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Was tut man, wenn man sich darüber ärgert, wie oft Täter ungestraft davonkommen? Durch Schlupflöcher im Gesetzbuch, windige Verteidiger oder zu milde Richter. Die klaffende Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit sollte dringend geschlossen werden. Da sich sonst niemand darum kümmert, nimmt Carolin Gerber das in die Hand und erstellt eine Liste mit Namen von Menschen, denen sie zu einem Plätzchen unter der Grasnarbe verhelfen möchte. Doch das ist gar nicht so einfach, wenn einem ständig jemand dazwischenfunkt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Für meine PPS-Oldies Monka, Beate und Ingeborg. Unsere Treffen sind stets ein besonderes Highlight für mich.
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2025 dotbooks GmbH, Max-Joseph-Straße 7, 80333 Mü[email protected]/dotbooks/CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Osterstraße 19, 31785 [email protected] Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comSatz: CW Niemeyer Buchverlage GmbHE-Pub Produktion durch CW Niemeyer BuchverlageeISBN 978-3-8271-8748-2
Claudia RimkusMorden für Einsteiger
Es reicht! Seit Jahren macht mir das rücksichtslose Verhalten mancher Mitmenschen zu schaffen. Es bereitet mir fast körperliche Schmerzen. Ich träume davon, in meiner Umgebung mal so richtig aufzuräumen – vorzugsweise mit einer Pistole oder einem Hammer in der Hand. Nicht ganz unblutig, aber effektiv. Details dazu später. Wahrscheinlich sollte ich mir therapeutischen Beistand suchen, aber die Wartelisten sind lang. Mir bleibt keine andere Wahl, als mir selbst zu helfen. Deshalb schreibe ich auf, was mich belastet, wer mich so unfassbar wütend macht und mich dazu bringen könnte, einen Mord zu begehen.
Natürlich ist die Idee, durch Eliminierung der Verursacher alle Probleme aus der Welt zu schaffen, nicht neu. Richter morden besser oder achtsam morden – alles schon dagewesen. Aber was ist mit mir? Wer behauptet, jemand wie ich könnte nicht über ein Mordstalent verfügen? Auch ohne medizinische oder kriminalistische Ausbildung kann man sich erfolgreich mit dem unnatürlichen Ableben anderer Leute befassen. Gewusst wie, lautet die Devise. Oder beurteilen Sie das anders? Berücksichtigen Sie dabei bitte eines: Die Gedanken sind frei. Bislang haben Sie es mit einer unbescholtenen Bürgerin zu tun. Ob es dabei bleibt? Garantieren kann ich das nicht. Begleiten Sie mich ein Stück meines Weges. Am Ende halten Sie mein Handeln womöglich nicht nur für plausibel, sondern vielleicht sogar für folgerichtig.
Wer von uns kennt das nicht? Man hat das Unrecht klar und deutlich vor Augen. Trotzdem hält man sich zurück, mischt sich nicht ein. Das ist mitunter schwer auszuhalten. Irgendwann kann man nicht mehr tatenlos zusehen. Es juckt in den Fingern. Trotzdem dauert es, bis die Grenze des Erträglichen erreicht ist. Nur ein kleiner Schritt ist nötig, um die letzte Hemmschwelle zu überwinden. Mehr braucht es nicht, damit Ruhe herrscht. Ich habe mir fest vorgenommen, vor der Jahreswende aufzuräumen. Dafür bleiben mir einige wenige Wochen. Packen wir’s an!
Habe ich mich eigentlich vorgestellt? Nein? Sorry. Das hätte ich längst tun sollen. Bestimmt möchten Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Mein Name ist Carolin Gerber, genannt Caro. Ich bin achtundreißig und das Sandwichkind einer ganz normalen Familie. Zu Hause bin ich in der niedersächsischen Landeshauptstadt. In Hannover – richtig geraten. Hier haben wir viel Grün, inklusive Oberbürgermeister, Stadtwald Eilenriede und der Herrenhäuser Gärten. Bei manchen Leuten ist die Leinemetropole als Provinz verschrien, von den anderen wird sie als schönste Stadt der Welt bezeichnet. Die meisten Menschen leben gern auf diesem Fleckchen Erde. Genau wie ich. Wie Bewohner überall auf dieser Welt haben auch Hannoveraner mit negativen Dingen in ihrer Heimatstadt zu kämpfen. Zum Beispiel mit Kriminalität. Oder Ungerechtigkeit.
In meinem näheren und weiteren Umfeld treiben es einige Mitbürger zu weit. Es muss endlich eine Lösung her. Seit geraumer Zeit arbeite ich daran. Mir schwebt etwas vor, mit dem man Probleme ein für alle Mal loswird. Um das zu verstehen, fangen wir am besten ganz von vorne an.
Hatte ich anfangs meine Liste erwähnt, die ich zunächst nur zum Frustabbau angelegt habe? Das habe ich nur beiläufig getan? Tut mir leid. Dann gehe ich jetzt mal ins Detail. So kurz vor der Weihnachtszeit könnte man meine Aufstellung sogar Wunschzettel nennen. Darauf setze ich die Namen von Personen, die ich liebend gern um die Ecke bringen würde. Nicht um die nächste, sondern endgültig. Meine Favoriten wähle ich nicht impulsiv oder aus einer Laune heraus. Ich siebe die Todeskandidaten mit Bedacht aus der Menge.
Jetzt fragen Sie sich sicher, wie man auf eine so absurde Idee kommen kann. Das war wie eine Kettenreaktion. Und das kam so: Nach fast jedem Besuch bei meiner Schwester verspürte ich Mordgelüste. Seit einiger Zeit weiß ich von der gewalttätigen Ader ihres Mannes. Zunächst war ich wütend und hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht. Das war eine eher harmlose Reaktion, weil man das nur denkt oder vor sich hinsagt. Nach und nach wurde dieser Wunsch allerdings intensiver. Bald stellte ich mir vor, wie ich den Schläger auf jede erdenkliche Weise aus dem Weg räumte. Für immer. Meine Kriminalromansammlung diente als Vorlage meiner Tötungsfantasien. Irgendwann hat mir mein Unterbewusstsein ungebeten weitere Namen zugeflüstert. Namen von Menschen, die durch ihr skrupelloses Handeln ebenfalls überflüssig waren. Liegt es da nicht nahe, zur besseren Übersicht eine Liste zu erstellen?
Natürlich soll man anderen nicht absichtlich wehtun. Manchmal kommt man aber nicht drum herum. Sie alle kennen das meistgelesene Buch der Welt, die gute alte Bibel? Wie lautet das fünfte Gebot? Richtig: DU SOLLST NICHT TÖTEN! Man kann diese Aussage aber nicht pauschal betrachten. Sagt man nicht, der Tod ordnet die Welt neu? Da ist was dran. Beim Morden gibt es sieben Motive: Lust, Eifersucht, Rache, Habgier, Extremismus, Ausgrenzung und Wut. Jemanden aus einem dieser Gründe zu töten, ist verwerflich. Ich hingegen habe einen ehrenwerten Grund: Ich möchte für Gerechtigkeit sorgen. Ob ich das schaffe?
Natürlich können Sie Selbstjustiz nicht gutheißen. In dieser Hinsicht bin ich ganz bei Ihnen. Im Normalfall ergeht es mir nämlich genauso. Wir leben in einem Rechtsstaat, aber auch ein Rechtssystem weist mitunter Lücken auf. Ich plane, den Durchschlupf auf meine Weise zu schließen.
Ersparen Sie mir nun bitte eine Moralpredigt. Machen wir uns nichts vor: In jedem von uns steckt ein Mörder. Wenn die Situation es verlangt, sind wir alle fähig, jemanden zu töten.
Offen gestanden ist mir bei dem Gedanken, selbst die eine oder andere Art der Beseitigung anzuwenden, mulmig zumute, aber meine Suche nach einer Alternativlösung verlief leider erfolglos. Ich habe also keine andere Wahl, als mich vorläufig mit der Mordmethode anzufreunden. Lange genug habe ich auf meine innere Stimme gehört, die gesetzestreu gegen ein kriminelles Vorgehen protestiert, die mir immer wieder Gegenargumente unter die Nase reibt. Vernunft gegen Bauchgefühl. Wer wird sich durchsetzen?
Da Sie mir bis hierher gefolgt sind, ahnen Sie vermutlich, was in naher Zukunft passiert. Dazu kann ich Ihnen nur gratulieren: Sie besitzen ein ausgesprochen gutes Gespür.
Caros To-do-Liste
Nr. 1 – Kalle Fricke – Schwager
Nr. 2 – Hasso Born – Rechtsanwalt
Nr. 3 – Ina Ziegler – Hausverwalterin
Nr. 4 – Rico Schmidt - Loverboy
Nr. 5 – Bruno Wendtler – Schleuserchef
Nr. 6 – Leander von der Au – Investmentbanker
Nr. 7 – Salvatore Monti – Drogenhändler
Nr. 8 – Bernd Höpfner – Corona-Betrüger
Nr. 9 – Carsten Eckstein – Brandstifter
Nr. 10 – Ali Özgan – Zuhälter
Die mit Abstand absolute Nummer eins auf meiner Liste ist und bleibt mein ach so liebenswerter Schwager Kalle, den seine Eltern nach Kalle Blomquist, dem Meisterdetektiv von Astrid Lindgren, benannt haben. Warum, weiß bis heute kein Mensch. Leider fehlt unserem Kalle ein wenig intellektuelles und jede Menge empathisches Know-how, um seinen Wünschen und Bedürfnissen verbal Ausdruck zu verleihen. Der arme Kerl hat praktisch keine andere Möglichkeit, als sich mit Händen und Füßen verständlich zu machen. Um sich hinterher mit fadenscheinigen Erklärungen zu rechtfertigen: Stress auf dem Bau, nervender Kinderlärm … Da könne einem gelegentlich die Hand ausrutschen. Hinterher gibt er meiner Schwester stets das Gefühl, selbst schuld an seinem Ausbruch zu sein. Er bedauert die Ausraster, sie tun ihm angeblich leid. So etwas werde nie wieder vorkommen. – Leider ändert sich absolut nichts. Diese Gewaltausbrüche gehen mir tierisch auf den Senkel. Ich hätte Kalle längst angezeigt, aber Melli will das nicht. Schließlich ist er der Vater ihrer Kinder. Was für ein Vater, bitte schön? Okay, bis heute hat er seinen Nachwuchs verschont. Immer öfter frage ich mich allerdings, wie lange das so bleibt. Trotz allem habe ich den Wunsch meiner Schwester stets zähneknirschend respektiert. Dabei habe ich total vergessen, ihr zu versprechen, den Drecksack nicht eines Tages in die ewigen Jagdgründe zu schicken.
Lange habe ich darüber nachgedacht, wie ich es anstellen könnte, meinen Schwager von der „Schufterei für die undankbare Sippe“, über die er sich dauernd beklagt, nachhaltig zu erlösen. Im Grunde würde ich ihm damit sogar einen Gefallen tun. Das ist zwar Auslegungssache, aber mit dieser Sichtweise kann ich mein Gewissen wunderbar beruhigen. Ob das von Dauer sein würde, müsste sich zeigen.
Um mich ein letztes Mal davon zu überzeugen, ob sich an Kalles Verhalten etwas geändert hat, werde ich meine Schwester besuchen. Melli ist zwei Jahre älter als ich und zu schwach, um gegen ihren Mann aufzubegehren. Sie lässt sich alles von ihm gefallen. Ihre Kinder sind – vorsichtig ausgedrückt – verhaltensauffällig. Was mich nicht wundert. Wenn man in einem Haushalt aufwächst, in dem der Vater zu Gewaltausbrüchen neigt und die Mutter den Kopf einzieht, sobald ihr Gatte in der Nähe auftaucht, hat das Auswirkungen. Der gestörte Achtjährige prügelt sich durch die Grundschule. Seine verängstigte sechsjährige Schwester traut sich kaum, den Mund aufzumachen. So viel zur Vorbildfunktion von Eltern. Das ständig schreiende Kleinkind trägt leider nicht zu einer entspannten Familiensituation bei.
***
Am späten Nachmittag stieg ich also in meinen schnuckeligen Kleinwagen Käthe und fuhr zu meiner Schwester.
Beim Aussteigen empfing mich die Heulerei des jüngsten Nachkömmlings durchs gekippte Fenster im Erdgeschoss. In solchen Momenten war ich doppelt froh über mein mangelndes Bedürfnis, mich fortzupflanzen und mein genetisches Material an die nächste Generation weiterzugeben. Sollten Sie das nun im Hinblick auf meine Tabelle überflüssiger Kandidaten als eine gute Entscheidung erachten, bitte ich Sie, zu bedenken, dass mein Erbgut nicht für meine geplanten Aktivitäten verantwortlich zu machen ist.
Für meine Kinderlosigkeit gibt es mehrere, wirklich gute Gründe. Manchmal, wenn ich bei tristem Wetter allein zu Hause hocke, schleichen sich trotzdem trübe Gedanken bei mir ein. In einem Anflug von Selbstmitleid vermisse ich in dieser Verfassung hin und wieder jemanden, der zu mir gehört. Meistens vergeht der Weltschmerz, wenn ich mir ausmale, was mir durch mein Single-Dasein alles erspart bleibt. Dabei handelt es sich nicht nur um einen nervenden Ehemann. Ich darf tun und lassen, was ich will und kann meinen Wunschzettel offen herumliegen lassen, ohne Gefahr zu laufen, jemand könne meine mörderischen Fantasien entdecken. Erklären Sie mal einem Kind, warum Mamas neues Hobby nicht ohne Blutvergießen funktioniert. Ergo genügt mir für mütterliche Gefühlsanwandelungen der besonders geartete Nachwuchs meiner Schwester.
Der Jüngste dieser Kategorie saß plärrend auf ihrer linken Hüfte, als Melli mir die Tür öffnete.
„Hallo, Caro“, begrüßte sie mich, wobei ihre aufgeplatzte Unterlippe unübersehbar war. „Komm rein.“
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich herum und schlurfte über den Flur. Ich schloss die Tür und folgte meiner Schwester in die Küche. Wie gewöhnlich sah es wie geleckt aus. Mit ihrem Putztick wollte sie ein normales Familienleben demonstrieren, das es leider seit Langem nicht mehr gab.
In der rot gepolsterten Essecke war der Tisch gedeckt. Wir setzten uns, und ich schenkte den aromatisch duftenden Kaffee ein. Klein-Emil quengelte wie gewohnt, nun auf dem Schoß seiner Mutter. Obwohl ich selbst kinderlos war, wusste ich, wie man diese Quälgeister für eine Weile ruhigstellte. Aus meiner geräumigen Beuteltasche fischte ich einen in glitzernder Aluminiumfolie verpackten Schokoladennikolaus und hielt ihn dem kleinen Mann unter das Rotznäschen. Abrupt brach das Gejammer ab. Der Anderthalbjährige streckte die Patschhändchen nach dem Bärtigen aus, der seit Ende September auf sein Ende wartete. Ich gab dem Knirps, was er wollte, bevor ich ihn mir schnappte und auf dem gefliesten Boden parkte.
Melli seufzte, protestierte aber nicht. Stattdessen erwähnte sie, seine Geschwister würden sich derzeit auf einem Kindergeburtstag in der Nachbarschaft austoben. Das konnte mir nur recht sein. Dadurch stand einem offenen Gespräch nichts im Wege.
„Wie geht es dir?“, fragte ich, als ich mich wieder zu ihr gesellte. Meine Augen fixierten ihre Lippe. „Wie ist das passiert?“
„Nicht so schlimm“, erwiderte sie ausweichend und rührte in ihrer Tasse. „Ein Missgeschick.“
„Ein Missgeschick, das Kalle heißt“, stellte ich nüchtern fest. „Wann jagst du ihn endlich zum Teufel?“
„Das ist nicht so einfach.“
„Warum nicht? Fürchtest du, er zahlt keinen Unterhalt?“
„Das ist meine geringste Sorge. Du weißt, wie eifersüchtig er ist. Kalle sieht in jedem Mann, der mit mir spricht, einen potenziellen Nebenbuhler.“ Mit dem Daumen strich sie behutsam über ihren Mund. „Das hier verdanke ich im Grunde dem netten Nachbarn, für den ich immer die Pakete annehme. Der hat sich mit einem Blumenstrauß dafür revanchiert. Kalle ist deswegen total ausgerastet.“
„Ein Grund mehr, ihm den Laufpass zu geben.“
„Dann kann ich mir gleich einen Strick nehmen. Was glaubst du, wie oft Kalle mir gedroht hat, mich umzubringen, wenn ich ihn verlasse? – Und die Kinder gleich mit.“
Deshalb also hielt Melli es mit diesem Arsch unter einem Dach aus. Nun, das würde sich bald ändern. Jetzt erst recht. Unglaublich, was sich Männer manchmal herausnahmen. Tatenlos zusehen konnte ich nun auf keinen Fall mehr. Das angeblich schwache Geschlecht musste sich endlich zur Wehr setzen. Wie hätte ich anders handeln können? Melli war meine Schwester. Selbstverständlich würde ich ihr das Leben retten. Und ihrem entzückenden Anhang ebenfalls.
„Wieso ist er eigentlich nicht zu Hause?“, fragte ich nach einem Blick zur Uhr. „Müsste er nicht längst Feierabend haben?“
„Seine Firma hat diesen Riesenauftrag. Kennst du die Großbaustelle in der Südstadt in der Nähe vom Engesohder Friedhof?“
„Na klar. Da kommt man seit Wochen kaum durch. Auf den Umleitungsstrecken zwischen Maschsee und Hildesheimer Straße staut sich fast immer der Verkehr. Das nervt total.“
„Seit ein paar Monaten arbeitet Kalle dort nun schon. Als Polier trägt er jede Menge Verantwortung. Deshalb verlässt er den Bauplatz pflichtbewusst immer als Letzter. Oft kommt er erst nach Hause, wenn die Kinder längst im Bett liegen. Und ich meistens auch.“
Ihr Blick streifte ihren inzwischen schokoverschmierten Junior vom kaum noch erkennbaren Blondschopf bis zu den ehemals hellblauen Hausschuhen. „Wenigstens habe ich dadurch Ruhe vor meinem Ehemann.“
Auf dem Heimweg nahm ich rein zufällig die Strecke an besagtem Friedhof entlang. Nur mal so zur Orientierung. Bei der Weiterentwicklung meiner Pläne könnte jede zusätzliche Information hilfreich sein. Von meinem dreimonatigen Aushilfsjob bei einem Architekten, der mich immer auf seine Baustelle mitgeschleppt hatte, wusste ich über die Abläufe bei solchen Baumaßnahmen einigermaßen Bescheid. Das wertete ich als Vorteil. Mein erstes Mordprojekt begann konkretere Formen anzunehmen.
Habe ich Ihnen berichtet, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene? Nein? Gelernt habe ich den Beruf der Rechtsanwaltsfachangestellten. Als ich mit der Ausbildung fertig war, starb kurz darauf mein damaliger Chef an einem Herzinfarkt. Damit hatte ich nichts zu tun. Ehrlich. Ohne zu übertreiben: Meine Noten waren ausgezeichnet. Da ich trotzdem nicht gleich eine neue Stelle in einer Kanzlei fand, nahm ich einen Job in einer Zeitarbeitsagentur an. Irgendwie bin ich dort hängen geblieben und sammelte Erfahrungen in Kanzleien und Büros verschiedener Firmen.
Mit dreißig hatte ich keine Lust mehr, zu den neun Jahren dort weitere hinzuzufügen. Zunächst fand ich oft wechselnde Arbeitsplätze interessant, weil ich immer neue Leute kennenlernte. So viel verdient, wie ich eigentlich verdient hätte, habe ich allerdings nicht. Deshalb habe ich mich umorientiert. Seitdem arbeite ich vormittags in einer renommierten Anwaltskanzlei. Nachmittags erfreue ich mich an einem Job in einem Bistro und erledige die Buchhaltung einer Autowerkstatt.
Außerdem engagiere ich mich ehrenamtlich für diverse Projekte. Unterm Strich habe ich durch verschiedene Arbeitgeber, bei denen keine Agentur Vermittlungsgebühren kassiert, ein paar Scheine mehr auf dem Konto und zusätzlich die Trinkgelder der Bistrogäste. Manche sind in dieser Hinsicht echt großzügig, weil ich ein freundlicher und zuvorkommender Mensch bin. Arbeitgeber und Kunden schätzen mich unter anderem für mein sympathisches Auftreten. – Sie finden das unglaubwürdig? Vorsicht! Nur weil ich Sie vertrauensvoll an den Abgründen meiner Seele teilhaben lasse, kennen Sie mich nicht. Noch nicht.
Zurzeit bin ich unbemannt. Meinen letzten Freund Olli habe ich vor etwa einem halben Jahr abserviert, weil er sich nicht zwischen Johnnie Walker, Jack Daniel’s und mir entscheiden konnte. Auf jeder Feier war er voll wie zweiundvierzig Russen, und auch sonst war er dem Feuerwasser nicht abgeneigt. Hilfsangebote lehnte er ab. Stattdessen versprach er immer wieder Besserung, um sich nach wenigen Tagen Abstinenz gnadenlos die Kante zu geben. Das wollte ich mir nicht länger antun. Ohne Bedauern gab ich ihm eines Tages in der gut sortierten Spirituosenabteilung in unserem Edeka den Laufpass. Während er ziemlich dumm aus der Wäsche guckte, applaudierten ein paar umstehende Kunden. Ich war erleichtert, und mein Ex hatte als flüssigen Trost einen beträchtlichen Alkoholvorrat in den Einkaufswagen gepackt. Dabei vergaß er dummerweise meine Käthe, mit der wir zum Laden gefahren waren. So musste der arme Kerl eine doppelte Last nach Hause schleppen.
Seitdem single ich sehr zufrieden durchs Leben. Eigentlich kann Olli froh sein, dass ich mit meiner Liste erst nach unserer Trennung begonnen habe.
Erfahrungsgemäß war gründliche Vorbereitung einer Aktion der halbe Erfolg. Für mich bedeutete das die Observierung meiner Zielperson.
Ich nutzte an den nächsten Tagen meinen wohlverdienten Feierabend, um in Friedhofsnähe zu parken und dort meinen Beobachtungsposten einzurichten. Block und Stift lagen griffbereit auf dem Sitz neben mir, damit ich Uhrzeiten und was mir sonst wichtig erschien, notieren konnte.
Obwohl der Dezember stetig näher rückte, zeigte das Thermometer milde dreizehn Grad an. Dadurch musste ich in meinem alten Polo ohne Standheizung wenigstens nicht erfrieren. Dem Klimawandel sei Dank. Jedenfalls für den Moment. Über das, was er uns künftig bescheren würde, wollte ich derzeit nicht nachdenken. Aber wenn man sich beim Warten langweilte, drehte sich das Gedankenkarussell wie von selbst. Natürlich beschäftigten mich Umweltschutz und Klimakatastrophe. Menschen hatten das seltene Talent, alles Schöne zu zerstören. Und erst zu reagieren, wenn es bereits fünf nach zwölf war. Und lernten trotzdem nichts daraus. Allmählich sollten wir uns vom Macht- und Profitstreben verabschieden. Sonst könnte das eines Tages ganz böse enden. Die Leute auf meiner Liste würden das garantiert nicht mehr erleben – genauso wenig wie ich. Aber vermutlich deren Kinder und Enkel. Wobei wir wieder bei einem meiner Gründe wären, auf Nachwuchs zu verzichten. Diese düsteren Zukunftsaussichten konnte man niemandem guten Gewissens zumuten.
Während ich also über den Sinn des Lebens im Allgemeinen und im Speziellen grübelte, beobachtete ich, was sich auf der Baustelle tat. Da es um diese Jahreszeit bereits am Nachmittag dunkel wurde, erhellten starke Scheinwerfer das Geschehen auf dem umzäunten Bauplatz. Der Lärm verebbte immer mehr und verstummte schließlich gänzlich. Nach und nach verließen die Arbeiter durch das gut einsehbare Metallgittertor das Gelände. Nur Kalle tauchte nicht auf. Irgendwann wechselte die Lichtfarbe auf dem Gelände. Alles erstrahlte in Grün. Wahrscheinlich die Nachtbeleuchtung. Es dauerte nicht lange, bis Kalle das Tor passierte, es sorgfältig abschloss und zusätzlich mit einem Vorhängeschloss sicherte. Nach einem letzten Kontrollblick kam er direkt auf mich zu.
Verdammt! Ich hätte wissen müssen, wo sein Wagen auf ihn wartete. In der Umgebung des Friedhofs waren inzwischen die meisten Fahrzeuge verschwunden. Instinktiv ging ich auf Tauchstation. In unnatürlich gekrümmter Haltung verharrte ich halb sitzend, halb liegend auf Fahrer- und Beifahrersitz. Erst als ich Motorengeräusche vernahm, traute ich mich aus meiner Deckung. Das wurde auch höchste Zeit. Lange hätte mein Körper diese unbequeme Lage nicht mehr ausgehalten. Immerhin war ich nicht mehr die Jüngste. Ich sah meinen Schwager in seinem Kombi über die Orli-Wald-Allee rollen und hängte mich an seine Stoßstange, um herauszufinden, ob er nach der Arbeit sofort nach Hause fuhr oder sich irgendwo ein Feierabendbierchen gönnte. Da der Berufsverkehr vorbei war, kamen wir recht zügig voran. Die Fahrt endete vor dem Mehrfamilienhaus, in dem er seine Familie terrorisierte. Ich notierte die Ankunftszeit und fuhr nach Hause.
Diese Prozedur wiederholte ich an den nächsten beiden Tagen. Dennoch wollte ich nichts überstürzen. Eine meiner Stärken war, still zu beobachten und meine Möglichkeiten sorgsam abzuwägen, bevor ich handelte. Es gab sinnvolle Maßnahmen zur Vorbereitung verschiedener Tätigkeiten. Lesen bildet und Fernsehen mitunter ebenfalls. Ich las mit Vorliebe Kriminalromane und schaute mir im TV am liebsten Thriller an. Dazu gern Dokumentarsendungen über Polizeiarbeit und die neuesten Verfahren, Täter zur Strecke zu bringen. Wenn es sein musste, mit aufdringlicher Werbung zwischendrin. Diese Art der Freizeitbeschäftigung hatte den Vorteil, jede Menge Gratisinformationen dazu zu bekommen, anhand welcher Beweise Ermittler die jeweiligen Täter aufspürten und zur Strecke brachten. Oder anders betrachtet: Welche Fehler man vermeiden sollte, um nicht erwischt zu werden. Das war logisch, oder? Dabei konnte es nicht schaden, sich laufend auf den neuesten Stand zu bringen. Wissenschaft und Technik entwickelten sich stetig weiter – so auch im Bereich des Tätigkeitsfelds von LKA und BKA.
Nach diesen neuerdings ungewohnt langen Arbeitszeiten feilte ich abends an meinem Plan, meinen Schwager in meinen Ex-Schwager zu verwandeln. Sein letztes Stündlein nahm immer schärfere Konturen an. In Gedanken spielte ich alle Möglichkeiten durch, die eine Großbaustelle hergab. Das waren eine Menge. Angefangen von einem Sturz von einem Baugerüst bis zu der Option, zu einem biologischen Teil eines stabilen Fundaments zu werden. Interessant fand ich die Möglichkeit, ihn vor einen vorbeidonnernden Betonmischer zu stoßen. Da bekam die Formulierung: plattmachen gleich eine doppelte Bedeutung. Vieles, was mir einfiel, war allein und nach Arbeitsschluss auf der Baustelle nicht zu bewältigen. Ich musste mir ein Verfahren überlegen, das ich ohne Hilfe anwenden konnte. Werkzeuge, die sich als Schlagwaffen eigneten, standen bei Bauarbeiten massenhaft zur Verfügung. Darüber musste ich mir keine Gedanken machen.
Um keine böse Überraschung zu erleben, plante ich einen Wochenendausflug zum Baustellengelände.
Wie an fast jedem Freitagnachmittag besuchte ich das Fitnesscenter meines Vertrauens. Falls Sie nun glauben, ich würde mich an den Geräten quälen, um danach völlig ausgepowert nach Hause zu schleichen, irren Sie sich. Ich besuche das Studio, weil ich mich gern bewege und es mir in den Wintermonaten draußen zu kalt dafür ist. Laufband und Ergometer sollen mir nicht dazu dienen, olympische Rekorde zu brechen. Sport soll einfach Spaß machen, ohne zur Tortur zu werden. Dabei ein bisschen zu schwitzen schadet nicht. Ein weiterer Vorteil solcher Einrichtungen ist nicht von der Hand zu weisen: Man lernt nette Leute kennen, sitzt nach dem Training oft bei einem gesunden Drink an der Bar zusammen und philosophiert über Gott und die Welt. Für mich ist das eine angenehme Art, das Ende der Arbeitswoche entspannt einzuläuten.
Am Wochenende ist für mich Ausschlafen angesagt. Morgens lasse ich mir viel Zeit. Ich frühstücke im Nachthemd mit Strickjacke darüber und dicken Socken an den Füßen in meiner Küche bei Musik aus dem Radio und lese dabei die HAZ. Wenn ich keine auswärtigen Pläne habe, bleibe ich im warmen Stübchen und laufe den ganzen Tag im Schlabberlook herum.
An diesem Samstag musste ich mich wohl oder übel ausgehfertig machen. Auf meiner To-do-Liste stand die nähere Inaugenscheinnahme des Ortes, an dem mein Schwager Kalle seinen letzten Schnaufer tun sollte. Also zog ich warme Klamotten an und verließ das Haus. Zunächst musste ich mir die zugefrorenen Scheiben meines Autos vornehmen. Dabei bemerkte ich zum ersten Mal eine Verbindung zwischen meinem Eiskratzer und meinen tödlichen Vorhaben. Immerhin wollte ich den Kandidaten auf meiner Liste zum Abkratzen verhelfen.
Nachdem ich also ihre Scheiben enteist hatte, sprang meine Käthe dankbar und zuverlässig an. Mein Ziel war es wieder, in Friedhofsnähe zu parken. Von dort aus schlenderte ich wie eine abendliche Spaziergängerin um das riesige, in grünes Licht getauchte Baustellengelände. Die Metallzäune gestatteten einen ungehinderten Blick auf die nicht vorhandenen Eindringungsmöglichkeiten. Anscheinend war mein Plan zum Scheitern verurteilt. Ich entdeckte Kameras, die offenbar alle Zugänge aufs Gelände überwachten. Unentdeckt kam niemand daran vorbei. Was hatte ich Naivling eigentlich erwartet? So viel zu der Idee, das Zeitfenster zu nutzen, wenn die Arbeiter abends gingen, Kalle sich aber noch auf der Baustelle aufhielt. Meinen Feierabendplan konnte ich abhaken. Eine neue Idee musste her. Und zwar subito.
Am Wochenanfang zog ich mich nach der Arbeit im Bistro Dingsbums in meiner kleinen Wohnung um. Dabei betrachtete ich mich kritisch im Spiegel. Bislang gab es an meinem Äußeren kaum etwas auszusetzen. Aus meiner Sicht. Durch viel Sport hatte Übergewicht keine Chance. Für meinen Geschmack war allenfalls meine Oberweite etwas zu üppig, was wiederum meine jeweiligen Partner nie gestört hatte. Im Gegenteil. Ich fand meine ausdrucksvollen Augen viel anziehender. Männer setzten andere Prioritäten.
Zu dunkler Hose und Pullover schlüpfte ich in meine schwarze Daunenjacke und ließ mein Haar unter einer Mütze verschwinden, die Finger in warmen Handschuhen. Zusätzlich zog ich die Kapuze über den Kopf.
Mein Handy bekam vorsichtshalber Hausarrest. Mittlerweile wusste jedes Kind, wie die Polizei arbeitete. Durch Funkzellenabfragen kam sie so manchem Täter rasch auf die Spur.
Heute durfte mein Auto am Bordstein relaxen, während ich das Haus durch die Hintertür über den dunklen Hof verließ und mit einem der grünen Stadtbusse Richtung Friedhof fuhr. Eine Haltestelle früher als nötig stieg ich aus und setzte den restlichen Weg zu Fuß fort.
Gegenüber der Baustelleneinfahrt lehnte ich mich an einen Baumstamm und wartete auf den Feierabend der Belegschaft. Nachdem der vermutlich letzte Arbeiter endlich gegangen war, blieb es eine Weile ruhig, und ich fragte mich, wann Kalle endlich erscheinen würde. Erledigte er Papierkram, kümmerte er sich um Bestellungen, plante er die nächsten Arbeitsschritte für die kommenden Tage? Oder was trieb er dort allein stundenlang? Allmählich wurde ich ungeduldig, zumal die Temperaturen übers Wochenende gesunken waren und die Warterei in der klaren Luft ungemütlich wurde. Ich trat von einem Fuß auf den anderen. Dabei spürte ich die Kälte von unten und versuchte die Füße in den Stiefeln ein wenig hin und her zu bewegen, was leider nicht den gewünschten Erfolg brachte. Wenn Kalle nicht bald käme, würden vor dem Zubettgehen meine Zehen einzeln aus den Socken fallen.
Endlich nahm ich eine Bewegung auf der Baustelle wahr und lief hinüber zum Tor. Im Schatten eines Dixi-Klos blieb ich stehen. Auf das beißende Duftgemisch aus Chemie und Kloake reagierte meine Nasenschleimhaut empfindlich, was ich so gut es ging ignorierte. Vorsichtshalber atmete ich durch den Mund. Plötzlich sprang das grüne Licht auf dem Gelände an. Augenblicke später tauchte mein Schwager auf.
„Hallo, Kalle“, rief ich ihm zu, worauf er überrascht näher kam.
„Caro, was machst du denn hier?“
„Ich habe auf dich gewartet.“
„Warum? Ist was passiert?“
„Melli hat mir erzählt, wo du arbeitest. In der Zeitung wurden die tollen Penthouse-Wohnungen mit dem sagenhaften Ausblick vorgestellt, die hier entstehen. So ein Apartment ist schon lange mein Traum. Leisten werde mir das leider nie können. Ich möchte wenigstens einmal die Lichter der Stadt von dort oben sehen.“
Entgeistert starrte er mich an. „Jetzt?“
„Warum nicht? Es ist ein so schöner, sternenklarer Abend.“
„Das geht nicht.“
„Bitte, Kalle, du bist doch hier der Boss.“
Er wirkte geschmeichelt, gab aber nicht nach. Noch nicht.
„Trotzdem ist die Baustelle für Fremde tabu. Betreten streng verboten.“
„Ist denn um diese Zeit jemand hier, der uns sehen könnte?“
„Das nicht. Die Kollegen sind alle im Feierabend. Aber ich habe gerade die Alarmanlage eingeschaltet. Die Kameras erfassen jede Bewegung auf dem Gelände.“
„Kannst du die nicht noch mal abschalten?“
Mit einem flehenden Blick schaute ich ihm in die Augen.
„Bitte, Kalle. Nur zehn Minuten. Es ist zwar erst in ein paar Wochen so weit, aber das wäre mein schönstes Weihnachtsgeschenk. Als Gegenleistung darfst du dir etwas wünschen.“
„Echt? Was denn?“
„Was du willst.“ Welcher Teufel hatte mich zu diesem Angebot verleitet? „Wenn ich dazu in der Lage bin“, schob ich vorsichtshalber nach, worauf er vieldeutig grinste.
„Ich wüsste da was. Deine Schwester ist ja abends immer müde – wegen der Kinder. Bei uns spielt sich im Bett nicht mehr viel ab. Aber ein Mann hat seine Bedürfnisse. Wenn du verstehst, was ich meine.“
„Na klar. Ergeht mir genauso. Das letzte Mal mit Olli ist ewig her. Und ein One-Night-Stand mit einem Fremden ist mir zu gefährlich.“ Mein verheißungsvoller Blick traf ihn. „Mit dir wäre das was anderes. Wir könnten von hier aus zu mir fahren und es uns gemütlich machen.“ Kotz! „Wenn du verstehst, was ich meine.“
Ungläubig taxierte er mich. Immerhin hatte ich seine plumpen Anspielungen stets geflissentlich überhört.
„Ist das dein Ernst?“
„Warum nicht? Schließlich sind wir erwachsen und schaden damit niemandem. Melli muss ja nichts davon erfahren.“
An seine Frau verschwendete er in diesem Moment sicher keinen Gedanken. In ihm kämpfte das Pflichtbewusstsein gegen die Aussicht auf eine unverhoffte Nummer. Aber nicht lange.
„Okay, bleib hier stehen, bis ich die Anlage ausgeschaltet habe. Rühr dich nicht vom Fleck. Sollte jemand zufällig auf die Idee kommen, die Überwachungsaufnahmen zu checken, darf er dich nicht entdecken.“
„Ich bewege mich nicht von der Stelle.“
Na bitte. Das klappte schneller als erwartet. Bei manchen Männern musste man anscheinend nur die richtigen Knöpfe drücken, um sein Ziel zu erreichen.
Während Kalle davoneilte, schüttelte ich über mich selbst den Kopf. Warum hatte ich diesen Vorschlag zur gemeinsamen Freizeitgestaltung nicht längst in Erwägung gezogen, um meinen zukünftig mausetoten Schwager aufs Dach zu locken? Immerhin hatte er sein Interesse an mir nie erfolgreich unterdrückt. Bei gemeinsamen Feiern konnte er sich in Alkohollaune die eine oder andere Bemerkung nie verkneifen, die meist von einem sehnsüchtigen Blick auf meinen – bleiben wir mal beim Baugewerbe – Vorbau begleitet war, der bei der knabenhaften Figur meiner Schwester eher einem schmalen Fenstersims glich. Wahrscheinlich hatte ich nicht daran gedacht, weil eine Affäre mit ihm in jeder Hinsicht ein absolutes No-Go für mich war. Ihn in dem Glauben zu lassen, später würde was zwischen uns laufen, erschien mir jedoch als Mittel zum Zweck nicht nur geeignet, sondern legitim.
Der Wechsel der Farbe der Baustellenbeleuchtung verriet die ausgeschaltete Sicherheitsanlage. Nun erhellte nur vereinzeltes Notlicht die Szenerie. Kalle holte mich am Tor ab und schob es von innen zu, verschloss es aber zu meiner Erleichterung nicht. Mit einigen Erklärungen zum Großprojekt führte er mich vorbei an schweren Baumaschinen über das unwegsame Gelände zum Rohbau eines Wohnkomplexes. Einen Fahrstuhl gab es bislang nicht, weshalb wir zahlreiche Stufen erklimmen mussten, bis wir endlich oben ankamen. Paletten mit Zementsäcken und Dämmstoffen, Kabelrollen und anderes Material lagerten dort.
Mein oftmals übel gelaunter und sportlich talentfreier Schwager zeigte sich – nachdem er wieder zu Atem kam – beschwingt und aufgekratzt. Anscheinend übte die Vorfreude bei ihm eine euphorisierende Wirkung aus. Sollte man das nicht jedem Todeskandidaten wünschen? Wäre es nicht schön, wenn jeder Mensch fröhlich pfeifend Abschied von dieser Welt nähme?