Entsetzens, welcher sich natürlich in seiner Gattung in einem lauten Brüllen Ausdruck verschafft.

Sofort sind auch alle restlichen Bewohner des Raubtiergeheges schlagartig wach und springen fast unisono auf ihre Pfoten, um nach dem schreienden Löwen zu sehen. Beeindruckend, dass dieses Brüllen so viel mehr bewirkt hat, als es der Vogel vorher vermocht hätte. Leo muss die anderen unbedingt danach fragen, wie sie es schaffen, das nervtötende Schreien des Aras einfach zu überhören und selig weiterzuschlafen. Der Löwe wiederum hat seinen Blick inzwischen fest auf das Bündel, welches vor Jogi auf dem Boden liegt, fokussiert. Bei näherer Betrachtung stellt Leo fest, dass das Bündel einmal der Tierpfleger mit dem Namen Guido war. Er liegt tatsächlich unweit von seinem Schlafplatz vollkommen bewegungslos auf dem Boden. Außerdem ist er gerade ziemlich blass. Man benötigt nicht viel Fantasie, um auf den ersten Blick zu erkennen, dass es den guten Guido tatsächlich voll erwischt hat und er den betonierten kalten Fußboden mit Sicherheit nie wieder aus eigener Kraft verlassen wird. Gerade wenn man ein Raubtier ist, hat man einen Blick dafür, ob etwas noch lebt oder bereits im Reich der Toten weilt. Der Tierpfleger gehört auf jeden Fall zu der zweiten Kategorie, das spüren die Tiere bereits im ersten Moment des Entdeckens. Seine Augen sind weit aufgerissen und blicken starr direkt senkrecht zur Decke hoch. Sehen können sie allerdings nichts mehr, denn sie sind bereits stark getrübt, womit der Todeszeitpunkt auch schon ziemlich genau festgelegt werden kann. Der gute Guido muss in dieser Nacht zwischen zwölf und zwei Uhr zu Tode gekommen sein, da ist sich der Löwe ganz sicher. Er hat schließlich nicht das erste Mal totes Fleisch vor seinem Gesicht. Aber damit hat er sich ziemlich vertan, wie sich später noch herausstellen wird. Er hat bei der Festlegung des Todeszeitpunktes nicht bedacht, dass er sich nicht mehr in heißen Gefilden befindet und so die Zeichen des Todes etwas langsamer fortschreiten, als er es gewohnt ist. Aber das soll hier an dieser Stelle erst einmal niemanden stören.

Als Leo seinen geübten Blick über den toten Körper schweifen lässt, sieht er jede Menge Blut, welches bereits das komplette Hemd des Tierpflegers in ein dunkles Etwas verwandelt hat, so dass es inzwischen steif vom Körper absteht. Aus Guidos Brust, genau da, wo sich bei den Menschen das Herz befindet, ragt ein Messer hervor. Oder besser gesagt, es ragt nur noch der Messergriff heraus, von der silbernen Schneide ist absolut nichts zu sehen. Da muss jemand mit voller Wucht und jeder Menge Kraft zugestochen haben, geht es dem Löwen durch den Kopf.

Damit ist es ein ganz klarer Fall, der Pfleger wurde erstochen! Selbst kann sich ein Zweibeiner eine solche Wunde auf keinen Fall zufügen. Da müsste er schon direkt in das Messer gefallen sein. Da Guido aber auf dem Rücken liegt, geht Leo nicht von einem Unfall, sondern schlicht und ergreifend von Mord aus.

Aber damit fangen die Probleme im Zoo gerade erst an!

2

»Mann, Jogi, jetzt halt endlich deinen dummen Schnabel«, mault Tatze, der seine vom Schlaf noch ganz vermatzelten Augen kaum aufhalten kann und noch gar nicht begriffen hat, was hier tatsächlich los ist. »Du spinnst wohl, hier so rumzuschreien und uns alle zu wecken. Schade, dass ich hinter Gittern sitze, sonst wärst du heute ein gefundenes Frühstück für mich. Du bist doch bestimmt auch schuld daran, dass Leo gerade so gebrüllt hat, oder? Bestimmt hast du ihn wieder so geärgert, dass er einfach die Fassung verloren hat. Warum hast du dir für deine Neckereien heute ausgerechnet uns ausgesucht? Du lässt uns doch sonst auch in Ruhe. Mann, was für ein Scheiß aber auch, es ist doch noch mitten in der Nacht.«

Aber den Papagei beeindruckt das Gemotze von Tatze so gar nicht, schließlich hat der morgens immer schlechte Laune, die er gerne an Schwächeren auslässt. Das ist er inzwischen schon gewohnt und lässt ihn völlig kalt. Raubkatzen, die knurren, beißen nicht, lautet die Devise des schlauen Vogels. Und schon gar nicht ihn, den zwar alle als nervig bezeichnen, andererseits aber auch trotzdem irgendwie alle mögen. Schließlich versorgt er alle Zooinsassen stets mit dem neuesten Klatsch und Tratsch. Mit unverminderter Lautstärke schreit er weiter: »Tot, er ist tot.«

Erst da bemerkt der frisch aufgewachte Tiger, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt, dazu ist die Stimmung, die er um sich herum spürt, einfach zu seltsam, irgendwie liegt hier etwas Komisches in der Luft. Sein Blick wandert erst einmal ganz automatisch zu Leo, der nach wie vor auf den Boden vor Jogi stiert, um sich dann in die gleiche Richtung, in die sein Raubtierfreund gerade schaut, zu bewegen. Da endlich entdeckt Tatze den toten Guido auf dem Boden vor den Käfigen. Der nicht gerade schöne Anblick entlockt ihm ein erschrockenes Fauchen. Wie lange hat er schon keinen toten Menschen mehr zu Gesicht bekommen? Oder besser gesagt, hat er überhaupt schon einmal einen toten Menschen gesehen? Auch wenn sich die Freunde untereinander schon so manches Schauermärchen über ihre Abenteuer damals in der großen Wildnis erzählt haben, in welchen es natürlich auch an getöteten Tierjägern nicht mangelt, so kann sich Tatze nicht daran erinnern, dass er tatsächlich schon einmal einen Menschen, der das Zeitliche gesegnet hat, gesehen hätte. Das hätte auch für jetzt und für die Zukunft nicht unbedingt sein müssen, wie er gerade feststellt.

Guido sieht seltsam aus, so ruhig und bewegungslos, wie er vor ihm liegt. Seine Augen sind grausam, so weiß, wie sie zur Decke starren und ihn mit Sicherheit nie wieder anblicken werden. Er kennt den Tierpfleger stets in Bewegung und meistens vor sich hin pfeifend. Beides wird er jetzt nie wieder tun. Das findet Tatze sehr befremdlich und stimmt ihn auch ein kleines bisschen traurig, obwohl er und Guido nicht gerade als dicke Freunde durchgegangen wären. Guido konnte ganz schön ruppig sein, wenn er schlecht drauf war, was gar nicht einmal so selten der Fall war. Aber wenn es sich Tatze so recht überlegt, fand er den Typen gar nicht mal so schlimm. Jetzt gerade muss er sich ganz schön zusammenreißen, um nicht zu sehr in Melancholie zu verfallen, wenn er darüber nachdenkt, dass er nie mehr von Guido gefüttert werden wird. »Ich bin wohl doch etwas sentimental, oder werde ich einfach nur alt?«, denkt sich Tatze irritiert und schüttelt erst einmal seinen Kopf, um diese komischen Gedanken daraus zu vertreiben. Diese passen einfach nicht zu einem starken Tiger.

3

Da nun alle Raubtiere wach sind, wird es auch schon gleich recht laut unter ihnen. Alle schreien wild um sich. Es fallen Phrasen wie »Geht’s noch?«, »Spinnt ihr denn alle?« und »Was ist denn hier heute Morgen los?«. Falls jemand bereits in dieser frühen Morgenstunde am Raubtiergehege vorbeilaufen sollte, sucht er bestimmt schleunigst das Weite, so laut brüllen die Freunde inzwischen hier herum. In dieser aufgewühlten Stimmung ist es für die Zweibeiner besser, wenn sie einen großen Bogen um die kräftigen Tiere machen und sich erst wieder blicken lassen, wenn sich die Gemüter wieder beruhigt haben.

Aber genau diese Unruhe ist es, die Jogi mit seinem Gezeter bezweckt hat, er hat sein Ziel zu hundert Prozent erreicht, denn nun sind definitiv alle Katzen wach. Denn inzwischen schauen ihn alle Raubtieraugen sehr aufmerksam an, natürlich abzüglich der vier Augen von Leo und Tatze. Die beiden sind ja bereits eine Stufe weiter. Nun kann er seine Rufe endlich einstellen und zum Wesentlichen kommen, und sofort verstummt das Geschrei, das er bis eben selbst noch veranstaltet hat. Das empfinden alle Raubtierohren erst einmal als sehr angenehm und alle entspannen sich sofort sichtlich. So ein Papageienschnabel und die dazugehörige schrille Stimme sind keinesfalls dafür geschaffen, die empfindlichen Katzenohren für eine lange Dauer zu beschallen. Die kurze Ruhe verschafft den Tieren eine klitzekleine Atempause, in welcher sie sich erst einmal wieder sammeln können. Aber lange hält die Entspannung bei keinem an. Nun deutet Jogi, der noch immer neben der Leiche auf und abfliegt, mit einem seiner langen, gelben Flügel direkt vor sich auf den Boden und lenkt somit den Blick aller verbliebenen Tiere von sich auf den toten Tierpfleger. Nun begreifen auch alle anderen hier im Raum, was sich in der Nacht Dramatisches in ihrem kleinen Reich abgespielt hat. Der Anblick der Leiche entlockt auch ihnen mehr oder weniger laute Schreie des Entsetzens und sie sind alle mindestens genauso erschrocken, wie es vor ihnen bereits Leo und Tatze waren.

Kaum zu fassen, dass diese Miezekatzen tatsächlich alle friedlich vor sich hingeschlummert haben sollen, während sich direkt vor ihren Bettchen ein Drama, welches mit einem Toten endete, abgespielt hat. Ist das denn die Möglichkeit? Eigentlich kann Jogi gar nicht glauben, dass die Tiere tatsächlich nichts gehört haben. Dann fällt ihm aber wieder ein, dass sie vorhin auch erst wach wurden, als Leo sein Brüllen von sich gegeben hat, welches dann doch um einiges lauter war, als es die Zooinsassen sonst von ihm gewohnt sind. Also wäre es doch möglich, dass keiner in der Nacht etwas mitbekommen hat. Aber jetzt ist keine Zeit dafür, um sich Gedanken darüber zu machen, ob tatsächlich niemand etwas gehört oder gesehen hat. Das muss in einem späteren Gespräch geklärt werden. Der schlaue Jogi weiß natürlich, dass die Polizei dies als Zeugenbefragung und Rekonstruktion des Tathergangs bezeichnet. Dieses Prozedere wird er später mit den Katzenfreunden auch noch praktizieren. Es wäre doch gelacht, wenn dabei nicht etwas Brauchbares herauskommen würde.

Er hat seine morgendliche Aufgabe nun erst einmal erfüllt, denn nun haben es definitiv alle großen Katzen, die diese Mauern ihr Eigen nennen, begriffen. Hier in ihrem Raubtiergehege ist heute Nacht ein heimtückischer Mord verübt worden.

Das alles ist sehr unschön und wird ihr bisher so friedliches und schönes faules Leben mit Sicherheit empfindlich stören. Das zumindest denkt Ede gerade, einer der Panther hier im Zoo. Er sondiert ausführlich und gewissenhaft die Lage und ist sich sicher, dass es nicht lange dauern wird, bis hier im gemauerten Stall des Geheges der Teufel los sein wird und es von Zweibeinern nur so wimmelt. Ab sofort wird es mit der Ruhe und Behaglichkeit hier jedenfalls erst einmal vorbei sein. Es ist nur gut, dass alle seine Gefährten genau wie er selbst hinter ihren Gitterstäben sitzen und nicht für die Tat verantwortlich gemacht werden können. Aber das wäre sowieso unmöglich, wie er sich gerade selbst in Gedanken korrigiert. Schließlich kann keiner seiner Freunde mit einem Messer umgehen. Dazu sind Raubtiertatzen einfach denkbar ungeeignet. Da sieht man es wieder einmal. So ein Mord kann selbst das größte und stärkste Raubtier ganz durcheinanderbringen. Wie konnte er nur denken, dass eines der anderen Raubtiere für einen Mord verantwortlich sein könnte! Das ist ja der totale Humbug und kommt definitiv für keinen seiner Gefährten hier in Frage, da ist er sich absolut sicher. Er würde für alle anderen Raubkatzen um ihn herum seine Pfoten ins Feuer legen, wenn es sein müsste. Denn seine Gefährten morden nicht ohne Grund und hier im Zoo schon gar nicht.

4

Wildcat, der edle schwarze Jaguar der Gruppe, findet seine Sprache als Erster wieder. »Ja, das gibt es doch gar nicht, was macht Guido denn so früh hier in unserem Zuhause und warum in Teufels Namen ist er tot?« Klar, auch den anderen Raubkatzen war sofort auf den ersten Blick klar, dass hier kein lebender Pfleger mehr unter ihnen weilt. »Ein Toter in unserem Gehege, das geht ja gar nicht. Was machen wir nur mit ihm? Euch ist schon klar, dass alle da draußen sofort denken, dass wir die Unholde sind, die diese Tat begangen haben, oder?« Zur Bekräftigung, was er mit »da draußen« meint, streckt er eine seiner Vordertatzen in Richtung der Eingangstüre. »Der Kerl muss hier so schnell wie möglich raus. Wir können nicht riskieren, dass er mit uns in Verbindung gebracht wird! Die erschießen uns noch alle.«

Von dieser Aussage aufgeschreckt, brüllen die Gepardengeschwister Pickeldi und Frederick erschrocken: »Was wir beide sind unschuldig!« und »Ich lasse mich nicht erschießen wegen dem blöden Guido, den habe ich sowieso nie gemocht. Das war ja klar, dass der uns nun auch noch mit seinem Ableben Ärger macht.«

Leo begreift, dass hier sein Führungspotential gefragt ist, und ruft: »Nun schaltet alle mal einen Gang zurück. Wir dürfen jetzt nichts überstürzen und uns zu Handlungen gezwungen fühlen, die uns nur noch verdächtiger machen. Erst einmal sollten wir Ruhe bewahren und uns nicht auch noch gegenseitig verrückt machen! Als Erstes möchte ich einmal klarstellen, dass keiner von uns der Mörder gewesen sein kann. Erstens sitzen wir alle brav hinter unseren Käfiggittern und zweitens kann selbst der dümmste Mensch erkennen, dass hier kein Raubtier zu Gange gewesen sein kann. Oder kann einer von euch vielleicht mit einem Messer umgehen?«

Diese kleine Ansprache verfehlt ihre Wirkung nicht. Die intelligenten Katzen verstehen sofort, dass Leo mit seinen Ausführungen absolut Recht hat und sie alle auf keinen Fall als Verdächtige in Frage kommen. Das mit dem Messer war ein sehr gutes Argument des weisen Löwen. Das lässt die Gruppe erst einmal etwas entspannen und endlich kommt wieder Ruhe in die Mannschaft, die heute so unsanft aus ihrem Schönheitsschlaf gerissen wurde.

5

Nach einer Weile meldet sich Wildcat wieder zu Wort. »Aber sollten wir nicht trotzdem etwas unternehmen? Müssen wir nicht jemanden über das Ableben des Tierpflegers informieren? Was meint ihr?«

Ja, auf jeden Fall sollten die anderen Zooangestellten oder zumindest einer von ihnen über den Todesfall hier im Raubtiergehege informiert werden.

Da sind sich alle Katzen sofort einig. Es ist auch schnell jemand gefunden, der diese wichtige Aufgabe übernehmen soll, nämlich kein anderer als Jogi, denn er ist zurzeit der Einzige, der diesen Raum ohne Probleme verlassen kann.

Darum lässt sich der Vogel nicht zweimal bitten, schließlich übernimmt er solche Botengänge nur zu gerne. Es ist doch immer wieder schön, wichtig zu sein! Beherzt macht er sich auch schon gleich auf den Flug. Schnell war allen klar, wen man nun in dieser prekären Situation als Ersten einweihen möchte. Die Wahl fiel einstimmig auf Manni, der eigentlich mit richtigem Namen Manfred heißt, den jeder aber einfach nur Manni ruft, und so halten es die Tiere eben auch, auch wenn sie nicht so ganz verstehen, warum ein Mensch zwei Namen braucht, um da draußen bestehen zu können. Aber solche zweinamigen Menschen gibt es öfter, als man denkt, wie die Raubtiere aus ihrem Erfahrungsschatz berichten können. Dieser Tierpfleger ist ein eher gemütlicher Typ, der sich mit seinen inzwischen bereits fünfundfünfzig Jahren keinen Stress mehr macht und schon mehr gesehen hat, als ihm lieb sein kann. Ihn kann so leicht nichts mehr erschüttern. Er war sogar schon oft Geburtshelfer. Gerade bei schwierigen Geburten war er immer derjenige, der sowohl die direkt betroffenen Tiere als auch die nervösen Menschen, die beim Gebären helfen sollen, beruhigt hat, um dann dafür zu sorgen, dass das kleine Lebewesen, welches sich mühsam seinen Weg in die Welt bahnt, wohlbehütet und gesund in der Zoogemeinschaft ankommt. Ohne den Tierpfleger wäre so manches Jungtier wahrscheinlich eine Totgeburt geworden. Schon alleine dafür sind diesem Mann alle für seine Anwesenheit hier im Zoo dankbar. Manni hat so eine ruhige und gelassene Ausstrahlung. In seiner Gegenwart fühlt sich jeder, egal ob Mensch oder Tier, gleich wohl und umsorgt und irgendwie auch im Mittelpunkt. Außerdem hat er stets für alle Leckerli parat und nie vergisst er es, seinen tierischen Lieblingen die benötigten Streicheleinheiten zukommen zu lassen. Das lässt er sich sogar bei den wilden und gefährlichen Raubkatzen nicht nehmen, was ihm sonst kein Zweibeiner nachmacht. Für alle ist es sonnenklar: Hierfür ist Manni genau der richtige Mann. Er weiß bestimmt sofort, was zu tun ist.

Jogi muss nicht lange nach dem netten Tierpfleger suchen. Trotz der frühen Morgenstunde befindet er sich schon im Futterlager, um die für das Frühstück nötigen Futtermengen gewissenhaft zusammenzustellen und in die entsprechenden Behältnisse zu füllen, damit er es dann in den einzelnen Ställen mit dem Austeilen einfacher hat, da er dann nur die inzwischen leeren Schalen und Teller wieder mit herausnimmt. Laut schreiend fliegt der Vogel direkt auf Manni zu. »Manni, du musst den Raubtieren unbedingt helfen! Stell dir vor, in ihrem Gehege liegt Guido und er ist mausetot.«

»Ist ja schon gut, Jogi, schreie doch nicht so. Du bekommst ja deine extra Nuss, das weißt du doch. Da musst du mir doch nicht gleich die Trommelfelle ruinieren!« »Ich will doch keine …mmmpf.« Und schon hat der Papagei eine seiner geliebten Erdnüsse quer im Schnabel. Das passt ihm aber heute so gar nicht, schließlich hat er eine Mission zu erfüllen, die er mit Bravour meistern will. Deshalb spuckt er die Erdnuss in einem weiten Bogen von sich. »Nein, nein, ich will keine Nuss, du musst mit mir kommen, es gibt eine Leiche im Zoo.«

Aber es ist absolut aussichtslos, der ahnungslose Manni versteht die Aufregung seines gefiederten Freundes so gar nicht. »Was ist denn mit dir heute Morgen los? Hast du dich etwa schon mit frei wachsendem Hanf gedopt oder was? Du bist ja richtig auf Krawall gebürstet an diesem schönen und gerade erst beginnenden Tag.« Sagt es und grinst Jogi dabei freundlich an. »Ich kann dir auch nicht helfen, wenn du heute keine Nuss fressen möchtest, aber jetzt höre endlich mit deinem Gezeter auf, denn dafür ist es ganz eindeutig noch viel zu früh am Tag.«

Okay, sein Vorhaben hat also so gar keine Aussicht auf Erfolg, muss sich der enttäuschte Jogi eingestehen. Er hatte es sich leichter vorgestellt, den Tierpfleger dazu zu bewegen, ihm zu folgen. Schließlich hat er ganz deutlich die Worte »Guido« und »mausetot« benutzt. Das muss doch selbst einen netten Tierpfleger auf den Plan rufen, oder? Wozu ist er denn ein sprechender Papagei, wenn ihm keiner der Menschen überhaupt richtig zuhört?

Was Jogi allerdings nicht weiß, ist, dass er zwar tatsächlich ein paar Wörter Menschensprache spricht, aber alles andere, was er so tagtäglich von sich gibt, tatsächlich nur von Tierohren verstanden werden kann. Er hatte nie eine Chance gehabt, den Pfleger über den Mord zu informieren, denn mit »Tschüss«, »Guten Tag« und »Hallo« kommt man auch als Papagei in der Menschenwelt nicht sehr weit.

Genervt, dass sein Gegenüber so schlecht zuhört, überlegt er, ob es nicht eine andere Möglichkeit gibt, Manni davon zu überzeugen, dass er ihm unbedingt folgen muss, und dann fällt es ihm wie Schuppen von seinen Vogelaugen. Klar gibt es diese Möglichkeit, wie konnte er nur so schusselig sein? Beherzt schnappt er sich mit seinem großen Schnabel ein Kaninchenbein, welches bereits für die Fütterung der Raubtiere von Manni zurechtgelegt wurde. Dieses schwenkt er dann auch noch demonstrativ vor Manni hin und her und macht sich damit auf in Richtung Raubtiergehege. Allerdings fliegt er mit seiner Beute so langsam davon, dass der Pfleger ihm ohne große Anstrengung folgen kann.

Das tut Manni nun auch. Vollkommen davon überrascht, dass der vorwitzige Jogi sich heute so seltsam verhält, vergisst er alle Futterrationen und rennt dem verrückten Vogel erst einmal hinterher. Dieser bringt ihn in kürzester Zeit zielsicher zum entsprechenden Gehege, in welches er natürlich sofort mit seiner immer noch in seinem Schnabel befindlichen Beute verschwindet. Manni muss erst einmal seinen Schlüsselbund zücken, um die verschlossene Tür zu öffnen, um ebenfalls in den Stall der Raubtiere zu gelangen. Anders als der Papagei kann er nämlich nicht einfach über den Zaun auf der anderen Seite fliegen, um nach drinnen zu gelangen. Als er jedoch den Schlüssel in das Türschloss stecken will, bemerkt er verwundert, dass die Tür gestern Abend wohl gar nicht verschlossen worden ist. Stirnrunzelnd überlegt er, wer von den Pflegern den Spätdienst hatte, damit er ihn darüber informieren und ihm ins Gewissen reden kann, das auf keinen Fall heute Abend wieder zu vergessen. Nicht auszudenken, wenn auch nur einer seiner geliebten Großkatzen etwas passieren würde und das nur, weil ein Kollege vergessen hat die Tür abzuschließen. Das geht gar nicht!

Aber jetzt gilt es erst einmal, dem verrückten Jogi sein erbeutetes Kaninchenbein wieder abzujagen, wenn er es inzwischen nicht schon an Ede oder Wildcat verfüttert hat. Bei diesem Gedanken muss er schmunzeln, denn er weiß, dass die Jungs da drinnen gerne eine Extraportion Futter genießen, wenn sich ihnen die Chance dazu bietet. Vielleicht hat der Ara die Katzen ja geärgert und er muss ihnen deshalb eine zusätzliche Mahlzeit servieren. Wundern würde es Manni jedenfalls nicht, denn auch die Menschen hier im Zoo wissen, dass sich Jogi so allerlei einfallen lässt, um die anderen Tiere zu ärgern, wenn sich dazu die Gelegenheit bietet. Dass dieser Vogel trotz dem ganzen Schabernack, den er treibt, immer noch am Leben ist, hat er nur seiner neugierigen und wissbegierigen Art zu verdanken. Denn sein Wissen über alles, was hier im Tierpark jeden Tag so passiert, das teilt er dann wieder gerne mit allen, die sich für seine Geschichten interessieren. Es dürfte wiederum für so ziemlich jedes Tier hier zutreffen, dass es für die Erzählungen von Jogi stets ein offenes Ohr hat und immer mit großem Interesse zuhört, was dieser so zu berichten hat. Schließlich will jeder in seinem Zoo auf dem Laufenden sein.

Beherzt marschiert Manni nun mit festen und schnellen Schritten in den betonierten Vorraum. Aber gleich nach dem Betreten des Stalles spürt er, dass hier drinnen etwas ganz und gar nicht stimmt. Die Tiere wirken aufgeregt und leicht nervös, was ungewöhnlich ist und ihn sofort aufmerksam werden lässt. Befindet sich vielleicht ein fremdes Tier hier, welches die Raubkatzen so unruhig macht? Es wäre ihnen nicht zu verdenken, dass sie das ärgerlich machen würde, schließlich sitzen sie nachts hier in ihrem Stall immer hinter Gittern. Wenn es ein anderes Tier tatsächlich hier hereingeschafft hätte, dann kann es nur eines sein, welches freien Zugang ins Innere hat. So wie Jogi zum Beispiel, der einfach von hinten über den Zaun fliegt und sich dann schon gleich mit den Katzen im Stall befindet. Viele Möglichkeiten gibt es da allerdings nicht. Dass sich die großen Tiere wegen einer Maus oder Ratte so sehr aufregen, kann sich Manni auch nicht so richtig vorstellen. Die würden sie eher fressen, als sich von so einem kleinen Tier ernsthaft aus der Ruhe bringen zu lassen.

Als er dann den Lichtschalter betätigt, um den Raum zu erhellen und dem Rätsel auf die Spur zu kommen, entfährt ihm ein greller Schrei. Direkt vor ihm auf dem Boden liegt sein Kumpel Guido. Manni sieht als Erstes das viele Blut auf seinem inzwischen steifen Hemd und fast sofort danach fällt ihm der Messergriff auf, der aus Guidos Brust ragt.

Beherzt rennt er die wenigen Schritte, die ihn von seinem Kollegen trennen, um sich dann sofort zu diesem hinunterzubeugen und ihm helfen zu können. Schnell muss er jedoch erkennen, dass für den Tierpfleger definitiv jede Hilfe zu spät kommt. Mit Entsetzen stellt er fest, dass Guido tot ist und das wohl auch schon einige Stunden, wie sein erfahrener Blick richtig deutet, als er Guido in dessen weißliche Augen schaut. Aber auch die niedrige Körpertemperatur lässt nur den einen Schluss zu nämlich, dass der Tod schon vor einer ganzen Weile eingetreten ist.

6

Mit dem Eintreffen des netten Pflegers wird eine Maschinerie in Gang gesetzt, die sich die Raubtiere in ihren schlimmsten Albträumen nicht hätten vorstellen können. Vorbei ist das ruhige Zooleben, das Dösen in seinen eigenen vier Wänden, wann immer einem danach der Sinn steht, und das Einfach-Abhängen und Schlafen, wann immer man gerade nichts Besseres, wie zum Beispiel Fressen, zu tun hat. Das passt den großen Katzen so gar nicht in den Kram. Viel zu gemütlich hatten sie es sich hier alle eingerichtet, als dass sie sehr angetan wären von den Aktionen, die nun in ihrem Gehege stattfinden.

Manni trommelt erst einmal alle zusammen, die sich schon im Zoo befinden. Dabei hat er allerdings nur mäßigen Erfolg. Als Erstes findet er die Kassiererin Anne. Gleich darauf trifft er auf die beiden Tiertrainer Harry und Tom. Damit ist seine Ausbeute aber auch schon erschöpft. Kein Wunder, denn der Zoo öffnet erst in einer Stunde. Daher ist es durchaus verständlich, dass längst nicht alle Kolleginnen und Kollegen anwesend sind. Er schildert den anderen kurz die Lage und erklärt ihnen schon einmal, was heute Nacht hier passiert ist. Mit erschrockenen und betroffenen Gesichtern und sehr gemischten Gefühlen macht sich die kleine Gruppe dann gemeinsam auf den Weg zum Raubtiergehege.

Kurze Zeit später betrachten sie den toten Körper ihres einstigen Kollegen und sind mindestens genauso geschockt, wie es zuvor schon die Tiere waren. In den Gesichtern von Tom und Harry erkennt man Anteilnahme, aber auch ein bisschen Irritation und Verwirrung über das plötzliche Ableben ihres Kollegen, welcher sein Leben anscheinend brutal verloren hat, bedenkt man das Messer, das bis zum Anschlag in seiner Brust steckt. Beide sehen gleich, dass dieses mit voller Wucht in Guido gerammt worden sein muss, sonst würde es nun nicht mit der kompletten Klinge in dessen Brust stecken. Anne bricht sogar in Tränen aus. Sie hat noch nie einen Toten zu Gesicht bekommen, und Guido hier nun so vor sich liegen zu haben macht ihr schwer zu schaffen. Als die anderen sie so schluchzen sehen, müssen sie sich zusammenreißen, um nicht selbst in Tränen auszubrechen. Das machen starke Männer schließlich nicht und keiner von ihnen will heute damit beginnen, dieses allgemeine Weltbild zu verändern.

Kurzerhand bringt Harry die absolut erschütterte Anne, die inzwischen auch ganz schön zittert und kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen scheint, vom Tatort weg, damit sie nicht noch an Ort und Stelle umkippt. Er geht mit ihr ins Restaurant und setzt sie dort erst einmal an einen Tisch, in der Hoffnung, dass sie sich wieder etwas beruhigt, wenn sie die Leiche nicht mehr sieht. Gerade als er überlegt, ob er Anne hier so ganz alleine sitzen lassen kann, biegt die schicke Buchhalterin Julia um die Ecke, die sich eigentlich nur einen Kaffee aus dem Automaten ziehen wollte, um diesen an ihrem Arbeitsplatz in Ruhe zu genießen, ganz so, wie sie es jeden Tag handhabt, bevor sie in den anstrengenden Büroalltag startet, der ihr jeden Tag so einiges abverlangt.

Also daraus wird heute nichts. Harry erklärt Julia, was in der Nacht im Zoo bei den Raubtieren vorgefallen ist, und bittet sie, sich um Anne zu kümmern, die heute wahrscheinlich zu nichts mehr zu gebrauchen ist, da sie den Toten mit eigenen Augen gesehen hat, was ihr, wie man sieht, gar nicht gut bekommen ist. Aber es ist ja sowieso fraglich, ob das Gelände heute überhaupt für den Publikumsverkehr geöffnet wird, schließlich handelt es sich um einen Tatort, der, wie Harry aus vielen Krimis weiß, erst einmal gesichert und nach Spuren abgesucht werden muss. Da würden viele fremde Menschen nur stören! Von daher wird es wohl auch nicht erforderlich sein, dass die Kassiererin heute ihrer Arbeit nachgeht.

»Da spricht so ganz der pragmatische Mann«, denkt sich Julia. Von Mitgefühl und Trauer spürt sie bei Harry gerade so gut wie gar nichts, Guido war doch ein Kollege, wie kann Harry da nur so oberflächlich über Guidos Tod reden? »Wie machen die Männer das nur immer, dass sie sich so gut im Griff haben? Können sie ihre Gefühle tatsächlich so viel besser verbergen als wir Frauen? Oder ist die Art, wie Harry mit der Situation umgeht, einfach nur so etwas wie Selbstschutz, damit er nicht genauso zusammenbricht wie Anne, wobei er dem Spott der stärkeren Kollegen ausgesetzt wäre? Was ist denn schon dabei, wenn man Gefühle zeigt?« Wahrscheinlich wird sie nie so wirklich verstehen, wie die Männer ticken. Aber was soll es, sie kann im Moment einfach dankbar dafür sein, dass sie sich nur um einen Nervenzusammenbruch kümmern muss und nicht auch noch einen verstörten Tiertrainer an der Backe hat, schließlich hätte sie Psychologie studiert, wenn es ihr liegen würde, die Menschen zu therapieren. Darin ist sie, ehrlich gesagt, überhaupt nicht gut und sie selbst hat gerade erst einmal zu verdauen, dass es im Zoo tatsächlich zu einem Mord gekommen ist.

Jedenfalls ist sie inzwischen um einige Nuancen blasser um die Nase geworden und braucht jetzt erst einmal einen doppelten Espresso, mit Kaffee alleine ist ihr in der momentanen Situation nicht mehr geholfen. Anne, die sich durch ihr anhaltendes Schluchzen bisher nicht dazu äußern kann, was sie am liebsten trinken würde, bringt sie kurzerhand einen Tee vom Automaten mit. Tee beruhigt, wie jeder weiß, das kann nur gut für die junge Kollegin sein, die vollkommen durch den Wind zu sein scheint.

Julia ist zwar ebenfalls entsetzt darüber, dass ein Kollege von ihr ermordet worden ist und das auch noch ausgerechnet hier an seinem Arbeitsplatz, aber da sie die Leiche nicht gesehen hat, ist sie bei Weitem nicht so durcheinander wie Anne. Allerdings muss sie sich selbst eingestehen, dass es ihr nicht besser als ihrer jungen Kollegin gehen würde, wenn sie Guido tatsächlich in seinem jetzigen Zustand zu Gesicht bekommen hätte. Auch sie hat tatsächlich noch nie in ihrem Leben einen Toten gesehen und das möchte sie nach Möglichkeit auch gerne so weiter beibehalten. Wenn es nach ihr ginge, sogar für den Rest ihres Daseins, was sich aber wahrscheinlich nicht wirklich umsetzen lässt, wenn man bedenkt, dass sie zwar sehr rüstige Eltern hat, diese aber mit Sicherheit nicht mit einem ewigen Leben gesegnet sind. Darum ist sie trotz der prekären Lage, in der sich der Zoo nun seit Auffinden der Leiche befindet, gerade sehr froh darüber, dass sie auf Gleitzeitbasis arbeitet und heute nicht so gut aus dem Bett kam wie sonst. Daher ist sie mindestens eine halbe Stunde später dran als gewöhnlich, was ihr nun zugutekam und ihr den Anblick des toten Tierpflegers ersparte. Manchmal ist das Leben schon sonderbar, oder? Vorhin hat sie sich noch darüber geärgert, dass ihr Körper ihr am Morgen den gewohnten Dienst erst noch ein bisschen versagt hat, aber inzwischen denkt sie, dass das Schicksal es gut mit ihr gemeint hat.

Aber nun genug der eigenen Gedanken, schließlich sitzt vor ihr ein Häufchen Elend mit dem Namen Anne, um welches sich gekümmert werden muss. Der gute Harry hat längst die Flucht nach vorne ergriffen und hat sich gleich wieder klammheimlich aus dem Staub gemacht. Klar, warum sollte auch ein Mann mit einer solchen Situation umgehen können? Das würde ja schon an ein Wunder grenzen. Da Julia nicht so wirklich weiß, wie sie Anne in ihrer jetzigen Situation helfen kann, nimmt sie die Kollegin einfach kurzerhand in die Arme, um sie zu trösten. Aber anstatt beruhigend zu wirken, löst die Nähe erst einmal einen erneuten Heulkrampf bei Anne aus. Nach ein paar Minuten, in welchen Julia tapfer weiter, wie sie hofft, beruhigend über den Rücken von Anne gestrichen hat, wird die Kollegin aber tatsächlich etwas ruhiger. Glück gehabt, denkt Julia. Sie hätte sich sonst aber auch keinen Rat gewusst. Vorsichtshalber behält sie ihre Taktik noch etwas bei und ihr Plan scheint tatsächlich aufzugehen. Nach einer Weile befreit sich Anne von ihrer Kollegin und schaut sie aus verheulten Augen an. »Mensch, Julia, ich danke dir, dass du dich so um mich kümmerst. Ich war vorhin so entsetzt, dass ich tatsächlich gedacht habe, ich kippe einfach um, als ich Guido da so auf dem Boden liegen sah. Aber ich habe gedacht, dass es mir nichts ausmachen würde, eine Leiche zu sehen. Ich dachte, wie schlimm kann das schon sein? Nun bin ich etwas schlauer und werde mir das nach Möglichkeit so schnell nicht wieder antun. Jetzt ist es mir ein bisschen peinlich, dass ich so bescheuert reagiert habe, wo doch die starken Jungs mit dabei waren. Denen hat man natürlich so gut wie gar nichts angemerkt, während ich sofort in Tränen ausgebrochen bin und das große Zittern bekommen habe. Die denken jetzt bestimmt, dass ich so eine dumme Gans bin, die nichts verträgt, aber die Situation hat mich einfach zu unvorbereitet getroffen, als dass ich mich entsprechend hätte wappnen können. Warum muss ich mich aber auch so dumm anstellen?« Erneut rollen Tränen aus ihren Augen, aber eine weitere Weinattacke bleibt dieses Mal aus. Anscheinend ist das Schlimmste erst einmal überstanden.

Julia versichert ihr, dass es ihr genauso ergangen wäre, wenn sie den toten Guido hätte anschauen müssen. »So sind wir Mädels halt. Lass doch die Jungs denken, was sie wollen. Die sind mit Sicherheit auch nicht ganz so cool, wie es nach außen den Anschein hat. Schließlich sind wir hier alle so etwas wie eine große Familie. Da kann auch der stärkste Mann nicht so einfach weitermachen, als ob nichts passiert wäre. Du wirst es schon sehen, die leiden mit Sicherheit auch unter dem Verlust, auch wenn sie es nicht so offen zeigen wie wir Mädchen. Ich schlage vor, du trinkst jetzt erst einmal den Tee, den ich dir mitgebracht habe, und dann sehen wir weiter. Das wird schon wieder, mach dir da mal keinen Kopf.« Dankbar nimmt Anne das zum Glück immer noch heiße Getränk an sich, um vorsichtig ein paar Schlückchen zu trinken. Sie ist dankbar für die Unterstützung, die die etwas ältere Kollegin ihr zukommen lässt, und auch dafür, dass sie hier nicht alleine sitzen muss, um ihr schreckliches Erlebnis zu verarbeiten. Die wenigen Sätze, die Julia zu ihr gesagt hat, haben tatsächlich ausgereicht, um sie wieder etwas zu beruhigen.

Ganz ohne ihr Zutun ist Julia stolz auf sich und dass sie die Situation so gut in den Griff bekommen hat. Sie hätte nicht damit gerechnet, dass Anne sich tatsächlich so schnell wieder beruhigen könnte. Das hat vorhin noch ganz anders ausgesehen. Vielleicht ist in ihr doch eine halbe Psychiaterin verborgen, wer weiß das schon so genau?

7

Harry, der sich schnellstens zurück zu den Jungs begeben hat, ist überaus froh darüber, dass Julia so passend in das Restaurant geschneit kam. Er hätte nicht gewusst, was er mit Anne hätte machen sollen, wenn sie sich nicht wieder beruhigt hätte. Da war es doch mehr als hilfreich, dass eine Frau hinzukam, die ihn, ohne es zu wissen, aus einer heiklen Situation gerettet hat. Wenn er ganz ehrlich ist, muss er nämlich zugeben, dass er heulende Weiber nicht ausstehen kann. Das aber nur, weil er sich dann hilflos wie ein Baby fühlt, da er nicht weiß, wie er sich ihnen gegenüber verhalten soll. Da ist es schon besser, wenn man ein flennendes Bündel einfach an einen anderen abgeben kann und dann nichts mehr damit zu tun hat.

Die anderen Jungs haben sich bereits besprochen, wie es nun weitergehen soll. Zuerst muss die Polizei informiert werden und dann gleich im Anschluss der Zoodirektor. Tom übernimmt das Telefonat mit der Polizei und ruft danach auch gleich Herrn Reuter an, der hier der Direktor ist. Diesen bittet er, schnellstmöglich in den Zoo zu kommen, am besten noch bevor die Polizei hier aufschlägt, das macht bestimmt ein besseres Bild. Aber Reuter lässt sich nicht hetzen, schon gar nicht so früh am Tag, was er seinem Angestellten auch gleich einmal zur Antwort gibt. Der ist schlau genug, nichts weiter zu sagen, und wiederholt einfach nur, dass er sich nach Möglichkeit einfach beeilen soll.

Manni, ganz der Tierpfleger, entschließt sich dazu, erst einmal alle seine Lieblinge mit ihren Futterrationen zu versorgen. Damit ist er sowieso inzwischen bereits zeitlich im Rückstand. Normalerweise wäre er längst mit den vorbereiteten Portionen im Park unterwegs. Die Vierbeiner können schließlich am wenigsten für die Situation und sollen darunter auf keinen Fall leiden. Er macht sich auch sogleich beherzt auf den Weg zum Futterhaus, um seine durch Jogi so jäh unterbrochenen Vorbereitungen fertig zu stellen. Grinsend stellt er fest, dass er das Kaninchenbein vor lauter Aufregung einfach vergessen hat. Aber das haben die Raubkatzen inzwischen bestimmt verspeist, da ist er sich sicher. Die morgendliche Fütterung liebt er am meisten, denn da sind seine kleinen Lieblinge noch frisch ausgeschlafen und haben fast immer gute Laune und sind guter Dinge, ganz wie er selbst. Später kann es schon vorkommen, dass sie durch die vielen Menschen, die hier täglich durchlatschen, etwas genervt sind, was ein guter Tierpfleger natürlich sofort spürt und was sich manchmal sogar auf ihn selbst überträgt. Das passiert in der Regel dann, wenn gar zu seltsame Besucher im Park unterwegs sind. Die nerven dann nämlich nicht nur die Tiere, sondern quatschen auch oft die Angestellten mit irgendetwas Nebensächlichem blöd an. Dann kommt es schon vor, dass auch Manni während des Tages schlechte Laune bekommt. Aber zum Glück ist das eher die Ausnahme.

Für den übrig gebliebenen Harry bleibt erst einmal nichts weiter zu tun, als das Raubtiergehege großräumig mit Flatterband, welches im Zoo zwecks etwaiger Umbaumaßnahmen immer zur Hand ist, zu umspannen und es damit gegen alle Eindringlinge, die Spuren verwischen könnten, zu schützen. »Ja«, denkt er sich, »da weiß ich Bescheid, schließlich gehören Krimis so gut wie immer zu meinem Abendprogramm.« Auf die Idee, dass die kleine Angestelltentruppe selbst bereits einige wertvolle Spuren verwischt haben könnte, als sie gemeinsam in den Stall marschiert kam, um den Toten ganz aus der Nähe zu betrachten, kommt er gerade nicht. Vielmehr findet er sich im Moment richtig wichtig, weil er genau weiß, wie mit einem Tatort richtig zu verfahren ist. Wenn er nicht befürchten müsste, dass ein Kollege ihm dabei zusieht, würde er sich am liebsten selbst auf die Schulter klopfen, so gut wie er ist. Aber das lässt er dann doch.

8

Die Polizei lässt nicht lange auf sich warten. Die Ordnungshüter rauschen schon nach wenigen Minuten mit sage und schreibe drei Kraftfahrzeugen an, was vielleicht ein bisschen übertrieben ist, wenn man bedenkt, dass es sich beim Tatort um einen gut überschaubaren Zoo und nicht um einen tausend Quadratmeter großen Freizeitpark handelt. Eines der Autos lässt sich ohne Probleme als der Polizei zugehörig einordnen. Die beiden anderen könnten auch zu einem Bankchef oder einem Versicherungsvertreter gehören. Von Polizei ist da auf Anhieb so gar nichts zu erkennen, auch das typische Blaulicht auf dem Dach fehlt beiden gänzlich. Wahrscheinlich haben die Beamten das Teil in ihrem Handschuhfach verstaut. Die beiden uniformierten Männer, die in diesem Moment recht zackig aus ihrem grün-weißen Kraftfahrzeug springen, erklären den ganzen Zoo gleich einmal zum Sperrgebiet, welches niemand ohne ausdrückliche Genehmigung von ihnen betreten oder verlassen darf. Also sitzen die Angestellten hier erst einmal auf unbestimmte Zeit fest, was keinem so wirklich gut passt. Im Tierpark zu arbeiten ist eine Sache, aber zu wissen, dass man hier erst einmal eingesperrt ist, das ist schon gar nicht schön. Letztendlich passiert also alles genauso, wie Harry es von vorneherein durch seine Fernsehbildung vermutet hat. Er hat sogar fest damit gerechnet, dass die Kollegen und er nun erst einmal eine ganze Zeit lang hierbleiben müssen. Er ist schon gespannt, wie lange die Bullerei braucht, bis sie alles begutachtet und die Angestellten alle befragt hat. Er hat damit jedenfalls keine Probleme, schließlich hat der Arbeitstag ja gerade erst begonnen und bis zum Feierabend werden ja auch die Beamten nach Hause gehen wollen. Damit schätzt er die Chancen auf sein Feierabendbier, welches er sich gerne zu Hause genehmigt, als relativ hoch ein und lässt alles erst einmal in Ruhe auf sich zukommen.

Die drei Personen, die in den beiden anderen Kraftfahrzeugen sitzen, bewegen sich weit langsamer als ihre Kollegen. Schon in den ersten Momenten wird klar, wer von allen hier das Sagen hat. Die beiden Uniformierten zählen schon einmal nicht dazu. Eindeutig hat der Typ, der jetzt gemächlich seinen bequemen Fahrzeugsitz verlässt, hier das Zepter in der Hand. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er sich bei Tom, der nach seinen beiden Telefonanrufen gleich hier zum Eingang marschiert ist, um auf die Herren der Polizei zu warten, als Kriminalhauptkommissar Roland Bauer vorstellt, der die Ermittlungen ab sofort leitet und zur Bestätigung gleich einmal seinen Dienstausweis zückt. Dieser Ausweis interessiert Tom aber nicht wirklich. Er wirft nur einen kurzen Blick auf das Stück Plastik. Vielmehr ist ihm daran gelegen, die Verantwortung für die ganze Sache so schnell wie möglich auf die Schultern abladen zu können, die für solche Fälle ausgebildet wurden. Er ist ganz glücklich darüber, dass der Mann vor ihm genau der Richtige dafür zu sein scheint.

Inzwischen sind auch die beiden anderen in Zivil gekleideten Kollegen von Herrn Reuter bei Tom angekommen. Bei ihnen handelt es sich um den Kriminalkommissar Moritz Schneider und die Kriminalkommissarin Ruth Meier. Die beiden scheinen den gleichen Rang innezuhaben, soweit das ein Laie überhaupt beurteilen kann. Sie machen sich jedenfalls nicht wie Reuter gleich einmal zum Affen, um ihrem Gegenüber die richtige Hierarchiefolge mitzuteilen, sie stellen sich einfach bei Tom als die vor, die sie sind, und scheinen ansonsten recht umgänglich zu sein, im Gegensatz zu ihrem Chef. Er stellt durch sein Verhalten von Anfang an klar, dass er hier der einzig wahre Ermittler ist und es sich bei den beiden Kollegen Schneider und Meier nur um seine Lakaien handelt. Als er Tom auch sogleich über diesen Sachverhalt aufklärt, verdrehen die beiden Neuankömmlinge hinter Reuters Rücken unisono die Augen und schauen dann verständnisvoll in das Gesicht ihres Gegenübers. Ihre Gesten wirken ganz so, als ob sie durch lange Übung inzwischen gut einstudiert sind. Das Verhalten ihres Chefs ist also für beide nichts Neues.

Inzwischen waren die beiden uniformierten Polizisten alles andere als untätig. Sie haben den Parkplatz, welcher sich direkt vor dem Zooeingang befindet, schon einmal komplett abgelaufen und sind sogar rechts und links jeweils ein Stück um den Zoo herumgegangen, um zu sehen, ob es vielleicht auch Sinn macht, die Seitenflanken entsprechend vor Eindringlingen zu schützen. Beide sind sich einig, dass das nur für das Gelände, das sich direkt hinter dem Raubtiergehege befindet, erforderlich ist, denn sie wissen bereits von Reuter, dass der Mord hinter der dortigen Tierparkmauer stattfand. So machen sie sich nun, bewaffnet mit einem Absperrband, auf den Weg, um alles fachgerecht gegen mögliche Eindringlinge von außen zu sichern. Solange niemand weiß, ob sich nicht auch vor dem Zoo Beweismaterial sicherstellen lässt, ist dies die beste Vorgehensweise, damit nichts verloren geht oder gar durch Fremde aus Unachtsamkeit verwischt wird. Das Gelände neben den Großkatzen muss natürlich auf jeden Fall entsprechend gesichert werden, denn es ist ja durchaus denkbar, dass der oder die Mörder sich Zutritt zum Zoo verschafft haben, indem sie einfach über die Mauer geklettert sind. Da diese nicht sehr hoch ist, wäre es für einen halbwegs fitten Menschen kein Problem, diese Art Hindernis ganz einfach zu überwinden. Aber es kann auch durchaus sein, dass sich die Täter bereits im Zoo befanden, schließlich gehen hier jeden Tag Fremde ein und aus, das ist ja gerade der Sinn und Zweck einer solchen Einrichtung. Wenn diese sich dann einfach irgendwo versteckt haben, bis es dunkel wurde, hätten sie noch nicht einmal irgendein Hindernis überwinden müssen, um zu ihrer Tat zu schreiten.

Natürlich ist die Polizei erst einmal vordergründig daran interessiert alle möglichen Details und Beweise zu sichern, bevor eventuelle Spuren oder Beweisstücke durch unachtsame Dritte versehentlich beseitigt werden oder im schlimmsten Fall gar als Müll entsorgt werden könnten. Das ist für jeden Polizisten am Tatort der absolute Supergau, daher lautet die Devise der Uniformierten: Lieber etwas mehr absperren, als tatsächlich erforderlich, das kann zumindest nicht schaden. Außerdem kann ihnen dann im Nachhinein kein Strick daraus gedreht werden, dass sie nicht sorgfältig genug vorgegangen wären. Man hat diesbezüglich ja schon viel gehört, daher will man selbst die Fehler der Kollegen auf keinen Fall wiederholen. Daher spannen die beiden erst einmal eine ganze Zeit lang fleißig ihr Absperrband um den Tierpark.

Jogi, der sich in weiser Voraussicht bereits vor dem Eintreffen der Ermittler auf seinem eigens für ihn gebastelten Stamm am Eingang des Zoos platziert hat, beobachtet das Geschehen der beiden inzwischen mit großem Interesse. Die Show, welche die Uniformierten draußen vor dem Zoo abliefern, lässt sein kleines Papageienherz vor Entzücken höherschlagen. Wenn er könnte, würde er inzwischen herzhaft über die beiden lachen. Aber da das mit seinem Papageienschnabel nicht möglich ist, bleibt ihm nichts anderes übrig, als seiner Belustigung mit ein paar Krächzern freien Lauf zu lassen, die bei einem Menschen keinesfalls als Lachen durchgehen würden. So enttarnen diese ihn auch nicht als belustigten Spanner, was ihm ja auch nur recht sein kann. Aber die beiden geben auch einfach ein zu schönes Bild ab, wie sie da draußen so hin und her rennen, das Absperrband hinter sich herflatternd, und sich mal hierhin und mal dorthin bewegen, irgendwie einfach so ganz ohne Sinn und Verstand, Hauptsache, es ist am Schluss alles mit weiß-rotem Band umwickelt. Das macht dem Vogel einen Heidenspaß. Jogi denkt sich: »Das ist doch endlich einmal eine gelungene Veranstaltung! Wer hätte gedacht, dass die Polizei einen Ara einmal derart erheitern kann? So etwas Lustiges habe ich hier ja schon lange nicht mehr gesehen.«

Aber trotz allem versteht er den Sinn dieses ganzen Treibens nicht wirklich. Nichts von dem, was die beiden da draußen machen, bringt den toten Tierpfleger wieder zurück. Was sollte es also bringen, alles wie wild zu umwickeln? Haben die Polizisten vielleicht Angst, dass Guido so einfach mir nichts, dir nichts aus dem Zoo marschieren könnte und ihr Fall sich somit in Luft auflöst? Gerade die Polizei müsste doch wissen, dass das auf jeden Fall ausgeschlossen sein dürfte. Warum machen sich die Jungs da draußen also solch eine Mühe? »Aber andererseits, was soll es, die Kumpels da draußen werden schon wissen, was sie tun, sie sind ja schließlich die Ordnungshüter und machen das mit Sicherheit nicht zum ersten Mal«, denkt sich Jogi und beobachtet sie weiterhin sehr amüsiert. Schon nach kurzer Zeit ist der Parkplatz derart mit Flatterband umspannt, dass man direkt denken könnte, man hätte hier für eine Party geschmückt. Darüber, wie die Menschen, die sich bereits im Tierpark befinden, am Ende des Tages wieder nach draußen kommen sollen, haben sich die beiden Uniformierten anscheinend überhaupt keine Sorgen gemacht. Zumal auch die Autos der Angestellten schon auf dem Parkplatz abgestellt sind. An diese müssen sie ja irgendwie gelangen, wenn sie wieder wie jeden Abend nach Hause fahren. Aber da sollen sich mal die großen Zweibeiner Gedanken darübermachen, er kann das ganze Flatterband ja einfach umfliegen, wenn er dort vor dem Zoo mal nach dem Rechten schauen will. Ihm kann es also ganz egal sein, wie die anderen später wieder herauskommen.

9

In der Zwischenzeit wird Tom von Kriminalhauptkommissar Bauer genötigt, ihn unverzüglich auf kürzester Strecke und ohne Umwege zum eigentlichen Ort des Geschehens, nämlich zum Tatort, zu bringen. Man dürfe jetzt keine Zeit verlieren, tönt der taffe Kommissar mit voller Stimme, schließlich gilt es so viele Spuren wie möglich zu sichern. Zu viel Zeit zu verlieren heißt gleichzeitig wertvolle Spuren zu vernichten. Also ist jetzt erst einmal Eile angesagt.

So angetrieben, stürmt Tom sofort los zum Raubtiergehege, dicht gefolgt von Bauer, Schneider und Meier, wobei die etwas kleinere Meier schon so ihre Probleme hat, mit den um einiges größeren Männern Schritt zu halten. Nichtsdestotrotz stapft sie tapfer hinter den Männern her. Es wäre ja gelacht, wenn sie sich so schnell geschlagen geben würde. Wenn sie eine so zarte Frau wäre, hätte sie es nie zu ihrer jetzigen Position geschafft. Im Polizeidienst muss man schon so einiges wegstecken können, um es nach einer sehr langen Durchhaltestrecke einmal bis zur Kommissarin zu schaffen, daher macht es ihr nichts aus, dass die Jungs mit ihren längeren Beinen beim Laufen eben einfach etwas schneller vorankommen als sie. Notfalls würde sie diesen hinterherjoggen, aber abhängen lassen würde sie sich auf keinen Fall. Da es gar nicht so weit bis zum Tatort ist, muss sie darüber aber gar nicht weiter nachdenken.

Unterwegs hängt der Tierpfleger ganz anderen Gedanken nach. »Mann, hoffentlich sind wir bald dort. Ich will so schnell wie möglich weit weg von der Leiche. Sehen will ich Guido auf keinen Fall mehr, das eine Mal hat mir völlig gereicht, schlecht ist es mir jetzt noch und ich kann noch nicht einmal mit einem der anderen darüber reden. Am Ende bezeichnen die mich noch als Memme und lachen mich aus, das brauche ich dann auch nicht. Sollen sich die drei Beamten den Toten anschauen und sich selbst ein Bild von der Lage verschaffen, Hauptsache, ich bin das alles wieder los, das ist ja wie in einem schlechten Film.« Je länger Tom darüber nachdenkt, umso besser gefällt es ihm, dass er nun gleich die Führung beenden und damit auch die Verantwortung abgeben kann. »Die Kommissare werden schon wissen, was als Nächstes zu tun ist. Ich weiß es auf jeden Fall nicht und möchte mich auch gar nicht damit befassen müssen. Das ist schließlich nicht mein Job.«

Als sie wenig später am Raubtiergehege ankommen, holt Bauer als Erstes die extra für den Tatort mitgeführten typischen durchsichtigen Plastikhandschuhe aus seiner Sakkotasche heraus. Die beiden anderen Kommissare tun es ihm sofort gleich. »Na, das ist doch wirklich professionell«, denkt Tom. Das Trio scheint ja tatsächlich genau zu wissen, was es tut. Beruhigt über das Verhalten der Polizisten, macht sich Tom dann auch gleich wieder auf den Weg, mit ins Innere wollte er auf keinen Fall mehr gehen. Als er sich eilig verabschiedet, hat er den Eindruck, dass Meier ihn mitfühlend ansieht, aber das ist ihm in diesem Moment auch egal, soll sie über ihn denken, was sie will. Andere Zivilisten haben bestimmt auch so ihre Probleme damit, wenn sie einen Toten sehen, noch dazu, wenn es sich dabei um einen guten Bekannten handelt.

Harry, der vor dem Gehege bereits auf die Ankömmlinge gewartet hat und natürlich mit ansieht, wie diese ihre Sicherheitsvorkehrungen treffen, ärgert sich, dass er heute Morgen nicht daran gedacht hat, selbst Handschuhe zu tragen. Wie hat er nur so dumm sein können? Es ist doch ganz klar, dass sie nichts hätten anfassen dürfen! Mann, das ist ja ein richtiger Anfängerfehler, den er sich hier geleistet hat. Er hofft inständig, dass durch seine Unachtsamkeit keine Fingerabdrücke verloren gegangen sind. Aber selbst wenn, ist das nun nicht mehr zu ändern. Auch nach längerem Nachdenken kann er sich einfach nicht daran erinnern, wer von den Kollegen etwas angefasst hat. Er weiß nicht einmal mehr, ob er außer dem Türgriff noch etwas angefasst hat. Aber wer könnte es ihm in dieser Situation auch verdenken, nicht alles berücksichtigt zu haben, was vielleicht nötig gewesen wäre? So ein Todesfall bringt also anscheinend auch die durchaus taffen Männer ganz schön aus dem Gleichgewicht, ob sie dies nun zugeben oder nicht.

Julia wäre froh über diese Information gewesen, welche sie wohl niemals erfahren wird. Dann wüsste sie zumindest, dass auch der ruppige Kollege heute nicht ganz der harte Kerl ist, den er sonst immer zur Schau stellt. Vielleicht sollten die beiden Geschlechter einfach öfter über solche durchaus heiklen Themen sprechen, denn dann wüsste das schwache Geschlecht längst, dass die Mädchen gar nicht so viel schwächer sind als die Jungs und es oft nur den Anschein hat, dass es so wäre. Aber ob sich die Männerwelt einmal derart outen wird, steht wohl in den Sternen. Sie lassen sich schon immer gerne als das starke Geschlecht bezeichnen, warum gerade jetzt damit aufräumen und das nur, weil man mal eine Leiche gesehen hat? Das kommt für die Jungs hier ja gar nicht in die Tüte.