Mord und andere katalanische Spezialitäten - Uwe Rademacher - E-Book

Mord und andere katalanische Spezialitäten E-Book

Uwe Rademacher

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Beschreibung

Erlebe einen heiteren Spanien-Roman, der dich direkt an die sonnenverwöhnte Costa Brava versetzt. Arthur Crawley, ein britischer und sehr erfolgreicher Autor Anfang sechzig, kämpft mit einer Schreibblockade. Ansonsten genießt er das Leben in seiner Finca und verwöhnt seine fünf Katzen. Seine beschaulichen Tage enden, als eines Morgens Luisa mit ihrer Gitarre auftaucht. Die Studentin aus Oxford, ein großer Fan seiner Werke, stellt von da an sein Leben auf den Kopf. Bis dunkle Schatten sie einholen und sie gesteht, Hals über Kopf aus England geflohen zu sein. Derweil versucht Arthur, sich seiner heimlichen Liebe Alicia zu nähern. Nur leider ist die Bäckereibetreiberin mit einem notorischen Säufer verheiratet … Wird Arthur zu seiner Alicia finden und sein beschauliches Leben zurückbekommen? Autor Uwe Rademacher gelingt mit diesem Roman eine Liebeserklärung an ein liebenswertes Katalonien. Begib dich mit dem Eigenbrötler Arthur auf eine spannende Reise in ein katalanisches Dörfchen und begleite ihn zu den authentischen Bewohnern.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


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Eine Liebeserklärungan ein liebenswertes Katalonien

Für Birgit, Daniel & Hannah

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Das Ende der beschaulichen Tage

Der Tag X

Méhari

Von der Philosophie eines katalanischen Marktes

Auf zu neuen Ufern … 
oder auch nicht

Hotel California

Politik

Telefonterror

Asyl

Kreuzverhör I

Aus … aus, das Spiel ist aus!

Der Rettungsplan

On Tour

Ku-Klux-Clan

Ein unverhofftes Date

Workaholic

Jagdszenen

Der Sonne entgegen

Schattensprung

Date oder doch nicht …

Sardana

Nebelmond

Katzenjammer

Schachmatt

Happy Hour

Shopping Queen

Ein Euro für ein neues Leben

Neue Ufer

Happy Birthday, Luisa

Ein erster Schatten

Dämonen

Um Haaresbreite

Hollywood

Auferstehung

Terror

Ohnmacht

Von der Macht der Worte

Soweit die Füße tragen

Leise Zeichen

Mitternachts-Blues

Schatten

Konfliktpotential

Die Gretchen-Frage

Die heilige Nase

Sonnenflecken

Rückkehr aus dem verbotenen Land

Ein Toter bleibt selten allein

Götterdämmerung

Des Teufels Advokat

Todsünde?

Inspektor Robles

Offenbarung

Hausbesuch

Göttlicher Beistand

Gritli und Nero

Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun

Bittere Wahrheiten

Trommelfeuer

Lazarus und Genossen

Ruhe vor dem Sturm

Aus heiterem Himmel

Undercover

Rauchzeichen

Kreuzverhör II

Bilderrätsel

Die Luft wird dünner

Arlo Gibbins

Der Kandidat

Das Konzert

Ruhe in Frieden

Eines langen Tages Reise 
in die Nacht

Agent Parker in geheimer Mission

Kein Stern am Himmel

Krisenmanagement

Sondereinheit Parker

Amazonen

Inquisition

Nackte Wahrheit

Notfallplan

Täglich grüßt das Murmeltier

Dämonen

Sternschnuppen

Der Teufel trägt Kutte

Grüner Spargel und Tränen

Das Ende der Häberlis

Nachlese

Jekyll and Hyde 
(katalanische Version)

Onkel Dagoberts Geldspeicher

Piraten wie wir

Sekt oder Selters

Die Furie

Das schwarze Loch I

El Agujero Negro II

Einspruch, Euer Ehren!

Ouvertüre

Intermezzo

Im Auge des Sturmes

Im Garten der Liebe

Feuer frei, tapferer Streiter

Sorgenfalten

Notfall-Management

Hektik hoch Zehn

Henkersmahlzeit

Bis aufs Messer

Trommelfeuer

Recht und Gerechtigkeit

Atempause

Drei oder vier Kamele

Abspann

Auf ein Wort …

Über den Autor

Impressum

Prolog

Mein Name ist Arthur Crawley.

Ich bin zweiundsechzig Jahre alt, ledig und seit fast fünf Jahren hauptberuflich Schriftsteller. Hört sich merkwürdig an, entspricht aber der Realität, auch wenn ich es an manchen Tagen selbst nicht glauben kann.

Ich habe ein einziges erfolgreiches Buch geschrieben, nun, eigentlich sind es drei Bände, ergo eine Trilogie: Fantasy – Die Insel-Chroniken. Urban Fantasy im Fachjargon. Gedruckt über fünftausend Seiten. Irre, oder? Wie kann man nur so viel schreiben?

Also, na ja … es geht, besonders dann, wenn man von einem inneren Fieber befallen wird, welches einen immer weitertreibt, weil man nachts mit der Story zu Bett geht und am nächsten Morgen mit neuen Ideen aufwacht.

Es gibt dieses Jahr zu Weihnachten eine sechsbändige, aufwendig gestaltete Schmuckausgabe. Krasse Sache, oder?

Als ich schon nicht mehr daran glaubte, erbarmte sich eine Lektorin. Ich durfte das ganze Manuskript einsenden, und … Wunder über Wunder: Das komplette Werk wurde sukzessive veröffentlicht und verkaufte sich gar nicht mal schlecht.

»Du bist nicht so gut wie George R.R. Martin, aber dein Buch hat einen unschlagbaren Vorteil«, dozierte mein ewig grummelnder Verleger. Die haben alle was von Onkel Dagobert, ständig jammernd, dem Armenhaus nahe und am Hungertuch nagend. »Deine Geschichte ist zu Ende erzählt, außerdem stehen die Leute anscheinend auf kaputte Helden und starke Frauen.«

»Yo«,hatte ich lapidar geantwortet. »Wer tut das nicht.«

Es gab wohlwollende Artikel in der Zeit und in der Frankfurter Rundschau, daheim in der Times und im Guardian. Die Fangemeinde wuchs und die Verkaufszahlen stiegen. Fünfte Auflage aktuell, und das, ganz ehrlich, ist ebenfalls verdammt krass. Mein Vertrag wurde nachgebessert, aber das ganze Gewese wuchs mir über den Kopf, also suchte ich mir professionelle Hilfe und fand eine mit allen Wassern gewaschene Agentin.

Audrey Parker. Der Hammer. Ein Vulkan mit der Lizenz zum Gelddrucken.

»Ich vertrete nur Klienten, deren Bücher mir auch gefallen«,war der erste Satz, den ich von ihr zu hören bekam.

Ich drückte ihr die Standardausgabe im Schuber in die Hand. »Na dann, viel Spaß damit. Wann werde ich von Ihnen hören?«

»Übermorgen.«

Das maliziöse Lächeln in ihrem rundlichen, von glatten blonden Haaren umrahmten Gesicht zeigte, dass sie sich über meinen ungläubigen Blick amüsierte – aber hey, wer liest so einen Schinken in zwei Tagen?

»Da haben Sie sich aber ordentlich was vorgenommen«, gab ich zu bedenken. »Leiden Sie unter Schlafstörungen?«

»Wenn es mich langweilt, melde ich mich schon morgen. Oder in zwei Stunden.«

Nach immerhin drei Tagen fand ich mich wieder in ihrem schnieken Büro in Manchester ein. Ihre Augen zierten dunkle Ringe. Sie reichte mir die Hand und nickte. »Das ist okay. Was haben die Geizkragen Ihnen offeriert?«

Ich nannte eine Summe und die Vertragslaufzeit.

Sie schüttelte nur mitleidig den Kopf. »Das ist ja ’ne Lachnummer. Soll ich Sie vertreten?«

»Als meine Agentin?«, fragte ich einfältig zurück. Sie sah mich bloß an, mit ihrem Röntgenblick. »Okay!«

Sie nickte zufrieden und zerriss die Vorschläge des Verlags in der Luft. »Ich melde mich, wenn ich mit den Halsabschneidern einig geworden bin, bis dahin wird nichts unterschrieben.«

»Deal!«,stimmte ich aufgeregt zu. Für einen Moment taxierten wir uns.

»Du hast mich zum Weinen gebracht, Arthur Crawley.«Wow, schon waren wir per Du. Unvermittelt tippte sie mit ihrem Zeigefinger auf meine Nasenspitze. »Und zum Träumen und zum Nachdenken. Mir gefällt dein Schinken.«

Ich grinste gebauchpinselt, wahrscheinlich wieder recht dümmlich. Sie hatte offensichtlich alle drei Bände zumindest quergelesen.

Mein Verleger und Audrey begaben sich in eine Art Konklave. Messer wurden gewetzt, Drohungen ausgesprochen und Stimmen erhoben. Nach zwei Wochen zäher Verhandlungen präsentierte sie mir das Ergebnis. Ich sage mal nichts konkret zu den Summen, aber mir blieb die Spucke weg.

»Das reicht wohl für den Rest meiner Tage.«

»Das soll es auch, du bist ein spätes Talent. Du hast nur eine Verpflichtung zu erfüllen: Schreib gefälligst weiter, solange deine Birne noch halbwegs funktioniert.«

»Oh, ja.« Ein Vertrag über fünf Jahre, der mich verpflichtete, mindestens drei Bücher zu schreiben, der aber auch die Veröffentlichung darüber hinaus garantierte. Keine Festlegung auf ein Genre, kein geknebelter Autor, die Freiheit des Dichters wurde in allen Punkten gewahrt. »Wow, danke.«

Audrey lächelte hintergründig. »Zwanzig Prozent, Arthur, und dreißig bei den Filmrechten.«

»Ist das gut?«

»Wenn alles so hinhaut, wie ich mir das vorstelle, dann werde ich nur noch für dich arbeiten müssen, oder gar nicht mehr, falls du nochmal was Vernünftiges zu Papier bringen solltest.«

Das alles ging vor fünf Jahren los, der Vertrag wurde vorzeitig auf acht Jahre verlängert. Die Chroniken sind noch immer in den Top 30 der Bestsellerlisten, ein Dauerbrenner, wie man so schön sagt.

Als die Kohle vermehrt floss, kaufte ich dieses Haus in Calonge, einem kleinen Nest an der Costa Brava, zwischen Gironaund Barcelona in Katalonien. Hier lässt es sich leben, zumindest von Ostern bis der liebe Gott irgendwann Anfang November den Schalter umlegt. Die Winter können unleidlich daherkommen mit Schnee, Matsch und viel Regen, aber die letzten Jahre waren fantastisch mild. Mein Spanisch kann man als mittelprächtig bezeichnen, aber die Eingeborenen, die untereinander nur Catalan sprechen, sind nachsichtig mit el Escribar, dem zugereisten Schreiberling aus England.

Alles ist supergeil und megacool, wie man heutzutage annehmliche Dinge zu umschreiben pflegt – wäre da nicht dieses klitzekleine, gänzlich uncoole Manko zu vermelden …

Man nennt es auch heute noch: eine Schreibblockade.

Das Ende der beschaulichen Tage

Der Tag X

Die ganze Chose begann im Juli 2016, also im vergangenen Jahr. Das genaue Datum weiß ich nicht mehr, auf jeden Fall war es ein Donnerstag Anfang Juli. Nach einer Nacht, in der ich vier Stechmücken eine erbitterte und letztendlich erfolgreiche Schlacht geliefert hatte – die Blutflecken an der frisch getünchten Wand zeugten von meinem heroischen Sieg – machte ich mich auf, um den kleinen Wochenmarkt inCalongezu besuchen. Gemüse, Obst, ein Gläschen Weißwein bei Antonio, das Übliche halt.

Donnerstag ist Markttag. Für mich ein lieb gewonnenes Ritual, deshalb die Gewissheit, um welchen Wochentag es sich handelte. Übermüdet, aber zufrieden damit, mein eigenes Blut rot gesprenkelt auf der Wand verorten zu können, kramte ich in der Schale auf dem Sideboard in der Diele nach meinem Wagenschlüssel. Vor dem Haus beschwerten sich die Katzen lauthals über das ausbleibende Frühstücksbuffet, aber in meinem Alter benötigt man feste Regeln zum Überleben, und die für den Donnerstag lautete: erst die Einkäufe und dann die Dachhasen.

Noch ehe ich die Tür öffnen und mich mit fünf anklagenden Augenpaaren konfrontiert sehen konnte, vernahm ich eine Stimme, eindeutig weiblich, ziemlich erschöpft.

»Hallo, sind Sie zuhause?«

»Auch das noch, Besuch am frühen Morgen«, brummte ich unwillig, ging zurück ins Wohnzimmer und von dort auf die Terrasse, die fast mein ganzes Haus umlief. Ich tastete mich vor bis zum äußersten Zipfel. Von dort konnte ich auf den Wendehammer der Sackgasse blicken. Das Haus gegenüber stand zum Verkauf und war seit fast einem Jahr unbewohnt. Erst residierten dort Schweizer, denen es daheim zu teuer geworden war, dann verkauften die gewieften Finanzhaie aus dem neutralen Ländle das Objekt für einen irren Preis an eine russische Familie, deren Patriarch Anatoli Soundso immer mit einer dicken Geldrolle in der Hosentasche herumlief. Nachdem der erfolgreiche Baulöwe sich zu Tode gesoffen hatte, verkaufte die wasserstoffblonde Natalia Haus und Grundstück für einen Spottpreis an einen hiesigen Makler, der seitdem händeringend neue Käufer oder zumindest Mieter suchte.

Der Russe war in seinem eigenen Pool ersoffen. Irgendwie machte die Geschichte die Runde, und niemand wollte das verfluchteHaus kaufen, wahrscheinlich wegen Anatolis Geist, der dort drüben sein Unwesen trieb.

Mir war das derzeitige Arrangement ganz lieb. Keine Nachbarn, keine wilden Partys, keine verhätschelten Köter, die meine Katzen jagten.

»Hallo, da sind Sie ja.«

Ich schob meine Sonnenbrille energisch den Nasenhügel hinauf. Auf der etwa einen Meter hohen Mauer, die mein Grundstück von dem Ascherondell abgrenzte, saß ein dunkelblondes Mädchen, die langen Beine in Jeans gehüllt, die Füße in klobigen Wanderstiefeln verpackt. Das dunkelblaue T-Shirt komplett durchgeschwitzt, einen Rucksack neben sich abgelegt. Aus einem erschöpften Gesicht blitzten mich zwei blaue Augen erwartungsfroh an.

Ich schwieg. Hey, das kann ich wirklich gut und ausdauernd.

»Ich bin den weiten Weg vonFarington bis auf diesen verdammten Berg gereist.«

»Farington?« Auch das noch, eine Engländerin. »Wo, bei unserer Hohen Mutter, soll das denn sein?« Ohne nachzudenken hatte ich eine der Gottheiten aus meinem Buch bemüht.

»Zwischen Bampton und Buckland, in der Nähe vonOxfordshire. Ich wohne in einem wunderschönen Haus an der berühmten Tadpole Bridge.«

»Nie gehört.«

»Macht ja nichts, ich dachte nur …«

»Ich bin aus England sozusagen geflohen.«

»Ich weiß.«

»So? Sie scheinen ja bestens informiert zu sein, junge Dame, aber …«

»Luisa.«

»Wie bitte?«

»Ich bin Luisa. Ich bin Ihr größter Fan.«

»Nun, das ist schön, aber …«

»Ich habe die Chroniken schon fünfmal gelesen.« Das Mädchen, oder sagen wir gerechterweise die junge Frau, strahlte über ihr ganzes erhitztes Gesicht. »Es ist wundervoll. Ich liebe es.«

Tatsächlich war ich ein wenig verlegen. »Äh, gewiss …«

»Ich hatte nicht mehr genug Geld.«

»Geld? Wozu denn?«

»Dieser raffgierige Taxifahrer hat mich nur bis zu den Müllcontainern heraufgefahren. Weiter reichte meine Kohle nicht, also musste ich den Rest laufen.« Sie wischte sich mit dem Ende ihres Shirts den Schweiß von der Stirn und entblößte dabei einen ziemlich weißen flachen Bauch. »Ich glaube, der hat mich ganz schön beschissen.«

»Sie müssen vorab den Fahrpreis aushandeln, Mädchen.«

»Ja, ist sicher besser, aber jetzt habe ich nur noch einen Euro sechzig. Au Backe, ist das heiß, schon am frühen Morgen.«

»Schön, Luisa, Sie sind ein Fan meiner Trilogie. Das finde ich gut«, knurrte ich leicht genervt. Aufkommende Kopfschmerzen kündigten weiter steigenden Luftdruck an. Es würde ein richtig heißer Tag werden, und jede Minute, die ich jetzt verschwatzte, würde ich auf dem Markt teuer bezahlen müssen. »Ich hoffe, Sie haben die Bücher auch gekauft und nicht irgendwo heruntergeladen.«

»Was denken Sie denn? Ich habe eine Ausgabe nur zum Lesen und eine unbenutzte zum Anschauen im Schrank, ein E-Book für meinen Reader, das Hörbuch, die ungekürzte Lesung und die Weihnachts-Schmuckausgabe vorbestellt.«

Jetzt war ich doch beeindruckt. »Ah, okay, also, das ist wirklich … Respekt.« Ja, Herr im Himmel, was soll man denn auch sagen?

»Kann ich vielleicht ein Glas Wasser bekommen, mir ist ein wenig schwindelig.«

Oha. Das wird keine gute Schlagzeile: Treuester Fan stirbt vor dem Haus des Dichters … Sie sah herzerweichend zu mir hinauf.

»Gut, meinetwegen, fallen Sie mir bloß nicht tot um, ich kann keine negative Presse gebrauchen.« Es war schon schlimm genug, dass sich alle Welt fragte, wann denn mein neuer Roman erscheinen würde. »Gehen Sie durch das Törchen hinunter zum Pool, ich bringe Ihnen was zu trinken.«

Der Fan aus dem Vereinigten Königreich nickte folgsam, öffnete das quietschende Metalltor und trabte die knapp zwanzig Stufen hinunter zum Pool. Erschöpft schleppte sie sich bis zu einer der Liegen, die unter der ausladenden Palme auf Gäste warteten. Ich füllte eine Karaffe mit Zitronenwasser. Gläser standen ausreichend in der kleinen Sommerküche.

Die Katzen maulten lautstark. Wieder kein Futter, stattdessen Wasser für eine Wildfremde. Seufzend stiefelte ich in meinen Wellnessbereich.

»Wahnsinn, darf ich Ihnen die Hand geben?« Luisa sprang von der Liege auf. In ihrem hübschen Gesicht las ich so etwas wie Heldenverehrung.

»Ach, nun trinken Sie erstmal was«, wehrte ich verlegen ab. Das erste Glas leerte sie in einem Zug. »Langsam, langsam, das gibt sonst Krämpfe.«

»Puh, Sie haben ja recht. Jetzt aber …« Entwaffnend lächelnd hielt sie mir ihre rechte Hand hin. »Luisa Verbeek.«

»Das klingt gar nicht britisch.«

»Mein Vater ist Holländer, meine Mutter Engländerin. Sie haben sich auf einer Star Trek Convention kennengelernt, meine Mom ging als Seven of Nine und Dad als Lieutenant Worf.«

»Krasses Paar.« Ich nahm kurz ihre verschwitzte Hand. »Echter Kult.«

»Haben sich sofort ineinander verknallt.«

»Das soll vorkommen.« Den zweiten Becher trank sie in kleineren Schlucken. »Luisa …« Ich setzte mich auf die Liege vis à vis. »Ich bin ehrlich beeindruckt, und ich freue mich, eine so reizende Bewunderin meines Werkes kennenzulernen … Aber mal ganz ehrlich, was versprechen Sie sich von dieser … Aktion?« Mit einem Auge schielte ich auf die Wanduhr in der Sommerküche. Halb neun. Ich war schon verdammt spät dran.

»Ich habe da ein paar Fragen.«

»Zu den Chroniken?«

»Genau.«

Auch das noch, ein Fan, der das Buch wahrscheinlich besser kennt als der Autor. Das wird voraussichtlich eine schreckliche Haarspalterei, ich hasse das. »Aber ich habe jetzt keine Zeit, ich muss zum Markt.«

»Macht ja nix, muss ja nicht jetzt sein.«

»Bleiben Sie länger?«

»Den ganzen Sommer. Wahrscheinlich bis Anfang Oktober. Mein Semester beginnt dann wieder.«

»Das sind locker drei Monate!«

»Ja, ist das nicht großartig?«

»Wie man’s nimmt. Wo werden Sie denn wohnen?«, fragte ich alarmiert.

»Ich habe ein Zimmer gemietet. InCalonge, bei Señora Marisol. Es ist winzig, aber für mich wird es reichen.«

»Himmel, ist das nicht eine Bruchbude?«

»Passt schon. Ich konnte erst mal für zwei Wochen bezahlen; wie gesagt, ich habe nur noch einen Euro sechzig.«

»Na, das sollte kein Problem sein, es gibt ganz in der Nähe einen Geldautomaten.«

Luisa lachte hell. Mir fielen ihre langen, dunklen Wimpern auf. Ein schöner Kontrast zu den blauen Augen. »Ich habe keine solche Karte.«

»Travellerschecks?«

»Nö.«

»Ihre Eltern schicken Geld?«

»Nee, die wissen doch gar nicht, wo ich bin. Die sind auf einer längeren Geschäftsreise in Asien.«

»Aber … Aber wovon wollen Sie denn leben?« Ich denke, ich klang ziemlich konsterniert und spießig.

»Ich habe meine Gitarre mit.«

Aha, damit war wohl alles gesagt. Ich bin für dieses In-den-Tag-Hineinleben wohl doch schon zu senil. »Was studieren Sie denn?«

»Literaturwissenschaften, Schwerpunkt auf der Neuzeit.«

Na klar, was sonst. »Bestimmt interessant.«

»Oh ja, ich habe ein Referat über die weiblichen Protagonisten der Insel-Chroniken geschrieben und plane meine Bachelor-Thesis über die wichtigste Figur, Jack Dawson, zu verfassen.«

»Lieber Himmel.«

»Ich hoffe auf ein paar Anregungen von Ihnen.«

»Nun, wie dem auch sei … Ich muss jetzt zum Markt.«

»Sie fahren doch bestimmt mit dem Auto.«

Auch das noch … »Okay, ich nehme Sie mit, ich fahre eh nach Calonge.«

»Dankeschön! Kann ich noch was von dem köstlichen Wasser haben?«

Méhari

»Was ist das denn für ein lustiges Gefährt, das hat ja gar keine Türen.«

»Das ist ein Citroën Méhari, der braucht keine Türen.«

»Und auch kein Dach, so wie es aussieht.«

»Man kann eine Plane spannen, aber meine ist kaputt und ich bekomme einfach keine neue.«

»Schick, so in Gelb«, lobte Luisa aufgekratzt.

»Baujahr ’85, der verrottet nicht, ist alles aus Hartplastik. War in den meisten Ländern gar nicht zugelassen, nicht verkehrssicher, vor allem für die Insassen.«

»Wieso heißt das Auto Méhari, hat das was zu bedeuten?«

Kaum neugierig, das Mädchen … »Kommt aus dem Französischen und heißt so viel wie Renndromedar.«

»Klasse, das ist mal ein außergewöhnliches Teil.«

»Nun steigen Sie endlich ein, wir sind spät dran.«

Warum hatte ich eigentlich wir gesagt?

Knatternd und stotternd erwachte der Zwei-Zylinder-Boxermotor aus seiner Lethargie. Durch die billigen Kunstlederimitate der Sitze bohrten sich unangenehm einige Federn. Ich rutschte mit meiner linken Pobacke so lange hin und her, bis ein halbwegs schmerzfreies Sitzen möglich war.

Die Katzen beäugten mich ungehalten. Joschi, der dicke Chefkater, strafte mich mit Missachtung. Trine, die Kleinste, maunzte kläglich. Sie vermittelte mir das Gefühl, dem Hungertod nahe zu sein.

»Es gibt was, wenn ich wiederkomme«, erklärte ich.

»Die sind süß.«

»Nicht alle.«

Der Motor röhrte wütend auf, weil ich zu spät einen Gang einlegte. Luisa schloss die Augen, drehte ihr Gesicht gen Sonne und genoss den Fahrtwind. Wir rumpelten über die mit Schlaglöchern übersäte Straße. Erst als wir den Platz mit den Müllcontainern erreichten, wurde der Belag besser. Mein gelber Bomber schnurrte zufrieden.

»Soll ich Sie an Ihrer Behausung absetzen?« fragte ich voller Hoffnung.

»Kann ich nicht mitkommen? Ich könnte Ihnen die Tüten zum Auto tragen.«

»Sehe ich so gebrechlich aus?«

»Nein, sicher nicht, ich wollte nur nett sein.«

»Na gut, der Vormittag ist eh versaut.«

»Oh, ich hoffe, das ist nicht allein meine Schuld.«

»Nee, Urheber waren die Mücken letzte Nacht. Ich hatte vergessen, das Fliegengitter rechtzeitig vors Fenster zu schieben.«

»Tomatenpflanzen.«

»Wie bitte?«

»Tomatenpflanzen aufs Fensterbrett. Das mögen die Viecher nicht.«

»Habe ich noch nie gehört.«

»Man lernt nicht aus«, erwiderte Luisa fröhlich.

Ich lenkte den Wagen auf den Parkplatz am Samal, meinem Lieblingsrestaurant. Über eine Treppe und einige Schleichwege gelangten wir auf den Markt, der sich in den Gassen von Calongeausbreitete.

Von der Philosophie eines katalanischen Marktes

»Das ist echt urig hier, kaum Touris«, freute sich Luisa.

»Deshalb kaufe ich hier.«

»Ist gar nicht so weit bis zu meinem Zimmer, nur ein paar Straßen bergauf.«

»Was nimmt Ihnen die gute Marisol denn ab?«

»Zwanzig pro Nacht.«

»Mit Frühstück?«

»Nee, leider nicht.«

»Also wirklich, das ist kein Schnäppchen. Die kleinen Kemenaten kriegt die doch niemals vermietet. Ganz schön schrappig, die Dame.«

»Ach, ist schon gut, wenn ich mal ein bisschen was verdient habe, suche ich mir vielleicht was Besseres.«

»Ist ein ganz schöner Fußmarsch runter ans Meer, von Platja D’Aro ganz zu schweigen.«

»Ich weiß, aber ich wollte nicht unter freiem Himmel schlafen. Würde ich zwar gern, aber ich glaube, das ist in Spanien verboten.«

»Wir sind nicht mehr in den Sechzigern.«

»Die gute alte Flower-Power-Zeit.« Man hätte meinen können, Luisa selbst wäre in dieser Periode aufgewachsen, so bedeutungsschwanger klangen ihre Worte.

Ich steuerte zielstrebig auf den winzigen Verkaufsstand von Pepita Garrido zu. Das Alter der Bäuerin ließ sich unmöglich schätzen, irgendwo zwischen achtzig und hundertfünfzig. Wie immer ganz in schwarz gekleidet und hochgeschlossen, hockte das Persönchen von vielleicht vierzig Kilogramm auf einem dreibeinigen Schemel hinter ihren Körben mit Zucchini, Möhren, Auberginen, Kopfsalat und schrumpeligen Äpfeln.

»Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen guten Morgen, Señora Garrido.«

Ein wohlwollendes Aufblitzen ihrer wachen Augen. Sie hob ihre von Altersflecken gesprenkelte Hand zum Gruß. »Señor Crawley.« Es klang ziemlich kratzig, etwa so wie Krali, aber mit viel Phantasie konnte man meinen Namen erahnen.

»Wie ich sehe, haben Sie wieder erlesene Waren anzubieten.«

»Pst.« Luisa zupfte am Ärmel meines weißen Hemdes. »Das Gemüse ist halb verwelkt und das Obst angefressen«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Da sind jede Menge Würmer in den Äpfeln.«

»Wollen Sie wohl still sein! Das hat schon alles einen Sinn.«

»Aber dort drüben gibt es viel schöneres Obst.«

»Auf der Stelle geben Sie Ruhe!« befahl ich. Ihre Mundwinkel sanken nach unten, und ihre Augen wurden ganz groß, aber immerhin sagte sie nichts mehr. »Señora, ich weiß, es kommen noch viele Kunden, aber dennoch würde ich gern diese vier Salatköpfe nehmen. Wenn Sie dann noch so freundlich wären, jeweils ein Kilo Zucchini und Möhren für mich abzuwiegen.«

In meinem Rücken schnaufte Luisa ungläubig. Señora Garrido erhob sich würdevoll. Ihre knotigen Hände schaufelten geschickt das Gemüse und den Salat in Papiertüten.

»Ach ja.« Ich sah mich zu meinem Bücherfan um und schenkte Luisa ein diabolisches Grinsen. »Zwei Tomatenpflanzen nehme ich noch, und … ach herrje, ich wage kaum zu fragen: Kann ich alle Äpfel bekommen?«

»Für Sie will ich eine Ausnahme machen«, beschied Pepita großherzig. Sie lächelte zauberhaft. »Weil Sie ein so lieber Stammkunde sind. Ich werde die anderen Einkäufer auf nächste Woche vertrösten müssen.«

»Eine große Ehre, Señora Garrido. Ich danke Ihnen wirklich sehr. Ihre Äpfel haben ein einzigartiges Aroma.«

Die alte Bäuerin sah mich versonnen an, und für Sekunden war ihre verflossene Schönheit zu erahnen, die vollendeten Lippen, eine zierliche Nase und eine hohe Stirn. Eine stolze Königin.

Ich drückte Luisa schon einmal den Salat und die Tüte mit dem Gemüse in die Hand. Ihre Stirn legte sich in niedliche Waschbrettfalten. Sie schien mein höchst unlogisch erscheinendes Verhalten zu analysieren.

»Hier sind Ihre Äpfel.«

»Danke, das wird ein sicher vorzüglicher Kuchen.«

»Ah, ein Kuchen.« Pepita schmunzelte fein. »Mehr kann ich Ihnen leider nicht verkaufen, Señor Art.« Ich lächelte glücklich zurück. Mit dem halben Vornamen angesprochen zu werden, bedeutete eine große Ehre. »Sie wissen schon, wegen der Stammkundschaft.«

»Natürlich, Señora«, stimmte ich geflissentlich zu. »Was bin ich schuldig?«

Nun kam die große Abschlusszeremonie. Auf einem winzigen Fetzen Papier addierte die grauhaarige Dame mit einem Bleistiftstummel Zahlen auf. Ich spürte Luisas bohrende Blicke in meinem Rücken.

»Das macht zwei Euro und achtzig Cent, Señor Crawley.«

»O la la, Señora, aber das kann ja nicht sein.« Ich spielte die Rolle des entsetzten Einkäufers wie in einer drittklassigen Seifenoper. Ich hob die Hände gen Himmel. »Die Äpfel, Señora Garrido, Sie haben ganz offensichtlich vergessen, die Äpfel zu berechnen.«

»Ah, natürlich, wie dumm von mir.«

»Aber nicht doch. Bei dem Trubel kann das leicht passieren.«

»Sie sind sehr freundlich, Señor.«

Ich zog mein Portemonnaie aus der Hosentasche. Jetzt kam der kritische Augenblick. Ich reichte ihr einen Zwanzig-Euro-Schein.

»Ach, das ist aber ärgerlich, leider habe ich kein passendes Wechselgeld zur Hand.«

»Aber das macht doch nichts, Señora Garrido. Wenn es Ihnen recht ist, dann händigen Sie mir nächste Woche den ausstehenden Betrag aus.«

»Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Señor Art.«

»Aber das ist doch selbstverständlich.« Wir nickten einander zum Abschied zu. Der grummelnden Luisa übergab ich eine weitere Tüte mit Äpfeln. Was musste sie sich auch einmischen.

»Was war das denn?« fragte sie trocken, nachdem wir den Stand hinter uns gelassen hatten und die ansteigende Straße zum Kirchplatz in Angriff nahmen. »Sie haben gerade das gammeligste Obst und das schäbigste Gemüse des ganzen Markts aufgekauft.«

»Nicht ohne Grund«, gab ich, immer noch leicht verärgert, zurück.

»Wollen Sie mir das erklären?« Ein knurrendes Geräusch irritierte mich kurz. »Verzeihung, ich habe heute noch nichts gegessen.«

»Nicht klug.«

»Ich wollte Sie nicht verpassen.«

»Na, das ist Ihnen jedenfalls gelungen.«

»Was ist nun mit dem Zeug?«

Sie würde sowieso nicht lockerlassen, also warum nicht den Sachverhalt aufklären. »Señora Garrido ist mit achtundzwanzig Jahren Witwe geworden.«

»Oh, wie schrecklich, aber was hat das mit dem Gammelgemüse zu tun?«

»Kann ich jetzt ausreden oder kommt nach jedem Satz von mir eine Beileidsbekundung oder ein Kommentar?«

»Entschuldigung.«

»Und hören Sie auf, sich andauernd zu entschuldigen. Sie sind ja keine Hellseherin.« Ich wartete, aber das Mädchen blieb stumm. Keuchend schleppte sie das Gros meines Einkaufes. Unverzüglich bekam ich ein schlechtes Gewissen. Schon knurrte ihr Magen wieder. Ich seufzte resignierend und blies meine Wangen auf. »Die Katzen werden mir mein Gesicht zerkratzen.«

»Ich verstehe nicht.«

»Macht nix.« Ich schob Luisa und die drei Einkaufstüten in das Café, das einladend im Schatten gegenüber dem Amtssitz des Bürgermeisters auf Gäste wartete. Noch waren alle Tische frei.

Andres, der Besitzer, blinzelte aus noch nicht ganz wachen Augen, als wir uns an dem Tisch direkt neben der Eingangstür niederließen. Luisa wuchtete schnaubend Zucchini, Salat und Äpfel auf einen freien Stuhl.

»¡Hola, Arthur, bist spät dran heute!«

»¡Hola,Andres! Machst du bitte eine große Portion Schinken mit zwei Brateiern für diese junge Dame? Oder sind Sie etwa Vegetarierin?«

Luisa schüttelte den Kopf.

»Für deine Tochter?« fragte Andres Aguilar neugierig.

»Rede nicht so einen Blödsinn, Luisa ist … ein Fan aus England.«

Er kratzte nachdenklich seinen Dreitagebart. »So so, ein Fan.«

»Warum denn nicht? Dachtest du, in England liest niemand meine Bücher?« Ich wedelte ungehalten mit der Hand. »Nun aber los, das Kind hat Kohldampf.«

»Für dich einen Verdejo und ein Croissant mit Käse?«

»Wenn es nicht zu viel Mühe macht, der Herr.«

»Oh, kann ich bitte auch noch ein oder zwei Croissants zu den Eiern haben?« Luisa grinste mich verlegen an. »Wenn das okay ist.«

Ich zuckte nur mit der Schulter. »Du hast die junge Dame gehört, Patron.«

»Was ist das denn nun für eine Geschichte mit diesem Biomüll?«

Ich musste mich gewaltig konzentrieren, um den verloren gegangenen Faden wieder aufnehmen zu können. »Pepita Garridos Mann, Jorge, starb bei einer Kundgebung gegen das Franco-Regime. Man muss wissen, dass der feine Herr General ein ausgemachter Diktator war, der unter anderem die Katalanen mächtig drangsalierte, bis hin zur Unterdrückung der eigenen Sprache, von Bräuchen und Lebensart ganz zu schweigen. Die Historiker gehen davon aus, dass in den fünfziger Jahren zwischen fünfzehn- und fünfzigtausend politische Gegner exekutiert wurden. Dazu gehörte ein reichliches Maß an Katalanen. Hinzu kommen die Kollateralschäden, die bei verbotenen Demonstrationen einfach abgeknallt wurden. Einer davon war Jorge Garrido.«

»Worum ging es bei der Kundgebung?«

»Sardana, ein katalanischer Volkstanz. Auch den hatte Franco verboten.« Ich war gut über das Ereignis informiert, weil ich die Archive in Gironabesucht und die alten Zeitungsberichte gelesen hatte. »Der Irre hat eine seiner schwarzen Todesschwadronen ausgesandt, die ohne Vorwarnung die Tänzer niedergemäht haben, das war im Sommer 1951.«

Sie schaute mich verwundert an. »Die Tänzer? Es war nicht mal eine Demo?«

Andres brachte vorab schon die Croissants und zwei Gläser Weißwein.

»Nein, war es nicht, sie haben einfach nur getanzt, mehr haben sich die Menschen nicht zuschulden kommen lassen. Sie haben im Kreis getanzt, wie es bei der Sardana üblich ist, auf dem Platz vor der Kathedrale Santa Maria.«

»Das ist schrecklich.«

Ich nahm ein Glas und reichte es der verdutzten Studentin. »Saludo, auf die aufrechten Seelen.«

»Äh, vielleicht sollte ich jetzt keinen Alkohol zu mir nehmen, ich habe lange nichts mehr … Okay, kein Problem, den Blick kenne ich, einem Autor sollte man nichts abschlagen, auch wenn es erst kurz vor zehn ist. Ich sag mal cheers.«

Der fruchtige Weißwein harmonierte vorzüglich mit dem frischen Käsecroissant. Luisa verschlang ihre beiden Hörnchen in Rekordzeit.

»Man sagt, Pepita hätte sich nach dem Tod ihres Mannes für eine geraume Zeit in dem kleinen Bauernhaus verkrochen, dann sei sie, vorzeitig mit grauen Haaren gesegnet, durch die Tür gegangen, um ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen.«

Luisa hing kauend an meinen Lippen.

»Seit mehr als fünfzig Jahren bestellt sie ihren kleinen Hof selbst, in letzter Zeit helfen die Nachbarn ein wenig. Jeden Donnerstagmorgen steht sie in aller Herrgottsfrühe auf und kommt mit einem kleinen Bollerwagen, den ihr Eselchen Fortuna zieht, den langen Weg aus dem Tal zum Markt herauf.«

Betroffen senkte Luisa ihren Blick. Sie schien sehr schnell verstanden zu haben. Das beeindruckte mich.

»Sie lebt von den Erträgen ihres Hofs«, vermutete sie hellsichtig. »Deshalb kaufen Sie das olle Zeug auf, deshalb geben Sie ihr zwanzig Euro.«

Ich nickte zufrieden, das Mädchen war wirklich nicht dumm.

»Und das Wechselgeld werden Sie auch nicht einfordern.« Luisa sah mich warmherzig an. Sie war nicht im klassischen Sinne schön, strahlte aber eine umwerfende, ehrliche Herzlichkeit aus. »Ich finde das gut, sehr gut sogar.«

»Wir sind zu dritt«, gab ich bereitwillig Auskunft. »Man muss immer darauf achten, dass Pepitas Stolz und Würde gewahrt bleiben. Man kann ihr nicht einfach ein paar Scheine in die Hand drücken.«

»Deshalb die Show mit den Äpfeln und der Kohle.«

Andres servierte einen gewaltigen Teller mit frischem Tomatenbrot, Serrano-Schinken, Oliven, Paprika und zwei Blasen schlagenden Spiegeleiern.

»Hohe Mutter, das sieht ja phänomenal aus«, seufzte sie.

»Na dann: guten Appetit!« Andres machte keinerlei Anstalten, uns zu verlassen.

»Ist noch was?«

»Ich finde, sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten, el Escribar.«

»Oh, schleich dich von dannen, Weinpanscher«, giftete ich schmunzelnd.

Dank der vorangegangenen Croissants konnte Luisa das Essen jetzt genießen. Ihr Weinglas war tatsächlich schneller leer als meines.

»Gibt es denn keine staatliche Unterstützung, so was wie Sozialhilfe?«, fragte sie.

»Manche Menschen sind zu stolz, um diese Zuwendung anzunehmen. Pepita Garrido sieht sich als Großgrundbesitzerin, und das soll auch so bleiben.«

»Ich zahle Ihnen das Geld für das Frühstück zurück, sobald ich was verdient habe«, versprach Luisa, selig kauend.

»Ach.« Ich winkte ab. »Sie haben alle nur möglichen Ausgaben meiner Chronik gekauft.« Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Ist schon okay.«

»Danke auch.«

»Hm. Was wollten Sie denn fragen, da wir nun schon in so trauter Zweisamkeit zusammensitzen?«

»Eine ganze Menge. Ich hab’s aufgeschrieben, aber jetzt nicht dabei.«

»Das heißt also, Sie werden mich noch einmal aufsuchen.«

»Wenn ich darf.« Luisa legte Messer und Gabel beiseite. Andres brachte zwei weitere Gläser Verdejo. »Oh bitte, Mister Crawley …«

»Ach, lassen wir den Mist, ich habe heute offensichtlich meinen generösen Tag. Wenn Sie möchten, dürfen Sie gern Arthur zu mir sagen, aber bei dem Sie bleiben wir.«

»Das ist … Wow …! Ich bin total platt, Wahnsinn.«

»Das Ei wird kalt.« Langsam trudelten die ersten Gäste auf einen Espresso oder Latte Macchiato ein. »Jetzt essen Sie in Ruhe auf, dann schleppen wir meine Beute in den Méhari,und anschließend fahre ich Sie hinauf zur Villa Marisol.«

»Aber meine Fragen …«

»Eins nach dem anderen, meine Katzen zetteln sonst eine Revolution an.«

»Entschuldigung.«

Auf zu neuen Ufern … oder auch nicht

Ich zog eine Schnute und zwirbelte zum x-ten Male die Enden meines Schnurrbartes. Vor mir gähnte mich ein leerer Bildschirm an, eine weiße Seite, ein jungfräuliches Word-Dokument. Rechts neben mir ein nicht minder ungenutzter Notizblock, dazu ein schwarzer Filzschreiber. Links ein Glas Tempranillo.

Meine Finger schwebten regungslos über der Tastatur.

Fast vier Jahre ohne eine neue Idee. Nichts, aber auch rein gar nichts spielte sich in meinem verdorrenden Gehirn ab. Nicht der Hauch einer Inspiration, keine Geistesblitze, keine Eingebung, nicht mal ansatzweise.

Was für ein Genre sollte ich beackern? Das sollte ich doch wohl wenigstens wissen. Erst liebäugelte ich mit einem Piratenroman, dann fand ich den Plan voll bescheuert. Wer liest denn heutzutage eine Freibeutergeschichte?

Ein Psychothriller? So was mit viel Blut, fiesen Killern, übelsten Machenschaften, zwischendurch ein bisschen Porno, das geht doch immer.

Liebe Güte … nein! Auf keinen Fall!

Die Dinger waren doch alle gleich. Je perverser und ekliger die Serienkiller und deren Foltermethoden, desto erfolgreicher das Buch. Außerdem hatten alle Agenten, Detektive und sonstigen Ordnungshüter einen Vollschaden. Normale Ermittler schien es auf dem Markt gar nicht mehr zu geben. Säufer, Sexbesessene, Drogenabhängige, prügelnde Nervenbündel, korrupte Spitzel, von der Mafia bezahlt.

Das alles war ganz, ganz großer Bullshit.

Was lesen die Leute denn heutzutage auch für einen Müll?

»Versuch doch so was wie Shades of Grey«, schlug Audrey augenzwinkernd vor. »Diese Hausfrauenpornos kommen zurzeit gut an. Du lässt eine Domina einem süßen kleinen Studenten die Eier quetschen und ihn am Halsband herumkriechen.«

»Du hast sie ja nicht mehr alle!«

»War ein Scherz. Was Gesellschaftskritisches …? Große Politik, Verwicklungen, die Welt am Rand eines dritten Weltkrieges.«

»Ist nicht mein Ding. Die Nummer ist abgegriffen, dank Trump, Putin, Erdogan, Assad und dem Irren in Nordkorea wäre das ja nur eine langweilige Bestandsaufnahme der aktuellen weltpolitischen Lage. Kommt nicht infrage.«

»Dann mach was Historisches.«

»Ist doch genauso öde, das Thema ist durch, alles abgegrast, Wanderhuren, Hebammen, der Medicus, die Wikinger haben Wessex gefühlt schon tausendmal erobert.«

»Was ist mit den Schotten?« fragte Audrey stöhnend.

»Bitte nicht, die achttausend Seiten Highland-Saga meiner Kollegin Gabaldon sind nicht zu toppen. Außerdem hört sie nicht auf zu schreiben.«

»Herrje, dann schreib halt ein Kochbuch.«

Ich muss ziemlich belämmert aus der Wäsche geschaut haben.

»Capitan, ganz ehrlich … vier Jahre … du musst was liefern.«

Ich mochte es, wenn Audrey mich mit Capitan ansprach, denn so wurde die männliche Hauptfigur meiner Trilogie von seinen Leuten genannt. Gleichzeitig zeugte die Anrede von großem Respekt und Vertrauen.

»Überarbeite notfalls deinen Horrorroman aus den Achtzigern.«

»Der ist nicht fertig.«

»Dann schreib ihn doch einfach zu Ende. Der Plot ist nicht schlecht, die Sprache können wir ein wenig schleifen, aber die eigentliche Story ist ganz passabel.«

»Ich weiß aber kein Ende«, maulte ich.

»Lass den Scheißdämonen sterben, opfere eine Hauptfigur und fertig.«

»Das ist langweilig, das will kein Mensch lesen. Ich habe das Ding damals deshalb nicht zu einem Ende gebracht, weil mir keines eingefallen ist.«

»Himmel, dann nehmen wir deine Kurzgeschichten.«

»Das sind zu wenige.«

»Arthur.« Ihr Blick war jetzt der einer angepissten Oberschullehrerin. »Spätestens im Frühjahr müssen wir was von dir auf den Markt bringen. Das Weihnachtsgeschäft überbrücken wir mit der Luxusausgabe der Chroniken, aber dann ist Feierabend, der Vorschuss ist aufgebraucht, wir müssen was Neues liefern. Deine Leser lechzen danach.«

»Ja, vor allen Dingen unser Verleger.«

Ich versprach, den Sommer zu nutzen und produktiv zu sein.

Die Katzen lümmelten sich verbotenerweise auf dem Sofa. Ich war zu erschöpft für einen Kampf. Ich dachte an diesen merkwürdigen Vormittag, an meinen treuesten Fan aus Good Old England. Auf der Durchreiche zur Küche lagen Gemüse und Äpfel. Ich nahm einen kräftigen Schluck Rotwein und öffnete die Google-Suchmaske.

Ich tippte ein: Backrezept für einen Apfelkuchen.

Vielleicht sollte ich doch ein Kochbuch schreiben …

Hotel California

Am späten Nachmittag gab ich auf, wusste nicht so recht, ob ich stolz auf mich sein sollte oder doch nur beschämt. Ich hatte nach stundenlangen geistigen Verwerfungen einen Arbeitstitel ersonnen: Am Ende der Macht.

Boah, das klang gut, oder?

Gewichtig, gewaltig, vielversprechend … Allein über den Inhalt hatte ich mir noch keine wirklichen Gedanken gemacht, aber bitte … finden Sie erst mal einen Titel, das ist verflucht nicht einfach.

Ich rief Audrey an. Nach einer Weile des rauschenden Telefonschweigens fragte sie: »Und?«

»Wie … und?«, fragte ich zurück.

»Ja, was wird das denn, ein Krimi, wieder Fantasy, ’ne Beziehungskiste oder was?« Ich mochte mich irren, aber ihre Stimme klang nicht wirklich freundlich.

»Weiß ich noch nicht.«

»Dachte ich mir.« Ich hörte meine Agentin tief ein- und ausatmen. »Ruf mich erst wieder an, wenn du ein Exposé zu bieten hast.«

Gespräch beendet.

»Auweia, die war richtig sauer«, berichtete ich Joschi. Der Kater wandte sich demonstrativ ab. »Verräter.«

Ich beschloss in die Stadt zu fahren. Platja D’Aro warb damit, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr geöffnet zu haben. Das ist nicht gelogen. In den Sommermonaten gibt es so etwas Antiquiertes wie Ladenschlusszeiten gar nicht. Es wird geshoppt, bis der Arzt kommt, beziehungsweise solange der Euro rollt, aber auch in den Wintermonaten bleibt Platjadurchaus belebt.

»Ich nehme den Roller.« Trine wackelte erst mit dem linken Ohr, dann gähnte das graugescheckte Kätzchen herzhaft. Ihre Schwester Manita drehte sich, um gekrault werden, auf den Rücken. »Später, Kleine.«

Meine Vespa Primavera 50 war weiß, mit kirschrotem Sitz. Ein echter Blickfang. Gemütlich zockelte ich den Berg hinunter, bog dann auf die Küstenstraße Richtung Platja ein.

Halb sieben, noch strömten die Tourihorden von den Campingplätzen und Hotels nur kleckerweise gen City. Die aus der Großstadt flüchtenden Barceloner waren erst ab Freitagabend zu erwarten. An der Pizzeria Roma bog ich rechts ab und parkte mein Schmuckstück auf dem Grund der Tierklinik. Dank meiner Katzen war ich dort Stammkunde.

Paco, der kleine mexikanische Kellner aus der Cactus-Bar, winkte schon von weitem. Nix los, noch zu früh. Ein paar verbrannte Engländer mit puterroten Birnen und glühenden Oberkörpern in Muskel-Shirts hatten sich um eine dreikommafünf Liter Bier-Zapfanlage versammelt und bestellten gerade Nachos zum Cerveza. An diesem Tag stieg das Achtelfinalspiel England gegen Island im Rahmen der Euro 2016.

»Guinness?« fragte Paco, die Gäste von der Insel argwöhnisch beäugend.

»Brandy.«

»Muy bien.« Paco war kein Freund großer Worte.

Die Engländer intonierten vorsorglich schon einmal God Save The Queen.

Der Brandy gelangte weich und warm in meinen Magen. »Wird ’ne lange Nacht, wenn die gewinnen.«

»Island.« Paco verzog geringschätzig sein Gesicht. »Wird wohl nicht zu verhindern sein. Hauptsache, die kotzen nicht wieder alles voll.«

Der Chef des Hauses traf ein, nicht minder skeptisch seine bislang einzigen zahlenden Gäste begutachtend. Sergio Montanes setzte sich zu mir, den Motorradhelm noch am Arm baumelnd. Parkplätze waren rar und teuer in der City. Wie ich war er ein Zugereister, um genau zu sein ein Baske aus Lantarón, Provinz Álava. Der Nationalität nach ein Spanier, für die Katalanen aber nur ein Extranjero, ein Fremder.

»Was macht das Schreiben, geht’s voran?«, wollte der schlanke Endvierziger wissen.

»Ja, heute ging’s ganz gut«, log ich, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Briten verlangten lauthals nach einem frischen Kühlstab für ihre Plörre.

»Prima, Esteva und ich freuen uns schon auf dein neues Buch, hoffentlich wird es zügig ins Spanische übersetzt.«

»Si claro, wird ’n Kracher.« Ich blinzelte leutselig. Wir waren so etwas wie Verbündete im fremden Land, Extranjeros halt.

»In der Kaschemme von Miguel gibt’s heute Livemusik.« Paco reichte seinem Chef ein Ginger-Ale. »Mitten in der Woche.«

»Himmel, wahrscheinlich wieder drittklassigen Flamenco und billige Sangria«, vermutete ich grinsend.

»Keine Ahnung, Hauptsache der Krach kommt nicht bis zu uns rüber.« Miguels Taverne lag schräg gegenüber dem Cactus. »Das Schlimmste wäre dieser Kastrat mit seiner Eunuchenstimme.«

»Aiaiaiaiai, Caramba, Karacho, Muchachos«, jodelte ich halblaut. »Die Briten werden den Sound schon übertönen.«

»Wie auch immer … Die Arbeit ruft. Hau rein, Arthur, die Konkurrenz schläft nicht.«

Ich trank meinen Brandy aus und kehrte kurz im Pa y Vi ein, um bei Alicia Nuñez ein Würstchen im Blätterteig zu erstehen. Direkt neben ihrem schmalen, schlauchartigen Geschäft bereitete sich der Crêpe-Stand auf das Abendgeschäft vor. Die schlanke, immer gut gelaunte Alicia wirkte an diesem Abend reichlich erschöpft. Die Sommermonate verlangten oft einen vierzehnstündigen Einsatz, an den Wochenenden plus X, denn gerade die Katalanen liebten es, auch zu vorgerückter Stunde noch eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen oder schnell noch die Fünf-Liter-Weinkanister aufzufüllen. Im hinteren Teil des Ladens lagerten sieben große Fässer, aus denen einheimischer Weiß-, Rosé- und Rotwein abgefüllt wurde.

»Geht es ihnen gut, Señora Nuñez«, fragte ich leise.

»Danke, es geht schon. Es war ein heißer und langer Tag.« Sie lächelte, aber die feinen Lachfältchen um ihre Augen verschwanden gleich wieder. In ihrem Rücken fiepte der Backofen und verlangte geleert zu werden. »Und er ist noch nicht zu Ende.«

Ich nickte mitfühlend. Sicher war es nicht einfach, mit einem cholerischen Trunkenbold von Ehemann zusammenleben zu müssen, der sich einen Dreck um das Geschäft kümmerte. Jeder der Einheimischen wusste es, aber wie sollte man helfen?

Eine Horde blonder Teenager stürmte in den Laden, vielleicht Schweden. Im Nu waren die Vorräte an fettigem Ölgebackenen verkauft.

»Ich komme morgen mit dem Wagen, um meine Weinvorräte aufzustocken«, versprach ich.

»Ich werde hier sein.« Wir sahen einander in die Augen. Da war eine stille Trauer, eine unterdrückte Sehnsucht nach Freiheit und einem anderen Leben in ihrem Blick. Ich versuchte, zum Abschied aufmunternd zu lächeln.

In Gedanken versunken nahm ich die nächste Stichstraße zum Meer. Die Promenade war schon gut gefüllt. Ich mümmelte an meinem Wurstbrötchen. Die Touris bummelten auf der Suche nach dem besten Menü-Schnäppchen Richtung Süden. Ich zog meine ausgetretenen Sisalschlappen aus und ging durch den grobkörnigen Sand bis zum Wasser. In der Abenddämmerung waren die Lichter des Hafens vonPalamos schon gut zu erkennen. Die Hälfte des Terrains wurde von einer Dauerkirmes in Beschlag genommen. Einfach nur schrecklich. Wenigstens den Bereich, in dem die kleineren Fischerboote ankerten, hatte die Stadtverwaltung verschont.

Das Wasser schwappte herrlich kühl bis zu den Waden hinauf. Die Beachvolleyballer beendeten ihr Match – das Licht schwand schnell dahin. Die Seafront belebte sich zügig. Gerüche von gegrilltem Fleisch und Fisch, fröhliches Gelächter, Halbwüchsige verteilten Freikarten für die beiden ortsansässigen Diskotheken.

Ich setzte mich eine Weile auf eine Bank und sah einem jungen Vater zu, der tapfer versuchte, seinen etwa dreijährigen Wirbelwind müde zu spielen. Der Junge trug ein Barca-Trikot Nummer 10, Lionel Messi – wer denn auch sonst?

In stillen Stunden ertappte ich mich immer wieder dabei, in meine von mir geschaffene Fantasiewelt zu entfliehen. Anbanu, Welt der tausend Inseln. Am Ende der langen Geschichte ein friedlicher Ort. Ein wehmütiges Gefühl bemächtigte sich meiner. Du musst was Neues schreiben, alter Mann, das kann doch noch nicht alles gewesen sein, was du draufhast.

Beim oberen Ein-Euro-Shop, gegenüber dem unsäglichen Vergnügungspark, kehrte ich auf die Hauptstraße zurück. Ein endloser Wurm von Fahrzeugen schob sich behäbig durch Platja D’Aro. Im zentralen Teil der Stadt saßen die Gäste bei Paella und Schnitzel fast auf den Kühlern der Wagen. Kohlenmonoxid zum Dessert, all inclusive.

Im Cactus war die bombige Stimmung der Insulaner blankem Entsetzen gewichen. Die dreisten Isländer erzielten gerade das zwei zu eins. Paco grinste vergnügt zu mir herüber. Ich streckte den Daumen nach oben, derweil meine Landsleute schon nach einem Schuldigen suchten.

Ist doch ganz einfach, dachte ich belustigt. Im Zweifelsfall entweder der Trainer oder der Schiedsrichter, oder aber beide.

Ich nahm jetzt doch ein kleines Glas Guinness und weidete mich klammheimlich an den erstickten Grunzlauten aus dem Mutterland des Fußballs.

»Ach ja«, lallte ein bärtiger Hüne neben mir. Auf seinem viel zu engen T-Shirt prangte leuchtend die schottische Fahne. »Das Leben ist nun mal kein Ponyhof. Nun pfeif schon ab.«

Der Schiri tat uns den Gefallen. Great Britain versank in Wut und Selbstmitleid. Der Schotte und ich prosteten uns grinsend zu. Die englische Gesandtschaft verließ den heiligen Ort mit hängenden Schultern und weitestgehend sprachlos. Ein bemitleidenswerter Trauerzug, der hoffentlich nicht auf Rache sann.

Paco brachte meine Rechnung wie üblich in einem kleinen Bastkörbchen.

»Hasta mañana.« Er bedankte sich stumm für das Trinkgeld, Sergio hinter dem Tresen winkte zum Abschied. Halb elf. Zeit, mit dem Roller auf meinen Berg zu tuckern.

Aus der Bar de Torro drangen gezupfte Gitarrenklänge durch die geöffnete Tür nach draußen. Miguels Bar war unterirdisch angelegt, ein Souterrain, keine Fenster, nur eine bollernde Klimanlage und zweitklassige Beschallung.

Das Intro des Stückes kam mir irgendwie bekannt vor, trotzdem benötigte der alte Musikfreak ein paar Sekunden, um das Lied zu erkennen. Eindeutig, Hotel California, im Original von den Eagles. Siebziger Jahre, genau mein Ding. Ich blieb stehen. Jetzt musste eigentlich der Gesang einsetzen.

Eine getragene weibliche Stimme sang den Text in spanischer Sprache!

Ohne weiter nachzudenken ging ich die mit roten und blauen Lichtschläuchen dekorierte Treppe hinab in das Souterrain. Ein bunter, kitschiger Perlenvorhang trennte den eigentlichen Schankraum von der Treppe.

Luisa saß auf einem Barhocker, auf einer winzigen Bühne, von einem diffusen weißen Strahler beleuchtet, die langen blonden Haare frisch gewaschen, ein Strang geflochten und wie eine Krone um den Kopf gelegt. Die Bar war gut gefüllt. Miguel, ein recht schmieriger, zwielichtiger Zeitgenosse, dem man das eine oder andere illegale Geschäft nachsagte, wies mir, ob meines Erscheinens überrascht grinsend, einen Platz an der hintersten Ecke der Theke zu.

»Sieh an, la Densa in meiner bescheidenen Hütte, welch eine Ehre.«

»El Autor, Miguel, ich bin kein Dichter.«

»Ach, kommen Sie, Gedichte, Bücher, Romane, ist doch alles der gleiche Schund. Trägt nur zur Verblödung der Menschheit bei.«

»So? Dann danke ich schön.«

»Da wird nur unnütz Papier vergeudet. Ihr Schreiberlinge seid schuld an der Abholzung des Regenwaldes.«

»Aha, ich werde morgen als Buße einen Baum pflanzen. Sind Sie des Lesens denn überhaupt mächtig, Señor Vega?«

»Ah, immer einen Scherz auf den Lippen. Einen Vino Tinto?«

»Besser nicht, wer weiß, was Sie da zusammengepanscht haben. Una cerveza por favor«, wandte ich mich an den Barkeeper.

Luisa wiederholte letztmalig den Refrain, dann spielte sie die Soli bis zum Ende virtuos. Da stimmte aber auch alles, bis auf die letzte Variation. Tosender Beifall erfüllte den stickigen Raum.

»Gut, nicht?«, soufflierte Miguel Vega zufrieden.

»Mehr als gut«, bekannte ich beeindruckt. Engländer, Skandinavier, Holländer, Deutsche und einige wenige Katalanen applaudierten.

»Nun spiele ich den letzten Song für heute Abend«, kündigte Luisa erhitzt an. »Ich hoffe, es hat euch allen gefallen und ihr empfehlt mich weiter. Mein Name ist Luisa Verbeek, und ich möchte mich mit einer Ballade aus den Siebzigern von euch verabschieden. Der Song heißt Under One Roof und dürfte den wenigsten bekannt sein. Es ist aber ein wirklich tolles Stück, ich liebe es sehr und ich hoffe, es gefällt euch. Vielen Dank und bis bald.«

Wow, ein eher untypisches Stück der Rubettes zum Ende ihrer Karriere. Ich orderte ein weiteres Bier und spitzte die Ohren. Ein Song von einer erwachsen gewordenen Teenie-Band über eine schwule Liebe. Einfach nur wundervoll.

Luisa legte so viel Mitgefühl und Wärme in die einzelnen Strophen, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Das war wirklich allererste Sahne. Ich summte den Refrain leise mit.

»Ja, die Luft könnte besser sein«, brummte Miguel Vega, der mein Verhalten gänzlich missdeutete.

»Halten Sie doch einfach den Mund und hören Sie zu, Sie Kretin«, flüsterte ich halblaut. Er machte beleidigt auf dem Absatz kehrt.

Die tragische Geschichte endete mit dem Tod des verzweifelten Homosexuellen. Luisa wiederholte den Refrain zweimal. Zum Schluss verbeugte sich mein treuester englischer Fan und nahm sichtlich gerührt die Ovationen entgegen. Ich legte zehn Euro auf den Tresen und verließ Miguels anheimelndes Etablissement.

Unschlüssig setzte ich mich in den Außenbereich des Bistros vor die Minigolfanlage, die trotz der vorgerückten Stunde noch recht gut besucht war. Eine eiskalte Cola war jetzt angesagter als weiterer Alkohol, immerhin musste ich noch den Berg hinauf.

Es dauerte keine zehn Minuten, dann stürmte Luisa wutschnaubend aus Miguels Kaschemme. Sie überquerte den Zebrastreifen und erspähte mich im Halbdunkel.

»Mistress Verbeek.« Ich deutete auf einen leeren Korbstuhl an meinem kleinen Tisch.

»Oh, Arthur, ich bin … also ich bin wirklich …«

»Stinksauer?«

»Das ist noch gelinde ausgedrückt. Dieser elende Halsabschneider.«

»Mein ganz spezieller Freund Miguel Vega?«

»Genau.« Vorsichtig, fast zärtlich lehnte Luisa ihre Gitarre an den Stamm einer Palme. »Der hat mich total beschissen.«

»Lassen Sie mich raten. Er zahlt einen Hungerlohn.«

»Zehn Euro die Stunde.«

»Das ist eine absolute Frechheit«, erboste ich mich.

»Und nicht nur das. Er behauptet, ich hätte zu viele Pausen gemacht, also hat er mir von den dreißig Euro zehn abgezogen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das ist eine bodenlose Gemeinheit. Einen Wein?«

»Kann ich vielleicht einen Brandy bekommen?«

»Brandy? Sicher.«

»Danke. Jetzt kommt der Hammer. Sein aufdringlicher Kellner hat mir immer wieder ein Glas Wasser hingestellt, das ich natürlich auch getrunken habe. Singen Sie mal drei Stunden am Stück.«

»Besser nicht.«

»Für die fünf Wasser hat mir der Dreckskerl zwölf Euro fünfzig berechnet.«

»Was für ein Arsch.«

Sie freute sich über meine vulgäre Anteilnahme. »Also habe ich in den drei Stunden genau sieben Euro fünfzig verdient.«

»Das tut mir wirklich leid, Luisa, Sie haben eine Menge mehr verdient. Miguel ist einfach eine stadtbekannte Pestbeule, ein richtiger Abzocker. Ich weiß nicht, ob Sie das tröstet, aber … Sie waren wundervoll. Ich bin absolut hingerissen. Sie haben jetzt auch einen großen Fan. Das war ganz großartig.«

»Sie waren da?« fragte Luisa verblüfft.

»Leider nur zu Hotel California und Under One Roof.«

»Ach, wie schön! Ich habe Sie gar nicht gesehen.«

»Darf ich Ihnen ein Kompliment machen, ohne dass Sie es womöglich falsch verstehen?«

»Klar, Sie sind doch mein Held.«

»Nein, nein, nicht doch.« Ich schüttelte vehement den Kopf. »Wie Sie das Stück von den Rubettes interpretiert haben … Ganz ehrlich, das war fantastisch. Ich bin noch immer ganz verzückt. Einer Coverversion eigenes Leben einzuhauchen ist große Kunst. Bravo.«

»Sie kennen das Original?«

»Und ob, ich liebe es. Musikalisch bin ich ein Kind der Siebziger.« Wir stießen an. Luisa nahm einen großen Schluck und verdrehte kurz die Augen.

»Wow, das ist …«, ihre Mundwinkel gingen anerkennend nach unten, »verdammt guter Stoff.« Ich musste unwillkürlich lachen. »Sie sind nicht nur ein toller Schriftsteller, sondern auch ein Musikkenner.«

»Geht so, ich kann ein fürchterlicher Despot sein. Was mir nicht gefällt, mache ich gnadenlos nieder, da kenne ich kein Pardon.«

»Uiuiui, ich merke den Brandy.« Luisa atmete mehrmals tief durch. »Da werde ich nie wieder auftreten.«

»Haben Sie denn wenigstens heute Mittag was Anständiges gegessen?« Mir fiel ihre restliche Barschaft ein: ein Euro sechzig.

»Ein Baguette und ein Stückchen Käse.«

»Okay.« Ich sah auf mein Smartphone: 23.32. Ich schob ihr die kleine Speisenkarte herüber.

»Ich will nicht, dass Sie schon wieder bezahlen.«

»Es trifft keinen Armen.«

»Trotzdem, das ist nicht richtig.«

»Na gut, dann machen wir einen Deal.«

»Ja?«

»Sie spielen noch einmal Under One Roof für mich. Nicht hier und heute, sondern bei Gelegenheit. Ein Sonderauftritt nur für mich. Sie sind ja noch den ganzen Sommer hier.«

»Das ist viel zu wenig.«

»Ach was, vielleicht schneide ich den Song einfach mit. Wäre das okay? Ich besitze noch ein gutes altes Tonbandgerät und perfekte Mikros.«

Luisa strahlte mich an. »Klar, scheint Ihnen ja wirklich gefallen zu haben. Eine Live-Session, echt cool. Sie bekommen dann aber mehr als einen Song.«

»Mui bien, dann sind wir uns ja einig. Nun also? Chicken Wings?«

»Auf jeden Fall!«

»Kartoffelspalten mit Salsa Sauce dazu?«

»Unbedingt.«

»Und einen Salat.«

»Also, na ja, das kostet aber ’ne Menge.«

»Passt schon.«

»Dann müssen wir den Deal aber erweitern.«

»Hm?«

»Ich bin erst dreiundzwanzig. Ich fände es supertoll, wenn Sie mich duzen würden, also richtig. Ich bleibe natürlich, wie abgesprochen, bei dem Sie und Arthur.« Ein wenig ängstlich sah sie mich an. »Tut mir leid, ich bin manchmal etwas forsch.«

»Ja.« Ich zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck von meinem schwarzen Zuckerwasser. »Aber warum nicht? Sie sind nett und ein Fan. Wir sind beide Fans, ist doch ziemlich cool.«

»Wahnsinn.« Spontan sprang sie auf und drückte mir einen feuchten Kuss auf die Wange.

»Wann … hast du beschlossen, herzukommen – und woher wusstest du eigentlich, wo du mich finden kannst?«

Das Mitternachtsmahl wurde serviert. Ich stahl Luisa ein paar Kartoffelecken. Es war noch immer herrlich warm. Eine wunderbare Atmosphäre. Die Stadt summte vor Energie, und ich fühlte mich lebendig wie schon lange nicht mehr.

»Hab gegoogelt. Und als ich dann hier vor Ort war, einfach gefragt.«

»So, wen denn?«

»Die Kassiererin vom Suma.« Das war ein kleiner Supermarkt auf halbem Weg zwischen Sant Antoni de Calonge und den Urbanisationen.

»Was? Dort weiß man, wo ich wohne? Erstaunlich.«

»Sie sind bekannt wie ein bunter Hund, Arthur.«

»Scheint so.«

Luisa nagte jeden Hühnerflügel bis auf den Knochen ab. »So«, sagte sie zufrieden. »Jetzt bin ich gestärkt für den Rückweg.«

»Zu Fuß bis nachCalongerauf? Da bist du locker zwei Stunden unterwegs.«

»Leider«, seufzte sie.

»Ich bin mit dem Roller, das wird mit der Gitarre nicht gehen.«

»Macht nix.«

»Ich sponsere dir ein Taxi.«

»Kommt nicht infrage.«

»Also schön, du Dickkopf. Kannst du die Gitarre irgendwie auf deinem Rücken festmachen?«

»Wird klappen«, bestätigte sie freudestrahlend.

Und wahrhaftig, es funktionierte. Ich fuhr einige Schleichwege, am noch immer geöffneten Carrefour vorbei, am Campingplatz entlang und erst bei den Tennisplätzen zurück auf die Zufahrtsstraße nach Calonge.

»Das ist ein bisschen wie Jack und Irina auf dem Weg zum Hausboot«, rief Luisa, beide Arme um meinen Oberkörper geschlungen, den Kopf seitlich an meine Schulter gelehnt, um den Wind zu genießen. »Eines meiner Lieblingskapitel. Die zwei ergänzen sich so großartig. Es ist eine bittersüße Liebesgeschichte. Wahnsinn, dass sie sich schon als Kind in ihn verliebt hat.«

»Wolltest du darüber mit mir sprechen?«

»Ja, darüber auch, unbedingt.«

Ich seufzte ergeben. Wenig später schleppte sich mein Roller die ansteigenden Straßen bis zur Residencia Marisol hinauf.

»Danke für alles«, verabschiedete sich Luisa. »Das war ein fantastischer Tag, viel schöner, als ich es mir jemals erträumt habe. Danke, danke, danke!«

»Schon gut, schon gut, du machst mich verlegen.« Ich drehte am Gaslenker. Der kleine Motor heulte willig auf. Wie albern, Imponiergehabe. »Hast du schon ein weiteres Engagement?«

»Nee, leider nicht.«

»Magst du in meiner Lieblingskneipe auftreten?«

Ihre blauen Augen leuchteten in den Nachthimmel. »Sehr gern.«

»Dann halte dich morgen so gegen fünf bereit. Ist das okay?«

»So was von.«

Meine Katzen empfingen mich mit tadelnden Blicken. Luzifer, mein schwarzer Kobold, schleppte dann zur Versöhnung eine Maus an.

Politik

Carles Gonzales Garcia ist der Bürgermeister von Sant Antoni und Calonge. Mit gerade einmal zehntausend Einwohnern ein überschaubarer Posten, aber die goldenen Zeiten waren dahin. Unglaublich viele Bauruinen zierten die Urbanisationen Mas Pere und Mas Cabanes. Die alte Mas Ambros war weitestgehend verschont geblieben, da dort kein Baugrund mehr zur Verfügung stand. Der Zusammenbruch des Bankensystems erzeugte weltweit einen Baustopp. Den Menschen ging das Geld aus, halb fertige Fincas, zum Teil schon von Unkraut überwuchert, zeugten von dem wirtschaftlichen Crash, der auch die Investoren und Häuslebauer in Ostspanien schwer getroffen hatte.

Gegen neun Uhr in der Frühe klingelte das Telefon. Die Sekretärin unseres Bürgermeisters bat um ein Gespräch mit dem selbigen. Ich willigte ein und betrat um kurz nach zehn das Amtszimmer.

»Señor Crawley, ich danke Ihnen, dass Sie so kurzfristig Zeit für mich finden.«

»Oh, das war kein Problem«, beschied ich jovial.

»Nun, ich will Sie nicht bei Ihrer schriftstellerischen Arbeit stören. Sie arbeiten sicher mit Hochdruck an einem neuen Werk.«

Tja, das hingegen war ein Problem.

»Um was geht es denn?« lenkte ich das Gespräch wieder in aktuelle Bahnen.

»Um unsere Kirche und die Burgruine.«

»Ich bin Protestant.«

»Das sind doch auch Menschen.« Er richtete sich zu voller Größe auf. Knapp einen Meter sechzig. Der drahtige Kommunale sah mich verschwörerisch an. »Im Besonderen geht es um den Platz hinter der Kirche.«

»Wo die Sardana stattfindet.«

»Ganz genau! Sie wissen schon, die alten Burgmauern aus dem dreizehnten Jahrhundert, wundervoll. Castillo de Sessa hat schon unsere Vorfahren vor den Seeräubern geschützt. Jetzt müssen wir die Burg schützen.«

»Was ist mit dem Platz?«

»Er gehört Gerard Reyes, dem Bauunternehmer. Die Kathedrale selbst und der Vorplatz sind im Besitz der Heiligen Katholischen Mutter Kirche.« Sant Marti als Kathedrale zu bezeichnen war schon recht gewagt, aber dennoch …

»Die Burgmauern und Türme gehören der Provinzverwaltung, aber der eigentliche Platz, die freie Fläche, gehört Reyes.«

»Ich sehe das Problem noch nicht, Alcalde.«

»Die Chinesen, Señor Crawley.«

»Die Chinesen?«

»Ein chinesischer Investor hat Reyes ein Angebot unterbreitet. Ein zwölfstöckiges Luxushotel mit allem Drum und Dran.«

Da blieb mir tatsächlich die Luft weg. »Viel zu wenig Platz«, keuchte ich, ehrlich geschockt. »Da passt doch kein Hotel hin.«

»Leider besitzt Reyes auch die angrenzende Fläche unterhalb der Ruine.«

»Na und?« fragte ich einfältig.

»Die kann man aufschütten.«

Ich lachte befreit. »Aber da sind Wohnhäuser.«

»Die kann man platt machen.«

»Aber da wohnen Menschen.«

»Die kann man umsiedeln.«

»Scheiße, was ist das denn für ein Mist?«

Garcia nickte bekräftigend. Seine Sekretärin reichte Kaffee und Ensemadas. Das ölgebackene Zeug war Gift, schmeckte frisch aber verboten gut.

»Das macht den ganzen Ort kaputt«, echauffierte ich mich.

»Ich sehe, dass Sie den Ernst der Lage verstanden haben, Señor Crawley.«

»Sie müssen diesen Reyes zur Vernunft bringen.«

»Die Chinesen müssen eine Unsumme geboten haben. Ich habe bei Reyes schon alles versucht, sowohl Zuckerbrot als auch die neunschwänzige Peitsche. Er will das Geld, dieser gierige Sack.«

»Wahnsinn.«

»Allerdings.« Garcia mümmelte verdrossen an seiner fettigen Schnecke, dann wies sein Zeigefinger auf mich. »Jetzt kommen Sie ins Spiel.«

»Ich?«

»Sie sind ein weltbekannter Schriftsteller.«

»Wir wollen nicht übertreiben.« Der Kaffee war auch nach einem weiteren Schuss Milch noch fast schwarz. »Aber wie dem auch sei – wie kann ich helfen?«

»Es muss sich eine Bürgerinitiative gründen.«

»Das sollte kein Problem sein, oder?«

»Nein, aber es wäre gut, wenn auch ein bekanntes Gesicht, wie das Ihre, auf den Plakaten zu sehen wäre. Das macht was her, ein berühmter Autor, der sich hier niedergelassen hat, kämpft für den Erhalt des historischen Stadtkerns.«

»Ich bin ein Extranjero, Herr Bürgermeister. Nehmen Sie lieber einen echten Katalanen. Wie wäre es mit Pep Guardiola? Das haut rein, den kennt doch jeder.«

»Der marschiert schon in unserer Unabhängigkeitskampagne vorneweg. Die Nummer hier ist zu klein.«

»Aber ich schreibe ein neues Buch.«

»Das bestimmt wieder ein Bestseller wird. Umso besser.« Er strahlte über das ganze Gesicht. »Vielleicht fügen Sie ihrem neuen Werk eine kleine Widmung bei, oder noch besser, die Kirche, die Burg und der Platz kommen in der Geschichte vor.«

»Das neue Buch spielt im Weltraum«, log ich.

»Das macht doch nichts, dann landet das Raumschiff eben oben auf dem Platz, und die Außerirdischen nehmen an einer Sardana teil.«

Na bitte, da habe ich ja eine fulminante Idee für mein neues Buch. Ich schloss ergeben die Augen. »Die grünen Männchen vertreiben die gelben Chinesen.«

»Sehr gute Idee.«

»Das war ein Witz.«

»Aber damit sollten wir nicht scherzen, el Escribar«, schalt der Bürgermeister ernst.

»Okay, ich überlege mir was.«

Das kleine ölige Männchen lächelte befreit. »Bei Ihrer Fantasie, Arthur, mache ich mir keine Sorgen.«

Telefonterror

»Heute geht es auf keinen Fall«, verkündete Sergio, der Chef meiner geliebten Cactus-Bar.

»Warum nicht?« fragte ich enttäuscht.

»Arthur, heute Abend spielt Spanien gegen Italien.«

»Ach du je, das habe ich total verpennt, Sergio.«

»Macht ja nichts. Montag ist Pause bei der EM, da kann dein Protegé gerne auftreten. Ich habe gehört, sie kann Hotel California spielen und singt einen spanischen Text.«

»Sie ist toll.«

»Andres sagt, sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten.«

»Dorftratsch, na toll.«

»Vielleicht …«

»Nein.«

»Bist du ganz sicher?«

»Oh ja.«

»Schon gut, sehen wir uns zum Spiel?«

»Auf jeden Fall.«

Ich hatte den Hörer kaum aufgelegt, da klingelte es erneut.

»Super, gleich ist der Tee kalt«, maulte ich unlustig. Ich sah auf das Display. Mein Verleger. Kurz erwog ich, einfach nicht an den Apparat zu gehen, letztendlich siegte die Vernunft. »Crawley.«

»Hallo, Arty«, flötete Mareike Müller, Vorzimmerdame unseres allmächtigen Patriarchen Herbert Wenger. »Wie geht es dir in der Fremde?«

»Einmalig, ich bin ein ganz neuer Mensch, das weißt du doch.«

»Kann ich dich im Herbst besuchen kommen? Ich habe noch eine Woche Urlaub.«

»Warum nicht, für dich habe ich doch immer ein Zimmer frei.« Das war nicht gelogen. Ich mochte die aufgeschlossene Mittvierzigerin wirklich gern.

»Du bist ein Schatz, darüber reden wir noch, jetzt will dich seine Heiligkeit sprechen.«

»Das hatte ich befürchtet.« Wenn der Obermokel des Ambrosia-Verlages persönlich am Rohr war, galt es wachsam zu sein. »Dann gib mir das Ekelpaket mal rüber.«

»Viel Erfolg.«

Es klackte und knackte in der Leitung, dann war Wengers brummender Bass nicht zu überhören. »Mister Crawley …«

»El Patrón …«

»Werden Sie mich in absehbarer Zeit glücklich machen?« Puh, eine lupenreine Mafiastimme. Siehst du den Betonmischer? fragte diese Stimme. Da werden neue Fundamente gegossen. Willst du ein Teil davon sein?

»Ich habe schon mit Audrey gesprochen«, versuchte ich mich herauszuwinden.

»Das interessiert mich nicht die Bohne.«

»Ich bin dran, wird ’ne ganz heiße Kiste.«

»Am Ende der Macht, Arthur, wirklich?« Aha, also hatte auch er mit meiner Agentin gesprochen. »Allein der Titel ist schon Scheiße.«

»Finde ich nicht.«

»Was soll das werden?«

»Mein neues Buch.«

»Verkaufen Sie mich nicht für dumm. Wie weit sind Sie, und was für ein Genre soll das sein?«

Gute Frage. »Ich verstehe die Eile nicht.«

»Eile? Vier Jahre?« Das klang schon verdächtig nach Beton an den Füßen. »Auf dem Markt entsteht gerade ein prächtiges Vakuum. Ich gedenke dieses zu nutzen, Mister Crawley.«

»Was für ein Vakuum?«

»Game of Thrones ist durch die Fernsehserie buchmäßig ausgebremst. Selbst wenn der greise Knacker endlich zu Potte käme, werden die Verkaufszahlen und die Begeisterung sich in Grenzen halten. Was also liegt näher, als vom Autor der Insel-Chroniken etwas gänzlich Neues anzubieten?«

»Ich habe nie gesagt, dass ich wieder Fantasy schreiben werde«, wehrte ich mich.

Wengers Stimme wurde zu einem Grollen. »Aber schön wäre es, wenn Sie sich genau dazu durchringen könnten, Arthur.« Mein Vorname geriet zu einer Art intimen Liebeserklärung.

»Ich …«

»Sehen Sie, wir verstehen uns. Ostern, Arthur.«

»Ostern?«