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Mord an der Ostsee TÖDLICHE BRISE: Nina Wagner bereut schon bald, die Großstadt Hamburg gegen das Touristenparadies Travemünde getauscht zu haben, als sie hier in einen Mordfall verwickelt wird: Eine alte Dame, der Nina im Haushalt ausgeholfen hat, ist vom Balkon eines Luxusapartments in die Tiefe gestürzt. Für die Polizei steht fest: Nina ist die Täterin. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als selbst zu ermitteln … TÖDLICHE WELLEN: Statt sich vom Partytreiben in Travemünde mitreißen zu lassen, beschattet Privatermittlerin Nina Wagner einen berühmten Sänger – seine Frau glaubt, dass er eine Affäre hat. Als Ricci Bell während eines Auftritts eine junge Frau auf die Bühne holt, scheint sich der Verdacht zu bestätigen … Doch dann fällt ein Schuss und das Mädchen fällt tot zu Boden. Ist Ninas Auftraggeberin eine von Eifersucht zerfressene Mörderin? TÖDLICHE KÜSTE: Nina Wagner ist geschockt, als der Freund ihrer Nachbarin beim Bernsteinsammeln tödlich verunglückt. Der Kunstexperte Pierre stand kurz davor, einen bekannten Maler als Betrüger zu überführen. Musste er deswegen sterben? Um die Wahrheit herauszufinden, checken die beiden Frauen auf der MS Azzuro ein, wo der Künstler seine neuen Werke präsentieren will. Doch auf hoher See gibt es für niemanden ein Entkommen … Ein norddeutscher Spannungs-Sammelband für alle Fans von Katharina Peters und Eva Almstädt.
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Seitenzahl: 687
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Über dieses Buch:
TÖDLICHE BRISE: Nina Wagner bereut schon bald, die Großstadt Hamburg gegen das Touristenparadies Travemünde getauscht zu haben, als sie hier in einen Mordfall verwickelt wird: Eine alte Dame, der Nina im Haushalt ausgeholfen hat, ist vom Balkon eines Luxusapartments in die Tiefe gestürzt. Für die Polizei steht fest: Nina ist die Täterin. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als selbst zu ermitteln …
TÖDLICHE WELLEN: Statt sich vom Partytreiben in Travemünde mitreißen zu lassen, beschattet Privatermittlerin Nina Wagner einen berühmten Sänger – seine Frau glaubt, dass er eine Affäre hat. Als Ricci Bell während eines Auftritts eine junge Frau auf die Bühne holt, scheint sich der Verdacht zu bestätigen … Doch dann fällt ein Schuss und das Mädchen fällt tot zu Boden. Ist Ninas Auftraggeberin eine von Eifersucht zerfressene Mörderin?
TÖDLICHE KÜSTE: Nina Wagner ist geschockt, als der Freund ihrer Nachbarin beim Bernsteinsammeln tödlich verunglückt. Der Kunstexperte Pierre stand kurz davor, einen bekannten Maler als Betrüger zu überführen. Musste er deswegen sterben? Um die Wahrheit herauszufinden, checken die beiden Frauen auf der MS Azzuro ein, wo der Künstler seine neuen Werke präsentieren will. Doch auf hoher See gibt es für niemanden ein Entkommen …
Über die Autorin:
Anke Gebert studierte u.a. am Deutschen Institut für Literatur in Leipzig. Sie arbeitete in verschiedenen Berufen, bevor sie in Hamburg an der Master School Film ein Drehbuch-Studium absolvierte.
Sie ist freie Autorin von Romanen, erzählenden Sachbüchern und Drehbüchern und gibt Seminare für fiktives und autobiografisches Schreiben. Für ihre Arbeiten erhielt sie diverse Preise.
Die Autorin im Internet: www.ankegebert.de
Bei dotbooks veröffentlicht Anke Gebert ihre Reihe um die Übersetzerin Nina Wagner mit den Bänden »Mord in Travemünde: Tödliche Brise«, »Mord in Travemünde: Tödliche Wellen« und »Mord in Travemünde: Tödliche Küste« sowie ihren Roman »Eine Liebe im Adlon«.
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Sammelband-Originalausgabe Juni 2025
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Die deutsche Erstausgabe von »Mord in Travemünde: Tödliche Brise« erschien 2012 unter dem Titel »Sturz in den Tod« im Emons Verlag; Copyright © 2012 Hermann-Josef Emons Verlag; Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München.
Die deutsche Erstausgabe von »Mord in Travemünde: Tödliche Wellen« erschien 2014 unter dem Titel »Travemünde: Tod« im Emons Verlag; Copyright © der Originalausgabe 2014 Emons Verlag GmbH; Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München.
Die deutsche Erstausgabe von »Mord in Travemünde: Tödliche Küste« erschien 2015 unter dem Titel »Über Kreuz« im Emons Verlag; Copyright © 2015 Emons Verlag GmbH; Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Johannes Frick, Neusäß, unter Verwendung von Motiven von iStock (undefined undefined und NejroN)
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)
ISBN 978-3-98952-713-3
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Anke Gebert
Mord in Travemünde
Drei Krimis in einem eBook:»Tödliche Brise«, »Tödliche Wellen« & »Tödliche Küste«
dotbooks.
Mord in Travemünde: Tödliche Brise
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Danksagung
Mord in Travemünde: Tödliche Wellen
Teil 1 Freitag
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Teil 2 Samstag
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Teil 3 Sonntag
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Teil 4 Montag
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Teil 5 Dienstag
Kapitel 1
Kapitel 2
Teil 6 Mittwoch
Kapitel 1
Kapitel 2
Teil 7 Donnerstag
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Teil 8 Freitag
Teil 9 Sonntag
Songtext
Ricci – Ein Sommergetränk
Danksagung
Anmerkungen
Mord in Travemünde: Tödliche Küste
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Song of Azure
Cocktail »Azzuro«
Danksagung
Lesetipps
Auch ein Urlaubsort hat seine Abgründe ... Die junge Übersetzerin Nina Wagner wünscht sich dringend etwas Abwechslung im Leben – und bereut schon bald, die Großstadt Hamburg gegen das Touristenparadies Travemünde ausgetauscht zu haben, weil sie hier in einen Mordfall verwickelt wird: Eine alte Dame, der Nina im Haushalt ausgeholfen hat, ist aus dem dreißigsten Stock eines Luxusapartmenthauses in die Tiefe gestürzt. Gleichzeitig scheinen große Mengen Bargeld aus der Wohnung verschwunden zu sein. Obwohl es noch weitere Verdächtige gibt, steht für die Polizei fest: Nina ist die Täterin. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als selbst zu ermitteln – doch der Mörder ist ihr näher, als sie ahnt …
Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass,
sondern Gleichgültigkeit.
Elie Wiesel
Es hat lange funktioniert, dachte sie, ich habe erstaunlich lange funktioniert.
Sie sah auf den Infusionsständer neben sich, drehte den Kopf mühsam zum Monitor am Kopfende ihres Bettes.
»Schlaganfall«, sagte der Arzt, »keine Sorge, nur ein leichter. Sie werden sprachlich nicht eingeschränkt bleiben. Und das mit dem linken Arm, das kriegen Sie auch bald wieder hin.«
Sie nickte.
»Ich verstehe das nicht so richtig«, sagte der Arzt, »Ihre Befunde sehen nicht nach einem solchen Zusammenbruch aus. Körperlich sind Sie ein recht gesunder Mensch. Ist denn irgendetwas anderes?«
»Nein!«, wollte sie erwidern, doch sie konnte nicht sprechen. Sie versuchte den Kopf zu schütteln. Der Arzt legte seine Hand kurz zur Beruhigung auf die Bettdecke. »So ein Schlaganfall kann auch mal durch Stress ausgelöst werden, psychischen. Also, wenn da etwas sein sollte, müssen Sie es angehen. Damit wir uns hier nicht wiedersehen und Sie vielleicht nicht so gut wie dieses Mal davonkommen. Okay?«
Sie versuchte zu nicken. Dabei kamen ihr die Tränen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal geweint hatte. Hatte sie überhaupt schon mal geweint? Sie wollte sich die Tränen wegwischen. Doch ihr linker Arm war wie gelähmt und der rechte hing an dieser verdammten Infusion.
Der Arzt sagte im Hinausgehen: »Im Schwesternzimmer können Sie sich die Kontaktdaten einer Therapeutin geben lassen, bevor Sie uns verlassen. Ist eine, die ich empfehlen kann. Und ich rate Ihnen, mit dem Rauchen aufzuhören.«
Sie wandte das Gesicht zum Fenster. Ganz bestimmt werde ich das nicht tun, dachte sie, das mit der Therapeutin nicht und das mit dem Rauchen auch nicht! Dieser Arzt roch doch selbst nach Qualm!
Sie war allein in dem Zimmer, allein mit der alten Frau dort im anderen Bett, die nicht zählte, weil sie nur noch so dalag und sich nicht rührte. Allein war sie, wie damals. Fixiert an dieses Bett, wie damals. Als wäre es ihre Schuld, dass sie jetzt hier sein musste.
Immer war es ihre Schuld.
Als sie vier oder fünf Jahre alt war; hatte sie angefangen das zu glauben. Hatte es geglaubt, bis sie erwachsen war. Und jetzt fing sie wieder damit an. Das musste aufhören! Sie war Mitte vierzig! Sie wollte nicht, dass das von vorn losging. Es hatte doch gut funktioniert. All die Jahre, bis heute. Sie hatte gut funktioniert. Sie musste etwas tun, dass es wieder so sein würde.
Endgültig.
Graue Wolken zogen über Travemünde. Jedes Mal, wenn ein Stück blauer Himmel sichtbar wurde, erschien für einen Augenblick die Sonne und ließ das Meer glitzern. Nina stand am Fenster und sah durch das Fernglas. Die »MS Azzuro« lief aus dem Hafen über die Trave, mit dreimaligem Hupen und einer scheppernden Begleitmelodie. Aus dem neunundzwanzigsten Stockwerk wirkte das Lotsenboot, welches das Kreuzfahrtschiff hinausbegleitete, unwirklich klein, wie auch die vielen Segelboote, die im Jachthafen lagen, und die wenigen, mit denen sich die Besitzer bei diesem Wetter hinaus auf die Ostsee gewagt hatten.
Es war Ende Juni, und es war kalt in Travemünde. Von den vielen Strandkörben, die seit Pfingsten bereitstanden, waren nur wenige belegt. Am Priwall trauten sich zwei oder drei Leute ins Wasser. Ein paar Hunde tobten dort den Strand entlang. Gerade legte die Priwall-Fähre an, nur vereinzelte Spaziergänger stiegen aus.
Nina liebte den Blick aus diesem unbewohnten Apartment im neunundzwanzigsten Stockwerk des Maritim. Immer bevor sie sich hier Staubsauger, Wischeimer und Putzmittel herausholte, nahm sie das alte Fernglas, das auf einem Bord stand, und blickte über die Trave.
Vier Wohnungen musste sie an diesem Tag putzen. Frau Bergmanns zuerst. Nach dem Tee mit der älteren Dame hatte diese Nina einen Schlüssel für das »Kinderzimmer« gegeben, wie Frau Bergmann dieses kleine Apartment immer noch nannte. Das Apartment war längst eine Abstellkammer geworden. Kinder hatten hier schon lange nicht mehr gewohnt. Nicht mal Ninas Mutter konnte sich erinnern, dass Frau Bergmann in den letzten Jahren Besuch gehabt hätte, und Ninas Mutter putzte seit etwa dreißig Jahren im Maritim. Nina erst seit acht Wochen. Seit ihre Mutter es mit der Bandscheibe hatte, war sie eingesprungen, damit der kleine Nebenjob in der Familie blieb. Bis Ninas Mutter wieder arbeiten konnte, vielleicht wieder beim Stadtbäcker und hier nebenbei. Und bis Nina dann nach Hamburg zurückkehren konnte.
Ihr Handy klingelte. Auf dem Display sah sie die Nummer von Jan und drückte den Anruf weg.
Die »Finnlines« fuhr hinaus, mit nur vier Lastkraftwagen beladen. Auf der »Passat«, dem historischen Segelschiff, standen ein paar Besucher an der Reling. Nina ließ das Fernglas sinken. In zwei Stunden musste sie Frau Bergmanns Wohnung im dreißigsten Stock geputzt haben. Neunzig Quadratmeter, eine Eckwohnung im Maritim, mit überwältigendem Panoramablick vom sogenannten Rundumbalkon aus über die Ostsee, die Lübecker Bucht, den Badestrand und die Hafeneinfahrt.
Nina fuhr im Fahrstuhl mit Staubsauger und Eimer eine Etage nach oben. Wie von den anderen vier Maritim-Bewohnern, für die sie zurzeit putzte, hatte sie auch die Wohnungsschlüssel von Frau Bergmann, sie hingen seit Jahren im Haus ihrer Mutter am Schlüsselbord.
Frau Bergmanns Wohnung war bis auf Küche und Badezimmer komplett mit Teppichboden ausgelegt, auf dem ein paar kostbar wirkende Brücken lagen. Fast alles war recht alt in dieser Wohnung, die Frau Bergmann und ihr Mann vor achtunddreißig Jahren gekauft hatten. Noch bevor das Maritim überhaupt fertiggestellt worden war, waren die meisten Wohnungen verkauft gewesen. Niemand hatte damals vermutet, dass es so kommen würde. Nicht die Travemünder, die erbittert gegen dieses Hochhaus mit fünfunddreißig Stockwerken kämpften, weil sie es als architektonischen Schandfleck empfanden – und auch nicht diejenigen, die damals ihre Häuser aufgeben sollten, damit das Maritim auf ihren Grundstücken gebaut werden konnte. Selbst die Bauherren glaubten damals nicht daran, dass man ihnen die teuren Wohnungen im Hochhaus förmlich aus den Händen reißen würde, doch so war es dann gekommen. Bald wurden, obwohl sie nur sechzehn oder neunzehn Quadratmeter groß waren, sogar die Kammern verkauft, die auf jeder Etage als Wirtschaftsräume angelegt waren. Die Käufer bauten kleine Pantry-Küchen ein, stellten ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl hinein, Hauptsache, man hatte eine Bleibe in Travemünde – im Maritim. Auch Frau Bergmann hatte einen solchen winzigen Raum dazugekauft, das Kinderzimmer. Inzwischen waren ihr Sohn und auch dessen Tochter längst erwachsen, und das kleine Apartment war zum Abstellraum geworden. Frau Bergmann hatte Ninas Mutter schon Vorjahren erlaubt, ihre Putzsachen dort unterzustellen.
Nina schloss die Wohnung von Frau Bergmann auf. Die alte Dame war wie immer ins dreißig Stockwerke tiefer gelegene Schwimmbad gefahren, das sie als Wohnungseigentümerin genauso nutzen durfte wie die Gäste des in den unteren Stockwerken untergebrachten Hotels.
Seit einigen Jahren lebte Frau Bergmann ständig hier und fuhr jeden Morgen hinunter, um nach dem Schwimmen noch drei Saunagänge zu absolvieren und sich auf dem Rückweg an der Rezeption der Residenz ein Mohnbrötchen abzuholen.
Wie auch ihre Mutter mochte Nina Frau Bergmann am liebsten von denen, für die sie hier putzte. Das wöchentliche Ritual, vor dem Putzen gemeinsam Tee zu trinken, war nie langweilig und außerdem als Arbeitszeit bezahlt. Manchmal steckte Frau Bergmann ihr etwas mehr Geld als vereinbart zu oder schenkte ihr Marzipan von Niederegger, niemals mit abgelaufenem Verfallsdatum, wie andere ältere Leute es gern taten, sondern immer gerade erst in dem schönen und teuren Niederegger-Geschäft in der Travemünder Vorderreihe gekauft.
Dies alles entschädigte Ninas Mutter und nun auch Nina für das recht schwierige Reinigen der Wohnung. Jede Menge Dinge standen auf Beistelltischchen und Borden. Alles musste Nina beim Staubwischen anheben. Und Staub gab es Woche für Woche reichlich. Er saß in den vielen dicken Teppichen, den Kissen und Decken, die hier schon seit Jahren lagen. Nina spülte zuerst die Teegedecke ab und räumte sie zurück zu dem übrigen Geschirr von Wedgwood. Fast alle Silberbestecke im Schrank waren schwarz angelaufen. Vielleicht, überlegte Nina, sollte sie Frau Bergmann vorschlagen, das Silber für sie zu reinigen. Doch so selten, wie Frau Bergmann es benutzte, wäre es wohl bald wieder angelaufen.
Nina hob ein in Silber gerahmtes Foto von Frau Bergmanns Sohn als kleinem Jungen hoch, dann eines von der Enkeltochter und eines vom verstorbenen Ehemann und wischte darunter Staub. Auch unter den Blumentöpfen, den Kerzenleuchtern, den kunstvollen Vasen und Schalen. Dann saugte sie und wendete sich schließlich dem Balkon zu.
Nina wischte die Balkonmöbel ab, die Frau Bergmann in diesem Jahr wohl kaum benutzt hatte. Zurück in der Wohnung, erschrak sie, als sie das kurze, zweifache Läuten des Fahrstuhls auf der Etage hörte. Ein Blick auf die Uhr mahnte zur Eile, Nina wollte wie vereinbart fertig sein, bevor die alte Dame aus dem Schwimmbad zurückkehrte. In einem der beiden Schlafzimmer lag ein kleiner Stapel Bügelwäsche. Die fertig gebügelte Wäsche sortierte Nina in den Schrank, in dem zwischen den Handtuchstapeln Myrurgia-Maja-Seifen lagen. Sie hängte eine Bluse in den Schrank und war wieder einmal verdutzt darüber, dass die Kleidungsstücke, die Frau Bergmann trug, im Gegensatz zu ihrer Einrichtung sehr modern und sehr elegant waren, manche sogar sexy. Einige sahen aus, als habe Frau Bergmann sie in der edlen Boutique Osterburg am Strandbahnhof gekauft. Nina betrachtete ein Teil nach dem anderen. So manches hätte ihr selbst gefallen, ein paar abgelegte Sachen hatte auch ihre Mutter schon bekommen. Nina fragte sich, wann Frau Bergmann das alles trug. Sie kannte die alte Dame nur im Bademantel, nur kurz vor ihrem Gang ins hauseigene Schwimmbad.
Mehrere Taschenmodelle von Comtesse standen am Boden des Schrankes, sehr teuer, sehr elegant, absolut passend für eine Dame wie Frau Bergmann. Einige hatten einen stilisierten massiven goldenen Engel als Verschluss. Nina hockte sich vor den Schrank und griff nach der größten Tasche, um den schönen Verschluss auszuprobieren.
Die Tasche klappte auf.
Sie war voller Geldscheine.
Als Nina endlich den Blick davon abwenden konnte, verschloss sie eilig die Tasche und stellte sie in den Schrank zurück. Sie hastete ins Wohnzimmer, in die Küche und rief nach Frau Bergmann. Die alte Dame war glücklicherweise noch nicht zurück. Nina öffnete die Wohnungstür. Niemand auf dem Flur, auch keiner der Fahrstühle war nach oben in Bewegung. Sie eilte zurück ins Schlafzimmer, holte die Tasche hervor, ließ sie aufschnappen und fasste hinein. Bis auf den Boden voller Geld. Fünfziger, Hunderter, Zweihunderter. Was wollte Frau Bergmann mit so viel Geld? Hatte sie es von der Bank geholt? Wegen der Bankenkrise vielleicht? Alle Scheine lagen durcheinander, lose, nicht gebündelt. Nina fuhr wieder und wieder mit der Hand zwischen die Scheine. Vielleicht waren es Millionen, sie hatte keine Ahnung, wie viel Euro in eine solche Tasche passten. Sie verschloss sie wieder und putzte weiter wie in Trance: das Badezimmer mit dem Chanel-Parfüm auf dem Bord und der Myrurgia-Seife am Waschbecken.
Nachdem Nina all ihre Putzmittel auf dem dicken Teppich im Flur deponiert hatte, sah sie sich noch einmal in der Wohnung um, prüfte, ob alles in Ordnung war, doch sie konnte sich kaum konzentrieren. Sie ging zurück ins Schlafzimmer. Öffnete den Schrank. Bückte sich und öffnete noch einmal die Tasche. Nina griff mit geschlossenen Augen hinein. Sie rieb mit den Fingern die Scheine. Sie wollte nur einen hervorholen, nur einen einzigen Schein. Es würde Frau Bergmann nicht auffallen, dass er fehlte, es würde sie nicht schmerzen. Es würde sie nicht mehr schmerzen, als wenn Nina aus der stets vollen Schale mit dem Niederegger-Konfekt, die auf dem Couchtisch stand, heimlich ein Stück naschte, davon war Nina überzeugt. Nicht mehr, als wenn sie bei Herrn Schadt heimlich einen Schluck seines über zwanzig Jahre alten Whiskeys probierte. Nicht mehr, als wenn sie heute bei Herrn Schadt heimlich mehrere Schlucke Whiskey aus verschiedenen Flaschen probieren würde, auf den Schreck, den sie zuvor in Frau Bergmanns Wohnung bekommen hatte, als sie diese Tasche geöffnet hatte. Auf den Schreck, dass sie es fertigbrachte, den Hunderter, den sie jetzt in den Händen hielt, tatsächlich in die Tasche ihrer Jeans zu stecken. Und dann nochmals in Frau Bergmanns Tasche zu greifen.
***
Elisabeth Bergmann bückte sich, fasste in die Comtesse-Tasche in ihrem Schrank und holte zwei Handvoll Scheine hervor, die sie flüchtig glatt strich, übereinanderlegte und dann in ihre neue Abendtasche von MCM steckte. Etwa eintausend Euro würden reichen für einen schönen Abend im Casino. Elisabeth Bergmann empfand oft eine geradezu diebische Freude, seit sie vor etwa einem Jahr entschieden hatte, nur noch genau das zu tun, was ihr gefiel – mit ihrem Geld. Und mit ihrem jungen Freund. Sie nannte ihn immer ihren jungen Freund, jedoch nur in Gedanken, denn niemand sollte etwas von ihr und ihm wissen. Niemand im Maritim und niemand im Casino des Columbia Hotels, in dem Elisabeth Bergmann Stammgast war. Und schon gar nicht ihr Sohn.
Es fühlte sich noch immer an wie ein Abenteuer, wenn sie ihren jungen Freund im Casino traf, wo sie verabredet waren, ohne dass jemand davon wusste oder es bemerkte. Das Heimliche hatte einen großen Reiz. Vielleicht war dies der Hauptgrund, weshalb manche Menschen heimlich Affären begannen und zu Ehebrechern wurden. Elisabeth Bergmann brach keine Ehe, denn ihr Mann war seit fünf Jahren tot. Und auch ihr junger Freund war nicht verheiratet. Er war jedoch fast dreißig Jahre jünger als sie. Elisabeth wollte sich den Kommentaren neidischer älterer Frauen und Männer nicht aussetzen. Und auch nicht einem weiteren Streit mit ihrem Sohn, der sowieso nur Sorge hatte, seine alte Mutter könnte verrückt geworden sein und das Erbe, auf das er und seine Frau bereits lauerten, mit einem jungen Liebhaber verprassen.
Elisabeth Bergmann sah noch einmal in den Spiegel. Sie fand sich verjüngt, seit sie ihren Freund hatte. Ihr Dekolleté schimmerte von den feinen Goldpartikeln, die sie mit einem Puder aufgetragen hatte. Ihr Top glitzerte unter tausend Pailletten in allen Farben des Regenbogens. Er liebe sie, hatte ihr junger Freund mal gesagt. Es war schon eine Weile her. Sie hatte so etwas wie Glück empfunden. Und wenn es nur das Glück war, nicht zu den Frauen zu gehören, die aufgrund ihres Alters nicht mehr begehrt wurden. Sie musste alles tun, dass er sie weiterhin begehrte.
Im Fahrstuhl betrachtete sie sich noch einmal in den Spiegelwänden und wischte eilig etwas Lippenstift von den Zähnen.
In der vierten Etage stieg ihr Freund dazu. Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, küsste er sie neben den Mund. Elisabeth Bergmann drückte ihn lächelnd von sich, denn sie wollte ihm auf der kurzen Fahrt ins Erdgeschoss noch einen Teil der Scheine aus ihrer Tasche zustecken.
Sie ging in sicherem Abstand zu ihrem jungen Freund am Pförtner vorbei, nicht ohne diesen wie immer freundlich zu grüßen, denn schließlich kannte sie ihn schon seit vielen Jahren. Auf der Promenade sahen sie und ihr Freund sich wieder. Auf dem Weg in Richtung Columbia lagen zwischen ihnen etwa fünfzig Meter Abstand.
Möwen kreischten am Strand. Wenn die meisten Besucher abends die Strandkörbe verlassen hatten, machten sich die Vögel daran, den Sand um die Strandkörbe herum nach Essensresten abzusuchen. Elisabeth Bergmann musste daran denken, dass sie kürzlich in den Lübecker Nachrichten gelesen hatte, dass sich Urlaubsgäste bei der Gemeindeverwaltung über das Möwengeschrei beschwert hatten. Die Verwaltung hatte daraufhin zu erklären versucht, dass Möwen nun mal an Ostseestränden vorkämen. Amüsant fand Elisabeth das, und noch amüsanter, dass die Urlauber vermutlich gar nicht die Möwen gemeint hatten, sondern die Hunderte von Krähen, die sich in den Bäumen am Strandbahnhof eingenistet und Tag und Nacht gekreischt hatten.
Vor dem Columbia Hotel brannten große Fackeln. Auf der Terrasse zum Meer hin saßen in Decken gehüllt noch ein paar Gäste und speisten. Sie hatten sich einen der schönsten Plätze in Travemünde ausgesucht. Elisabeth ging durch den Haupteingang auf der Rückseite des Hotels direkt ins Casino. Ihr junger Freund ging durch das Restaurant auf der Vorderseite. Nur für diesen Moment verlor sie ihn aus den Augen – wie aufregend es doch war, zu wissen, dass sie ihm in wenigen Minuten am Spieltisch wieder begegnen und gelegentlich wie zufällig seinen schönen jungen Körper streifen und ihm Jetons oder Geldscheine zustecken würde. Heimlich.
Am nächsten Morgen stand Nina vor Frau Bergmanns Tür, obwohl sie an diesem Tag nicht bei ihr putzen sollte. Sie klopfte mit dem schweren, an einem Löwenkopf befestigten Eisenring gegen die massive Eichentür des Apartments.
Nina wusste zwar, dass Frau Bergmann wie jeden Morgen in ihrem weißen Bademantel ins Schwimmbad gegangen war, dass sie, in dunkelblauem Badeanzug und weißer Rüschenbadekappe, begonnen hatte, eine kurze Bahn nach der anderen zu schwimmen, doch sie wollte ganz sichergehen, dass niemand in dem Apartment war, bevor sie heimlich aufschloss. Hoffentlich hatte Frau Bergmann nicht ausgerechnet heute Besuch oder ließ die Saunagänge ausfallen und kam eher zurück. Nina würde dann so tun, als hätte sie den Schlüssel für die Abstellkammer vergessen. Das war die Ausrede, die sie sich zurechtgelegt hatte, seit das schlechte Gewissen sie plagte wegen der fünfhundert Euro, die sie aus der Tasche hatte mitgehen lassen. Mitgehen lassen, das hörte sich für Nina besser an als geklaut. Doch, Nina hatte Frau Bergmann beklaut. Frau Bergmann, die immer so großzügig zu ihr gewesen war und zu ihrer Mutter all die Jahre zuvor. Nichts rechtfertigte diesen Diebstahl, der sich deutlich von ihren sonstigen kleinen Klauereien von Lippenstiften oder Wimperntusche unterschied. In »ihrem« Zimmer im Haus ihrer Mutter, in das sie vor ein paar Wochen wieder eingezogen war, hatte Nina immer wieder heimlich das Geld betrachtet und gespürt, dass sie sich nicht daran würde erfreuen können. Sie mochte dieses Geld nicht mehr haben, sie würde es zurücklegen.
Vorsichtig schloss sie die Tür auf.
Die Balkontür stand weit offen. Frau Bergmanns Teetasse stand draußen auf dem Tisch. Heute war ein für diesen bisherigen Juni ungewöhnlich warmer Morgen. Keine Wolke am Himmel, die Ostsee fast spiegelglatt. Die »MS Peter Pan« fuhr gerade aufs Meer hinaus, vorbei an der »Passat«. Kein Wunder, dass die Bewohner des Maritim für diesen Blick bereitwillig so viel mehr Geld bezahlten als für eine Immobilie ohne Meerblick in Travemünde.
Außerdem war man in diesem Turm, wie Nina das Hochhaus nannte, eingebettet in ein Hotel, mit Pförtnern, die niemanden hineinließen, der nicht hineingehörte. Man war eingeladen, auch die anderen Annehmlichkeiten des Hotels zu nutzen: Sauna, Schwimmbad, Tiefgarage, den im Maritim ansässigen Frisiersalon, Kosmetik, Massage, die Restaurants, den günstigen Mittagstisch im Pub, oder abends einfach, ohne sich extra einen Mantel überziehen zu müssen, mit dem Fahrstuhl in die Night-Sailor-Bar hinunterzufahren, um bei Livemusik noch einen Absacker zu trinken. Oder im Bademantel ins Freie hinauszutreten und nach wenigen Schritten am Strand zu sein und im Meer schwimmen zu können. Der pure Luxus, den Frau Bergmann und ihr Mann vor achtunddreißig Jahren hatten bezahlen können.
Nina überlegte, ob sie neidisch auf Frau Bergmann war. Sie beschloss, dass sie es nicht sein wollte.
Zum kleineren Schlafzimmer stand die Tür offen. Es irritierte Nina, dass das breite Bett zerwühlt war. Die feine Bettwäsche war in Schwarz und Gold gehalten, Motive von Versace. In Nina stieg der Impuls auf, das Bett zu richten und mit dem großen cremefarbenen Überwurf zu bedecken. Frau Bergmann hatte sich noch nie ein Bett von Nina machen oder beziehen lassen, im Gegensatz zu anderen Leuten, bei denen sie und ihre Mutter putzten. Nina riss sich zusammen. Sie war heimlich hier.
Sie ging zum Schrank im zweiten Schlafzimmer und merkte sich genau, wie die Tasche stand und wie die Mäntel darüber hingen. Sie öffnete vorsichtig den goldenen Verschluss mit dem stilisierten Engelskopf und schob die Geldscheine zwischen die vielen anderen Scheine zurück, verschloss die Tasche, den Kleiderschrank und die Wohnung.
Danach stand Nina erleichtert in der unter Frau Bergmanns Wohnung gelegenen Abstellkammer und sah durch das Fernglas. Ein paar Segelboote dümpelten bei Flaute vor sich hin. Vielleicht sollte sie ab heute täglich in der Ostsee schwimmen, überlegte Nina, wenn sie nun schon mal zurück in Travemünde war und das Meer so dicht vor der Tür hatte. Die meisten Einheimischen gingen kaum noch zum Strand und erst recht nicht ins Wasser, vielleicht, weil sie es jeden Tag tun könnten, wenn sie nur wollten, vielleicht, weil der Alltag viele vergessen ließ, dass sie am Meer lebten.
Heute musste Nina insgesamt drei Wohnungen im Maritim putzen, von Eigentümern, die gelegentlich übers Internet vermieteten, weil sie selbst die Bleibe im Maritim kaum nutzten und durch Vermietung wenigstens einen Teil der Unkosten reinholen konnten. Ninas Mutter bekam dann die zwischen Vermieter und Gästen vereinbarte Summe für die Endreinigung ausbezahlt.
Bereits zwei Stunden später brachte Nina die Putzutensilien in die Kammer zurück. Es war ein Leichtes gewesen, die Wohnungen zu reinigen, weil keiner der Gäste die Endreinigungssumme zum Anlass genommen hatte, das Apartment verdreckt zu hinterlassen. Fürs Erste Feierabend, dachte Nina und stellte sich mit dem Fernglas ans Fenster. Doch sie musste heute ihrer Mutter noch bei der Buchhaltung helfen, und sie selbst sollte endlich mal wieder ihre Akquisebemühungen intensivieren, um an mehr Aufträge als Übersetzerin zu kommen, damit sie ihre kleine Wohnung in Hamburg halten konnte. Seit Tagen hatte sie das vor, doch sie konnte sich momentan nicht dazu aufraffen. Am liebsten würde sie gar nichts mehr tun. So wie Frau Bergmann. Viel Geld besitzen und bis ans Lebensende davon gut leben.
Trave und Meer waren ruhig. Am Horizont standen die Windräder still.
Plötzlich verdunkelte es sich einen Moment lang vor Ninas Augen. Für die Länge eines Wimpernschlags schien etwas von oben in die Tiefe gefallen zu sein. Dann war durch das geschlossene Fenster ein dumpfer Aufschlag zu hören.
Nina riss das Fenster auf. Doch sie konnte nichts sehen, denn vor dem Fenster war ein Laubengang, der als Notausgang diente und von der Kammer aus nicht einzusehen war. Ein Schrei war zu hören. Dann noch einer. Nina eilte hinaus, über den Flur ins Freie. Sie beugte sich über die Brüstung.
Auf dem Vorbau im ersten Stock des Hotels lag ein Mensch. Ein Mensch im weißen Bademantel.
Zwei, drei, vier, immer mehr Leute blickten von ihren Balkonen aus hinüber zu der reglosen Person. Manche hielten sich entsetzt die Hände vor den Mund. Nina eilte zum Fahrstuhl und fuhr hinab ins dritte Stockwerk. Dort nahm sie den Notausgang und sah auf das Dach des Vorbaus der Residenz. Die Frau, die dort auf der alten, mit grünem und rotem Moos bewachsenen Dachpappe lag, hatte verdrehte Beine, Arme, als gehörten sie nicht ihr, aufgerissene Augen und Haare, die nass waren von Blut und Hirn.
Es war Frau Bergmann. Die Fußnägel weinrot lackiert, der nackte Unterleib entblößt.
Nina wich zurück. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Brüstung und sah nach oben in die schwindelerregende Höhe zum dreißigsten Stockwerk, aus dem Frau Bergmann vermutlich gefallen war.
Wie konnte das passieren?
War sie etwa gesprungen?
Von Weitem war ein Martinshorn zu hören. Nina wunderte sich, wie viele Leute inzwischen von Balkonen nach unten sahen. Das Maritim hatte heute Morgen beinahe leer gewirkt.
Der Notarztwagen kam die Einfahrt der Residenz herauf. Das Martinshorn verstummte abrupt. Eine Sekunde lang war es still in Travemünde, totenstill.
Dann rief der Pförtner: »Hier entlang!« Notarzt und Sanitäter folgten ihm.
Auf dem Dach beugten sie sich zu dritt über die alte Frau. Der Arzt schüttelte fast unmerklich den Kopf.
Nina wandte sich ab und durchquerte die Eingangshalle des Hotels. Kein Mensch in der Lobby, kein Mensch an der Rezeption. Sie stieg die Marmortreppe zum Ausgang hinab.
Draußen blendete die Sonne sie. Die weißen Segelboote auf der türkisblauen, stillen Ostsee, die gelben, in Reih und Glied stehenden Strandkörbe, der helle Strand – alles kam Nina plötzlich wie eine unwirkliche Bilderbuchansicht vor, so wunderschön, so heil. Zu heil.
Nina verharrte einen Moment auf der Promenade. Menschen standen in Badebekleidung neben ihren Strandkörben und starrten zum Maritim her. Eine große graue Möwe stürzte über Ninas Kopf auf den Weg hinab, um sich mit ihrem dicken Schnabel ein Stück trockenes Brötchen zu schnappen, das auf dem Pflaster lag. Nina spürte die Krallen fast in ihrem Haar. Sie ging weiter – und es war ihr, als würden ihr all die Leute vom Strand aus nachsehen.
***
Pasquale Schöne ging zügigen Schrittes an der Steilküste entlang. Gehen, gehen, bis die Gedanken nicht mehr kreisten. Atmen, durchatmen. Niendorf war sein Ziel. Er war noch nicht mal auf Höhe des alten Golfplatzes, kurz hinter Travemünde, als er kaum noch Luft bekam. Die Felder mit spät blühendem Raps nahm er heute nicht wahr. Die wenigen Spaziergänger, die ihm an diesem Wochentag entgegenkamen, ebenfalls kaum. Nur die Sandkratzer, wie er Frauen mit Nordic-Walking-Stöcken verächtlich nannte, registrierte er, weil sie ihm wegen des Geräusches, das sie mit ihren Stöcken machten, schon von Weitem auf die Nerven gingen.
Pasquale Schöne schob die Sonnenbrille zurecht und wandte sein Gesicht ab, als die Gruppe mit den Stöcken an ihm vorbeikratzte. Obwohl er es eilig hatte, machte er auf der Hermannshöhe halt. Bis jetzt war nur eine Imbissbude geöffnet. Eigentlich hatte Pasquale vor, Kaffee zu trinken, holte sich dann aber ein Bier. Auf dem Weg zu einer der langen Bierbänke machte er kehrt und kaufte sich noch ein Fläschchen Jägermeister dazu. Am liebsten hätte er es bereits auf dem Weg zum Tisch ausgetrunken.
Die paar Strandkörbe, die für Gäste der Imbissbude hier oben bereitstanden, waren belegt. Eine Gruppe geistig behinderter Erwachsener machte gerade auf einem Ausflug Station und hatte sichtlich Spaß. Zwei von ihnen saßen knutschend in einem Strandkorb – in den kurzen Pausen zwischen zwei langen Küssen lachte das Mädchen aufgekratzt, während ihr Begleiter stolz in die Runde schaute. Ein älterer Mann mit Stirnglatze sprang wiederholt auf, sah durch das Fernglas, das er um den Hals trug, und kommentierte lautstark jedes Boot, das auf der Ostsee zu sehen war, »die großen Pötte« und »die kleinen Pötte«. Die großen Pötte faszinierten ihn besonders. Eine übergewichtige Frau, die einen Schutzhelm auf dem Kopf trug, tanzte zwischen den Strandkörben hin und her. Eine andere pflückte Gänseblümchen. Die Betreuer hatten sich separiert und unterhielten sich entspannt.
Pasquale konnte den Blick nicht von jener so unbefangenen Gruppe Menschen abwenden. Er bemerkte, dass er hier auf dieser Blumenwiese, an diesem Ort mit dem sagenhaften Blick übers Meer, trank und rauchte, als hätte er kein Recht, dort zu sein. Gehetzt sah er auf die Cartier an seinem zitternden Handgelenk. Als hätte er keine Zeit … Doch, er hatte Zeit. Und in Zukunft würde er seine Zeit auch genießen können.
***
»Oh Gott, Nina! Was erzählst du mir denn da?«
Ja, weshalb hatte sie es ihrer Mutter eigentlich erzählt? Sie hatte es schon in dem Moment zu bereuen begonnen, als sie das viele Geld in der Tasche in Frau Bergmanns Schrank auch nur erwähnt hatte.
Die Mutter fasste sich an den Rücken.
»Oh Gott, es geht wieder los.«
Nina half ihrer Mutter vom Stuhl auf und führte sie zum Sofa.
»Das kommt, weil du heute schon wieder den ganzen Tag durchs Haus geturnt bist.«
»Einer muss es doch machen!«, jammerte die Mutter.
»Ich bin jetzt hier, ich werde alles machen, bis dein Rücken wieder fit ist.« Nina vermutete, was ihre Mutter sicherlich sogar wusste. Die Schmerzattacken im Rücken wurden nicht durch ein Bandscheibenleiden ausgelöst, sondern waren psychosomatisch bedingt. Angefangen hatte alles vor einem Jahr, als klar wurde, dass Ninas Mutter Marianne den kleinen Laden, den sie seit über dreißig Jahren in der Geschäfts- und Restaurantpassage neben dem Hallenbad betrieb, tatsächlich aufgeben musste. Über dreißig Jahre lang hatte sie dort im Sommer Getränke, Sandeimer, Schaufeln, Eis und Seehunde aus Plüsch verkauft. Im Winter Glühwein, Mützen und Schals. Nina hatte dort in der Schulzeit ihre Nachmittage und Wochenenden verbracht, hatte in Sichtweite ihrer Mutter am Strand gespielt oder war baden gegangen. Jedes Mal, wenn fremde Kinder sie am Strand auf ihre schönen Schaufeln oder Backformen ansprachen, hatte sie stolz erzählt, dass ihre Mama die in ihrem Geschäft verkaufte, was meistens nach sich zog, dass die Kinder ihre Eltern so lange anbettelten, bis ihnen in Mutters Laden eine neue Strandspielausrüstung gekauft wurde.
Der Laden war für Nina und ihre Mutter wie ein Zuhause gewesen – und für manche Kunden auch. Frau Georg und Herr Kogel zum Beispiel waren dreißig Jahre lang jeden Morgen gekommen, um Zigaretten und die Bildzeitung zu kaufen. Bei einem Pott Kaffee hatten sie dann noch einen Klönschnack mit Ninas Mutter gehalten. Der Laden hatte nicht so viel abgeworfen wie das Speiserestaurant oder die Boutique in der Nachbarschaft, doch zusammen mit den Einnahmen aus den Putzjobs im nebenan liegenden Maritim hatte es für Marianne Wagner und ihre Tochter gereicht. Dreißig Jahre lang, und es war allen selbstverständlich erschienen, dass es ein ganzes Leben lang reichen würde. Dann plötzlich das Aus. Auch als die Schwimmhalle nach und nach verfiel, hatte sich kein Travemünder vorstellen können, dass sie jemals abgerissen werden würde. Travemünde brauchte doch ein Schwimmbad für die Urlauber, als Schlechtwettervariante und für den Winter! Nina erinnerte sich, wie aufregend es gewesen war, das erste Mal den gläsernen Turm hochzuklettern und durch die blaue, durchsichtige Riesenrutsche direkt über Mutters Laden hinwegzugleiten.
Als die Schwimmhalle vor einigen Jahren geschlossen wurde, war Nina das gleichgültig gewesen, denn sie hatte längst ihr neues Leben in Hamburg begonnen. Trotz der vielen Ankündigungen, dass auch die Ladenzeile am Schwimmbad neuen Bauvorhaben zum Opfer fallen würde, hatte niemand daran glauben wollen. Die Protestbewegung, die sich für den Erhalt der alten Geschäfte einsetzte, würde Erfolg haben, da waren sich alle Betroffenen sicher. Als dann per Einschreiben der Brief kam, in dem in drohendem Ton der Abrissbagger angekündigt wurde, gab Ninas Mutter schließlich auf. Sie räumte, sie verramschte, sie verschenkte.
Als der Laden leer war, schoss ihr der Schmerz in den Rücken. Erst schob sie es auf den anstrengenden Räumungsverkauf, dann auf die Bandscheiben. Die Mutter nahm Schmerzmittel und fing beim Stadtbäcker als Verkäuferin an. Der Rücken schmerzte weiter bei jeder kleinen Aufregung, die Mutter schob es auf die ungewohnt anstrengende Arbeit im Bäckereigeschäft. Sie wurde lange krankgeschrieben, dann kündigte sie. Sie konnte nicht mehr, auch nicht Wohnungen im Maritim putzen.
Nina war aus Hamburg gekommen, um zu helfen. Vorübergehend. Es musste eine Lösung gefunden werden, es musste für die Mutter weitergehen, damit es hoffentlich bald für Nina in Hamburg weiterging.
Die Mutter schob auf dem Sofa die Hand unter den Rücken.
»Kind, ich verstehe das nicht. Was hast du an den Schränken meiner Kunden zu suchen? Du kannst doch nicht an fremde Sachen gehen!«
Nina deckte ihre Mutter zu und setzte sich zu ihr auf die Sofakante.
»Ich musste etwas in den Schrank legen, und da war diese Tasche, und die stand offen.«
Die Mutter wandte das Gesicht ab.
»Ich habe noch niemals etwas in den Schrank legen müssen! Ich weiß nicht mal, dass die Frau Bergmann da solche Taschen hat. Aber du …«
»Was, ich?«
»Du bist einfach drangegangen. Das hast du ja schon früher gern gemacht. Und wer weiß, ob du nicht wieder –«
»Ich finde viel schlimmer, dass die alte Frau Bergmann tot ist«, fiel Nina ihrer Mutter ins Wort. »Aber das scheint dich ja nicht zu interessieren.«
Die Mutter legte sich den Unterarm über die Augen. »Was weißt du, wie es in mir aussieht!«
***
Alexander Bergmann saß auf der Terrasse und ließ den Blick über den Garten zum Leinpfadkanal schweifen. Ein junges Paar in einem Tretboot sah her zu ihm und zu seiner Villa. Bewundernd oder neidisch – doch die Genugtuung, die er sonst in solchen Momenten verspürte, stellte sich heute nicht ein.
Er strich mit der Fingerkuppe über den leeren weißen Teller, der vor ihm auf dem Gartentisch stand, und sah durch die offene Terrassentür zu seiner Frau, die Schinkenscheiben aus einem Papier nahm und auf einer Servierplatte drapierte. Als sie den Spargel aus dem Topf in eine passende Schale hob, begann sie ein Lied zu pfeifen, legte aber sogleich erschrocken die Hand über den Mund und sah schuldbewusst zu ihrem Mann. Alexander tat so, als hätte er nichts bemerkt.
»Der Spargel und der Schinken sind von Lindner«, sagte seine Frau, als sie die vollen Schüsseln auf den Tisch stellte und ihrem Mann die Kartoffeln reichte.
Alexander füllte sich auf. Nach dem, was geschehen war, dürfte er keinen Hunger haben, schon gar keinen Appetit. Doch er hatte Appetit. Seine Frau offenbar auch. Es schien ihm, als lächelte sie während des Essens. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal vor sich hin gelächelt oder gar ein Lied gepfiffen hatte.
Von irgendwoher kam der Geruch von Grillkohle-Anzünder herübergeweht. Ein Geruch, der nicht hierher passte, fanden Alexander und seine Frau. Doch auch in den nobelsten Villen in den feinsten Gegenden Hamburgs lebten heutzutage Menschen, die es liebten zu grillen. Andererseits konnten sich manche Menschen, denen es früher Vorbehalten war, hier zu leben, ihre Villen nicht mehr leisten … Niemals würde Alexander den Tag vergessen, an dem er zum ersten Mal heimlich durchgerechnet hatte, wie viel Geld seine Frau für ein einziges Abendessen im Delikatessengeschäft Lindner ausgegeben hatte. Es war noch nicht lange her.
»Ich glaube nicht, dass die bei Mutter etwas finden, in der Rechtsmedizin«, sagte er.
Seine Frau nickte und befand den Spargel für etwas zu weich.
Alexander entgegnete, dass der Spargel genau richtig sei. Seine Frau lächelte und fragte, ohne ihn anzusehen, wie es denn nun weiterginge, mit der Beerdigung und allem. Nach der Rechtsmedizin.
Alexander betrachtete Katharina heimlich von der Seite. Sie war immer noch schön, doch das etwas Herbe, das er in ihrem Gesicht einmal so sehr gemocht hatte, weil es seines Erachtens sehr hanseatisch war, hatte sich über die Jahre in Härte verwandelt. Alexander fragte sich, wodurch das geschehen war. Seine Frau hatte sich nie Sorgen machen müssen. Gearbeitet hatte immer nur er und vermieden, seine Frau mit den Problemen, die es in seiner Firma gab, zu belasten. Sie besaßen dieses Haus, eine Villa, die sie seit ihrer Hochzeit vor über zwanzig Jahren bewohnten. Ihre Tochter war nie ein schwieriges Kind gewesen, auch als Teenager nicht. Seit einem halben Jahr studierte Franziska in den USA.
Was war es, das seine Frau hatte so hart werden lassen?
Seine Mutter war tot, durchfuhr es Alexander beinahe wütend, und Katharina redete über die Konsistenz des Spargels.
Plötzlich legte seine Frau das Besteck beiseite und sah ihn an. Ertappt wandte Alexander den Blick ab. Katharina stand auf und küsste ihn auf den Kopf. »Es tut mir sehr leid, dass deine Mutter tot ist.«
Alexander kamen die Tränen. »Ich werde mich um alles kümmern. Ich werde mit der Polizei reden, wann sie die … Wann meine Mutter freigegeben wird zur Beerdigung. Um die Wohnung kümmern werde ich mich auch und um das Testament …«
»Genau so wirst du es machen«, sagte Katharina, wandte sich ab und ging in die offene Küche. »Willst du noch Spargel?«
***
Kaum hatte Nina ihre Strandmatte ausgebreitet, kam es ihr wie ein dummer Fehler vor, den späten Nachmittag hier in der Sonne verbringen zu wollen. Sie ahnte, dass sie keine Ruhe finden würde, so wie es wohl den meisten Einheimischen erging, wenn sie sich aus dem Alltag heraus dorthin begaben, wo andere ihren Urlaub verbrachten. Nina hatte zwar alle Putzjobs der Mutter erledigt, im Maritim und auch zu Hause, doch sie hatte sich wieder nicht um ihre eigentlichen Jobs gekümmert. Weil sie sich nicht konzentrieren konnte, war sie schließlich an den Strand gegangen. Sie musste ständig an die tote Frau Bergmann denken.
Nina saß in der Nähe des Spielplatzes. Auf dem riesigen Trampolin hüpften vergnügt Kinder. Die erste Reihe Strandkörbe stand so weit von Ninas Platz entfernt, dass die Vermieter, eine Travemünder Familie, sie hoffentlich nicht erkennen würden.
Nina nahm eine Wasserflasche aus dem Korb und ein paar Erdbeeren, die sie sich in einem der Erdbeerhäuschen des Hofes Karl am Strandbahnhof gekauft hatte.
Sie sah zum Maritim. Auf dem Vorbau, auf dem Frau Bergmann gelegen hatte, hockten zwei Frauen in Kittelschürzen und schrubbten das Dach. Nina wandte den Blick ab, steckte die Schale mit den Erdbeeren zurück in ihren Bastkorb, setzte sich mit aufrechtem Rücken zum Maritim und blickte übers Meer.
Frau Bergmann hatte immer viel geredet, doch hatte sie wirklich etwas erzählt? Und hatte Nina richtig zugehört? Auch ihre Mutter wusste nur, dass Frau Bergmann einen längst erwachsenen Sohn hatte, der in Hamburg lebte. Und dass es eine Enkelin gab. Dass ihr Mann schon länger tot war und Frau Bergmann nach dessen Tod die Firma an ihren Sohn übergeben hatte und von Hamburg nach Travemünde gezogen war. Ihr einstiges Feriendomizil war nun seit Jahren Frau Bergmanns fester Wohnsitz gewesen. Hier sei sie glücklich, hatte sie immer wieder betont. Hier könne sie bis ans Ende ihrer Tage leben. Hier habe sie fast alles, was das Leben eines älteren Menschen angenehm mache. Sogar eine Gegensprechanlage – sobald sie dort den Hörer abnehme, sei einer der Pförtner dran. Man könnte sich Lebensmittel und Getränkekisten liefern lassen. Ein Arzt komme bei Bedarf ins Haus, aber bisher habe sie noch keinen gebraucht, so weit sei es noch lange nicht. Aber wenn doch eines Tages, dann wolle sie hier sterben und nicht im Seniorenheim auf der anderen Seite der Trave, dessen Bewohner zweifellos an der Endstation waren. Hier dagegen, im Maritim, komme sie sich vor wie ein Gast in einem guten Hotel.
Nina glaubte nicht, dass Frau Bergmann aus Versehen über die Brüstung des Balkons gestürzt war. Aber weshalb sollte sie gesprungen sein? Oder hatte ihr ein Arzt irgendeine schreckliche Krankheit offenbart? Noch vor zwei Tagen, als Nina bei Frau Bergmann geputzt hatte, wies nichts daraufhin. Auch Ninas Mutter hatte keine Erklärung dafür, weshalb Frau Bergmann gesprungen sein könnte. Und wäre eine Dame wie sie auf diese Weise gesprungen? Im Bademantel, unter dem sie nichts trug? Wohl wissend, dass ihr nackter Körper entblößt werden könnte? Niemals, davon war Nina überzeugt. Frau Bergmann hätte sich einen eleganteren Abgang in den Tod verschafft.
Was Nina allerdings irritiert hatte, war etwas, das ihre Mutter ihr heute zum ersten Mal erzählt hatte: Im Laufe der achtunddreißig Jahre, die es das Maritim inzwischen gab, hatten sich angeblich schon mehrere Menschen in den Tod gestürzt. Der Ausblick von den hoch gelegenen Balkonen weckte bei einigen vermutlich Todessehnsucht, zog manche direkt in die Tiefe. Makler rieten älteren Menschen inzwischen zu Wohnungen in den unteren Stockwerken.
Nina rollte die Strandmatte zusammen, strich sich den Sand von den Jeans und packte ihre Korbtasche wieder ein. In ihren roten Flip-Flops spürte sie bei jedem Schritt den warmen Sand an den Füßen. Sie verließ den Strand und ging an die Rezeption der Maritim-Residenz. Frau Schneider hatte heute Nachmittag Dienst, sie würde Nina sagen können, ob es tatsächlich schon Selbstmorde hier gegeben hatte. Frau Schneider arbeitete seit achtzehn Jahren als Pförtnerin in der Residenz.
Bei der Pförtnerin stand ein Paar am Tresen. So tragisch wie alle dreinblickten, war klar, worüber sich die drei unterhielten.
Nina setzte sich in die kunstlederne Couchgarnitur im Eingangsbereich, um abzuwarten, bis Frau Schneider endlich allein war. Urlauber, die gerade angereist waren, luden vor dem Eingang Essensvorräte, Koffer und Taschen in einen der hauseigenen großen Metallwagen, um diesen in eine für den Urlaub angemietete Eigentumswohnung zu bugsieren. Frau Schneider wies die Leute in einen der Fahrstühle ein.
»Kindchen, Kindchen, ist das nicht alles furchtbar«, sagte sie, als sie an Nina vorbei zurück an ihren Tresen ging. Nina begab sich zu ihr.
»Frau Bergmann kannte ich vom ersten Tag an, den ich hier arbeite. Immer freundlich, immer nett. Stürzt sich vom Balkon. Ich kann das immer noch nicht glauben!«, sagte die Pförtnerin.
»War denn etwas mit ihr? Hatte sie Probleme?«, fragte Nina.
Frau Schneider schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Aber man steckt ja in den Leuten nicht drin. Sie kommen jeden Tag hierher, holen ihre Zeitung, ihr Brötchen und lächeln einen an. Man glaubt sich zu kennen. Doch man kennt sich nicht wirklich. So ist das heutzutage. Nicht nur bei dir in der Großstadt.« Frau Schneider musterte Ninas legere Sommerkleidung. »Wie geht es denn deiner Mutter? Kommt sie bald zurück?«
Nina zog die Schultern hoch. »In der nächsten Zeit springe ich noch für sie ein. Stimmt es eigentlich, dass sich hier schon mehrere Leute vom Balkon gestürzt haben?«
Frau Schneider riss die Augen auf und sah beunruhigt zu den Fahrstühlen und zum Eingang. »Mehrere. Ach, was heißt hier mehrere! In deiner Großstadt werden es sicherlich mehr sein. Ist für die Lebensmüden eben eine sichere Sache. Da baut einer so ein schönes hohes Haus, und die Leute nutzen es, um sich runterzustürzen. Nein, nein, viele waren es bei uns nicht! Manche von denen haben hier gar nicht gewohnt. Haben sich irgendwie ins Haus geschlichen, ab in den dreiunddreißigsten Stock auf die Notausgänge – und runter. Schrecklich, so was.«
»Aber die Frau Bergmann, die war doch nicht lebensmüde.«
»Kind, wer weiß das schon? Du müsstest sie besser kennen als ich, du warst immerhin schon öfter in ihrer Wohnung. Und deine Mutter erst. All die Jahre. Ich stehe nur hier unten. Ein bisschen klönen hier, mal helfen da, aber in der Wohnung von der Frau Bergmann war ich noch nie. Höchstens mal an der Tür, ein Paket abgeben. Hier ist übrigens noch eins, von diesem Kaufsender im Fernsehen. Da hat sie sich immer Schmuck bestellt. Ist ziemlich groß, das Paket, aber federleicht. Ist ganz bestimmt wieder Schmuck drin. Wahrscheinlich total teurer Schmuck. Was mache ich denn jetzt damit?«
»Ich könnte es mit hochnehmen, ich muss sowieso noch etwas zurück in die Abstellkammer bringen.«
Frau Schneider schob ihr das Paket hin.
»Können sich die Erben dann ja drum kümmern, die werden sich freuen.«
***
Nina ging über den dicken, rot gemusterten Teppich, der das Geräusch ihrer Schritte verschluckte. Sie horchte an jeder Tür. In einem der Apartments lief laut ein Fernseher.
Sie sah sich noch einmal um, bevor sie die Tür zu Frau Bergmanns Apartment aufschloss. Sie stellte das Paket auf den Tisch. Die Tür zum Balkon war verschlossen, die Gardine achtlos vorgezogen. Nina war sich sicher, dass die Tür offen gestanden hatte, als sie Frau Bergmann im Schwimmbad wähnte und heimlich die Geldscheine zurück in die Comtesse-Tasche gelegt hatte. Draußen auf dem Tisch stand immer noch die Teetasse.
Im Schlafzimmer war eine der fünf Schranktüren einen Spaltbreit auf. Nina öffnete sie weit. Die Handtücher und Bettbezüge lagen ordentlich wie immer in den Fächern. Wo bewahrte Frau Bergmann eigentlich ihren Schmuck auf, den sie offenbar ständig vermehrte? Nina hatte immer nur die kleine Kristallschale gesehen, in der ein paar schwere goldene Ketten und Ringe lagerten. Frau Bergmanns Schmuck für jeden Tag, den Nina manchmal heimlich anprobiert hatte. Die Kristallschale war leer. Nina sah in den Schubladen nach und fand nichts. Sie wusste, dass sie bei all dem, was sie tat, nur einer Frage auswich: War das viele Geld im Schrank noch da?
Sie öffnete den Schrank. Auf den ersten Blick sah sie, dass die Tasche mit dem goldenen Engelskopf anders dastand, als Nina sie am Morgen hingestellt hatte. Nina ließ den Verschluss aufschnappen. Die Tasche war leer. Als könnte sie sich getäuscht haben, zerrte sie die Tasche hervor und sah noch einmal hinein. Leer. Nina hockte davor, ließ sich auf die Knie sinken.
Ratlos sah sie sich um.
In der Tür stand ein Mann, der sie anstarrte. Nina schrie vor Schreck auf.
»Was tun Sie hier?«, fragte der Mann.
Nina sprang auf.
»Können Sie mir bitte sagen, was Sie hier machen«, wiederholte der Mann.
Nina hatte darauf keine Antwort. Sie ging auf den Mann zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin Nina Wagner. Ich putze hier. Ich …«
Der Mann nahm ihre Hand nicht und sagte: »Kriminalpolizei.« Er sah auf Ninas Korbtasche, aus der die zusammengerollte Strandmatte aus Bast ragte, das blaue Handtuch mit den Segelbooten lag obenauf. Er sah auf die Flip-Flops, in denen ihre Füße mit dem leicht abgeblätterten roten Nagellack steckten.
»Ich habe hier heute geputzt und etwas vergessen. Ich habe einen Schlüssel.«
Der Fremde sah auf den offenen Schrank. Er nahm sein Handy aus der Jackentasche und drückte eine Nummer. »Kannst du mal hochkommen«, sagte er und steckte das Telefon wieder ein.
»Was haben Sie vergessen?«, fragte er Nina.
»Ich musste noch etwas wegräumen.«
»Ich glaube eher, Sie suchen hier nach etwas. Sie sind hier eingebrochen.«
»Nein! Ich habe einen Schlüssel!« Nina hielt ihm zum Beweis den Schlüssel hin.
Ein zweiter Mann erschien in der Tür. Auch er schien es ernst zu meinen.
Ein Tag im Winter, Monate zuvor
Der Arzt sollte recht behalten. Ihr blieben keine Folgen von dem Schlaganfall zurück. Keine Lähmungen, keine Sprachstörungen. Die Erinnerungen, die ihr fehlten, hatten ihr auch schon vor dem Schlaganfall gefehlt. Erinnerungen an die Momente, in denen sie als Kind neben sich getreten war. Als würde das, was ihr angetan wurde, oder das, was sie tat, nichts mit ihr zu tun haben. Diese Fähigkeit besaß sie heute noch. Sie war froh darüber, denn so musste sie all das nicht machen, was die anderen taten: »darüber« reden, »darüber« schreiben, sich therapieren lassen, anklagen und um Wiedergutmachung kämpfen. Seit ein paar Jahren machten das viele, die in Kinderheimen untergebracht gewesen waren, die meisten etwa so alt wie sie. Hatten wohl lange funktioniert und waren dann eines Tages zusammengebrochen. So wie sie nun offenbar auch, als sie den Schlaganfall hatte. Sie könnte das Heim verklagen, in dem sie seit Anfang der sechziger Jahre gewesen war, die katholischen Schwestern.
Aber das wäre absurd. Das Heim gab es längst nicht mehr. Die Schwestern waren vermutlich inzwischen tot. Sie würde sich niemals zum Opfer stilisieren. Das war nicht ihre Art. Den Schuldigen zu suchen, denjenigen, der dafür gesorgt hatte, dass sie als Baby ins Heim kam – das war ihre Art.
Eigentlich ein Glück, dass sie schon als Baby ins Heim gekommen war. Denn so hatte sie niemals ein wirkliches Zuhause kennengelernt. Ein Zuhause mit Mutter, Vater, Kind. Sie wusste nicht, was eine Mutter ist. Sie hat erlebt, wie andere Kinder im Heim litten, die erst mit fünf oder sechs Jahren abgeliefert worden waren. Wie die Kinder sich täglich nach ihren Müttern gesehnt hatten, gleichgültig, was diese ihnen angetan hatten. Wie sie geweint und gehofft hatten, dass ihre Mütter bald kämen, sie abzuholen oder wenigstens zu besuchen. Wie sie daran zerbrochen waren, wenn das nicht geschah. Und es war meistens nicht geschehen.
Romy hat das Heim lange nicht in Frage gestellt. Das Heim war ihrZuhause, das Normale. Sie kannte nichts anderes. Sie hatte keinen Vergleich. Glaubte, alle Kinder wuchsen auf wie sie selbst – gemeinsam mit den vielen anderen Kindern, den Schwestern. Glaubte, der Speisesaal, die Schlafsäle und das »Besinnungsstübchen«, in das man zur Strafe kam, wären ein Zuhause. Romy musste oft ins Besinnungsstübchen. Es hat ihr nicht viel ausgemacht. Es war das Normale.
Sie hatte lange funktioniert. Auch dann noch, als sie wusste, dass die vielen Momente, in denen sie neben sich getreten war und zugesehen hatte, was ihr geschah, nicht normal gewesen waren. Dass man ihr vieles nicht hätte antun dürfen.
Bisher hatte sie sich nie als Opfer gefühlt. Damit das so blieb, musste sie den wahren Schuldigen zur Rechenschaft ziehen. Den Menschen, der zugelassen hat, dass ihr all das passierte. Den Menschen, der sie den barmherzigen Schwestern im Heim übergeben hatte. Der sie abgeliefert hatte. Ausgeliefert.
***
Nina hatte immer geglaubt, dass alle Handschellen angelegt bekämen, bevor sie zu einer Vernehmung abgeführt wurden. Sie trug keine Handschellen und erinnerte sich, dass einer der Beamten etwas von einer Befragung und einem Protokoll gesagt hatte. Trotzdem war es, als würde sie abgeführt. Niemals würde sie Frau Schneiders entsetzten Blick vergessen, als sie zwischen den beiden Beamten aus der Tür der Maritim-Residenz ging. Sie verlor den Halt in ihren Flip-Flops und stolperte. Die beiden Männer hatten sie sofort fest im Griff. Im Auto setzte sich einer der Beamten neben sie auf die Rückbank.
Nina hatte ihre Strandtasche in Frau Bergmanns Wohnung stehen gelassen, doch sie sagte nichts. Sie musste an ihre Mutter denken, der sicherlich sofort wieder der Schmerz in den Rücken fahren würde, wenn sie erfuhr, was Nina gerade passierte. Gegenüber den Kripobeamten war ihr keine schlüssige Erklärung eingefallen, was sie in Frau Bergmanns Wohnung, in Frau Bergmanns Schrank gesucht hatte. Sie hatte die Tasche voller Geld nicht erwähnt, denn wie sollte sie erklären, dass die Tasche inzwischen leer war?
Einer der Beamten hatte Ninas Korbtasche durchsucht. Nach Verlassen der Wohnung hatten die Polizisten die Tür versiegelt.
Im Auto verließen sie Travemünde in Richtung Autobahn, in Richtung Lübeck. Nina drehte sich verunsichert um. Viele Leute in Autos mit dem Kennzeichen HL für die Hansestadt Lübeck waren in entgegengesetzter Richtung unterwegs, nach Scharbeutz, nach Timmendorf, nach Travemünde. Die Insassen wollten wohl nach Feierabend noch ein paar warme Sonnenstunden am Meer verbringen.
Nach anfänglichem Schweigen begannen die beiden Beamten sich zu unterhalten, so, als wäre Nina nicht anwesend, oder so, als wäre es das Normalste, dass jemand wie sie in diesem Auto saß. Die beiden Männer redeten über die demnächst in Deutschland stattfindende Frauenfußball-Weltmeisterschaft. Nina sah auf die Halbglatze des Mannes, der schräg vor ihr am Steuer saß. Im Nacken war sein Haar nachlässig ausrasiert. Der Mann neben ihr trug einen Bürstenhaarschnitt. Beide hatten noch ziemlich glatte Haut und doch etwas Unlebendiges, das sie vermutlich wesentlich älter erscheinen ließ, als sie waren.
Nina versuchte vergeblich, sich zu konzentrieren. Sie erwog, auf dem Revier von dem Geld in der Tasche zu erzählen. Dann nahm sie wieder Abstand von dem Gedanken. Dann überlegte sie erneut, die Wahrheit zu sagen.
Auf dem Parkplatz vor dem Revier stiegen die Männer schweigend aus. Einer öffnete Nina die Tür. Ein anderer holte zu Ninas Verwunderung ihre Korbtasche aus dem Kofferraum. Beide Männer blieben dicht neben ihr, als sie das Haus betraten. Eine Frau kam vorbei und meinte mit Blick auf Ninas Korb mit der Strandmatte: »Na, habt ihr wieder mal eure Arbeit mit dem Vergnügen verbunden?«
Nina lächelte der Frau zu und wusste im selben Moment nicht, weshalb. Sie wurde an mehreren offen stehenden Bürotüren vorbeigeführt. Überall saßen Beamte an Schreibtischen, kaum einer blickte auf. Am Ende des Ganges blieben die Beamten mit ihr in der Tür zum Büro eines etwa vierzigjährigen Mannes stehen. Der Mann im Büro sah kurz vom Bildschirm seines Computers hoch und wies wortlos mit dem Kopf nach rechts.
Der Beamte mit dem Bürstenhaarschnitt nahm Nina am Oberarm. Zwei Türen weiter betraten sie einen kargen Raum, mit nicht viel mehr ausgestattet als einem Tisch, an dem zwei Stühle einander gegenüberstanden.
»Setzen Sie sich!«, sagte der Beamte mit der Halbglatze.
Nina fragte, ob sie noch schnell auf die Toilette dürfe.
Wieder hinaus in den Flur, vorbei an den Türen, in Begleitung eines der Polizisten. Auf der Toilette stützte Nina die Ellenbogen auf die Knie und ihr Gesicht in die Hände. Was passierte hier gerade? Obwohl sie seit der Autofahrt dringend musste, kam kaum etwas aus ihrer Blase. Nina wusch sich die Hände, befeuchtete ihr Gesicht. Sie sah sich im Spiegel an und sah sich nicht.
Die Flip-Flops machten bei jedem Schritt auf dem gefliesten Boden ein quietschendes Geräusch. Zurück im Raum, saß bereits der Mann aus dem Büro am Tisch. Er gab seinen beiden Kollegen ein Zeichen, dass er die Sache jetzt übernehmen werde. Der mit der Halbglatze verließ den Raum. Der mit dem Bürstenhaarschnitt blieb neben der Tür stehen und verschränkte die Arme über der Brust. Nina setzte sich und lächelte den ihr gegenübersitzenden Mann an. Es gab auch jetzt nichts zu lächeln. Doch sie tat das oft in Situationen, in denen es unangenehm für sie wurde. Was die Situation meist noch unangenehmer machte.
Der Mann stellte sich, ohne zu lächeln als Hauptkommissar Mittermaier vor und schaltete ein kleines digitales Aufnahmegerät an, bevor er Nina über ihre Rechte, auch über das Zeugnisverweigerungsrecht, belehrte. Nina verstand das alles nicht. »Ich dachte, ich soll hier nur zu Protokoll geben, was ich auch schon zu Ihren Kollegen gesagt habe, in Travemünde, in der Wohnung von Frau Bergmann.«
Der Mann nickte. »Wir fertigen nachher ein Protokoll. Aber es gibt noch einige offene Fragen.«
Der Hauptkommissar lehnte sich zurück und sah Nina lange in die Augen.
Nina hielt dem Blick des Mannes nicht stand. Sie schob die feuchten Hände unter ihre Oberschenkel.
»Ich putze bei Frau Bergmann, ich habe einen Schlüssel, ich bin nicht eingebrochen!«
Mittermaier sah sie weiterhin an. Nina versuchte noch einmal trotzig, dem Blick standzuhalten. Ihr fielen Mittermaiers einzelne weiße Haare in den schwarzen Locken auf. Er hatte etwas Jungenhaftes und etwas Bedrohliches.
Nina lächelte. »Ich bin wirklich keine Einbrecherin.«
»Frau Wagner«, sagte Mittermaier. »Es geht hier nicht nur um Einbruch. Es geht vermutlich auch um Mord.«
***
Der Himmel über Travemünde war feuerrot und kündigte für den nächsten Tag gutes Wetter an. Nur über der Priwallseite hing ein dichter Wolkenschleier. Es war, als würde der Vollmond dahinter ein Stück hervorschauen, um zu sehen, ob er sich bereits hervortrauen durfte. Nur wenige Minuten später hatte er es gewagt und stand am sonst wolkenlosen Himmel. Jan kam es vor, als ließe der Mond Travemünde nicht aus den Augen, als ließe der Mond ihn nicht aus den Augen.
Er saß auf einer der Bänke auf der Promenade. Wie immer war er zu früh losgegangen. Er hasste es, unpünktlich zu sein, so wie er es hasste, wenn er auf jemand warten musste.
Es waren kaum Menschen unterwegs. Wie meistens war Travemünde abends fast leer, als würde jemand gegen achtzehn Uhr einen Schalter umlegen und alle Touristen in der Versenkung verschwinden lassen. Jan stand auf und ging weiter. Vor dem Casino brannten die großen Fackeln, ein paar Spieler waren an den Roulettetischen zu sehen. Im Zwei-Sterne-Restaurant von Kevin Fehling waren alle Fenstertische besetzt. Jan nahm den Weg durch den kleinen Wald, in dem der Hochseilgarten lag. Kein Mensch begegnete ihm. Er erinnerte sich, dass hier vor Jahren angeblich ein Obdachloser umgebracht worden war. Man hatte es ihm erzählt, als er während der Semesterferien bei seinen Eltern in Travemünde gewesen war. Irgendwelche Jugendlichen sollen es gewesen sein, die Sache hatte Jan, obwohl er Jura studierte, nicht sonderlich interessiert, er wusste bis heute nicht, an welcher Stelle es geschehen war. Er bog in die Kurgartenstraße ein. Am Antiquitätengeschäft an der Ecke stand ein junger Mann und begutachtete den Porsche und den Maserati, die der Ladenbesitzer mitten im Raum platziert hatte und außer seinen Antiquitäten zu verkaufen gedachte.
Die Kurgartenstraße war tagsüber kaum und abends gar nicht belebt. Obwohl es die Parallelstraße zur Vorderreihe war, war es, als würde diese Straße gemieden. Die Touristen wollten wohl nur am Wasser entlang Kaffee trinken und shoppen, nicht in einer Straße, in der kaum noch Ostseegefühl aufkam. Regelmäßig schlossen hier Geschäfte, inzwischen gab es vor allem noch Dienstleister wie Reinigungen, Friseure und Kosmetiksalons. Am Sultan Döner standen die Betreiber draußen und rauchten.