Mord in der Altmark - Silke Thate - E-Book

Mord in der Altmark E-Book

Silke Thate

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Beschreibung

Es ist Mitte Oktober. Die Tage sind verregnet und kalt. Aus einem idyllischen Dorf in der Altmark verschwindet ein Mann aus einem Seniorenwohnheim. Blutspuren in seinem Zimmer deuten auf ein grausames Verbrechen hin. Wenige Tage später stößt Marina Pohl beim Pilze sammeln auf Knochenfragmente rätselhaften Ursprungs, die mit zahlreichen Einschnitten übersät sind. Können Kriminalkommissar Heinz Schön und sein Assistent Jörg Paulich das Geheimnis um den vermissten Mann und den Knochenfund im Wald lüften? Und was hat der abgetrennte Fuß, der aus der Elbe geborgen wird, damit zu tun?

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Seitenzahl: 308

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Ich ersuche um Kenntnisnahme:

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären/sind zufällig und nicht beabsichtigt. Die darin enthaltenen geschichtlichen Begebenheiten wurden von mir sorgfältig recherchiert (Quelle: www.wikipedia.de). Ach ja, wer Fehler findet, darf sie gern behalten

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

KAPITEL 1

Es ist Mitte Oktober, kurz nach Mitternacht. Der seit Tagen anhaltende Regen durchnässt den dunkelgrauen Basaltschotter. Das gelbliche Licht der wenigen Straßenlaternen spiegelt sich in ihm wieder und sie lassen dessen Oberfläche glänzen wie blank polierter Marmor.

Die schwerfälligen Schritte des alten Mannes dröhnen weithin hörbar durch die Nacht. So erscheint es ihm in diesen Minuten zumindest. Sein Gesicht wirkt beinahe schneeweiß. Silbrig graue Haare hängen wirr in seinem Gesicht.

Im Grunde genommen fühlt er sich für dieses nächtliche Unterfangen gar nicht bereit. Aber ihm bleibt nichts anderes übrig. Nur heute kann er unauffällig in seine Unterkunft, dem Seniorenheim ›Geborgenheit‹ in Kehnert zurückkehren, denn dort halten ihn ausnahmslos alle Bewohner und auch das Pflegepersonal für nicht anwesend.

Der Mann verharrt einen kleinen Moment lang im Schutz einer uralten großen Eiche. Mit Zufriedenheit stellt er fest, dass außer dem unaufhörlichen monotonen Rauschen des Regens und dem kaum vernehmbaren Rascheln der welkenden Blätter keine anderen Geräusche zu vernehmen sind. Mit Genugtuung nimmt er gewahr, dass auch auf dem Schotter keine sichtbaren Fußspuren von ihm zurückbleiben.

Während er seinen Weg nun zielstrebig fortsetzt, berühren nur die Fingerspitzen seiner Hand behutsam das Küchenmesser in seiner rechten Manteltasche, welches von ihm sorgfältig für sein nächtliches Unterfangen geschärft worden war. Dieses Messer hatte er einige Tage zuvor beim gemeinschaftlichen Abendbrot im Seniorenheim unbeobachtet und vorausschauend in seine Jackentasche gleiten lassen.

In Gedanken versunken, streichelt er immer wieder dessen glatte Oberseite. Die Kühle des Metalls macht ihn aber nicht im Geringsten nervös. Ganz im Gegenteil, es verleiht ihm eine gewisse Sicherheit für seinen Plan, den er heute, auf Teufel komm raus, durchführen will und wird.

Sein Vorhaben nicht länger vor sich herschiebend, nähert er sich mit zügigen Schritten dem schon vor vielen Jahren restaurierten Barackenbau aus DDR-Zeiten, in dem einst die Büroräume der LPG, ›Landwirtschaftliche Produktions-Genossenschaft‹, untergebracht waren.

Ein lautes Knacken unter seinen Füßen lässt ihn erschrocken zusammenfahren und innehalten. Doch außer ihm scheint niemand das Zerbrechen des morschen Astes gehört zu haben. Befreit atmet er auf und setzt seinen Weg fort.

Obwohl der Mann mit einhundertprozentiger Sicherheit weiß, dass die Eingangstür des Seniorenwohnheims um diese späte Zeit verschlossen sein wird, drückt er prüfend und behutsam deren Griff nach unten. Wie von ihm erwartet, passiert nichts. ›Da werde ich mir wohl einen anderen Zugang zum Gebäude suchen müssen‹, grübelt er vor sich hin.

So schleicht er behutsam, wie eine Katze auf Mäusefang, seine graue Schirmmütze tief in das Gesicht hinuntergezogen, um das Wohnheim herum.

Da ist es ja auch schon, wonach der Mann so dringend sucht. Das Küchenfenster ist nicht fest verschlossen, sondern nur angelehnt worden. Sicherlich waren hier wieder heimlich die notorischen Raucher des Wohnheims am Werke, die auch in der Nacht einfach nicht vom Glimmstängel lassen können und die dann sicherlich vergaßen, es wieder zu verschließen. Was dem Mann in diesem Moment mehr als gelegen kommt.

Eine vor dem Fenster stehende Gartenbank, der man ihr vorgerücktes Alter schon vom Weiten ansieht, wie eine stark abgewetzte Sitzfläche, die rissigen Bretter der Rückenlehne sowie der abblätternde Farbanstrich, erleichtert es ihm in das Gebäude einzusteigen.

Vorsichtig steigt er auf die Bank. Immer darauf bedacht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann drückt er das Fenster behutsam weiter auf. Er klettert auf das schmale Fensterbrett. Von dort lässt er sich langsam auf den gefliesten Fußboden der Küche herab. Mit sachten Schritten durchquert er den Raum. Bemüht, nirgends anzustoßen und Lärm zu verursachen.

Das Glück scheint der Eindringling heute Nacht ganz und gar auf seiner Seite zu haben. Auch die Tür stellt für ihn kein wirkliches Hindernis dar. ›Die Raucher haben wohl vergessen nicht nur das Fenster, sondern auch die Tür wieder richtig zu verschließen. Was ja mal wieder echt typisch für einige Bewohner ist‹, denkt er, ohne sich dessen bewusst zu werden.

Behutsam zieht er die Küchentür nur einen Spalt breit auf. Eine winzige Lampe, eine Art Notbeleuchtung, die ziemlich mittig im Flur des Gebäudes angebracht ist, spendet spärliches Licht.

Ein prüfender Blick, nach rechts und dann nach links in den langen Gang hinunter, lässt ihn befriedigt feststellen, dass seinem Entschluss nichts im Wege steht. Es irren keine Schlafwandler umher und selbst die diensthabende Nachtaufsicht, Frau Schlüter, ist nicht auszumachen. So wie er sie kennt, wird sie wieder im Aufenthaltsraum des Wohnheimes sitzen, die Kopfhörer aufhaben und sich von ihrem MP3-Player von moderner Musik berieseln lassen. ›Die jungen Leute von heute haben ja nur noch den neumodischen Kram im Kopf, entweder Musik hören oder ständig mit dem Handy herumspielen‹, schießt es dem Mann durch den Kopf.

Erleichtert holt er ein paar Mal tief Luft. Dann wendet er sich zielstrebig nach links. Dennoch schleicht er behutsam weiter, will er doch auf keinen Fall doch noch gesehen oder gar gehört werden. Bei jedem Zimmer, an dem er vorbeikommt, lauscht er mit angehaltenem Atem, aber alles bleibt ruhig.

Doch endlich steht der Mann vor seinem eigentlichen Zielort. Dieser betrachtet eher unbewusst das kleine Namensschild neben der Tür, vor der er jetzt Halt gemacht hat. Das Schild, welches fremden Besuchern des Seniorenheimes anzeigt, wer die

beiden Bewohner dieses Zimmers mit der Nummer 13 sind. Weiß er doch ganz genau, um wen es sich dabei handelt. Nämlich um einen gewissen Erwin Schleicher, ein früherer Arbeitskollege aus dem ehemaligen VEB, Volkseigener Betrieb, Eisenwerk ›1.Mai‹ Tangerhütte und Freund. Na ja, guter Kumpel trifft es dann doch wohl eher und um ihn selbst, Gustav Freitag.

Schnell und flach geht seine Atmung, wie immer, wenn er auf das Äußerste erregt ist. Er holt behutsam das Küchenmesser aus seiner Jackentasche hervor. Hält dieses eisern mit seiner rechten Hand umklammert. Dann öffnet er leise die Zimmertür.

Die kauernde Gestalt im Zimmer kann er nur sehr schemenhaft erkennen, ist es hier drinnen doch um vieles dunkler als draußen im Flur. Dort war ja immerhin die Notbeleuchtung eingeschaltet. Aber anhand des äußeren Erscheinungsbildes meint er genau zu wissen, wen er hier vor sich hat. Offensichtlich durchwühlt Erwin gerade wieder einmal, und das gänzlich bedenkenlos, Gustav sein Nachtschränkchen.

Gustav hat schon immer den Verdacht gehabt, dass dieser sogenannte Freund ihn bestehlen würde. Fehlte doch immer, wenn ihm seine Tochter Irmgard etwas an Bargeld vorbeigebracht hatte, am nächsten Tag ein nicht unbeträchtlicher Teil davon.

Bisher konnte er sich nicht erklären, wo er das Geld gelassen oder ausgegeben hatte. Erst, als vermehrt die Gerüchte im Heim aufkamen, die besagten, dass es unter ihnen einen Dieb gäbe, der sich ohne Scheu an dem Besitz der anderen Bewohner bereichern würde, wurde ihm so einiges klar.

Wäre in diesem Augenblick die Deckenbeleuchtung des Raumes eingeschaltet, könnte man regelrecht sehen, wie die Zornesröte vom Hals aufwärts bis unter die letzten Haarwurzeln von Gustav Freitag schießt.

Es sind nämlich nicht nur die dreisten Diebstähle seines Mitbewohners, die ihn so unendlich wütend machen, sondern auch der Umstand, dass Erwin Schleicher ihm ohne Skrupel eine wirklich gute und alte Freundin ausgespannt hat.

Er kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Angefüllt mit jeder Menge Verbitterung, maßloser Enttäuschung und einer gehörigen Portion an Wut im Bauch, rammt Gustav das mitgebrachte Küchenmesser in den nach vorn gebeugten Rücken von Erwin Schleicher, wieder und immer wieder. Das Blut spritzt nach allen Seiten. Aber erst als Gustav nach Atem ringen muss, Erwin vor ihm leise röchelnd auf den Boden sinkt, dieser unter einem letzten Hustenanfall endgültig zusammenbricht, hört er auf zuzustechen. Gustav schaut verbittert auf ihn herunter.

Aus dem Mund von Erwin sucht sich allmählich ein kleines Blutrinnsal seinen Weg über dessen Wangen und tropft von seinem Kinn auf die Brust herunter. Tropf, tropf, tropf …

Plötzlich nimmt das Begreifen seiner Tat Gustav voll in Besitz. Fast empfindet er Mitleid mit diesem alten Mann. Plötzlich scheint sich um ihn herum mit einem Male alles, wie auf einem Kettenkarussell, zu drehen. Er stürzt aus ihrem gemeinsamen Zimmer heraus. Diesmal ist es ihm völlig einerlei, ob er dabei vielleicht Lärm verursacht und er flieht aus dem Wohnheim, auf dem gleichen Weg, wie er in dieses wenige Minuten zuvor hineingelangt war. Er schafft es nur mit Mühe bis nach draußen, wo er sich unter starken Bauchkrämpfen seines nach oben drängenden Mageninhaltes entledigt. Dass seine Schuhe und auch seine Hose einen beträchtlichen Teil des Erbrochenen abbekommen haben, bleibt von ihm zunächst unbemerkt.

Obwohl es immer noch sehr stark regnet, kalter Wind ihm ins Gesicht bläst, verharrt Gustav eine unbestimmte Zeit an Ort und Stelle. Er scheint in den letzten Minuten um Jahre gealtert zu sein. Seine Gestalt wirkt plötzlich durch und durch gekrümmt. Sein Gesicht sieht aschfahl aus und seine Wangen wirken unter den Bartstoppeln wie eingefallen.

Er steigt in sein kaminrotes Auto, ein Ford älteren Jahrgangs, den er auf dem nahegelegenen Besucherparkplatz des Seniorenwohnheimes abgestellt hatte.

Während er sich mit einem Taschentuch das Gesicht trockenwischt, schaut er sich gehetzt um. Aber niemand ist zu sehen.

Ein jähes und heftiges Zittern durchläuft ihn. Erst nach mehreren Versuchen bekommt er das Auto gestartet. Endlich kann der zum Mörder gewordene Mann den blutigen Schauplatz seines brutalen Verbrechens hinter sich lassen.

Wohin dieser will? Gustav weiß es nicht. Nur fort will er. Weit fort von all dem.

Viel zu schnell, das Tachometer hat sich auf 120 Stundenkilometer eingependelt, rast er den kleinen und nicht befestigten Nebenweg, der von dem Wohnheim zur Hauptstraße führt, entlang. Als unverhofft braunes verwelkendes Laub auf die Fensterscheibe seines Wagens klatscht, wird ihm die Gefahr bewusst, in der er sich augenblicklich befindet. Durch den, von den Scheibenwischern, blank geputzten Kreisausschnitt auf der Frontscheibe hat er freien Blick auf die vor ihm liegende Straße. Nicht nur auf sein Auto sind die vom Herbst verfärbten Blätter und die reifen Früchte der Eichen gefallen. Die ganze Straße ist damit belegt. Sie bilden zusammen mit Schmutz und dem anhaltenden Regen einen bedrohlich rutschigen Belag.

Während er prüfend einen Blick auf den Tacho wirft, legt er behutsam einen kleineren Gang ein und nimmt allmählich seinen Fuß vom Gaspedal. Langsam geht die Anzeige von einhundertzwanzig auf fünfzig zurück. Endlich schlingert der Wagen nicht mehr. Da die unmittelbare Gefahr vorüber ist, legt er vorsichtig einen höheren Gang ein. Danach drückt er das Gaspedal sachte nieder, fährt aber langsamer, als zuvor, weiter.

Auf der Hauptstraße von Kehnert, die K1471, angekommen, kehren Freitag seine Gedanken zu dem sich überschlagenden Ereignis der letzten Stunde zurück.

Zugegeben, er hatte Schleicher zur Rede stellen wollen. Aber um die Ecke bringen wollte er ihn nicht, sondern nur mit dem Messer seinen Worten mehr Gewicht verleihen. Es sollte mehr ein unerbittliches Verhör werden und mit einem Eingeständnis enden. Außerdem wollte er das viele Geld zurückbekommen, welches Erwin ihm in den letzten Wochen beziehungsweise Monaten gestohlen hatte. Weiterhin sollte er seine unerschöpflichen Bemühungen um Gustavs ehemalige Freundin aufgeben.

Hartnäckig setzt sich ein Gedanke in ihm fest, welcher immer intensiver von ihm Besitz ergreift. Er muss sofort zurück zu dem Wohnheim fahren und er muss die Leiche fortschaffen. Ihn wird man ja nicht für das Verschwinden von Erwin Schleicher verantwortlich machen. Glaubt doch nicht nur die Heimleitung des Seniorenheimes ›Geborgenheit‹, sondern auch dessen Bewohner, dass er sich zu einem verlängerten Besuch bei seiner Tochter Irmgard in der nahegelegenen Ortschaft Bertingen aufhält.

Als das heftige Zittern etwas nachgelassen hat, die erste Panik von Gustav abgefallen ist, fährt er umgehend zum Wohnheim zurück.

Ungeachtet seines Alters ist er noch relativ rüstig. Trotzdem ist ihm bewusst, dass der um einen Kopf größere, leider auch etwas übergewichtige Schleicher nicht lautlos von ihm durch das ganze Wohnheim getragen werden kann, ohne dabei aufzufallen und ohne gesehen zu werden.

Da aber das Fenster ihres Zimmers zu einer großen, an die Baracke anschließende Rasenfläche zeigt, die von keinen hinderlichen Kantensteinen begrenzt wird, fährt er im Schritttempo mit dem Auto entschlossen rückwärts bis kurz davor.

Er sieht sich wieder einmal lange und prüfend um, denn er kann sich nicht völlig sicher sein, dass die Geräusche des heranfahrenden Autos nicht doch noch die friedlich schlummernden Bewohner des Heimes aus den Betten locken oder gar die schlafenden Hunde der anliegenden Grundstücke aus ihrem Schlaf reißen wird.

Er nimmt nun den gleichen Weg, wie eine knappe Stunde zuvor. Es geht über die Gartenbank in die Küche, von dort über den Gang, bis vor sein Zimmer. Sichernd schaut und lauscht er bei jedem weiteren Schritt den er macht, wobei er das Gefühl hat, dass ihm vor lauter innerer Anspannung gleich der Schädel platzt.

Aber das Heim liegt nach wie vor in friedlicher nächtlicher Stille. Selbst die Nachtaufsicht muss sich zurückgezogen haben, denn im Aufenthaltsraum brennt kein einziges Licht mehr.

Zögerlich betritt er den schaurigen Ort. Gustav nimmt den hölzernen Gehstock von Erwins Bett, welcher dort immer griffbereit am Kopfende hängt und an dessen Fuß sich eine metallene

Spitze befindet. Er stößt Schleicher ein paar Mal prüfend mit dieser Spitze an und ist sichtlich erleichtert, dass dieser wirklich keinen Laut mehr von sich gibt.

Er tritt zum Fenster und wünscht sich, dass dieses alte Ding beim Öffnen einmal nicht in seinen Angeln quietscht wie sonst. Aber alles geschieht so, wie von ihm erhofft. Ohne ein hörbares Knarren oder andere weithin vernehmliche Geräusche von sich gebend, lassen sich die beiden Fensterflügel von ihm öffnen.

Gustav lehnt sich ganz weit aus dem Fenster heraus. Er kommt dann aber doch nicht, wie erwartet, an sein Auto, geschweige denn, die Kofferklappe heran. Leise schimpft er vor sich hin: »Verdammt noch mal, daran hätte ich auch vorher denken können, dass ich da nicht herankommen werde. Mist aber auch!«

Suchend schaut sich Gustav im Zimmer nach einem Stuhl um, der ihm beim Hinausgelangen aus dem Zimmer behilflich sein soll. Lange muss er nicht suchen, steht doch ein Stuhl an seiner üblichen Stelle, gleich neben dem Kleiderschrank.

Bedächtig hebt er ihn über Erwin hinweg und stellt ihn dann direkt vor das Fenster. Er steigt langsam auf dessen Sitzfläche und von dort auf das Fensterbrett. Er zieht den Stuhl zu sich empor und stellt ihn neben seinem Auto wieder ab. Vorsichtig klettert er vom Fensterbrett auf den Stuhl, springt von dort auf den Rasen hinunter und kommt endlich an die Kofferklappe seines Autos heran. Ganz langsam und vorsichtig öffnet er sie, immer darauf achtend, jeglichen Lärm, jedes Geräusch tunlichst zu vermeiden.

Auf demselben Wege, wie er das Zimmer eben noch verließ, gelangt er auch wieder hinein.

Dort schaut er sich nachdenklich um. Er braucht etwas, womit er die Leiche bedecken kann. Entschlossen nimmt er das Laken seines Bettes und schlingt es Erwin Schleicher um den blutbeschmierten Oberkörper.

Gustav wuchtet sich unter verhaltenem Stöhnen den schweren Körper des Toten auf seine linke Schulter und tritt dann, unter seiner Last leicht schwankend, zu dem geöffneten Fenster hin.

Dort lässt er seinen einstigen Zimmerkumpel, wie einen zu schwer gewordenen Sack Kartoffeln, auf die Fensterbank hinunterfallen.

Nach einer kleinen Verschnaufpause gelangt er mit Hilfe des Stuhles wieder nach draußen. Von dort zieht er Erwin zu sich heran und stemmt, ein lautes Stöhnen unterdrückend, diesen in den Kofferraum seines Autos.

Um auch den letzten Beweis zu beseitigen, dass hier etwas Schreckliches passiert ist, muss Gustav aber noch ein weiteres Mal in das Zimmer zurückkehren.

Dort rollt er den von Blut befleckten Bettvorleger fest zusammen und legt ihn auf dem Fensterbrett ab. Dann steigt er wieder auf den Stuhl, auf die Fensterbank und springt von dort auf den vom Regen völlig aufgeweichten Rasen hinunter.

Endlich kann er den blutigen Beweis seiner Tat mit zu dem Toten legen.

Langsam und vorsichtig, so wie er die Kofferklappe geöffnet hatte, verschließt er sie auch wieder.

Gustav Freitag, der von dem ständigen Rein und Raus schon ziemlich erschöpft ist, muss noch ein letztes Mal in das Zimmer zurückkehren. Diesmal muss er den Weg über die Bank, durch die Küche und den Gang wählen, weil er vergaß, denn Stuhl abermals mit nach draußen zu nehmen. Aber von seinem jetzigen Standpunkt aus, vor dem Fenster, auf dem Rasen stehend, kommt er einfach nicht an ihn heran.

Wieder schaut er sich sichernd um. Lauscht, ob noch immer alles ruhig bleibt, ehe er in das Zimmer zurückkehrt. Dort verriegelt er sorgfältig das Zimmerfenster. Jetzt nur noch das Bett in Ordnung bringen, den Stuhl an seinen alten Platz stellen und beinahe sieht alles aus wie immer.

Gustav wirft von der Tür aus einen letzten prüfenden Blick in das Zimmer hinein. Er nimmt auch noch den alten Gehstock, die Halbschuhe und die Jacke von Erwin Schleicher an sich und geht.

Niemand sieht, wie Gustav Freitag, ein zum Mörder gewordener alter Mann, das Zimmer mit der Nummer 13 und das Seniorenwohnheim eilig verlässt. Niemand sieht, wie dieser die Sachen von Erwin mit Schwung auf die Rückbank seines Autos wirft, in sein Auto steigt und davonfährt.

In der Annahme keine Spuren zurückgelassen zu haben, fährt er mit dem Leichnam davon. Er hat auch schon die geeignete Idee, die ihn wie ein Blitz getroffen hat, wo er seinen ehemaligen Mitbewohner und guten Kumpel Erwin Schleicher für immer und ewig verschwinden lassen wird. Liegt doch das ehemalige Fischerdorf Kehnert nur einen Katzensprung entfernt und wie geschaffen für sein Vorhaben, an einem verzweigten Elbe-Seitenarm.

Dass er durch seine innere Anspannung in die falsche Richtung gefahren ist, bemerkt er aber erst, als er kurz vor der Ortschaft Sandfurth einen überdachten Rastplatz für Wanderer und Radfahrer erreicht. Da es dort aber für seinen Ford eine recht gute Wendemöglichkeit gibt, dreht er an Ort und Stelle um und fährt umgehend nach Kehnert zurück.

Sicherlich hätte er seinen Plan, die Leiche in der Elbe loszuwerden, auch in Sandfurth in die Realität umsetzen können, aber ihm fehlen hier einfach die dafür nötigen Ortskenntnisse.

Langsam aber sicher bemächtigt sich eine beinahe lähmende Müdigkeit Gustav Freitag. Nur unter großer Willensanstrengung kann er seine Augen noch offen halten und einen klaren Gedanken fassen. Aber er weiß, dass es allerhöchste Zeit für ihn wird, den Toten loszuwerden. Fahren doch bald die ersten Pendler aus den umliegenden Ortschaften zur Arbeit und dann besteht durchaus die große Möglichkeit, dass einer von denen ihn identifizieren kann. Hier kennt man sich schließlich, nicht nur als unmittelbarer Nachbar, ehemaliger Schichtarbeiter oder Kneipengänger.

Er gibt sich einen tiefen inneren Ruck, reißt all seine Lebenskraft zusammen, reibt sich einen Moment lang die übermüdeten Augen und fährt nach Kehnert zurück. Um aber seine getroffene Entscheidung wirklich in die Tat umsetzen zu können, muss er fast die gesamte Ortschaft durchfahren.

Ganz in der Nähe des Kehnerter Schlosses macht die Kreisstraße eine große Kurve. Genau dort, an dieser Kurve, geht ein ausgefahrener Feldweg ab. Folgt man diesem, trifft man unweigerlich auf die Elbe. Er führt vorbei an dem Jugendklub, am Kehnerter See entlang und zirka einen Kilometer weiter, bis zum eigentlichen Hauptstrom der Elbe.

Gustav hofft nun, sich auf dem schleunigsten Wege dem Leichnam und seinem damit verbundenen Problem entledigen zu können. Aber da es noch immer aus allen Wolken schüttet, als ob die ganze Welt ertrinken soll, kommt er auf dem aufgeweichten Weg nur äußerst langsam voran. Immer wieder drehen die Räder des kleinen Autos durch. So manches Mal hat es den Anschein, als ob er gleich stecken bleiben würde. Aber nach einer knappen halben Stunde, die ihm all sein fahrerisches Können abverlangt hat, kommt er schließlich am Ufer der Elbe an.

An der flachen Uferböschung kann er eine Stelle ausmachen, wo so gut wie kein Gras oder Schilf mehr vorhanden ist. Hier hatten sich Petrijünger schon vor längerer Zeit eine Anglerstelle eingerichtet.

Gustav hofft, dass jetzt alles ziemlich schnell vonstattengeht. Er öffnet die Kofferklappe seines Wagens und holt als Erstes den mit Blut befleckten Teppich aus dem Kofferraum. Er packt die wenigen Sachen von Erwin auf den Selbigen. Rollt ihn straff zusammen. Wickelt dann das blaue Abschleppseil, welches er in seinem Auto zu liegen hat, fest darum. Anschließend wirft er den so verschnürten Teppich im hohen Bogen in die derzeit stark strömende Elbe hinein.

Ein flüchtiger kontrollierender Blick, ob der Teppich auch tatsächlich von der Strömung mitgerissen wird, dann wendet er sich der Leiche zu.

Erwin Schleicher aus seinem Auto herauszubekommen, erweist sich dann als durchaus schwerer, da er ja von der Statur her nicht der Kleinste war. Unsichtbare Hände scheinen den toten Körper mit aller Kraft im Auto festhalten zu wollen. Nur unter großer Kraftanstrengung schafft es Freitag dann endlich, seinem Ziel näher zu kommen. Erwin ist aus seinem Auto heraus und liegt lang ausgestreckt vor ihm auf dem Kies der Anglerstelle.

Nur mit äußerstem Widerwillen und einer bodenlosen Feindseligkeit kann Gustav Freitag seinen ehemaligen Mitbewohner ansehen. Aber er will sich ein allerletztes Mal vergewissern, dass dieser wirklich nicht mehr am Leben ist. Prüfend tritt er mit dem rechten Fuß mehrmals gegen Erwins Schulter. Doch, wie von ihm erhofft, rührt dieser sich nicht mehr.

›Aber wie nur bekomme ich den Schleicher in die Elbe?‹, ist die nächste Überlegung von Gustav.

Langsam aber sicher macht sich eine unergründliche Verzweiflung in ihm breit. Hat er doch das unbestimmte Gefühl, dass ihm die Zeit nur so davon rinnt und er schon Stunden hier am Fluss zugebracht haben muss.

Trotz des fortwährenden Niederschlags und der herbstlichen Kühle stehen dem frischgebackenen Täter dicke Schweißperlen auf der Stirn. Er schaut sich gehetzt nach einem länglichen Gegenstand um, mit dem er Erwin in die Elbe stoßen kann. Bei diesem Wetter will er nicht in das Wasser steigen und ihn auch noch hereinziehen müssen.

Aber wieder einmal hat er das Glück für sich gepachtet, liegen doch an einer Feuerstelle der Angler noch ein paar längere Stöcke herum, die sich als bestens geeignet für seine nächste Handhabung erweisen. Er sucht sich den längsten Stock heraus, nimmt ihn und geht eilig zurück zu Erwin Schleicher. Ein letzter prüfender Blick, ohne jegliche Reue, dann schiebt er die Leiche in den Fluss hinein.

Gustav schaut den nur sehr langsam davon treibenden Körper von Schleicher nach, bis dieser schließlich nach ein paar Metern von der Strömung der Elbe erfasst und mitgezogen wird.

Es gleicht buchstäblich einem puren Davonstehlen, wie er sich nun vom Flussufer wegbegibt und zu seinem Auto zurückkehrt.

Beim Verschließen der Kofferklappe durchfährt es ihn siedend heiß, kann er sich doch in diesem Augenblick absolut nicht mehr daran erinnern, wo er das Messer gelassen hat. Das Messer, welches Erwins Leben für immer ausgelöscht hat. Erneut macht sich Panik in ihm breit. Sein Herz schlägt schmerzhaft gegen seinen Brustkorb. Ihm läuft kalter Angstschweiß den Rücken herab.

Suchend läuft er alles ab. Den Platz neben dem Auto, wo Erwin lag, nachdem er ihn endlich aus dem Kofferraum hatte. Die Anglerstelle und den Ort, an dem er Erwin schließlich in die Elbe befördert hatte. Nichts. Absolut nichts. So kann Gustav nur hoffen, dass er das Messer zusammen mit dem Leichnam oder mit in den Teppich eingewickelt, entsorgt hat.

Einigermaßen beruhigt darüber, dass er bis jetzt von keiner Menschenseele beobachtet worden ist, macht er sich endlich auf den Rück- beziehungsweise Heimweg. Zurück zu seiner Tochter Irmgard und deren Haus in Bertingen, wo er ja für einen verlängerten Besuch zu Gast ist.

Das völlig verschmutze Auto, den kaminroten Ford, stellt er aber nicht direkt vor ihrem Grundstück ab. Er möchte ihr nicht erklären müssen, warum sein liebstes Stück, welches er mehr verhätschelt als sich selbst, so übervoll von Schmutz ist. Deshalb lässt er ihn am kleinen Friedhof des Ortes stehen. Dort ist regsamer Betrieb eher die Seltenheit, liegt doch des Menschen allerletzte Ruhestätte am Rande von Bertingen.

Mit letzter Kraft und Willensanstrengung schleppt er sich zum Wohnhaus seiner Tochter zurück, welches er um die frühe Morgenstunde nur über die Garage betreten kann. Nach einer Einbruchserie im Landkreis wird die Eingangstür beziehungsweise die Hoftür von seiner Tochter am frühen Abend buchstäblich verbarrikadiert. Zum Glück hat er aber den Zweitschlüssel für das Garagentor bei sich, welches sich nur unter lautem Quietschen von ihm öffnen lässt. Angestrengt lauscht er, aber es bleibt alles ruhig.

In der Garage, die direkt an das Wohnhaus angebaut wurde und von der eine Tür geradewegs in den Flur des Eigenheims führt, entledigt sich Gustav Freitag seiner schmutzigen Sachen. Er reißt einen großen blauen Müllsack von der Rolle ab, die auf der Werkbank liegt und steckt dort alles hinein. Dann stößt er den Sack mit einem kräftigen Fußtritt unter den an der Mauer stehenden alten Küchentisch. Er nimmt sich aber fest vor, diesen Sack sobald wie möglich zu entsorgen.

Nur noch mit seiner Unterwäsche bekleidet, die nassen und verdreckten Schuhe in der linken Hand, schleicht er sich in das Haus. Wieder einmal ist er darum bemüht, keinen Lärm zu verursachen. Tief in seinem Inneren hofft und wünscht er sich, von seiner Tochter in diesem Augenblick nicht ertappt zu werden. Ihr sein momentanes Erscheinungsbild erklären zu müssen, wäre ihm nicht nur peinlich. Nein, das ist es nicht alleine. Er könnte ihr jetzt einfach nicht in die Augen sehen und sich irgendeine banale Lüge ausdenken.

Gustav läuft über den kurzen Flur. Steigt die schmale steile Treppe hinauf, die in die obere Etage führt, und geht in das dortige Gästebad. Sorgfältig verschließt er die Tür hinter sich. Hier kann er sich nun endlich den ganzen Schmutz abspülen, der sich in jeder Pore seines Körpers zu befinden scheint. Für kurze Zeit auch all den Schmutz, der seinen Seelenfrieden zu belasten beginnt. Selbst seine beiden verschmutzten Schuhe bekommen letztendlich eine reinigende Dusche ab.

Ein flüchtiger Blick auf die kleine Badezimmeruhr verrät ihm, dass es erst kurz nach halb vier ist. Genügend Zeit, sich noch für drei bis vier Stunden aufs Ohr zu legen und die furchtbaren Geschehnisse der letzten Stunden zu überschlafen.

Schnell trocknet er sich ab und begibt sich, so wie Mutter Natur ihn einst geschaffen hat, nämlich völlig nackt, innerlich stark fröstelnd, ins Gästezimmer hinüber, wo er vorrübergehend Quartier bezogen hat.

Dort zieht er sich seinen alten, aber flauschigen Schlafanzug an und auch die dicken weißen Frotteesocken über.

Er stopft seine nassen Schuhe mit Zeitungen aus, die er eigentlich noch lesen wollte, und legt sich in das alte, schon etwas wacklige Bett hinein. Er zieht sich dann das dicke Federbett bis weit über beide Ohren und versucht krampfhaft einzuschlafen. Ruhelos wälzt Gustav sich hin und her, findet aber keinen Schlaf. Er versucht es mit Schäfchen zählen. Er summt einen alten Schlager vor sich her. Stellt sich seine Angebetete bildlich vor. Aber nichts will so richtig helfen, um die so sehr begehrte Ruhe zu finden.

Erst nach unendlich lang erscheinenden gefühlten sechzig Minuten, vielleicht waren es auch ein paar mehr oder weniger, entschwindet er in einen unruhigen, mit Alpträumen durchsetzten Schlaf.

KAPITEL 2

In dem weitläufigen Gebäude herrscht Wochenendstille vor. Die Gänge liegen verlassen da. Nur in dem Dienstzimmer der Kriminalpolizei geht es ein wenig lebhafter zu.

»Es ist schon längst Mittagszeit durch. Wir hatten noch nicht einmal die Zeit eine kleine Stärkung zu uns zu nehmen«, beschwert sich soeben Assistent Jörg Paulich laut und unterdrückt dabei ein herzhaftes Gähnen. »Ich möchte nur einmal wissen, warum sich die Menschen in dieser modernen Zeit erhängen, vergiften, erschießen müssen und das auch noch gegenseitig. Den Schlamassel damit haben wir dann aber ganz und gar allein am Hals.«

Kriminalkommissar Heinz Schön betrachtet den jungen Mann innerlich tief aufgebracht. Derartige Reden gefallen ihm nicht. Überhaupt gefällt ihm an diesem Jungspund so einiges nicht. Wie zum Beispiel dessen Haarschnitt - eine Undercut Frisur, der kränklich wirkende bleiche Teint und der Anzug, der um die hagere Figur nur so zu schlottern scheint. Ein bisschen Sport treiben würde ihm sicherlich ganz guttun. Hatten denn Kriminalassistenten heutzutage so auszusehen?

Eigentlich müsste er jetzt etwas darauf erwidern, aber mit seinen Gedanken ist er noch immer an dem Tatort der zurückliegenden Nacht. In dem geschmackvoll eingerichteten Wohnhaus eines Landwirtes in Zielitz, im Stendaler Nachbarkreis.

Dort hatten mehrere bewaffnete Männer, der Sprache nach waren sie wohl russischer Abstammung, den als sehr vermögend geltenden Mann rücksichtslos überfallen und ausgeraubt. Zurück blieben dessen verängstigte Ehefrau, eine völlig demolierte Inneneinrichtung und der angeschossene Besitzer des Hauses, der Landwirt.

In den sehr zeitigen Morgenstunden wurden er und sein Assistent dann von den eigentlich zuständigen Kollegen des Nachbarkreises am Tatort abgelöst. Diese wurden zuvor bei einem polizeilichen Großeinsatz nach einem nicht so freundschaftlich endenden Fußballspiel, FSV Barleben gegen SV Irxleben, in Wolmirstedt gebraucht.

Nun sitzen sie hier in ihrem Büro des Stendaler Polizeireviers und nehmen ein umfangreiches Protokoll über die Ereignisse der vergangenen Nacht auf. Danach ist der Bereitschaftsdienst für sie erst einmal beendet.

Angespannt und ungeduldig wartet Kriminalkommissar Heinz Schön darauf, dass sein Assistent endlich die letzten Zeilen des Abschlussberichts eingetippt hat. Aber dieser ist mit dem Schreiben am Personalcomputer noch nicht so recht vertraut. Nur mit der Hilfe des sogenannten Zweifingersuchsystems bringt er es schließlich doch zu einem glücklichen Ende.

Heinz Schön drückt seinen schon etwas in die Fülle neigenden Körper an der Kante des Schreibtisches hoch.

Auf der stark strapazierten Arbeitsplatte des Tisches liegt kein einziges Blatt Papier mehr herum, was er zufrieden vermerkt. Ordnung ist schließlich das halbe Leben. Ein Grundsatz, von dem er sich schon immer hat leiten lassen. Ein leerer Schreibtisch war für ihn ein Merkmal von außerordentlicher Professionalität.

Nur ein schäbiger abgegriffener Kaffeebecher aus Metall bleibt mitten auf dem Tisch zurück, wo er einen alten Wasserfleck in Form eines Ringes verdeckt.

Er lässt sich von Paulich in seinen abgewirtschafteten, ehemals dunkelgrauen Mantel helfen und spürt plötzlich eine bleierne Müdigkeit bis in den letzten Knochen. Früher ist ihm das bei solchen Einsätzen in der Nacht nicht passiert. Er reibt sich mit den Fingerspitzen seiner beiden Hände die ergrauten schon stark ins Weiße gehenden Schläfen. Manchmal hilft dies ja, aber heute bleibt die erhoffte Wirkung aus.

Schön zerrt nervös an seinem Mantelkragen herum. Mürrisch fragt er dann laut: »Was ist denn nun? Kommen Sie endlich, Herr Paulich?«

Er betrachtet durch die nur halb offen stehende Tür dessen Arbeitsplatz. Der schaut für ihn aus, als ob sich schon seit Wochen niemand die Mühe gemacht hätte, hier mal wieder klar Schiff zu machen. Dort stehen wahllos herum, ein Papp-Kaffeebecher, ein aufgeklappter Pizzakarton - mit einem angebissenen Stück Pizza und leider Gottes, nicht nur leere Getränkeflaschen.

Immerhin entgeht dem Assistenten der tadelnde Blick seines Vorgesetzten nicht. Flink greift er sich eine große Einkaufstüte von Penny und fegt mit einer schnellen Handbewegung all den Unrat hinein. Mit einem Papiertaschentuch wischt er auch noch alle Brösel in die Tüte und den Tisch oberflächlich sauber. Dann verschließt er sorgfältig die noch nicht erledigten Akten in seinem Schreibtisch.

Schön wartet noch immer ungeduldig an der Tür des Büros und als Paulich seinen Mantel anzieht, bemerkt er laut grollend: »Sie immer mit Ihrem neumodischen Fummel. Muss das denn wirklich sein? Ein Kriminalbeamter sollte diskret und unauffällig wie nur möglich ausschauen! Wann geht das endlich in ihren jugendlichen Schädel rein?«

»Einem geschenkten Gaul schaut man nun mal nicht ins Maul. Nicht wahr, Herr Kriminalkommissar?«, schmunzelt verzeihend Jörg Paulich. Aufreizend zärtlich fährt er mit den Handflächen über die schöne weiche Oberfläche des nussbraunen Wildledermantels, ohne seinen Chef dabei aus den Augen zu lassen.

Schön weiß genau, worauf diese saloppe Antwort gezielt ist. Hatte er doch vor vielen Jahren seinen Mantel auch geschenkt bekommen. Das war zu jener Zeit, als er in Stendal die frei werdende Assistentenstelle angetreten hatte. Er bekam ihn damals als Weihnachtsgeschenk von seiner leider schon viel zu früh verstorbenen Frau.

Ihm liegt schon eine grobe Antwort auf seiner Zunge, als er sich eines Besseren besinnt. Man war doch schließlich wer und eine solche Blöße gibt man sich als Vorgesetzter nicht. Außerdem hatte sich Paulich in den vergangenen Tagen im Dienst als halbwegs akzeptabel erwiesen.

Er schiebt sich seine abgewetzte schwarze Aktentasche unter den linken Arm. Sich zu Jörg Paulich umdrehend sagt er: »Machen wir, dass wir hier fortkommen. Ich bin rundweg erledigt. Wer weiß denn schon, was uns die kommende Nacht alles so bringen wird.«

Er verschließt sorgfältig die Tür des Büros. Freut sich in Gedanken schon auf sein Zuhause und dem Bett, welches durch eine Heizdecke - die mit einer Zeitschaltuhr versehen ist - vorgewärmt sein wird.

Da klingelt plötzlich ununterbrochen, für die beiden Männer durch die Tür laut vernehmbar, das Telefon. Fragend schaut Paulich Kriminalkommissar Schön an.

Der schimpft volltönend: »Ach was! Ich will endlich nach Hause und schlafen. Hat sich wieder einer mit einem Seil erschossen, mit einem Spaten erhängt oder sich mit einer Pistole sein Grab geschaufelt. Nein, nein, nein! Ich will schlafen gehen und nicht von solchen Kinkerlitzchen abgehalten werden!«

Nur widerwillig lässt sich Heinz Schön von Jörg Paulich den Büroschlüssel aus der Hand nehmen. Dieser schließt eilends die Bürotür wieder auf und marschiert schnurstracks an den Telefonapparat. Er beugt sich mit seinem ganzen Oberkörper über die Arbeitsplatte des Schreibtisches. Dort stützt er sich mit den Ellenbogen ab und in dieser bequemen Stellung, die ihm Schön gleich wieder ankreidet, hört er auf die durchdringende Stimme im Telefonhörer.

Kriminalkommissar Schön bedauert soeben zutiefst, nicht selbst den Hörer abgenommen zu haben. Tatenlos muss er an der Eingangstür stehen bleiben und vermag nicht einzuschätzen, worum es bei diesem Anruf geht. Ist auf die Informationen des ›Bengels‹, wie er ihn gelegentlich zu nennen pflegt, angewiesen. Ein für ihn unhaltbarer Umstand. Er trommelt unaufhörlich mit den Fingern seiner rechten Hand am Türrahmen. Laut brummt er:

»Na, was ist denn nun wieder los? Wenn Sie mich mal aufklären könnten, um was es hier eigentlich geht?«

Aber sein Assistent Paulich schenkt ihm einfach keine Beachtung. Oder hat er ihn bloß nicht gehört?

»Augenblick mal, Augenblick bitte! Nicht so schnell! Ich muss mir das alles erst einmal aufschreiben. Warten Sie!«, ruft dieser soeben laut und mit fordernder Stimme in den Telefonhörer hinein.

Während er sich auf dem Schreibtisch nach einem unbeschriebenen Zettel und einen Schreibstift umschaut, legt er den Hörer auf dessen Arbeitsplatte ab und bekommt einen wahrlich verzweifelten Gesichtsausdruck, weil ausnahmslos alles sauber von Heinz Schön weggeräumt worden ist. Er öffnet daraufhin eine der Schubladen, um ihr beides von dort zu entnehmen, den Zettel und einen Stift.

Er greift wieder zum Telefon, klemmt sich den Hörer mit Hilfe der Schulter erneut an das Ohr und sagt: »Wiederholen Sie bitte das ganze Geschehen von Anfang an! Aber, wenn es geht, immer ordentlich der Reihe nach und nicht zu schnell, sodass ich mitschreiben kann.«

Schön brummt missfallend, gut vernehmbar für Paulich, weil ihn dieser über die Vorkommnisse noch immer nicht informieren will. Er horcht noch einen Moment lang konzentriert hin. Da er aber nicht verstehen kann, worum es geht, gibt er vor, als will er gar nichts verstehen.

So nimmt er seinen alten Indiana Jones Hut, den er sich nicht nur kurz nach der Wende zugelegt hatte, sondern vorhin auch vergaß, vom Garderobenhaken und schiebt diesen auf seinem Schädel hin und her, bis er wie gewünscht an Ort und Stelle sitzt. Er ist nicht nur das eigentümliche Markenzeichen des Kriminalkommissars, sondern so eine Art Glücksbringer. Dass der Hut in all den Jahren nicht nur stark gelitten, sondern auch einen hässlichen Schweißrand über dem Band bekommen hat, stört ihn dabei wenig.

Sein linkes Bein steht schon halb in der Bürotür, als seine Überlegungen durch eine wirklich unschöne Redensart von Paulich unterbrochen werden: »Verfluchte Scheiße aber auch! Verdamm mich noch mal!«, die er immer nur dann benutzt, wenn sich etwas wahrlich Unangenehmes ereignet hat.

Fragend schaut Schön zu ihm herüber.

Noch immer am Schreibtisch stehend, den Telefonhörer hatte er wieder aufgelegt, starrt Paulich seinen reichlich mit Notizen bedeckten Zettel an. Er starrt darauf, als wäre es eine ihm unbekannte Schrift, nicht seine Eigene und die es gilt, erst einmal zu entschlüsseln.

»Um was es sich jetzt auch immer handeln mag, Herr Paulich«, wendet sich Heinz Schön behutsam und verhalten an diesen. »Ich bin wirklich mehr als zerschlagen und gehe schlafen. Soll es doch die Nase beleidigen, so viel es will. Morgen ist wieder ein neuer Tag und der Gestank wird bis dahin nicht nachgelassen haben. Glauben Sie einem alten Mann!«

»Kann ja durchaus alles sein«, widerspricht Jörg Paulich ihm und fixiert seinen vollen Notizzettel. »Ich nehme aber sehr stark an, dass Sie jetzt noch nicht zum Schlafen kommen werden. In Kehnert, im dortigen Seniorenheim ›Geborgenheit‹, ist seit den gestrigen Abendstunden ein Mann verschwunden. Sein Name ist Erwin Schleicher. Er ist siebzig Jahre alt und nicht am Frühstückstisch erschienen. Er ist wohl ansonsten immer einer der Ersten, die sich zur Essenszeit einfinden. Da er aber allerhand gesundheitliche Probleme habe, hat man, um ganz sicher zu gehen, sein Zimmer überprüft. Aber es wurde verlassen vorgefunden. Das Bett ist wohl unberührt und auch einige Sachen, die Herr Schleicher zu tragen bevorzugt, sind aus seinem Zimmer verschwunden.«

Jörg starrt wieder auf seinen kleinen Zettel, um seine hastig dahin geschriebenen Wörter zu entziffern. »Ach ja, hier geht es weiter. Ich habe es ja schon!«, murmelt er, mehr für sich, in seinen Dreitagebart.

»Daraufhin wurden seine bevorzugten Aufenthaltsorte um das Wohnheim herum von allen verfügbaren Kräften abgesucht und