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Für Fans von Agatha Christie, Nita Prose und Richard Osman und Mord ist ihr Hobby.
Sie sind Mitglied der Londoner High Society und benötigen qualifiziertes Hauspersonal? Dann sind Sie bei Alice Beeton genau an der richtigen Adresse. Das weiß auch ihre langjährige Kundin, Camille Messent, die dringend eine neue Haushälterin benötigt, denn sie erwartet eine große Festgesellschaft. Miss Beeton schickt ihr die etwas forsche Enya, die gerade erst aus der Schweiz gekommen ist. Sie hat erstklassige Referenzen und spricht auch noch fließend Französisch.
Einige Tage später wird Enya in den frühen Morgenstunden tot aufgefunden. Während der noch zuständige Detective Rigby darum kämpft, eine Untersuchung auf die Beine zu stellen, übernimmt Miss Beeton die Ermittlungen …
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Seitenzahl: 464
Veröffentlichungsjahr: 2025
Josie Lloyd
Mord in besserer Gesellschaft
Miss Beeton ermittelt
Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich
Insel Verlag
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Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Miss Beeton’s Murder Agency bei HQ.Für meine großartige Freundin und Quelle sämtlicher nützlicher Informationen, Shân Lancaster.In Liebe.
eBook Insel Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5120.
Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025Copyright © 2023 by Unomas Productions Ltd
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eISBN 978-3-458-78459-3
www.insel-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
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Titel
Impressum
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Epilog
Informationen zum Buch
Mord in besserer Gesellschaft
»Ich hab's dir doch gesagt. Der gutaussehende Professor war's.« Mit einem befriedigenden Knall schlug Alice Beeton den gebundenen Bibliotheksband zu. »Trau niemals einem Mann mit Grübchen im Kinn.«
Der Wasserkessel in der kleinen Küche trillerte wie eine altmodische Polizeipfeife. Alice drehte das Gas ab und hob den Deckel, und das sprudelnde Wasser fauchte.
Agatha bellte kurz als Antwort und richtete ihre hellbraunen Augen auf Alice, die jetzt eine Porzellantasse und zwei Untertassen aus dem Schrank nahm und das andere Geschirr ein klein wenig zurechtrückte, damit die Stapel wieder hübsch akkurat aussahen. Mit einem Silberlöffel maß sie die exakte Menge von Earl-Grey-Blättern aus der Teedose, goss sie mit heißem Wasser auf und stülpte einen gestrickten Teewärmer über die Kanne.
Als selbsterklärter Krimi-Junkie liebte Alice verworrene Plots, falsche Fährten und beiläufige Hinweise, was unweigerlich dazu führte, dass sie schlauer war als die meisten fiktiven Detektive – mit Ausnahme von Miss Marple natürlich. Sie war im Besitz sämtlicher achtzig, wie einen Schatz gehüteter Agatha Christies (nach ihr hatte sie auch ihre Hündin Agatha genannt), allerdings hatte sie für weitere Bücher keinen Platz mehr.
Alice' Souterrainwohnung zeigte sich so früh am Tag nie in bestem Licht, sie wirkte erst freundlicher, wenn die Sonne über die gegenüberliegenden Gebäude stieg. Als sie die Jalousie über der Spüle hochzog und durch das vergitterte Fenster zur Straße hinaufschaute, erspähte sie den schwach grau schimmernden Dezemberhimmel, doch das vorhergesagte ›Biest aus dem Osten‹ musste erst noch kommen. Es sah wirklich nicht so aus, als würde es demnächst schneien, aber man konnte nie wissen. Dennoch war es eindeutig ein Tag für eine Thermoweste.
Auf dem Tisch schmückten die Trompetenblüten einer orangefarbenen Amaryllis, das Geschenk eines dankbaren Klienten, die Küche mit einem fröhlich exotischen Farbklecks; in ihrer Wohnung fand sie alles so, wie es war, genau richtig, nur die lauten Nachbarn über ihr ließen sich kaum ignorieren. Sie zuckte zusammen, als deren verflixter Sohn einen Ball über ihre Küchendecke springen ließ. Sie schaltete das Radio ein, das fest auf einen Klassiksender eingestellt war, und sandte zur Antwort einen dröhnenden Vivaldi nach oben.
Agatha bellte erneut und legte den Kopf schief.
»Bin dabei«, sagte Alice. »Geduld.«
Sie goss aus der zierlichen Tülle Tee in eine der Untertassen und gab aus dem Kännchen kalte Milch hinzu, stellte sie auf den Fußboden, und Agatha begann zu schlecken. Gerade als sie sich selbst eine Tasse einschenken wollte, klingelte die uralte Eieruhr. Alice sprang auf und stellte die Teekanne ab.
Wie so oft versetzte sie dieser kleine Gegenstand zurück in die Küche von Hawthorn Hall, und sie saß wieder auf der geschwungenen hölzernen Anrichte, während Mrs Doulton sie in den Feinheiten der Küchen- und Haushaltsführung unterwies. Ihre Erinnerungen glichen jener Art von Kodak-Abzügen – verblichen und eindeutig einer anderen Zeit zugehörig –, nur Mrs Doulton war eher ein Gefühl. Die Person, die sich wie ein Zuhause anfühlte. Selbst jetzt noch, fünf Jahre nach ihrem Tod, vermisste Alice ihre alte Mentorin und den Menschen, der ihr mehr wie eine Mutter gewesen war als irgendjemand sonst, und sie wusste, dieser Schmerz würde nie vergehen.
Sie zog ihre Ofenhandschuhe an und spähte durch die Glasscheibe, doch weil es so köstlich roch, wusste sie auch ohne den Timer, dass die Kekse perfekt waren. Sie hatte sie nach dem sehr genauen Rezept ihrer viktorianischen Vorfahrin gebacken, der sehr berühmten Isabella Beeton – Verfasserin des weit verbreiteten Werkes Das Buch der Haushaltsführung. Alice hielt sich gern an die Maßstäbe ihrer längst verstorbenen Verwandten: Sauberkeit, Ordentlichkeit, Pünktlichkeit und harte Arbeit. Und dazu kamen natürlich die Befriedigung und der Trost des Selberbackens.
Zitronenkekse
Zutaten: 1 ¼ Pfund Mehl, ¾ Pfund Zucker, 180 g frische Butter, 4 Eier, Schale von 2 Zitronen, 2 Dessertlöffel Zitronensaft.
Zubereitung: Kneten Sie das Mehl in die Butter, rühren Sie den Zucker und die fein geriebene Zitronenschale darunter. Wenn diese Zutaten gründlich vermischt sind, fügen Sie die gut verquirlten Eier und den Zitronensaft hinzu. Diese Mischung ein, zwei Minuten kräftig durchrühren und dann von einem Löffel auf ein gebuttertes Backblech tropfen lassen, in einem Abstand von ungefähr 5 cm, da der Teig beim Erwärmen zerläuft. Schieben Sie das Blech in den Ofen und backen Sie die Kekse in etwa 15 bis 20 Minuten hellbraun.
Zeit: 15 – 20 Minuten
Durchschnittliche Kosten: 1 sh. 6p.
Zu jeder Jahreszeit
In ihrer üblichen Uniform – einem zweckmäßigen, knielangen Rock, einer Thermoweste, einer gestärkten weißen Bluse sowie einem ihrer zahlreichen Kaschmirpullis mit V-Ausschnitt in neutralem Farbton, dazu ihrem bestgehüteten Schatz, die Halskette mit dem viktorianischen Medaillon – machte Alice sich bereit, die Wohnung zu verlassen. In Anbetracht des Wetters fügte sie noch einen Schal aus Jacquardseide hinzu, der dem Ganzen einen Hauch Farbe und Wärme verlieh, und fragte sich wie schon oft, warum die Menschen ihr so häufig Schals zum Geschenk machten. War sie tatsächlich dermaßen langweilig? Sollte ihre Schwägerin Sassy ihr in diesem Jahr noch einen weiteren überreichen, war sie wild entschlossen, dieses Mal etwas zu sagen.
Sie nahm eine Blechdose aus ihrer großen Sammlung im Küchenschrank, legte sie mit zerknittertem, fettabweisendem Papier aus und sortierte die abgekühlten Kekse vorsichtig ein. Während sie eine fröhliche Händel-Melodie pfiff, verstaute sie die Dose in ihrem Lederbeutel, schaltete das Radio aus und stellte ihre Hausschuhe auf das Regal neben der Haustür. Sie schnürte ihre Lederhalbschuhe, schlüpfte in ihren verlässlichen Burberry, warf einen prüfenden Blick in den vergoldeten ovalen Spiegel neben der Eingangstür und fuhr sich mit den Fingern durch den Pony ihres adretten braunen Bobs. Absolut präsentabel. Aber Moment … Alice schaute noch einmal genauer hin. War das der schwache Schatten … guter Gott! Eines Schnurrbarts?
Anders als so viele Frauen ihrer Bekanntschaft, befasste sie sich nicht mit den langwierigen und ihrer Meinung nach meist vergeblichen Bemühungen, die Zeit anzuhalten. Jenseits der fünfzig, vom Gefühl her jedoch noch gut in den Vierzigern, hatte sie beschlossen, damit Frieden zu schließen, dass ihr Gesicht seine Konturen veränderte, ihre Taille breiter wurde und ihr Haar inzwischen nicht nur vereinzelte silberne Strähnen aufwies. Und obwohl sie sich selbst weder für alt noch, mit etwas gutem Zureden, für eitel hielt, war diese neue Entwicklung absolut nicht statthaft.
Falls sie den Mut aufbrachte, würde sie Jinx fragen, wie man sie stoppte. Sobald sie ihrer besten Freundin gegenüber allerdings auch nur andeuten würde, dass sie, Alice, sich um ihre äußere Erscheinung sorgte, gäbe es vermutlich kein Halten mehr. Jinx verfügte über mehr Lotionen, Zaubertränke und Tricks zur Verschönerung, als Alice zu zählen wagte.
Sie holte tief Luft, öffnete die Tür und stählte sich für den unvermeidlichen Anblick weggeworfener Fastfood-Verpackungen am Fuß ihrer Treppe, aber ausnahmsweise war der von Terrakottatöpfen gesäumte Aufstieg zum Tor sauber.
Gerade kam Mr Mantis, der Hausmeister, über die breite Schwelle zum Haupteingang ihres roten Backsteinhauses und verteilte aus einem Behälter, der wie eine gigantische Keksdose aussah, Streusalz auf den Stufen. Er war ein kleiner Mann – drahtig und argwöhnisch und immer vornübergebeugt in seiner schäbigen Lederjacke. Er stank nach Zigaretten und billigem Aftershave, und Alice traute ihm nicht über den Weg.
»Miss Beeton«, sagte er und dehnte mit seiner weinerlichen Stimme das ›ee‹. »Es gab übrigens eine Beschwerde über Sie. Wegen Ihres Hundes. Speziell wegen des Bellens.« Er warf einen bedeutsamen Blick auf Agatha, dann machte er eine Kopfbewegung in Richtung des Erdgeschossfensters, wo sich in diesem Moment die Lamellen der Jalousie schlossen.
»Agatha bellt nicht. Sie kommuniziert«, erwiderte Alice und zog den Gürtel ihres Regenmantels enger. »Außerdem lässt sein Sohn seinen Ball über den Fußboden springen. Den Lärm können Sie sich nicht vorstellen. Betrachten Sie die Beschwerde als verdoppelt zurückgeschickt.«
»Falls Sie nicht gern hier wohnen, könnten Sie verkaufen. Ich kenne da jemanden –«
»Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, Mr Mantis«, sagte sie knapp, »ich verkaufe nicht. Und jetzt, guten Tag«, erklärte sie und wandte sich ab; dass Mr Mantis die Augen verdrehte, entging ihr allerdings nicht. Was für eine Frechheit.
Alice schlug den gewohnten Weg nach Kensington Gardens ein, wo sie Agatha von der Leine ließ, damit sie ihre Lieblingsstellen in der Platanenallee beschnuppern konnte. Der vertraute Morgenbetrieb war tröstlich: die Läufer, die jungen Mütter mit ihren Buggys, die Kinder auf ihren Scootern und der Herr mit Spazierstock, ein Sikh, dem sie häufig begegnete. In der Ferne flogen die Enten auf, strichen über die Teichoberfläche und flogen dem ausladenden Geäst der kahlen Ulmen und dem weißen Himmel entgegen. Ein eisiger Hauch lag in der Luft, und Alice fröstelte; sie holte ihr Wollbarett aus der Tasche und zog es tief über die Ohren.
Gewöhnlich ließ sie sich von unfreundlichen Menschen nicht aus der Ruhe bringen, doch die Begegnung mit Mr Mantis hatte ihr einen Stich versetzt. Als die Erdgeschosswohnung vor achtzehn Monaten auf den Markt gekommen war, hätte sie sie liebend gern selbst gekauft, doch ihr Preis war raketenhaft angestiegen und lag weit jenseits ihres Budgets. Sie hatte im Lauf der Jahre zu viele Hypotheken und zu viele Kredite aufgenommen, um Jasper beizustehen, als dass sie noch kreditwürdig gewesen wäre.
Doch es ärgerte sie, dass die geräumige Wohnung mit ihren prachtvollen Stilelementen an so achtlose Nachbarn verkauft worden war, die sie völlig entkernten, was endlose Bauarbeiten mit Staub und Lärm verursachte. Alice wunderte sich, dass sie eine derart moderne Renovierung eines denkmalgeschützten Gebäudes am Bauamt vorbei durchsetzen konnten. Sie glaubte keine Sekunde lang, dass sie die Genehmigung dafür hatten. Und nachdem sie sämtliche Isolierungen entfernt hatten, besaßen sie nun auch noch die Frechheit, sich über Agatha zu beschweren. Verglichen mit den meisten Hunden war Agatha ein Traum. Wenn man Alice fragte, sogar verglichen mit jedem anderen Hund. Es war zutiefst verstörend, dass man kritisiert wurde, einfach nur weil man in seinen eigenen vier Wänden sein eigenes Leben führte. Es war höchst unnachbarschaftlich. Die Menschen hatten keine Manieren mehr, und, wie Mrs Doulton beharrlich betont hatte, Manieren waren alles.
Manchmal schien es, als verändere die Welt sich zu schnell. Zum Beispiel ihre Nachbarschaft. Alice hatte die bohemienhafte Souterrainwohnung gekauft, bevor Notting Hill und Umgebung von reichen Bankern bevölkert wurden. Damals war die Wohnung in dem heruntergekommenen herrschaftlichen Gebäude ein Schnäppchen gewesen, und sie hatte sie vom Erlös aus dem Verkauf des mütterlichen Schmucks bar bezahlt. Aus der Schatulle mit den glitzernden Klunkern hatte sie nur die Halskette mit dem viktorianischen Medaillon behalten und versucht, sich nicht allzu viel daraus zu machen, dass ihr jüngerer Bruder Jasper das gesamte Familienanwesen geerbt hatte. Sie hatte keinen Schimmer, warum ihre nonkonformistischen Eltern eine solch antiquierte Klausel in ihrem Testament beibehalten hatten, wonach Hawthorn Hall in der männlichen Linie vererbt wurde. Aber vermutlich hatten sie auch nicht erwartet, nach einer ihrer legendären Partys bei einem Hubschrauberabsturz zu sterben, so dass Jasper als ahnungsloser Achtzehnjähriger sein Erbe antrat. Gott sei Dank war Mrs Doulton geblieben und hatte das Haus weitergeführt.
Hawthorn Hall war ihr immerzu präsent, doch es würde Alice nie gehören. Aber was würde sie überhaupt damit anstellen, falls doch? Sie würde nicht gern mutterseelenallein in Sussex herumirren wollen. Hawthorn passte besser zu Jasper und seinen Jungen, obwohl Sassy (oder@yummymummyinthehall, wie sie sich offenbar auf Instagram nannte) keine Ahnung hatte, wie das Haus zu führen war.
Außerdem liebte Alice London. Auch wenn es ihr zu dieser Jahreszeit mit den vielen Weihnachtsdekorationen schwerfiel, das Gefühl loszuwerden, ihr Leben sei nicht ganz so verlaufen wie erhofft. Als sie durch das verschnörkelte rostrote Tor des Queen's Park trat und an der Ampel warten musste, hielten an der gegenüberliegenden Haltestelle quietschend drei Busse, auf deren Seiten Werbung für die neueste Kinoromanze prangte, eine perfekte Familie, die vor einem lodernden Kaminfeuer Geschenke auspackte.
Sie war immer davon ausgegangen, dass sie einmal ihr eigenes luxuriöses Haus haben würde, so wie das in der Werbung. Im Geiste malte sie sich eine Eingangshalle, einen massiven Baum, das mit Efeu und Lichtern geschmückte Treppengeländer und ihre aufgeregt durcheinanderhüpfende Schar begabter Kinder aus; das gemütliche, elegante Wohnzimmer mit einer bunten Mischung künstlerischer Freunde gefüllt; und mittendrin ihr Champagner ausschenkender Ehemann, den sie sich groß und geheimnisvoll vorstellte – wie einen freundlicheren Captain von Trapp.
Doch diese Fantasie hatte sich auch nicht nur annähernd verwirklicht. Sie dachte selten über ihre Kinder- und Ehelosigkeit nach, nur an Weihnachten. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie das alles so schnell hatte passieren können – dass sie arbeitete, während ihre fruchtbaren Jahre wie der Blitz dahinschwanden. Sie war davon ausgegangen, dass es, wenn sie für die Liebe bestimmt war, einfach geschehen würde, auch wenn Jinx ihr wieder und wieder gesagt hatte, dass es heutzutage anders lief. Sie hatte sich standhaft geweigert, ihr Profil online zu stellen, und die Vorstellung, sich mit einem Fremden zu verabreden, war ihr völlig geschmacklos und peinlich vorgekommen. Doch nachdem es ihr in den letzten zwanzig Jahren nicht gelungen war, einen in Frage kommenden Mann kennenzulernen, hatte Alice widerstrebend eingesehen, dass Jinx wohl die ganze Zeit recht gehabt hatte.
Die Busse fuhren an und steuerten vereint Richtung Clapham. Die Fußgängerampel blinkte und scheuchte sie aus ihrer Träumerei auf. Entschlossen marschierte sie los, zog Agatha weiter, die einen Labrador begrüßen wollte, der ihnen entgegenkam.
Ihr Leben verlief absolut zufriedenstellend, rief Alice sich in Erinnerung. Außerdem wurden Kinder ihrer Erfahrung nach völlig überbewertet und waren eine nicht annähernd so dankbare Aufgabe wie ein Hund. Und dann gab es ja auch noch ihr Geschäft.
Also, los geht's, dachte sie. Die Arbeit wartet.
Zehn Minuten später stand Alice vor einem cremefarbenen Regency-Gebäude. Die glänzend schwarze Tür war früher der Eingang zu einem Gentlemen's Club gewesen, doch jetzt beherbergte das Gebäude durchweg Büros. Wie alle anderen, die ihr Geschäft in den winzigen Räumen betrieben, hatte Alice das Büro einzig wegen der prestigeträchtigen Adresse gewählt, nur einen Steinwurf vom Berkeley Square entfernt.
Das Innere war wesentlich zweckmäßiger gestaltet, als die dorischen Säulen draußen vermuten ließen. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stieg Alice die graue Treppe mit den stahlverstärkten Trittflächen hinauf, und Agatha sprang hechelnd neben ihr her. Alice musste an mehreren Büros vorbei, bis sie die Mattglastür mit der Aufschrift ›Agentur für gute Haushaltsführung‹ erreichte.
Es war Mrs Doulton gewesen, die diesen Namen vorgeschlagen hatte, denn für ihre entfernte Verwandte Isabella Beeton hatte sich ein Buch mit ›gut‹, ›Haushalt‹ und ›Führung‹ im Titel als sehr erfolgreich erwiesen. Alice wusste, dass ihre alte Mentorin sehr stolz darauf gewesen wäre, dass sie seit über fünfundzwanzig Jahren im Geschäft war. Auch wenn sie, genau wie Alice selbst, wahrscheinlich ein wenig enttäuscht gewesen wäre, dass es ihr während dieser Zeit nicht gelungen war, in bessere, hellere und geräumigere Büroräume umzuziehen. Sie waren nah dran gewesen, als die Agentur im Boom der Nullerjahre florierte, doch dann waren die Mieten ins Unermessliche gestiegen. Und die Covid-Pandemie hatte die Situation auch nicht verbessert.
Es war eine Herkules-Aufgabe, die handverlesenen Angestellten für die exklusiven Stadthäuser und weitläufigen Landsitze ihrer Kunden aufzutreiben. Das extravagante, ereignisreiche Leben der Superreichen erforderte gute Bedienstete, und Alice war stolz darauf, nur die allerbesten zu beschaffen. Ihre altmodische Rolodex-Kartei war mehr als gut gefüllt: mit Köchen, Kindermädchen, Chauffeuren, Grundstücksverwaltern, Personal-Trainerinnen und persönlichen Assistenten, mit Barkeepern, Hausmädchen, Gärtnern und Hauswirtschafterinnen, von denen viele schon seit Jahren in ihrer Kartei standen.
Sie wusste, dass ihre Klientel auf einen außerordentlich hohen Standard Wert legte, und ihre Bediensteten wussten, dass Diskretion entscheidend war. Ganz gleich, um welches Problem es sich hinter verschlossenen Türen auch handeln mochte, die Angestellten von Alice' Agentur standen bereit, es zu lösen.
»Morgen«, sagte sie beim Eintreten. »Wie geht's?«
In das vollgestellte Büro quetschten sich im Empfangsbereich zwei Schreibtische – einer für Helly und einer für Jinx – sowie ein grünes Sofa. Alice' Büro befand sich hinter einer gläsernen Trennwand mit einer meist offenen Tür.
Helly legte ihr Strickzeug beiseite, das Knäuel lilafarbener Wolle fiel vom Schreibtisch und rollte Alice vor die Füße.
»Oh, Alice, schnell«, rief Helly, und Alice bückte sich nach der Wolle, ehe Agatha danach schnappen konnte. Agatha betrachtete Hellys Strickzeug als bevorzugtes Spielzeug; einmal war es ihr sogar gelungen, einen ganzen Pullover wieder aufzuribbeln.
Helly war Anfang zwanzig und hatte einen dieser modernen Kurzhaarschnitte, wie Alice ihn sich in jungen Jahren immer gewünscht hatte, sich aber nicht traute. Sie hatte diverse Piercings in den Ohren und einen Nasenring, doch bei dem Ring hatte Alice fürs Büro die Grenze gezogen. Angesichts ihrer tonlosen Stimme und der zahlreichen Piercings hatte Jinx befürchtet, Helly wäre für die Arbeit nicht geeignet, doch Alice hatte in ihr eine gut erzogene, organisierte junge Person mit alter Seele erkannt. Und entgegen Jinx' anfänglicher Sorge hatte sich gezeigt, dass sie sich überraschend gut machte.
Jinx wärmte sich gerade am Heizgebläse und drehte sich jetzt wie ein Starlet in einem altmodischen Film mit ausgestreckten Armen um.
»Da bist du ja. Meine Süße, meine Süße«, sagte sie mit alberner Stimme, hob Agatha hoch und knuddelte sie.
»Dir auch einen guten Morgen«, sagte Alice betont, was Jinx zum Lachen brachte – dasselbe tiefe, raue Lachen wie schon als Kind, als sie gemeinsam zur Schule gegangen waren. Die Art Lachen, mit dem sie den Ärger der Lehrer auf sich gezogen hatten.
Nach dem Abitur hatte Jinx eine Pause von mehreren Jahren eingelegt, und sie hatten den Kontakt verloren. Während Alice im Alter von Anfang zwanzig mit dem plötzlichen Tod ihrer Eltern fertig werden musste, hatte sie von fern zugesehen, wie Jinx mit ihrem Lachen und der dazugehörigen Portion Großspurigkeit Mitte der Neunziger ein Londoner It-Girl geworden war.
Ständig tauchte sie am Arm eines drittrangigen Prinzen oder Playboys in den Klatschspalten auf, und ihre erste Celebrity-Hochzeit mit dem Sohn eines Ölmagnaten hielt gerade mal sechs Monate. Als Jinx eines Tages aus heiterem Himmel aus Südfrankreich anrief und unter Tränen gestand, sie besitze keinen Pfennig mehr und sei am Ende, zögerte Alice nicht lange und half. Ehemann Nummer zwei schien vielversprechender, aber auch er erwies sich als Nichtsnutz. Ehemann Nummer drei war kaum besser. Und als Ehemann Nummer vier unerwartet in einer heißen Badewanne verstarb – in der sich Jinx zu diesem Zeitpunkt nicht befunden hatte –, hatte sie hinter sich aufgeräumt und erklärt, mit Männern sei sie ein für alle Mal fertig. Damals hatte Alice sie eingeladen, sie bei der Leitung der Agentur zu unterstützen. Sie erwies sich vom ersten Tag an als Naturtalent, und ihren endgültigen Durchbruch hatte sie, als sie zuletzt ein zusätzliches eigenes Geschäftsfeld entwickelte und ihren Klienten einen sehr erfolgreichen Concierge-Dienst anbot.
»Was zum Teufel trägst du da?«, fragte Alice und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen Jinx' gestreiftes Taftkleid mit Puffärmeln. Sie glich auf alarmierende Weise einem Liegestuhl.
»Findest du es nicht auch toll, alt genug zu sein, um mitzuerleben, wie manche Sachen wieder in Mode kommen?«
»Ziemlich Prinzessin-Diana-mäßig«, meinte Alice, die wusste, dass das Kompliment bei ihrer Freundin gut ankommen würde; Jinx liebte die Royals und hatte nie wirklich aufgehört, ein Sloane Ranger zu sein, eine echte Repräsentantin der traditionellen Oberschicht – deren wichtigste Fackelträgerin natürlich die ikonische Prinzessin gewesen war. »Aber vielleicht eher für den Frühling? Hast du nicht gehört, dass es schneien soll?«
»Ist die königliche Familie nicht völlig out? Ich weiß gar nicht, was ihr mit diesen Leuten habt«, sagte Helly, ohne von ihrem Strickzeug aufzusehen.
Alice, die mit Jinx zusammen das Ableben von Queen Elizabeth tief betrauert hatte, wurde durch ein Klingeln vor der sich abzeichnenden Loyalitätsdebatte gerettet.
Helly beugte sich zum Bildschirm der Sprechanlage.
»Es ist dieses Mädchen fürs Interview«, sagte sie. »Sie ist früh dran.«
»Gut«, sagte Alice. »Lass sie rein.«
Alice war stolz auf ihre Fähigkeit, blitzschnell zu erfassen, wie jemand gestrickt war (ein Lieblingsausdruck von Mrs Doulton). Ihr Instinkt irrte selten. Es gab immer nur eine einzige Chance, einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen, und bisher hatte diese junge Frau, Enya Fischer, ihre Sache ausgezeichnet gemacht.
Sie war groß und trug ein zweireihiges dunkelgraues Nadelstreifenkostüm. Der Rock war möglicherweise ein bisschen kurz geraten, wurde jedoch von einer schwarzen Strumpfhose in genau der richtigen Dichte ergänzt. Nicht zu dicht, nicht zu transparent. Ihr Haar – lang und blond – war sorgfältig zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Nicht eine lose Strähne und, wie Alice feststellte, fachmännisch toupiert, zweifellos auf die korrekte Art – mit dem spitzen Ende eines Kamms. Enya hatte hohe Wangenknochen und den frischen Teint junger Menschen, die ihn aber nie zu schätzen wissen, dazu große, ernst dreinblickende graue Augen.
»Mir gefällt, dass sie ein schwarzes und ein braunes Ohr hat. Was für ein Hund ist das?«, fragte Enya und wies mit dem Kopf in Agathas Richtung.
»Ich bin mir nie ganz sicher«, antwortete Alice, wie immer entzückt, wenn sich jemand Zeit nahm, von ihrem geliebten Hund Notiz zu nehmen. »Wir nennen sie einen Cojack – hauptsächlich Jack Russell mit einem Schuss Corgi vermutlich.«
Sie erwähnte nicht, dass Agatha, als sie sie fand, die Größe ihrer Hand gehabt hatte und neben einem riesigen schwarzen Mülleimer ausgesetzt gewesen war. Weil dieser Mülleimer vor den Toren von Buckingham Palace stand, hatte sie sich immer ausgemalt, einer der königlichen Corgis könnte für Agathas Existenz verantwortlich sein.
Doch an diesem Morgen benahm Agatha sich überhaupt nicht königlich und schien ihre guten Manieren völlig vergessen zu haben. Als Enya die Hand ausstreckte, um sie zu streicheln, ließ sie ein leises Knurren hören. Alice warf ihr einen scharfen Blick zu und sah, dass der kleine Hund die Zähne bleckte.
»Es tut mir leid. Normalerweise ist sie nicht so. Agatha!«, sagte Alice und hob sie hoch. »Was ist nur in dich gefahren?«
Sie ging zur Tür, setzte Agatha ab und schob sie mit dem Fuß sachte zu Helly.
»Es tut mir so leid«, entschuldigte sie sich noch einmal, doch Enya lächelte nur und zeigte dabei perfekte weiße Zähne.
»Agatha. Ein ungewöhnlicher Name für einen Hund.«
»Oh, nach Christie. Ich bin krimisüchtig«, gestand Alice. »Lesen Sie gern?«
»O ja, natürlich. Wann immer ich kann«, sagte Enya und schob Alice ihren professionell gestalteten Lebenslauf hin.
Der erste dicke Pluspunkt, dachte Alice, während sie ihre dick gerahmte Lesebrille aufsetzte. Helly meinte immer, sie sehe damit aus wie Velma in Scooby-Doo, aber Alice gefiel die Brille. Sie überflog die beeindruckende Liste von Enyas Fähigkeiten und nickte nachdenklich.
»Sie sind in der Schweiz zur Schule gegangen?«
»Ja, meine Eltern haben eine Weile dort gelebt. Mein Vater war Deutscher und meine Mutter Französin, deshalb spreche ich beide Sprachen fließend«, erklärte die junge Frau selbstbewusst und mit nur der leisesten Spur eines Akzents.
»Sehr schön«, sagte Alice und fügte im Geiste noch einige weitere Pluspunkte hinzu, ehe sie fortfuhr. Sie war lange genug im Geschäft, um zu erkennen, wenn jemand seinen Lebenslauf aufhübschte, doch Enya schien hervorragende Praxiserfahrung zu haben. Ihre bisherigen Arbeitgeber hatten ihr zweifellos dieses sehr kultivierte, untadelige Auftreten beigebracht. Sie war respektvoll und höflich, ohne jede Großspurigkeit. Eine ideale Kandidatin.
Allerdings überraschte es sie, dass eine Frau wie Enya lieber eine Position als Hausangestellte suchte, statt sich selbstständig zu machen. Nicht dass es an der Tätigkeit im häuslichen Bereich etwas auszusetzen gäbe – die meisten Menschen in Alice' Kartei waren ähnlich gut ausgebildet –, doch diese Enya wirkte einfach so geschmeidig und souverän.
Nichtsdestotrotz war es dieser Tage schwierig, Arbeit zu finden, die so bezahlt wurde, dass man wenigstens in den weniger guten Londoner Postbezirken unterkommen konnte, von den prestigeträchtigen ganz zu schweigen. Eine im Haus lebende Haushälterin konnte viele erstklassige Vergünstigungen erwarten und außerdem ein sehr anständiges Gehalt. Und Alice hätte darauf gewettet, dass Enya das wusste.
»Oh, und hier sind meine Referenzen«, sagte Enya und griff in ihren eleganten Attaché-Koffer von Smythson.
Eine, mit Briefkopf versehen, stammte von The Dorchester Hotel, das zweite Blatt kam von einem hochklassigen Ski-Resort in Klosters.
»Sie laufen Ski?«
»Fast schon länger, als ich laufen kann.«
»Ich selbst habe es noch nie probiert. Was Höhen angeht, bin ich hoffnungslos«, sagte Alice mit einem kleinen Lachen.
Unerwartet klingelte auf ihrem Schreibtisch das Telefon, und sie blickte durch die Glasscheibe zu Helly, die die Schultern zuckte und den Hörer in ihre Richtung hielt. Helly wusste ganz genau, dass es unhöflich war, sie mitten in ihrem Interview zu stören.
»Was ist?«, fragte Alice ziemlich schnippisch in den Hörer.
»Tut mir leid, hier ist ein Gespräch für dich. Sie behauptet, es sei dringend, und lässt sich nicht abwimmeln.«
Alice legte die Hand über die Sprechmuschel und lächelte Enya zu.
»Würden Sie mich bitte für einen Moment entschuldigen?«
Die Frau am anderen Ende der Leitung – Camille Messent, wie sie sich vorstellte – sprach gut Englisch, aber so schnell und mit einem so starken französischen Akzent, dass Alice sich konzentrieren musste, um ihr zu folgen.
Sie lächelte Enya zu, die höflich tat, als höre sie nicht zu, und aufstand, um sich die gerahmten Illustrationen aus Mrs Beetons Buch der Haushaltsführung anzusehen.
Soweit Alice dem Gespräch entnehmen konnte, hatte die Haushälterin der Messents soeben vollkommen unerwartet aus persönlichen Gründen gekündigt, was, wie Madame Messents Ton zu entnehmen war, absolut nicht als plausible Rechtfertigung gelten konnte. Derart in der Klemme, wirkte sie ziemlich verzweifelt. Laura, ihre Tochter im Teenageralter, sei bereits über die Ferien aus dem Internat nach Hause gekommen, und sie habe absolut keine Zeit, sie zu beaufsichtigen, da sie vollauf mit ihrer gemeinnützigen Stiftung zugunsten Geflüchteter beschäftigt sei und ihr Ehemann geschäftlich im Ausland weile. Die Agentur für gute Haushaltsführung sei ihr sehr empfohlen worden und ob Miss Beeton ihr helfen könne.
Alice freute sich immer, wenn ihre Agentur persönlich empfohlen wurde. Mund-zu-Mund-Propaganda war durch nichts zu ersetzen. Jinx sagte schon seit Jahren, sie sollten Werbung machen und sich vergrößern, doch Alice hielt dagegen, klein und exklusiv sei ihre Geschäftsphilosophie, und daran wolle sie festhalten.
Alice versicherte Madame Messent, sie werde sehen, was sie tun könne, legte den Hörer zurück und entschuldigte sich bei Enya für die Unterbrechung.
»Ich konnte nicht verhindern, einiges davon mitzuhören«, sagte Enya.
»Sie war sehr verzweifelt. Von seinen Angestellten kurzfristig im Stich gelassen zu werden, ist einfach schrecklich.«
»Da stimme ich Ihnen zu«, erwiderte Enya. Eine kurze Pause entstand. »Miss Beeton, ich möchte nicht anmaßend sein, aber ich bin frei. Vielleicht könnte ich einspringen? Sagte sie nicht, sie brauche sofort jemanden?«
»Ich weiß nicht recht, immerhin ist es höchst ungewöhnlich –«
»Oh, natürlich, aber wie Sie sehen, bin ich der Aufgabe durchaus gewachsen, und außerdem spreche ich Französisch«, meinte Enya mit einem entwaffnenden Lächeln. »Vielleicht ist es einfach einer dieser Fälle, wo man zur rechten Zeit am rechten Ort ist? Glauben Sie nicht an glückliche Zufälle? Ich tue das jedenfalls.«
Alice biss sich auf die Lippen und hatte das ungewohnte Gefühl, in der Klemme zu sitzen. Natürlich hatte Enya recht, dass vieles im Leben davon abhing, dass Menschen zur rechten Zeit am rechten Ort waren, doch sie und Jinx hatten im Lauf der Jahre strenge Regeln aufgestellt: Neue Angestellte wurden stets auf Herz und Nieren geprüft; und es war einfach nicht genug Zeit, all diese Kontrollen durchzuführen, falls Enya die Stelle bei den Messents antreten sollte. Andererseits war Weihnachten. Sie ging rasch die zur Verfügung stehenden Personen in ihrer Kartei durch, aber alle, die ihr einfielen, waren entweder gerade irgendwo unter Vertrag oder im Urlaub.
»Ich verspreche noch nichts. Ich muss ein paar Anrufe tätigen und Ihre Referenzen überprüfen. Würde es Ihnen also nichts ausmachen, einen Moment draußen zu warten …?«, sagte Alice.
»Natürlich nicht«, erwiderte Enya mit ihrem reizenden Lächeln.
Sie war wirklich sehr charmant, dachte Alice, erwiderte das Lächeln und sah zu, wie sie respektvoll die Tür schloss.
Sie loggte sich in ihren Computer ein und überprüfte ihre Datei. Susie McTeary war mit der Familie in Dubai und Paulette Cobin? Verdammt, die war mit ihrer Familie in Antibes. Es sah tatsächlich so aus, als sei Enya eine ausgezeichnete Kandidatin für die Messents.
Sie wählte die Nummer in Enyas Lebenslauf, und während sie auf eine Antwort wartete, drehte sie ihren Stuhl zu der gerahmten Stickerei an der Wand und betrachtete sie – eines der wenigen Dinge, die sie aus Mrs Doultons Zimmer in Hawthorn gerettet hatte. Sie zeigte das Bild eines Hauses mit dem berühmten Zitat Mrs Beetons in kursiver Schrift: Jedes Ding an seinem Platz.
Fünf Minuten später erschien Alice bei Enya, Helly und Jinx im Empfangsbereich. Jinx hatte Agatha offensichtlich befohlen, in ihrem Körbchen zu bleiben, denn die warf Alice einen eindeutig beschämten Blick zu, drehte sich um und wandte dem Raum ihr Hinterteil zu.
»Man hätte Ihretwegen gar nicht enthusiastischer sein können«, sagte Alice und bezog sich auf die zwei Anrufe, die sie gerade erledigt hatte. Sowohl die Frau im Dorchester als auch die in Klosters hatte sich höchst schmeichelhaft geäußert. »Um ehrlich zu sein, verstehe ich nicht, warum Sie beide Jobs aufgegeben haben?«
»Ich möchte einen ordentlichen Haushalt führen«, sagte Enya. »Oder einen Haushalt ordentlich führen, um genau zu sein. Ich muss mir immerzu die hübschen Bilder ansehen, die hier überall hängen«, fuhr sie fort und blickte sich um. »Sie stammen aus Mrs Beetons Buch, nicht wahr? Ich bewundere alles, was sie geschrieben hat. Verzeihen Sie, aber sind Sie mit ihr verwandt?«
»Entfernt«, sagte Alice und spürte, wie sie vor Stolz ein wenig rot wurde.
»Meine Großmutter besaß eine Ausgabe ihres Buchs. Ein Hochzeitsgeschenk. Ich glaube, damals bekamen die meisten Frauen eins.«
Alice bemerkte, wie Jinx und Helly einen Blick wechselten. Alice konnte sich stundenlang über die Tugenden ihrer entfernten Verwandten auslassen, und sie wusste, dass es beide langweilte. Es war ein eher unerwartetes Vergnügen, einem anderen Beeton-Fan zu begegnen.
»Sie wissen ja, dass sie die Erste war, die Rezepte einschließlich Zutaten, Zubereitung und Kosten aufschrieb«, sagte Enya.
»Ja!«, rief Alice, möglicherweise ein wenig zu überschwänglich.
»Da wären wir wieder«, murmelte Helly.
»Bis dahin muss es schwer gewesen sein, all diesen fantastischen französischen Köchen zu folgen«, fuhr Enya fort. »Für ihre Zeit war sie sehr modern. Ihr ist es zu verdanken, dass die Frauen überall ihre wöchentlichen Mahlzeiten mitsamt Ausgaben planen konnten.«
Helly murmelte noch etwas, doch Alice verstand nur das Wort ›Patriarchat‹ und bedachte sie mit einem strengen Blick.
»Eine Schande, dass sie schon mit achtundzwanzig Jahren starb«, sagte Enya. »Da war sie genau so alt wie ich jetzt.«
Alice musterte Enya erneut – eine Frau an der Schwelle ihrer besten Jahre – und empfand plötzlich großes Mitleid mit der armen Isabella Beeton. Sie war Geschäftsfrau und Unternehmerin gewesen und hatte eines der nachhaltigsten, meist verkauften Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben, doch damals hatte ihr Ehemann sämtliche Lorbeeren eingeheimst. Als Älteste von einundzwanzig Geschwistern war der Großteil ihrer Kindheit deren Fürsorge gewidmet gewesen. Tatsächlich gab es keinen echten Beweis dafür, dass sie überhaupt Zeit zum Kochen gehabt oder es auch nur besonders genossen hatte; doch das schmälerte nicht ihr gewaltiges Verdienst um jenes Buch, von dem Arthur Conan Doyle gesagt hatte, es verfüge auf jedem Quadratzentimeter über mehr Weisheit als jedes von einem Mann geschriebene.
»Ich tue das normalerweise nicht«, sagte Alice, »aber da Sie so gute Referenzen haben und nun schon einmal hier sind, sollten wir, wie Sie sagten, den glücklichen Zufall begrüßen, und Sie sollten zu den Messents gehen.«
Jinx hob überrascht die Augenbrauen. »Das ist die schnellste Zusage, die jemals jemand von Alice bekommen hat«, sagte sie zu Enya. »Es muss an Weihnachten liegen. Dann lassen Sie uns den Papierkram erledigen, ja?«
Eine halbe Stunde später, als Jinx Enya die Adresse der Messents aushändigte und alle ihr zum Abschied zuwinkten, versetzte Agatha der Sache noch einen leichten Dämpfer, indem sie ein langes, tiefes Knurren hören ließ, ein Geräusch wie fernes Donnergrollen. Das dumme alte Ding.
Um Punkt elf nahm Alice die Dose mit den Zitronenkeksen aus ihrem Beutel und erklärte, es sei Zeit für die morgendliche Kaffeepause.
Während Helly den Kessel für den Kaffee aufsetzte, begann Jinx den großen Stapel Weihnachtskarten zu öffnen und jede einzelne Karte sorgfältig zu studieren. Alice dachte oft, dass sie wahrscheinlich in der Lage wäre, ein Seminar über die Etikette des richtigen Kartenschreibens abzuhalten.
»Eine von Terry, dem Fensterputzer. Ist das nicht nett? Er schickt immer eine Karte. Oh, schaut mal, hier ist eine von Shelley Van Oostrasburger, aber dieses Jahr hat sie nicht selbst für ihre Karte posiert … enttäuschend. Überhaupt finde ich, dass viele dieser Karten entschieden weniger bombastisch sind als sonst.«
»Glitzerkram ist wirklich schlecht für die Umwelt«, sagte Helly, die in der Kochnische gerade die kleine Cafetière füllte. »Außerdem, warum für etwas so Sinnloses Bäume fällen? Besonders, da niemand mehr an Weihnachten glaubt?«
»Bah, Humbug«, meinte Alice, obwohl Helly da möglicherweise nicht verkehrt lag. Alice hatte diverse halbherzige Weihnachts-Rundmails bekommen, was nicht dasselbe war wie eine handgeschriebene Karte. Doch Helly wirkte ein bisschen gekränkt, weshalb Alice etwas sanfter fragte: »Weißt du schon, was du an Weihnachten machst?«
»Ich fahre zu meiner Familie«, antwortete Helly wenig begeistert. »Die Zugfahrt nach Leeds wird ein Albtraum. Falls ich es bis dorthin schaffe. Wahrscheinlich wird es Streiks geben. All dieses Reisen jagt mir einen Schrecken ein.«
»So schlimm wird es sicher nicht werden?«, meinte Alice im Versuch, sie zu beschwichtigen. »Wenn du erst einmal dort bist?«
Helly warf ihr einen Du-machst-wohl-Witze-Blick zu. »Du weißt, dass mein Bruder ein Idiot ist. Ich halte ihn nicht länger als einen Tag aus.«
»Apropos Brüder, ich gehe davon aus, dass du nach Hawthorn zitiert wurdest, Alice?«, fragte Jinx, während sie die Karten einzeln auf die Regale stellte.
»Ja. Du möchtest wohl nicht mitkommen, oder?«
»Ich fürchte, ich werde Richards Budenzauber nicht entkommen. Außerdem hast du keine Ahnung, wie sehr Sassy mir online auf die Nerven geht. Ich glaube nicht, dass ich im wirklichen Leben mit ihr klar käme.«
»Ihr Insta ist echt total durchgeknallt«, erklärte Helly.
Alice schnitt eine Grimasse.
»Wenn du dich weigerst, ins einundzwanzigste Jahrhundert einzutreten und bei den sozialen Medien mitzumachen, Alice, dann hast du selber Schuld, wenn du den ganzen Klatsch verpasst«, sagte Jinx und nahm sich einen Zitronenkeks aus der Dose. Alice wusste, dass sie auf Jinx hören und sich in den sozialen Medien anmelden sollte, doch im Grunde sah sie nicht ein, was Gutes dabei herauskommen sollte. Sie hielt ihr Leben gern privat. Alice fand es ziemlich vulgär, wenn Leute anderen Details aus ihrem Alltag mitteilten und Fotos von ihrem Kaffee posteten, alles Realistische wegredigierten und immerzu behaupteten, sie seien ›beschämt‹ oder ›selig‹. Die Welt wäre ein wesentlich besserer Ort, wenn die Leute endlich aufhörten, ständig Nabelschau zu betreiben, und sich stattdessen Dingen widmeten, die wirklich wichtig waren.
»Und? Verdient Jasper inzwischen Geld? Wie er es versprochen hat?«, fragte Jinx spitz und wollte das Thema partout nicht fallenlassen. »War Weihnachten nicht der Stichtag?«
In diesem Büro gab es keine Geheimnisse, doch über Geld zu sprechen war unfein, und Alice lehnte es ab, in der Öffentlichkeit schmutzige Wäsche zu waschen, so nervig und kritikwürdig Jaspers Mätzchen auch sein mochten. Außerdem wusste Jinx sowieso kaum die Hälfte. Sie würde entsetzt sein, wenn sie erführe, dass Alice sogar noch einen weiteren Kredit aufgenommen hatte, um Jasper aus der Patsche zu helfen.
»Ich bin sicher, er hat gute Neuigkeiten«, erklärte Alice, als wäre es keine große Sache, und hoffte zu Gott, dass es stimmte. Zum Glück klingelte es, was Alice davor rettete, weiter von Jinx ins Gebet genommen zu werden, von wegen Jasper sei ihr wunder Punkt und sie müsse unbedingt eine entschiedenere Haltung einnehmen. Als ob Alice das nicht längst wüsste. Sie war schließlich nicht blöd.
»Oh!«, Helly klatschte in die Hände und drückte den Türöffner.
Jinx tauschte einen Blick mit Alice. Es gab nur einen Menschen, der Helly ein solches Lächeln entlocken konnte. Und siehe da, kurz darauf federte ein junger Mann durch die Tür, Mopedhelm unterm Arm, und schüttelte seine Dreadlocks.
Agatha sprang aus ihrem Körbchen, bellte zweimal zur Begrüßung und drehte Freudenkreise um Jacques Lourdan, der sich zu ihr beugte und sie hinter den Ohren kraulte.
»Ah, der Wanderer kehrt zurück«, Jinx küsste ihn auf beide Wangen. »Lass mich dich ansehen«, sagte sie und packte ihn bei den Schultern. Auf ihren hohen Absätzen überragte sie ihn, und Alice bemerkte das laszive Glitzern in ihren Augen. Jacques war gleichzeitig attraktiv und süß und wusste das auch verdammt gut.
»Dachte, ich schau mal vorbei«, antwortete Jacques, entwand sich ihrem Griff und lächelte Alice zu, während er in die Keksdose griff. »Was haben wir denn da?« Andächtig biss er in den Zitronenkeks, ließ sich aufs Sofa fallen und legte die Füße auf die Armlehne. Es war kein Zufall, dass er gerade jetzt auftauchte. Helly holte den besten Becher aus dem Schrank und goss ihm Kaffee ein.
»Nichts, was deinen anspruchsvollen Gaumen befriedigen wird«, meinte Alice.
»Au contraire, die sind sehr gut, Miss B.« Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, und ihr wurde ganz warm vor Stolz. Sie war lediglich Amateurin, doch es war immer eine Freude, wenn jemand – besonders jemand, der so begabt war wie Jacques – ihre Backkunst zu schätzen wusste.
»War Japan so wunderbar, wie du es dir erhofft hattest?«
»Warst du wirklich in Kyoto?«, fragte Helly mit vor Ehrfurcht erstarrter Stimme. »War es unglaublich?«
»Du wärst hingerissen«, sagte Jacques und genoss es wie immer, im Mittelpunkt zu stehen. »Ich habe diesen verrückten Kochkurs mitgemacht. Die fantastischsten Zutaten. Hier, ich zeige es euch.«
Er schwang sich vom Sofa, holte seinen Rucksack und erzählte dabei weiter von seinen Reisen und seinem Kurs, und Alice lächelte im Stillen.
Er war immer noch derselbe wie vor drei Jahren, als sie ihm in der Kassenschlange in Harrod's Lebensmittelabteilung zum ersten Mal begegnet war. Sie erinnerte sich noch genau, wie ein Mann versucht hatte, sich vor ihn zu drängen, und Jacques, zu Recht erbost, ihn auf entschiedene, aber charmante Weise zurechtgewiesen hatte, worauf der Mann in wüste rassistische Beschimpfungen ausgebrochen war. Unbeeindruckt hatte Jacques ihm auf spektakulär wohlformulierte Weise Kontra geboten, nicht ohne auf seine französisch-guyanesischen Wurzeln, seine klassische Ausbildung und seine Vorliebe für Weltreisen hinzuweisen, und dargelegt, dass er selbst weit bessere Gründe habe, hier zu stehen – solche, die eher mit Leidenschaft als mit Snobismus zu tun hatten –, und alle, Alice eingeschlossen, waren in Applaus ausgebrochen. Der alte Stänkerer hatte sich verzogen, und Alice hatte Jacques auf der Stelle als Freelance-Koch in ihre Datei aufgenommen. Sie hoffte nur, dass er sein Potenzial eines Tages ausschöpfen und ein eigenes Restaurant führen würde. Oder einfach die ganze Zeit für sie arbeiten würde, anstatt auch für ihren Rivalen, Elite.
»Ah, da ist es ja«, sagte er und zog ein mit Lederbändchen verschlossenes Etui hervor. Er wickelte es behutsam auf, und zum Vorschein kam eine Reihe von Fläschchen, die jedes noch einmal in einem eigenen, noch kleineren Futteral steckten. Vorsichtig zog er eins heraus, das japanisch beschriftet war.
»Riechen Sie mal.« Er hielt es Alice unter die Nase.
»Du meine Güte!«, rief Alice, so durchdringend war der Geruch.
»Konzentrierte Hummeressenz. Man braucht nur ein paar Tropfen, aber die Geschmackstiefe ist …« Er küsste seine Fingerspitzen.
Helly kicherte, als er ein wenig auf seinen Finger träufelte und sie kosten ließ. Jinx verdrehte die Augen bei diesem offensichtlichen Flirtversuch. Jacques hatte keine Ahnung, was für eine starke erotische Wirkung er auf Helly ausübte – genau genommen auf das ganze Büro. Alice hatte den Verdacht, dass er für eine ganze Reihe gebrochener Herzen verantwortlich war, doch Kochen würde immer seine erste Liebe sein.
»Irre!«, rief Helly und schlug nach dem Geschmacksschock die Hand vor den Mund.
»Oh, ich vergaß – du bist doch keine Veganerin, oder?«, fragte er.
»Doch. Beziehungsweise, ich war es. Jetzt bin ich Pescetarierin«, sagte sie errötend. »Ich esse kein Fleisch, aber Fisch.«
Das war Alice neu. Helly schien nie etwas gegen die Zutaten einzuwenden zu haben, die Alice in ihren kulinarischen Mitbringseln verwendete. Erst letzten Freitag hatte sie eine halbe Dose Würstchen im Schlafrock verzehrt. Jacques sah ihr exakt so lange in die Augen, bis sie errötete, dann klatschte er in die Hände und wandte sich an Alice.
»Also, mich würde interessieren, ob es zur Zeit irgendwelche Jobs gibt?«, meinte Jacques und blickte Alice erwartungsvoll an. »Ich bin … wie soll ich es ausdrücken? Nach meiner Reise ein bisschen knapp bei Kasse.«
»Jetzt gerade nicht, aber betrachte dich ab diesem Moment offiziell auf Standby«, versicherte Alice. »Mit Weihnachtspartys gibt es immer noch Probleme in letzter Minute.«
»Ja, wir setzen dich ganz oben auf die Liste«, sagte Helly träumerisch, bevor sie wieder errötete und sich abwandte. Alice hob eine Augenbraue und blickte Jinx an, die grinste, und Alice presste die Lippen zusammen, um ihr Lächeln zu unterdrücken.
Es war schon dunkel und merklich kühler geworden, als Alice mit Agatha zu ihrem Nachmittagsspaziergang um den Block aufbrach. Die gewohnte, nebelverhangene Londoner Luft hatte einen scharfen metallischen Beigeschmack, und ihr Atem formte Wölkchen in der Luft.
Sie ging an der ehemaligen Schule vorbei, wo lange Zeit die kleinen Mädchen mit ihren Strohhüten immer die Stufen herabgerannt waren und großes Aufheben um Agatha gemacht hatten. Doch wie alles andere auch war das hübsche Gebäude von Investoren übernommen worden und trug jetzt über dem Eingang ein vergoldetes Schild mit kyrillischer Schrift.
Alice hatte oft das Gefühl, dass die Menschen in diesem Abschnitt des Stadtplans aus allen erdenklichen Ecken des Globus stammten. Auf jedem Spaziergang hörte sie ein Dutzend verschiedener Sprachen – Koreanisch, Deutsch, Spanisch, Arabisch. Die Koreaner mit ihren Plateauturnschuhen und wattierten Mänteln, die älteren europäischen Geschäftsmänner in langen Kamelhaarmänteln und in ihre Handys vertieft, die jungen Leute in Schnürschuhen, aus denen die nackten Knöchel rausguckten (eine von Alice' Lieblingsaversionen). Doch alle sprachen sie eine gemeinsame Sprache: die des Geldes.
Die Geschäfte in dieser Gegend waren exklusiv und teuer. Selbst sie mit ihrer privilegierten Herkunft würde es sich niemals leisten können, dort einzukaufen. Doch sie kannte viele der Angestellten, und Karl, der Wachmann im schicken Mantel vor einem Juwelier, nickte ihr zu.
Hinter einer Reinigung bog sie in eine Seitenstraße. Mit der Hand über den Augen spähte sie durch das Schaufenster und winkte ihrer Freundin im Laden zu. Shilpa winkte zurück und schlüpfte an Stangen mit plastikumhüllter Kleidung vorbei um den Tresen und öffnete die Tür.
»Alice«, sagte sie, »was für eine schöne Überraschung.«
»Ich bleibe nicht lange«, sagte Alice und umarmte ihre alte Freundin. »Wie geht es dir?«
»Ach, wie immer«, erklärte Shilpa mit einem entnervten Seufzer. Alice fragte sich, wie sie überhaupt mit dem Gestank der Chemikalien und dem Lärm der Schlüsselfräsmaschine zurechtkam, die Agatha nicht leiden konnte, weshalb sie sich winselnd hinter Alice' Beinen versteckte.
Shilpa rief ihrem Mann etwas zu, der gerade Metall ausstanzte, aber sofort aufhörte und Alice zuwinkte.
»Gut zu tun?«, fragte Alice.
»Pausenlos. Alle hätten alles am liebsten schon gestern. Ernsthaft, die Leute werden immer unfreundlicher. Bis Weihnachten gehe ich auf dem Zahnfleisch.«
Alice wusste, was Shilpa meinte. Viele der Superreichen, die sie kennengelernt hatte, konnten durchaus charmant sein, doch einige, einschließlich all der vielen, die in letzter Zeit in dieser Premiumgegend Immobilien ergattert hatten, erwarteten, dass ihre Launen sofort befriedigt wurden, und begriffen nicht, dass meist gewöhnliche Höflichkeit für die schnelle Erledigung eines Wunsches sorgte. Dieses Anspruchsverhalten mancher Leute war einfach ungeheuerlich, fand Alice.
Sie ging weiter in Richtung Bibliothek, und nach und nach wurden die Geschäfte von stattlichen Privathäusern abgelöst. Unterwegs amüsierte sie sich damit, die Türkränze und Weihnachtsbäume hinter den Fenstern zu taxieren. In einem Garten war ein Kirschbaum mit Tausenden von Lichtern bestückt, und Alice blieb bewundernd stehen, während Agatha den Stamm einer Platane beschnüffelte, die den breiten Gehweg überragte. Die Fensterläden im Erker waren geöffnet, und dahinter gab es einen ebenso beeindruckenden glitzernden Baum. Sofort malte sie sich im Geist diverse Szenarien aus: wie die Bewohner sich für ihre Weihnachtspartys, Konzerte und Ballaufführungen zurechtmachten und ihre Nervosität allmählich wuchs.
Sie sehnte sich noch immer nach der Verzauberung in ihrer Kindheit, als die Vorfreude auf Weihnachten ihr Bauchschmerzen und schlaflose Nächte bereitet hatte; im Lauf der Zeit hatte sich dieses Gefühl verflüchtigt, war zu etwas schwer Greifbarem geworden – wie die Erinnerung an einen Duft. Gelegentlich erhaschte sie noch einen Hauch – eine Andeutung davon –, weil sie immer noch daran glaubte. Nicht unbedingt an den religiösen Teil, auch wenn sie gern Weihnachtslieder sang, sondern an dieses magische Weihnachtsgefühl, sicher, warm und geborgen Teil der Familie zu sein.
Mit dem Backen für Hawthorn würde sie gleich heute Abend beginnen, entschied sie, und zupfte an Agathas Leine. Das würde sie zweifellos in Weihnachtsstimmung versetzen. Wie ihre große Vorfahrin einst gesagt hatte:
›Im Dezember besteht unsere Hauptaufgabe im Haushalt darin, uns auf das leibliche Wohl unserer Lieben zu konzentrieren, damit wir der guten alten Weihnacht frohgemut, zufriedenen Herzens und mit einer gut gefüllten Vorratskammer entgegensehen können; indem die Hausfrau die Pflaumen entsteint, die Korinthen und die Zitrone wäscht, die Eier aufschlägt und den WEIHNACHTSPLUMPUDDING zusammenrührt, entbietet sie auf keinesfalls unwürdige Weise dieser großartigen Saison ihren Gruß.‹
Sie musste daran denken, auf dem Heimweg die Gewürze zu besorgen. Und Jinx hatte ihr versprochen, ihr nach dem alljährlichen gemeinsamen vorweihnachtlichen Mittagessen bei den Einkäufen für ihre Neffen zu helfen. Im Gegensatz zu Alice, die ihre Entscheidungen ständig hinterfragte, war Jinx Expertin, wenn es ums Geschenkekaufen ging – besonders, wenn sie mit anderer Leute Geld bezahlt wurden, und ganz besonders nach ein paar Gläsern Wein.
Ein glänzender schwarzer Bentley hielt neben Alice, und das Fenster glitt herunter.
»Ich dachte mir, dass Sie es sind«, sagte der Fahrer. »Darf ich Sie mitnehmen?«
Alice lächelte. Massoud stand fast schon seit Start der Agentur in ihrer Datei.
»Wie schön, Sie zu sehen«, erwiderte sie. »Und danke, aber ich muss mit Agatha nur bis zur Bibliothek.«
»Steigen Sie ein.«
»Es ist gleich um die Ecke.«
»Es wäre mir ein Vergnügen. Nur zu.«
Er stieg aus und öffnete Alice und Agatha mit Schwung die Beifahrertür. Alice musste lachen, als sie sah, dass er dafür eigens seine Mütze aufgesetzt hatte. Sein buschiger schwarzer Schnauzbart verbarg sein Lächeln, aber seine Augen glänzten, als er an den Mützenschirm tippte.
»Ma'am«, scherzte er.
Sie nahm Agatha auf den Arm und stieg ein. »Benimm dich«, flüsterte sie dem Tier zu.
Sie war schon einige Male in Massouds Limousine mitgefahren, aber es war jedes Mal ein besonderes Gefühl. Die plötzliche Stille, die weichen Ledersitze, die perfekte Klimatisierung. Es war, als sei man hermetisch gegen die Elemente abgeschirmt, sobald die Türen sich schlossen.
Massoud setzte sich wieder ans Steuer und fädelte sich gemächlich in den Verkehr auf der Hauptstraße ein. In diesem Teil der Stadt gewährte man Wagen wie seinem stets die Vorfahrt.
»Läuft es immer noch gut mit den Jerrards?«
»Ja, sie sind über Weihnachten in der Karibik.«
Alice lächelte, sie freute sich, dass Massoud eine Weile frei hatte.
»Vielleicht bleiben sie ein paar Monate, dann würde ich kurzfristig Arbeit brauchen.«
»Betrachten Sie das als notiert«, sagte Alice. Sie würde Jobs ohne Ende für ihn finden können. »Ich kann einfach nicht glauben, wie ruhig es hier drinnen immer ist.«
»Der Wagen war gerade in der Inspektion«, entgegnete er und tippte gegen das Lenkrad. »Er ist so gut wie neu. Oh, und übrigens, in Sebs Werkstatt habe ich Ihren MG gesehen. Sie meinten, er sei fertig.«
»Oh, schön«, sagte Alice. Sie hatte vollkommen vergessen, dass Massoud den Termin für sie vereinbart hatte.
Sie wusste sehr wohl, dass es heutzutage in London keinen guten Grund mehr gab, ein Auto zu besitzen – besonders seit der City-Maut und den kriminell hohen Parkgebühren –, aber da Massoud ihren Wagen kostenlos in seiner Garage unterstellte, hielt sie aus sentimentalen Gründen an dem MG Midget in Rennsportgrün und mit Faltverdeck fest.
Dieser klassische Sportwagen war ein Geschenk ihres Bruders Jasper. Mit einer typisch pompösen Geste hatte er sie am Morgen ihres dreißigsten Geburtstags damit überrascht und vor ihrer Wohnung auf die Hupe gedrückt. Als sie nach draußen kam, stand da dieses lächerliche, rundum mit einer gigantischen weißen Schleife verzierte Auto. Jasper ließ die Schlüssel von seinen Fingerspitzen baumeln und wirkte wie eine Katze vorm Sahneschälchen. Es blieb das extravaganteste Geschenk, das sie jemals bekommen sollte. Und das teuerste … aus ihrer Perspektive betrachtet. Nicht nur hatte sie Jasper das Geld, das er ursprünglich dafür ausgegeben hatte, in Form von Leihgaben mehrfach zurückerstattet, zudem hatte es sie im Lauf der Jahre Tausende gekostet, das Auto halbwegs straßentauglich zu halten.
»Wie viel schulde ich Ihnen?«, fragte sie und wappnete sich für die Antwort. Eine weitere Rechnung für den Wagen fehlte ihr gerade noch.
»Nichts.«
»Aber –«
»Miss Beeton, ich will nichts davon hören«, sagte Massoud. Er hatte sie noch nie Alice genannt, obwohl sie ihn hundert Mal dazu aufgefordert hatte.
Sie plauderten entspannt, wenn Massoud an den Ampeln hielt, und Alice freute sich über Neuigkeiten aus seiner Familie. Dora, seine Frau, litt traurigerweise an Multipler Sklerose und war inzwischen meist auf den Rollstuhl angewiesen, arbeitete aber immer noch Vollzeit als Übersetzerin.
»Wisam schlägt ihr nach«, sagte Massoud und tippte sich an die Schläfe. »Er ist der Intelligente.«
Alice lächelte, warf Massoud aber einen vorwurfsvollen Blick zu. Er war selbst ein heller Kopf. Es hieß, vor vielen Jahren habe er für den ägyptischen Sicherheitsdienst gearbeitet. Als er jetzt den Blinker setzte und eine weitere Abkürzung nahm, wünschte Alice, die Bibliothek wäre etwas weiter entfernt. Sie wollte nicht, dass diese angenehme Fahrt endete.
»Wisam? Ihr Enkel, richtig?«
Massoud nickte. »Er ist ein Genie mit Computern und ganz besonders mit Telefonen. Was nicht heißt, dass der arme Junge einen Job fände. Er hatte in der Schule mal Schwierigkeiten, und sein Zeugnis war schlecht. Ich fürchte, er muss zu viele Rückschläge einstecken.«
»Oje.«
»Er ist die ganze Zeit online. Klappert auf seiner Tastatur herum. Sieht kaum jemals Tageslicht. Als ich so alt war wie er, war ich ständig draußen.«
»Kinder sind widerstandsfähig«, versicherte Alice Massoud, doch es war nur ein Lippenbekenntnis. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie man mit jungen Menschen umging, die in Schwierigkeiten steckten und deren Leben durch die Erfindung des Internets auf so viele Arten ruiniert zu sein schien.
»Das hoffe ich. Oh, sehen Sie, wir sind da.«
Alice dankte ihm fürs Mitnehmen.
»Backen Sie immer noch?«, fragte er plötzlich.
»Meine Güte, ja. Ich habe für Hawthorn eine ganze Liste abzuarbeiten.«
»Dann bringe ich Ihnen ein paar Rosinen und Datteln von meiner Cousine vorbei. Gerade ist eine Kiste aus Kairo eingetroffen, mit mehr darin, als wir je werden verbrauchen können.«
»Oh, das wäre wunderbar«, sagte Alice. »Danke.«
Sie stieg aus und fühlte sich für einen Moment wie eine berühmte Autorin. Sie schloss die Wagentür und sah zu, wie Massouds Warnleuchten zum Abschied zweimal aufblitzten, ehe er davonfuhr.
Sie blickte zu Agatha, die sich schüttelte und dann auf dem Bürgersteig gegen den leeren Fahrradständer pinkelte. Alice fröstelte. Sie hatte nur fünf Minuten in Massouds Limousine gesessen, hätte aber schwören können, dass die Temperatur inzwischen sogar noch weiter gefallen war.
Barney stand am Tresen und winkte, als er Alice sah. Er war Ende sechzig, hatte einen Schopf weißer Haare und trug wie immer ein weiches, kariertes Baumwollhemd und darüber eine Strickjacke mit Lederknöpfen, die Alice an Karamellbonbons denken ließen.
Barney hatte in Alice' Bürogebäude einige Jahre eine Finanzberatung betrieben, und als sie ihre gemeinsame Liebe für Scrabble entdeckten, waren sie Scrabble-Partner – und nach einer gewissen Zeit – gute Freunde geworden. Es dauerte Jahre, bis sie herausfand, dass er ein ziemlich hohes Tier bei GCHQ, den Government Communications Headquarters gewesen war. Jinx war bis heute davon überzeugt, dass es sich bei Barneys Bibliotheksjob um ein raffiniertes Tarnungsmanöver handelte und er in Wahrheit eine Art Spion war, doch Alice war sich ziemlich sicher, dass er sich von diesem Geschäft zurückgezogen hatte.
Barney war ebenfalls alleinstehend. Bis vor relativ kurzem war er mit der furchtbaren Honey verheiratet gewesen, die entschieden weniger süß gewesen war, als ihr Name es nahelegte. Tatsächlich war sie so furchteinflößend, dass Alice sich gefragt hatte, ob es sich bei ihrem Namen um so etwas wie einen ironischen Scherz handelte. Manchmal erzählte Barney Geschichten, die direkt den Seiten jener Bücher entsprungen zu sein schienen, die Alice so gern las – darüber, wie er und Honey Anfang der achtziger Jahre durch einen Moskauer Abflusskanal einer ›brenzligen Situation‹ entkamen oder mit einem Privatflugzeug in Marrakesch bruchgelandet waren. Es waren exotische Geschichten, die Alice faszinierten, ihr aber gleichzeitig das Gefühl vermittelten, selbst im Vergleich dazu unglaublich langweilig zu sein.
Sie hatte die letzten zwanzig Jahre damit verbracht, Bedienstete zu vermitteln, die anderen ein spaßerfülltes Leben erleichterten, und war davon ausgegangen, dass sie selbst irgendwann auch Abenteuer erleben würde. Doch wie es schien, war sie immer mehrere Schritte vom Geschehen entfernt. Deshalb, vermutete sie, las sie so viel. Zumindest in einem Buch konnte sie sich selbst in den Mittelpunkt stellen.
Nachdem sie ein paar Nettigkeiten ausgetauscht hatten, gab Alice ihm den geliehenen Band zurück, und Barney hielt ihn sich dicht vor die Nase und spähte über seine rechteckigen Brillengläser. Für einen Bibliothekar sah er möglicherweise schlechter als alle anderen, denen Alice bisher begegnet war.
»Ah ja. Der Professor«, sagte er.
»Es war offensichtlich.« Alice lächelte. »Traue niemals einem Mann mit einem Grübchen am Kinn, sage ich.«
Barney lachte.
»Hast du das nächste Buch für mich aufgehoben?«
»Natürlich«, sagte er und holte es unter dem Tresen hervor. »Nicht ganz so gut. Aber schöne Spannungsmomente.«
»Du sagst immer, du wolltest selbst ein Buch schreiben. Hast du schon damit angefangen?«, fragte Alice.
»Nein«, sagte Barney und zuckte verlegen die Schultern. »Ich scheine mich einfach nicht dazu aufraffen zu können, irgendetwas zu tun. Tatsächlich hasse ich diese Jahreszeit.«
Alice erhielt selten Einblick in sein Innenleben, und seine kleine Bemerkung schmerzte sie.
»Was machst du an Weihnachten?«
»Ich gehe zu meiner Schwester. Und du?«
»Nach Hawthorn.«
»Am liebsten würde ich allein zu Hause bleiben und abwarten, bis der ganze Spuk vorbei ist. Weihnachten ist für Singles kein Spaß.«
Plötzlich gab es Radau an der Tür. Ein kleiner Junge kam hereingestürmt.
»Es hat angefangen«, rief er. »Es schneit.«
Barney stand auf, umrundete den Tresen und ging mit Alice zur Tür, wo sie alle drei zusahen, wie dicke Flocken vom Himmel fielen. Es gab in London nur wenige Dinge, die die Menschen innehalten ließen – der Tod einer Berühmtheit, die Geburt eines königlichen Babys und dies: der erste Schnee. Selbst einzelne Flocken waren ein Ereignis. Alice lächelte Barney zu, als drei Kinder im Lichtschein der Bibliothek nach draußen rannten und Agatha bellte und tapfer hinterherlief, bevor sie eilig wieder kehrtmachte.
»Da«, sagte Barney, zog einen Hundekuchen aus der Jackentasche und hielt ihn Agatha hin, die ihn geziert entgegennahm.