Mord in der Willow Street - Henrietta Hamilton - E-Book

Mord in der Willow Street E-Book

Henrietta Hamilton

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Beschreibung

»Was für ein Geniestreich!«  Susann Fleischer, Literaturmarkt zu »Mord in der Charing Cross Road« In einem kleinen Cottage außerhalb Londons verbringen die Heldars den ersten Frühling mit ihrem Sohn Peter. Doch als die Verlobte von Johnnys Cousin, Prudence, des Mordes verdächtigt wird, eilt das Buchhändlerpaar zurück nach London, um die Ermittlungen aufzunehmen. Mitüberraschenden Twistsführt uns Henrietta Hamilton auf die Spur eines Verbrechens, das die Urfrage stellt, wem wir wirklich vertrauen können. In Mr. Frodshams Haus in der Willow Street spielen sich geheimnisvolle Treffen und verbotene Liebschaften ab, Identitäten werden ausgetauscht, Erpresserbriefe verfasst und Plagiate vertuscht. Die Sekretärin des fragwürdigen Hausherren, Prudence, verstrickt sich immer weiter in diese Spielchen. Doch dann wird Mr. Frodsham in seiner Bibliothek ermordet. Die Tatwaffe, ein Revolver, ist verschollen. Schon sichert Scotland Yard den Tatort abund befragt Prudence als Verdächtige. Denn tatsächlich wurde sie am Abend zuvor ganz in der Nähe gesehen.  Sally und Johnny Heldar nehmen die verschiedenen Fährten auf. Der Mordfall führt das Ermittlerduo von den Geschehen in der Willow Street bis hin zu Frodhams Rolle in der Französischen Résistance. Können sie Prudences Unschuld beweisen, oder ist sie stärker in den Mord verwickelt, als es die Heldars wahrhaben wollen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 302

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dies ist der Umschlag des Buches »Mord in der Willow Street« von Henrietta Hamilton, Dorothee Merkel

Henrietta Hamilton

Mord in der Willow Street

Ein Fall für Sally und Johnny

Aus dem Englischen von Dorothee Merkel

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe zum Zeitpunkt des Erwerbs.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

Fragen zur Produktsicherheit: [email protected]

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Man Who Wasn’t There« im Verlag Hodder & Stoughton, London

© The Estate of Hester Denne Shepherd, 2021

Für die deutsche Ausgabe

© 2025 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i.S.v. § 44b UrhG vorbehalten

Cover: Anzinger und Rasp Kommunikation GmbH, München unter Verwendung einer Illustration von © Milan Jovanovic, CHAMELEON Studio

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-96617-6

E-Book ISBN 978-3-608-12489-7

Erstes Kapitel

W‌as möchtest du heute Nachmittag machen?«, fragte Sally Heldar.

»Nun, heute früh bin ich mit den Kartoffeln fertig geworden«, antwortete Johnny. »Und jetzt würde ich gern mit dem Kopfsalat und den Erbsen weitermachen.« Dann sah er zu den Eichenbalken an der Küchendecke hinauf und fügte mit ostentativer Gleichgültigkeit hinzu: »Ich hatte gehofft, dass meine Frau mir vielleicht dabei zur Hand gehen würde.«

»Das ließe sich eventuell einrichten«, bemerkte Sally würdevoll. »Aber nur nach einer angemessenen Pause.«

Gemeinsam spülten sie das Geschirr vom Mittagessen und gingen dann ins Wohnzimmer. Es war April und noch nicht warm genug, um draußen zu sitzen, aber es herrschte herrliches Frühlingswetter. In dem kleinen Garten blühten die Narzissen, und der Apfelbaum streckte seine Blüten in den klaren blauen Himmel hinauf oder breitete sie wie rosafarbenen Frost über die alten Backsteinmauern. Auch im Inneren des Hauses leuchteten überall Narzissen und hoben sich von der dunklen Holzvertäfelung und den alten Eichenmöbeln ab. Sally empfand – nicht zum ersten Mal – eine tiefe Dankbarkeit, dass Johnnys Großtante Charlotte ihnen dieses Cottage hinterlassen hatte. Johnny saß ihr gegenüber, ohne Krawatte und in der Kleidung, in der er immer die Gartenarbeit verrichtete. Er trug eine hässliche Flanellhose, eine schäbige Tweedjacke, ein khakifarbenes Hemd, das schon vollkommen abgetragen war, und sah wunschlos glücklich aus. Durch das kleine Fenster, das auf die Wiese hinausging, hatte sie ein Auge auf Peter, der schlafend in seinem Kinderwagen lag. In ihrer kleinen Welt war alles in Ordnung.

Plötzlich schrillte das Telefon, das auf einem Tischchen neben ihr stand. Ein wenig verärgert und leicht besorgt hob sie den Hörer ab. Es kam so gut wie nie vor, dass am Wochenende jemand hier anrief.

»Minningham 2048«, meldete sie sich.

»Sally, es tut mir furchtbar leid, euch zu stören, aber ich wollte fragen, ob ich heute Nachmittag mal zu euch runterkommen könnte.«

Es dauerte einen Moment, bis sie Tims Stimme erkannte. Zunächst hatte sie nicht einmal gemerkt, dass es sich um die Stimme eines Mitglieds der Heldar-Familie handelte. Tim Heldar war Johnnys Cousin, aber im Grunde genommen war er eher so etwas wie ein kleiner Bruder. Sie fragte sich, ob etwas mit der Verbindung nicht stimmte. Dann begriff sie, dass es nicht daran gelegen hatte.

»Ich würde ganz gern mit euch beiden reden, wenn es euch nichts ausmacht. Es ist ziemlich dringend.«

»Natürlich, Tim. Komm ruhig. Möchtest du hier übernachten?«

»Nein, vielen Dank, ich bleibe nur für ein Stündchen oder so. Ich muss vor dem Abendessen wieder in der Stadt sein. Ich werde so etwa um halb vier bei euch eintreffen.«

»Alles klar«, sagte Sally. »Wir werden hier sein.«

Sie legte den Hörer auf. Johnny fragte: »Was ist los, Darling?«

»Ich weiß nicht, aber irgendwas ist im Busch. Wahrscheinlich wird er uns endlich von diesem Mädchen erzählen.«

»Das wäre ja eine Erleichterung«, sagte Johnny.

Sie wussten, dass es da ein Mädchen gab, und sie wussten, dass es zum ersten Mal in Tims Leben etwas Ernstes zu sein schien, aber das war auch schon alles. Tim war sich wahrscheinlich nicht einmal darüber im Klaren, dass Sally und Johnny überhaupt etwas von der Sache wussten. Aber während der letzten beiden Monate hatten sie mitbekommen, wie er sämtliche Stadien der Verzückung durchlaufen hatte, die für einen sehr verliebten jungen Mann typisch sind. Sie hatten jedoch auch gemerkt, dass er sich wegen irgendetwas schreckliche Sorgen machte. Es war nicht einfach nur die Angst, dass seine Liebe womöglich nicht erwidert wurde – da waren sie sich sicher. Und es war auch nicht – oder jedenfalls nicht nur – die Aussicht auf die neue Verantwortung, die ihn in diesem Zusammenhang erwartete. Es gab da noch irgendetwas anderes. Die Geschichte ging sie nichts an, oder jedenfalls erst dann, wenn er sich dazu entschied, ihnen davon zu erzählen, aber allmählich hatten sie sich Sorgen gemacht, dass er es nicht schaffen könnte, allein damit fertig zu werden. Er war vierundzwanzig Jahre alt, aber im Gegensatz zu ihnen selbst hatte er keine Kriegswirren erleben müssen, die ihn gezwungen hätten, schon vorzeitig erwachsen zu werden. Zwei Jahre in der Armee zu Friedenszeiten, drei Jahre in Oxford und das letzte Jahr im Familienunternehmen – einem stillen, wenn auch weltberühmten Antiquariat – hatten ihn nicht älter werden lassen, als er es den Jahren nach war.

***

Sie waren gerade damit fertig geworden, den Kopfsalat und die Erbsen zu pflanzen, und hatten sich bereits saubere Sachen angezogen, als sie auf dem kleinen Zufahrtsweg das vertraute Knattern von Tims altem Morris hörten. Als er die kleine Diele betrat, war Sally schockiert. Tim sah heute tatsächlich älter aus als er eigentlich war. Wegen seiner dichten maisfarbenen Haare, porzellanblauen Augen, feinen Gesichtszüge und makellosen Haut hielten ihn die meisten Leute für einen blutjungen Studenten. Doch jetzt war er leichenblass und hatte dunkle Ringe unter den Augen, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. Fast hätte man ihn für einen Mann von dreißig Jahren halten können.

Es schien so, als würde er sich geradezu schmerzlich anstrengen, einen ruhigen und sachlichen Eindruck zu machen. Nachdem er die ihm angebotene Zigarette entgegengenommen und sie angezündet hatte, platzte er nach mehreren vergeblichen Versuchen, etwas zu sagen, – lauter, als er gewollt hatte, – mit den Worten heraus: »Ich bin gekommen, um euch zu erzählen, dass ich wahrscheinlich bald heiraten werde. Das hoffe ich jedenfalls.«

»Wie schön«, sagte Sally behutsam. »Aber es läuft nicht alles so, wie du dir das wünschst, oder? Ist das das Problem, Tim?«

»Oh, am Ende wird schon alles gutgehen«, sagte er betrübt. »Jedenfalls gehe ich davon aus. Aber im Moment ist alles ein einziges schlimmes Chaos. Sie steckt in Schwierigkeiten und weigert sich, mir irgendetwas Genaueres zu erzählen. Deshalb kann ich ihr auch nicht helfen. Und selbst wenn ich über alles Bescheid wüsste, bin ich nicht sicher, ob ich sie überhaupt aus diesem Schlamassel herausholen könnte. Aber ich glaube, Johnny könnte es vielleicht.«

»Dann schieß mal los«, sagte Johnny ruhig.

Tim sah ihn dankbar an und begann zu erzählen.

»Ihr Name ist Prudence Thorpe. Ich habe sie vor zwei Monaten auf einer Party kennengelernt. Ihre Familie lebt in Northamptonshire. Der Zweig mütterlicherseits gehört mehr oder weniger zum Landadel, wobei ›mehr oder weniger‹ die Formulierung ist, die sie selbst benutzt hat. Ihr Vater stammt aus einer Familie von Fabrikanten irgendwo in Yorkshire, die bedauerlicherweise steinreich ist.«

»Deswegen würde ich mir keine Sorgen machen«, sagte Sally und lächelte ihn an. Niemand, der Tim jetzt ansah, konnte auch nur für eine Sekunde auf den Gedanken kommen, er sei des Geldes wegen an Prudence Thorpe interessiert.

Tim schaffte es immerhin, Sallys Lächeln zu erwidern. »Doch, ein bisschen beunruhigt mich das schon«, sagte er. »Aber im Vergleich zu den anderen Problemen ist dieses Thema vollkommen unwichtig. Jedenfalls ist Prue auf eine sehr teure Schule und dann nach Paris gegangen. Und als sie wieder nach Hause zurückkehrte, wollte ihre Mutter, dass Prue auf dem Land wohnen bleibt und sich in den dortigen Heiratsmarkt einbringt. Doch das wollte Prue nicht. Sie setzte stattdessen ihren eigenen Kopf durch und ging nach London, um dort im Institut von Mrs Wisbech eine Ausbildung zur Sekretärin zu machen. Als sie vor etwa drei Monaten damit fertig war, hat sie fast sofort einen Job bekommen, was sie größtenteils ihren guten Französischkenntnissen zu verdanken hatte. Die Stelle war bei einem Mann namens Frodsham, der in Richmond wohnt – wohnte.«

Johnny blieb reglos sitzen, aber Sally fiel auf, dass er plötzlich aufhorchte. Tim fuhr indessen fort: »Frodsham war gebürtiger Engländer – oder vielmehr, sein Vater war Engländer, – aber seine Mutter ist Französin. Ich glaube, sein Vater war Künstler und hat den Großteil seines Lebens in Paris verbracht. Jedenfalls wurde Frodsham selbst in Paris geboren und ist auch dort aufgewachsen. Während dieser ganzen Zeit ist er kein einziges Mal nach England gereist. Er kam erst vor vier Jahren hierher, als er so um die vierzig war. Deshalb war er« – hier biss Tim für einen kurzen Moment grimmig die Zähne zusammen – »in allem, was zählt, auch durch und durch Franzose. Wie auch immer, er ist jedenfalls zusammen mit seiner Mutter hierher nach England gezogen – warum, weiß ich nicht – und hat ein Haus im Londoner Stadtteil Richmond gekauft. Vielleicht gehört die Gegend aber auch noch zu Twickenham. Es ist jedenfalls am Middlesex-Ufer, direkt an der Themse. Anscheinend war Frodsham recht gut betucht, jedenfalls hatte er es offenbar nicht nötig, einen Beruf auszuüben. Aber um sich die Zeit zu vertreiben, hat er ein Buch geschrieben, und zwar über den Satanskult in Frankreich. Er hat das Buch auf Französisch geschrieben und suchte eine intelligente Sekretärin mit guten Französischkenntnissen, die es auf der Schreibmaschine für ihn ins Reine tippen und auch ein bisschen für ihn recherchieren könnte. Er konnte wohl alle notwendigen Referenzen vorlegen, denn Prue hat den Job durch die Vermittlung der hochgeachteten Agentur von Mrs Wisbech bekommen. Dieser Umstand reichte ihrer Familie als Empfehlung, und für Prue galt das natürlich auch. Sie hat bisher ein ziemlich behütetes Dasein geführt und ist sehr unerfahren.«

Sally vermied es, Johnny anzusehen. Gott gebe, dachte sie insgeheim, dass Tim nie einen Grund haben würde, diese so naiv ausgesprochene Meinung zu revidieren.

»Zuerst«, sagte er, »mochte Prue diesen Frodsham ganz gern. Es klingt so, als hätte er einen gewissen Charme besessen. Und sie glaubte, sein Interesse am Teufelskult sei rein wissenschaftlich – insbesondere, was dessen üblere Aspekte anging. Abgesehen von diesem Kult gab es offenbar auch ein paar Frauen, für die er sich interessierte. Das hat Prue mitbekommen, weil sie mehrere einschlägige Telefonate mitgehört hat. Für eine dieser Frauen interessierte er sich anscheinend besonders. Sie wohnte in Richmond und war verheiratet. Und außerdem« – hier biss Tim erneut grimmig die Zähne zusammen – »hat Frodsham auch versucht, Prue selbst zu umgarnen. Sie glaubte natürlich, sie würde schon mit ihm fertig. Und obwohl ihr die Situation nicht gerade zusagte, wollte sie doch auch nicht kündigen. Es war eine Frage der Selbstachtung. Sie wollte sich auf keinen Fall eingestehen müssen, schon bei ihrem ersten Jobversuch gescheitert zu sein. Und sie hatte auch Angst, dass ihre Familie ihr dann sagen würde, sie solle nach Hause zurückkehren. Sie ist noch nicht volljährig – noch nicht ganz zwanzig – und ihr Vater ist ein bisschen altmodisch. Und ihre Mutter scheint eine sehr dümmliche Person zu sein.

So standen die Dinge, als ich sie kennenlernte, und schon bald darauf hat sie mir von all diesen Entwicklungen erzählt. Ich meinte daraufhin, sie solle Frodsham sofort kündigen. Ich habe ihr gesagt, ich wolle sie heiraten. Dann würde bestimmt niemand mehr von Scheitern reden. Sie bräuchte nur zu erzählen, dass sie kündigt, weil sie vorhat zu heiraten. Aber ich fürchte, ich habe das Ganze ziemlich vermasselt. Ich war sehr wütend auf Frodsham, und ich habe im Vorfeld nicht genügend über die Sache nachgedacht. Ich fürchte, ich habe ihr gegenüber deshalb wohl etwas anmaßend geklungen.«

»Daran zweifle ich nicht im Geringsten«, sagte Sally. »Ein typisch Heldar’scher Fehler. Auch wenn er manchmal sein Gutes hat.«

Tim grinste. »Diesmal aber leider nicht«, sagte er. »Außerdem war mein Vorschlag nicht besonders taktvoll. Ich habe ihr einen Ausweg angeboten, obwohl sie gar keinen Ausweg wollte.«

Sally sah ihn nachdenklich an. Eine derartige Klarsicht war ein neuer Zug an ihm. War es möglich, dass ihn diese Erfahrung am Ende doch hatte reifen lassen?

»Wir hatten einen kleinen Streit«, fuhr er fort. »Aber danach war ich vorsichtiger. Frodsham wurde gleichzeitig jedoch immer schwieriger, und vergangenen Dienstag hat Prue dann gesagt, dass sie mich heiraten würde. Das Ganze ist recht heikel – ihre Familie ist so reich, und ich habe nichts außer meinem Gehalt –, aber es schien mir die einzige Lösung zu sein.«

Das war typisch für ihn, dachte Sally. Die Heldar’sche Leidenschaft für Ritterlichkeit war bei Tim noch unverfälscht vorhanden, ohne dass sie durch irgendwelche Hintergedanken eingeschränkt wurde, wie sie die Lebenserfahrung mit sich bringt.

»Sie meinte, sie würde Frodsham direkt am nächsten Tag kündigen«, fuhr er fort. »Wenn auch mit einer Frist von zwei Wochen. Sie bestand darauf, dass es nicht weniger sein dürfe. Und dann, am nächsten Abend, hat sie mir gesagt, sie habe ihre Meinung geändert. Sie schien zwar immer noch vorzuhaben, Frodsham zu kündigen, aber sie hat unsere Verlobung wieder rückgängig gemacht. Nicht endgültig, anscheinend, aber bis auf Weiteres. Sie hat mir viele Gründe genannt – wir seien beide noch sehr jung, sie wolle noch eine Weile unabhängig sein, bevor sie heiratet, und so weiter. Aber nichts davon war der wahre Grund. Ich bin mir ziemlich sicher, dass an jenem Tag irgendetwas passiert ist, das sie dazu gebracht hat, sich umzuentscheiden. Sie wirkte sehr besorgt und verstört und sah aus, als hätte sie einen Schock erlitten. Aber sie wollte mir nicht erzählen, was passiert war. Ich musste all meine Überredungskünste aufbringen, bis sie sich endlich bereit erklärt hat, mich am darauffolgenden Abend zu treffen. Doch am nächsten Tag hat sie mich dann gegen halb sechs im Laden angerufen und gesagt, sie habe eine Erkältung und könne nicht ausgehen. Sie klang nicht so, als sei sie erkältet, aber ich konnte nichts tun, und sie wollte keine Verabredung für einen anderen Abend treffen.

Das war am Donnerstag. Am Freitagabend – also gestern – habe ich auf dem Nachhauseweg eine Abendzeitung gekauft und daraus erfahren, dass Frodsham am Abend zuvor ermordet worden war.«

Johnny nickte. »Ich habe die Meldung auch gesehen«, sagte er. »Zu diesem Zeitpunkt hatte das für mich natürlich noch keinerlei Bedeutung.«

»Nein, sicher nicht. Nun, ich bin dann sofort zu Prues Wohnung in South Kensington gegangen – sie teilt sie sich mit einem anderen Mädchen – und da habe ich ihr die Geschichte dann entlockt, zumindest einen Teil davon. Frodsham war an jenem Abend allein zu Hause – seine Mutter und sein Kammerdiener waren beide ausgegangen. Als seine Mutter um kurz nach halb elf Uhr heimkehrte und in die Bibliothek ging, hat sie ihn tot in seinem Sessel aufgefunden. Jemand hatte ihm ins Herz geschossen. Jules – der Kammerdiener – ist wenige Minuten später nach Hause gekommen und hat sofort die Polizei angerufen. Als Prue dann wie gewöhnlich um zehn Uhr am nächsten Morgen dort eintraf, fand sie sich plötzlich in einem französischen Trauerhaus wieder, in dem es vor Polizeibeamten wimmelte.

Und jetzt kommen wir zu dem eigentlichen Problem. Prue hat sich geweigert, offen mit mir zu sprechen, aber ich konnte sehen, dass sie Angst hatte, und deshalb habe ich sie mit meinen Fragen ziemlich bedrängt. Schließlich hat sie zugegeben, dass sie am Abend zuvor zurück nach Richmond gegangen ist und dass sie vor Frodshams Haus von jemandem gesehen wurde. Sie behauptet, sie habe das Haus nicht betreten. Und sie sagt die Wahrheit.« Tim sah Johnny unverwandt an. »Ich bin mir da ganz sicher, auch wenn die Polizei ihr nicht glaubt. Aber sie will mir nicht sagen, warum sie zurückgegangen ist oder was sie dort gemacht hat. Wie kann ich ihr da helfen?« Er sah entsetzlich unglücklich aus und gleichzeitig auf herzergreifende Weise jung. »Ich hätte dir die ganze Geschichte auch heute früh erzählt, wenn du im Laden gewesen wärst, Johnny. Ich will, dass sie mit dir redet, und sie hat gemeint, sie würde das vielleicht auch tun. Aber sie wollte noch einmal darüber nachdenken und war deshalb dagegen, dass wir uns heute treffen. Sie hat gesagt, ich könne sie heute Abend anrufen.«

Es entstand ein langes Schweigen. Dann sagte Johnny langsam: »Ich kann nichts tun, wenn sie nicht mit mir redet, Tim. Und selbst wenn sie das tun sollte, ist es durchaus möglich, dass ich ihr nicht helfen kann. Sally und ich haben zwei Mordfälle aufgeklärt, wie du weißt, doch das hatten wir eher dem Glück zu verdanken als einer besonders geschickten Vorgehensweise. Aber falls sie sich bereit erklärt, mit mir zu reden, werde ich selbstverständlich tun, was ich kann. Übrigens, was ist denn eigentlich mit ihrer Familie? Sind die denn gar nicht an der Sache interessiert?«

»Die sind gerade irgendwo mitten im Pazifik«, antwortete Tim. »Sie machen eine Kreuzfahrt nach Neuseeland und Australien, über die Panamakanal-Route. Es wird noch ziemlich lange dauern, bis sie zurückkehren, es sei denn, diese Geschichte hier käme ihnen zu Ohren, und ich hoffe bei Gott, dass sie das nicht tut. Sie würden sehr viel mehr Schaden anrichten als Gutes bewirken.« Er zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: »Danke, Johnny.«

***

Tim ließ sich dazu überreden, noch zum Tee zu bleiben. Doch er wirkte die ganze Zeit rastlos. Als sie fertig waren, riss ihm plötzlich der Geduldsfaden, und er beschloss, in Prues Wohnung anzurufen. Am anderen Ende nahm jemand den Hörer ab, aber es war offenbar nicht Prue. Tim hörte der anderen Person eine oder zwei Minuten lang zu, runzelte heftig die Stirn und sagte dann: »Also gut, Clare. Ich komme jetzt wieder zurück – ich bin im Augenblick in Sussex. Ich werde um kurz nach sechs bei dir sein. Falls sie in der Zwischenzeit zurückkehrt, lass sie nicht aus dem Haus gehen, bevor ich dort bin.«

Er drehte sich zu Johnny und Sally um. »Das war Prues Mitbewohnerin«, erklärte er. »Prue hat die Wohnung gegen halb zwei verlassen und ist seitdem nicht zurückgekehrt. Und sie wollte Clare nicht sagen, wo sie hingeht.«

»Hat sie irgendwelches Gepäck mitgenommen?«, fragte Johnny.

»Nein. Also ist sie nicht vor lauter Panik weggelaufen. Das sähe ihr auch nicht ähnlich. Ich fahre jetzt zurück in die Stadt, und ich werde in ihrer Wohnung auf sie warten, bis sie zurückkommt. Würdest du mit mir kommen, Johnny?«

»Also gut«, sagte Johnny. »Ich komme mit, aber –« Er verstummte. Jemand klopfte an die Haustür.

»O mein Gott!«, sagte Tim mit einer Schärfe, die verriet, wie angespannt seine Nerven waren.

»Komm mit nach oben«, sagte Johnny ruhig. »Ich muss mich umziehen. Sally wird sich um den Besucher kümmern.«

In das obere Stockwerk gelangte man über eine schmale Treppe, die vom Wohnzimmer abging. Sally wartete, bis die beiden nach oben verschwunden waren und ging dann zur Eingangstür.

Sie hatte einen der hiesigen Nachbarn erwartet, die sie nach und nach besser kennenlernten. Doch als sie die Tür öffnete, stand eine vollkommen fremde junge Frau vor ihr – eine junge Frau mit einem schmalen blassen Gesicht, das von einem Schal eingerahmt wurde. Sie sagte ernst: »Bitte verzeihen Sie die Störung. Aber ist das hier das Cottage namens ›Thatchers‹?«

»Ja?«, fragte Sally zurück.

»Sie müssen Mrs Heldar sein. Ich bin Prudence Thorpe. Vielleicht hat Tim Ihnen von mir erzählt.«

Das Flurfenster über ihnen stand offen. Im nächsten Moment waren auf der Treppe polternde Schritte zu hören.

»Das hat er in der Tat«, sagte Sally. »Und hier kommt er auch schon.«

Tim kam wie ein Tornado aus dem Wohnzimmer geschossen. »Dir ist nichts passiert?«, fragte er fast brüsk.

»Nein, es geht mir gut«, sagte Prue. Sie wirkte immer noch recht still und zurückhaltend, doch sie ergriff Tims ausgestreckte Hände. »Ich dachte, naja, ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich doch ganz gern mit deinem Cousin reden würde, also bin ich mit dem Zug hergekommen und habe vom Bahnhof aus den Bus zum Dorf genommen.«

»Du hättest mir Bescheid geben sollen. Ich hätte dich gefahren.«

»Ich habe mich erst kurz vor dem Mittagessen dazu entschieden, und wusste nicht, wo du warst. Ich habe es im Laden versucht, aber da ist niemand ans Telefon gegangen. Du hattest mir erzählt, dass du eventuell hierherfahren würdest, also bin ich einfach hergekommen.«

»Jetzt bist du jedenfalls hier«, sagte Tim. Er sah sie an. Die Schroffheit, mit der er eben noch vor lauter Erleichterung gesprochen hatte, war aus seinem Blick und seiner Stimme verschwunden. Nun erinnerte er sich auch an seine exzellenten Heldar-Manieren und stellte Prue Sally offiziell vor, und Johnny, der im Türrahmen zum Wohnzimmer aufgetaucht war, ebenfalls.

Sally ging in die Küche, um eine frische Kanne Tee zu kochen, und dachte währenddessen verwundert über ihre Besucherin nach. Prue sah nicht im Geringsten wie jemand aus, der einen Mord begangen haben könnte. Aber Tims Geschichte hatte sehr viel merkwürdiger geklungen, als ihm das bewusst war, und es gab da einige Dinge in Prues Verhalten, die einer Erklärung bedurften. Sally trug das Tablett ins Wohnzimmer, schenkte den Tee ein und beobachtete das Mädchen dabei so unauffällig wie möglich.

Prue war weder hübsch noch schön, aber dennoch erstaunlich attraktiv. Ihr kleines Gesicht mit der leichten Stupsnase und dem breiten dreieckigen Mund, das von wilden dunklen Locken umrahmt wurde, erinnerte an ein Kätzchen. Falls sie bei ihrem Aufbruch Make-up getragen hatte, war davon jetzt nichts mehr zu sehen, aber das machte überhaupt nichts, denn ihre Haut war so klar und rein wie die eines Kindes. Wie sie da in ihrem scharlachroten Pullover und grauen Flanellrock saß, sah sie aus, als wäre sie höchstens fünfzehn Jahre alt.

Sobald sie sich ein wenig mit Tee gestärkt hatte, fragte Tim sanft: »Und? Machst du jetzt endlich reinen Tisch, Darling?«

»Ja«, antwortete Prue. »Genau zu diesem Zweck bin ich hergekommen.« Sie sah Johnny an. »Das Ganze ist ein entsetzliches Schlamassel, aber Tim hat gemeint, Sie seien gut im Aufklären von Mordfällen.«

»Nun, so gut nun auch wieder nicht«, sagte Johnny. »Aber wir werden unser Möglichstes tun.«

»Danke. Also, eigentlich hat alles am Dienstag angefangen. Frodsham hat mich gebeten, ihm beim Verfassen eines Briefs zu helfen – das tat er manchmal, weil er nicht so gut Englisch konnte. Der Brief war an eine Mrs Nantwich gerichtet, die in Hampstead wohnt. Frodsham hat darin behauptet, dass sie ihm Geld schuldet – fünfundsiebzig Pfund, genauer gesagt. Anscheinend hatte sie kurz nach dem Krieg in Paris gelebt, und als ihr das Geld ausgegangen war, hatte er ihr unter die Arme gegriffen. Doch jetzt weigerte sie sich, es ihm zurückzuzahlen. Er wollte, dass ich den Brief tippe und selbst unterschreibe, mit der Begründung, ein unterkühlt klingender Brief, der auch noch mit dem offiziellen Titel ›Sekretärin‹ unterzeichnet war, sei aussagekräftiger als ein Brief, der von ihm persönlich stammt. Ich fand, ein Brief von seinen Anwälten wäre am Ende doch sicherlich am aussagekräftigsten, aber das wollte ich nicht offen aussprechen. Wir haben den Brief gemeinsam formuliert, und er hat mich dann aufgefordert, ihn mit der Hand ins Reine zu schreiben, damit er ihn sich noch einmal durchlesen konnte. Danach habe ich ihn abgetippt und unterschrieben. Er meinte, er wolle den handschriftlichen Entwurf ebenso behalten wie den Schreibmaschinendurchschlag, für den Fall, dass sich später irgendwelche Fragen ergeben sollten. Ich hielt das für etwas übertrieben, aber es stand mir schließlich nicht zu, ihm zu widersprechen. Ich nehme an, ich bin ein entsetzlicher Dummkopf gewesen, und jedem anderen wäre sofort klar gewesen, dass es sich um Erpressung handelte, aber ich habe das nicht erkannt.«

Tim murmelte kaum hörbar etwas vor sich hin. Er war sehr weiß, was bei den Heldars meist ein Zeichen von Zorn war.

»An diesem Abend«, erzählte Prue weiter, »habe ich Tim versprochen, ihn zu heiraten und Frodsham zu kündigen. Ich habe dann auch tatsächlich am nächsten Tag meine Kündigung eingereicht, und Frodsham hat keine Einwände erhoben. Aber dann hat er mir die Sache mit dem Brief auseinandergesetzt. Er hat gesagt, ich sei in die Erpressung verwickelt, und er könne, wenn er wolle, der Polizei gegenüber behaupten, ich sei diejenige gewesen, die Mrs Nantwich erpresst hatte, und er habe überhaupt nichts damit zu tun. So wie er es dargestellt hat, klang es entsetzlich überzeugend, aber ich habe es trotzdem nicht ganz glauben wollen. Hätte er so etwas tun können?«

»Unter den gegebenen Umständen nicht«, antwortete Johnny. »Er hätte Sie nicht beschuldigen können, ohne sich selbst zu belasten, und hätte Sie deshalb wahrscheinlich ganz aus der Sache herausgelassen. Aber fahren Sie doch bitte fort.«

»Naja, das war nicht das einzige Problem. Sie wissen über das Buch Bescheid, das er über den Teufelskult schrieb? Nach der Sache mit der Erpressung hat er mich an ein paar der übleren Facetten dieses Kults erinnert – die schwarzen Messen und sowas – und dann hat er gesagt, wenn er sich dazu entschließen sollte, Gerüchte in die Welt zu setzen, dass ich mich an solchen Sachen beteiligt hätte, während ich für ihn arbeitete, würde es mir sehr schwerfallen, meinen Namen reinzuwaschen, und das würde auch meine Familie mit in den Schmutz ziehen. Es war mir natürlich klar, dass er so etwas nicht tun konnte, ohne seinen eigenen Ruf zu ruinieren, aber es gibt ja Leute, denen es nichts ausmacht, für Teufelsanbeter gehalten zu werden – wie zum Beispiel dieser Aleister Crowley. Aber ich begriff nicht, worauf er mit alledem hinauswollte. Und dann hat er gesagt, dass ich womöglich ein oder zwei seltsame Dinge mitbekommen hätte, während ich in seinem Haus arbeitete – ich könnte vielleicht denken, es handele sich um einen recht seltsam geführten Haushalt – aber solange ich über all diese Dinge den Mund hielt, würde er selbst auch nichts unternehmen, das mir schaden könnte. Ich habe gesagt, ich hätte nicht die geringste Ahnung, was er damit meinte, und da sagte er etwas über ungewöhnliche Beziehungen. Ich begriff noch immer nicht, und da meinte er, wenn ich tatsächlich keine Ahnung hätte, wäre ja alles gut, aber ich solle sehr vorsichtig sein. Ich könne in zwei Wochen gehen – er wirkte irgendwie erleichtert über diesen Umstand – und da mein Arbeitsverhältnis ein recht abruptes Ende gefunden habe, würde er mir einen Scheck über fünfzig Pfund ausstellen. Meine Reaktion darauf war recht kühl – der Vorschlag klang in meinen Ohren ein wenig zu sehr nach Schweigegeld.«

»Und Sie haben auch jetzt noch keine Ahnung, was das war, von dem er wollte, dass Sie es nicht ausplaudern?«, fragte Johnny.

»Nun ja, mittlerweile schon. Nach dem Gespräch ist mir dann klar geworden, dass er wahrscheinlich seine Geliebte meinte. Er hatte so eine Art Affäre mit einer Frau namens Addleston, die in Richmond wohnt.«

»Hatten Sie irgendwelche handfesten Beweise für diese Affäre, mit denen Sie möglicherweise als Zeugin in einer Scheidungsklage hätten auftreten müssen? Wussten Sie definitiv, dass diese Frau Frodshams Geliebte war?«

»Ich habe es mehr vermutet, als dass ich es wusste«, antwortete Prue. »Aber ich glaube schon, dass sie es war. Genau weiß ich es jedoch nicht. Ich habe sie nie zu Gesicht bekommen. Sie hat etwa zehn Tage vor dem Mord angerufen, als Frodsham gerade nicht da war, und mich gebeten, ihm etwas auszurichten. Ich fand es irgendwie unangenehm, wie sie redete. Etwa drei Tage vor diesem Anruf war ihr Mann in Frodshams Haus gekommen und hatte eine Szene gemacht. Er ist einfach in die Bibliothek eingedrungen – nachdem er es irgendwie geschafft hatte, an Jules vorbeizukommen – und hat angefangen, über seine Frau zu reden. Frodsham hat mich in den kleinen Salon geschickt, wo auch meine Schreibmaschine steht. Aber der ist direkt neben der Bibliothek, und deshalb konnte ich es nicht verhindern, alles mitanzuhören. Addleston war ganz offenbar felsenfest davon überzeugt, dass seine Frau Frodshams Geliebte war.« Prue sah bedrückt aus. Die Szene war offenbar sehr unerquicklich gewesen.

»Aber Sie wissen es nicht mit Bestimmtheit«, meinte Johnny. »Und scheinen auch keinerlei Beweise dafür zu haben. Und der Ehemann weiß anscheinend auch nicht sehr viel mehr als Sie. Ich möchte bezweifeln, dass Frodsham sich wegen dieser Geschichte solche Mühe gegeben hätte, Sie zum Schweigen zu bringen, auch wenn man das nicht ausschließen kann. Keine anderen Ideen, was der Grund gewesen sein könnte? Also gut, dann fahren Sie fort.«

»Also, ich wollte nicht, dass Tim sich an mich bindet, solange die Gefahr besteht, dass ich in solche Sachen wie Teufelskult oder Erpressung verwickelt werde, deshalb habe ich unsere Beziehung beendet – jedenfalls insoweit er das zuließ. Ich brauchte auch ein wenig Zeit, um über alles nachzudenken. Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte. Ich konnte wegen dieser Erpressungsgeschichte schließlich nicht zur Polizei gehen – jedenfalls nicht einfach so. Es war ja möglich, dass Mrs Nantwich sich ein Verbrechen hatte zuschulden kommen lassen. Und da ich dabei geholfen hatte, sie zu erpressen, wollte ich die Sache für sie nicht noch schlimmer machen. Ich wäre gern zu ihr gegangen, um sie zu fragen, ob sie nicht selbst zur Polizei gehen wollte, aber ich hatte Angst, ihr Ehemann könne zugegen sein. Es war ja schließlich sehr gut möglich, dass es bei der Erpressung um eine Untreue ihrerseits ging – vielleicht ja mit Frodsham. Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht. Als ich dann am Donnerstagnachmittag gerade das Haus verlassen wollte, hörte ich zufällig, wie Frodsham mit ihr telefoniert hat. Die Tür zur Bibliothek stand einen Spaltbreit offen.

Frodsham führte das Gespräch auf Französisch. Er sagte: ›Der Brief meiner Sekretärin hat dir also nicht gefallen? Das tut mir aber schrecklich leid, ma chère.‹

Ich habe drinnen vor der Haustür gewartet, und nach einem kurzen Moment fuhr er fort: ›Ich denke, du kommst heute Abend wohl besser mal her. Außer mir wird niemand zu Hause sein.‹

Doch dann hörte ich plötzlich ein leises Knarzen am anderen Ende der Eingangshalle. Es war dort recht dunkel, aber ich konnte gerade noch die Gestalt von Jules, dem Kammerdiener, erkennen, der zum Fuß der Treppe hinüberging und offenbar auf dem Weg zum Wohnzimmer der alten Madame war. Dabei bewegte er sich nahezu lautlos, wie das so seine Art war. Ich wollte mich auf keinen Fall beim Lauschen erwischen lassen, also bin ich rasch aus dem Haus geschlüpft. Unterwegs habe ich dann über mein weiteres Vorgehen nachgedacht, und als ich zu Hause ankam, hatte ich eine Entscheidung getroffen.

Ich hatte Frodsham keine Uhrzeit nennen hören, aber ich wusste, dass er normalerweise um acht zu Abend aß. Weil ich jedoch mitbekommen hatte, dass Madame ausgehen würde, wollte ich kein Risiko eingehen und hielt es daher für klüger, um Viertel nach acht am Haus zu sein, wenn es einigermaßen dunkel war.«

So wie Prue es beschrieb, war The Poplars – wie Frodshams Haus hieß – nicht gerade leicht zu erreichen. Es stand nicht direkt an einer Straße, sondern am Ende eines langen, Willow Street genannten Pfads, der zu schmal war, als dass irgendeine Art von Automobil dort hätte entlangfahren können. Auf einer Seite des Pfads befanden sich Häuser mit Gärten und auf der anderen Seite weitere kleine, schmale Gärten, die zum Flussufer abfielen und zu den Hausbooten gehörten, die dort vertäut lagen. Das eine Ende des Pfads, an dem The Poplars stand, konnte man auch vom Treidelpfad oder den kleinen Seitenstraßen von Twickenham erreichen, das andere Ende befand sich nicht weit von der Richmond Bridge. Das war auch die Seite, von der aus Prue sich an jenem Abend dem Haus genähert hatte.

»Auf halber Strecke macht der Pfad eine scharfe Biegung nach links, und ich war schon ganz in der Nähe dieser Stelle, als ich Schritte hörte, die mir entgegenkamen. Ich war nicht besonders erpicht darauf, dort gesehen zu werden, also bin ich rasch an der Abzweigung vorbei und ein Stück den anderen Weg hochgelaufen, bis ich die Schritte vorbeigehen hörte. Daraufhin bin ich sofort wieder zurückgegangen und habe das Ende des Pfads ohne weitere Zwischenfälle erreicht. Dort habe ich mich dann in den schmalen Toreingang eines Hausboot-Gartens gestellt, genau dem Tor gegenüber, das auf das Grundstück von The Poplars führt. Ich war früh dran, denn ein paar Minuten nach meiner Ankunft hörte ich die Turmuhr einer fernen Kirche Viertel nach acht schlagen.

Während ich dort wartete, ist mir die Zeit nur sehr langsam vergangen. Die Turmuhr hatte gerade Viertel vor neun geschlagen, als ein Mann aus der Richtung der Richmond Bridge kam. Er ist unter einer Straßenlaterne entlanggegangen – der einzigen, die es an diesem Ende des Pfads gibt – und ich habe ihn wiedererkannt. Es war der Mann, der zwei Wochen vorher diese Szene in der Bibliothek gemacht hatte.

Er hat das Tor zum Grundstück von The Poplars aufgeschoben und ist über den Pfad zur Haustür geschwankt. Ich habe nicht viel Erfahrung mit betrunkenen Männern, aber ich war mir ziemlich sicher, dass Addleston in diesem Moment sternhagelvoll war.«

Durch die Stäbe des schmiedeeisernen Tors hatte Prue dann beobachtet, wie Frodsham die Eingangstür öffnete. Seine Gestalt zeichnete sich vor dem in der Eingangshalle brennenden Licht ab. Addleston drängte sich an ihm vorbei ins Haus und blieb ungefähr zehn Minuten darin. Während dieser Zeit fuhren zwei Züge vorbei – auf der Southern-Region-Strecke, die am Garten von The Poplars entlang und über das Ende des Pfads hinwegführte. Es waren zwar elektrisch betriebene Züge gewesen, aber Prue war am nächsten Tag zu der Überzeugung gelangt, dass das von ihnen verursachte Geräusch – in Kombination mit den stark belaubten Bäumen, die das Haus umgaben – durchaus dazu hätte führen können, dass sie einen im Innern abgegebenen Schuss überhört hätte.

Zu dem Zeitpunkt, als Addleston das Haus wieder verließ, hatte Prue sich gerade ein wenig vom Tor entfernt, weshalb sie nicht sehen konnte, ob Frodsham ihn zur Tür begleitet hatte oder nicht. Addleston ging sehr langsam und schwankte mehr denn je. Sie drückte sich rückwärts in die Hecke, als er vorbeiging. Im Licht der dort stehenden Straßenlaterne konnte sie sehen, dass sein Gesicht schweißüberströmt und kalkweiß war.

Er war eben erst verschwunden, als sie auf dem schmalen Weg, der zwischen der Gartenmauer von The Poplars und dem Bahndamm entlangführte, die Schritte einer Frau hörte. Etwas weiter unten auf diesem Weg gab es eine Tür in der Mauer, die als Hintereingang zum Garten von The Poplars diente, und Prue war plötzlich der Gedanke gekommen, dass Mrs Nantwich – falls es tatsächlich Mrs Nantwich war – diesen Weg nehmen könnte. Als Prue aus ihrer Deckung hervortrat, um die Frau abzufangen, war diese gerade vor der Tür in der Mauer stehengeblieben. Es war dort sehr dunkel, und Prue konnte nur eine schwarze Gestalt erkennen, aber sie ließ sich keine Zeit zum Überlegen und fragte rasch: »Mrs Nantwich?«

Sie gewann den Eindruck, dass die Frau sich versteifte und ein wenig durch die halb geöffnete Tür zurückzog.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?« Die Stimme klang rau und recht tief.

»Ich möchte mit Ihnen reden«, antwortete Prue verzweifelt. Das Ganze war sehr viel schwieriger, als sie sich das im Vorfeld vorgestellt hatte, aber sie redete trotzdem weiter. »Ich weiß, dass Frodsham Sie erpresst, und ich möchte, dass Sie mit mir zusammen zur Polizei gehen, falls Ihnen das irgend möglich ist –«

»Sie sind Frodshams Sekretärin, nicht wahr? In diesem Fall gehe ich kaum davon aus, dass Sie es tatsächlich auf sich nehmen würden, zur Polizei zu gehen, denn das würde zu einer äußerst unangenehmen Erfahrung für Sie werden. Weiter habe ich Ihnen nichts zu sagen.«

Prue hatte versucht, noch mehr Fragen zu stellen, aber in diesem Moment war erneut ein Zug an ihnen vorbeigefahren, der ihre Stimme mit seinem Rattern übertönt hatte. Und als der Zug fort war, musste sie feststellen, dass die Gartentür geschlossen und die Frau verschwunden war.

Sie beschloss zu warten und noch einmal mit Mrs Nantwich zu sprechen, sobald diese das Grundstück verließ, auch wenn sie das Gefühl hatte, dass das eigentlich ein hoffnungsloses Unterfangen war. Um sich die Zeit zu vertreiben, spazierte sie langsam wieder zurück zur Willow Street, doch gerade als sie sich der Straßenlaterne näherte, hörte sie hinter sich einen Mann den Weg entlangkommen. Es schien ihr klüger, rasch weiterzugehen. Wieder kam ein Zug vorbei, aber als der Lärm verklungen war, hörte sie hinter sich immer noch die Schritte des Mannes. Die Vorstellung, dass ihr jemand auf diesem schmalen, dunklen Pfad folgte, gefiel ihr überhaupt nicht, also nahm sie die Abzweigung, hinter der sie schon einmal Zuflucht gefunden hatte. Dabei handelte es sich um eine von Neubauten gesäumte Straße. Sie erweiterte sich an diesem Ende zu einem kleinen Platz, in dessen Mitte ein Dickicht aus Flieder und Goldregen wuchs. Mittlerweile hatte Prue