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NIEMALS WOLLTEST DU ZUR BEUTE WERDEN ... Am Ufer der Kreideküste auf Rügen liegt die grausam verstümmelte Leiche eines Kommunalpolitikers. Bewohner und Gäste der Insel sind entsetzt. Seine Witwe engagiert den ehemaligen Polizeipsychologen Erik Nordstrøm, um das Verbrechen aufzuklären. Doch der sucht nicht nur den Täter, sondern auch nach einem verschwundenen jungen Mechaniker. Die Spuren führen Nordstrøm und seine Kollegin Sara Sachs nach Bornholm, Usedom und Ystad und lassen vermuten, dass es eine Verbindung zwischen dem Mordopfer und dem Vermissten gibt. Schon bald geschehen auf Rügen weitere Morde nach demselben Muster. Als das Ermittlerduo den Tätern bedrohlich nahekommt, gerät es in tödliche Gefahr.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Für meine Geschwister Barbara und Jens. Die unbeschwerten Ferienwochen, die wir in unserer Kindheit jedes Jahr zusammen an der Ostsee verlebt haben, werden mir unvergesslich bleiben.
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2025 Niemeyer Buchverlage GmbH, Osterstraße 19, 31785 [email protected] Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8723-9
Claudia RimkusNordstrøm – Die Jagd
Agenturmitarbeiter:
Dr. Erik Nordstrøm – 39, Agenturchef, ehemaliger Polizeipsychologe
Dr. Sara Sachs – 36, Juristin
Nico Dietz – 26, IT-ler
Adam Nowak – 33, gebürtiger Pole, Sachbearbeiter
Christiane Wittig – Sachbearbeiterin
Renate Müller – 58, Sekretärin, Mädchen für alles
Vera de Boer – 60, Tante & Ziehmutter von Erik, Malerin
Marie – 4, Tochter von Erik
Rolf Vonhagen – 45, Politiker
Iris Vonhagen – 42, Ehefrau des Politikers
Henriette Andresen – 72, Mutter von Iris Vonhagen
Jan Kolling – 29, Automechaniker
Ron Kolling – 25, Bruder von Jan
Grete Wernicke – Ende 60, Tante von Jan und Ron Kolling
Boris Lasarew – Ende 50, Barbesitzer
Denis Lasarew – 56, Bruder von Boris
Thorid Jespersen – 24, Insassin Gefängnis in Ystad
Gabriel Althoff – 44, Oberstaatsanwalt
Hans Bock – 57, Hauptkommissar
Britta Kayser – 35, Oberkommissarin
Jonas Bauer – 32, Kommissar, Kollege von Britta Kayser
Dr. Isabella Adler – 42, Rechtsmedizinerin
Alexis Petrou – 39, Chef KTU
Leon Matthis – 34, IT-Spezialist bei Polizei Rügen
Henrik Lundberg – 38, Polizist auf Bornholm
Niels Frandsen – 38, Däne, Mitschüler von Erik, bewirtschaftet Hof auf Rügen
Ole Frandsen – 45, Bruder von Niels, bewirtschaftet Hof auf Bornholm
Jette Frandsen – 29, Schwester von Niels & Ole, Journalistin beim Rügenkurier
sowie einige Randfiguren
Sein entkräfteter Körper zitterte unkontrolliert. Hart schlugen seine Zähne aufeinander, wobei er sich auf der fauligen Matratze krümmte. Der Schmerz in seinem Kopf schien sich bei jedem Atemzug tiefer in sein Hirn zu bohren. Muffiger Geruch stieg ihm in die Nase. Mühsam richtete er sich etwas auf. Er hatte Durst, schrecklichen Durst. Sein Blick huschte im Halbdunkel über die kahlen Backsteinwände. Wo war er? In einem Keller? An der gegenüberliegenden Wand entdeckte er ein riesiges, mit roter Farbe aufgemaltes Zeichen. Er kniff die Augen etwas zusammen, um es besser zu erkennen: ᛣ
Was bedeutete das? Panik erfasste ihn. Er rappelte sich schwankend auf, schrie und flehte um Hilfe, aber niemand reagierte. Hektisch suchte er nach einer Fluchtmöglichkeit, fand eine eiserne Tür und hämmerte mit den Fäusten gegen das kalte Metall. Nichts. Kein Laut drang zu ihm. Als wäre er in einem Kerker fernab der Zivilisation gefangen. Hier gab es nur ihn und seine Scheißangst.
Verstört sah er sich in der kargen Zelle um. Nicht weit von dem ranzigen Lager stand ein Eimer mit Deckel. Außerdem ein kleiner Kanister. Wasser! Er griff nach dem Kunststoffbehälter, schraubte den Verschluss auf und setzte die Öffnung, ohne zu zögern, an den Mund. Gierig trank er, wobei das Wasser zu beiden Seiten an seinem Kinn hinunter auf das dünne Shirt lief. Das eisige Nass auf seiner Haut ließ ihn frösteln. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er die kostbare Flüssigkeit nicht verschwenden durfte. Womöglich brauchte er sie zum Überleben.
Mit einem Stöhnen verschloss er den Kanister und sank auf die Matratze. Abermals blickte er sich um. Hoch oben über der Tür fehlten in gleichmäßigen Abständen Backsteine in der Wand, wodurch mattes Licht hereinfiel, das ihm half, sich halbwegs zu orientieren. Seine Lage erschien ihm so aussichtslos, als sei er lebendig begraben. Ohne Hilfe gab es keinen Weg aus diesem Gefängnis. Grausen erfasste seinen Körper wie Schüttelfrost in einer Fiebernacht. Dabei biss er sich auf die Zunge. Metallischer Geschmack füllte seine Mundhöhle.
Er musste sich beruhigen! Mit letzter Kraft verschränkte er die Arme und drückte sie fest gegen seine Brust, um das Zittern zu bändigen. Nach einer Weile gelang es ihm, einen klaren Gedanken zu fassen. Wer hatte ihm das angetan? Wer könnte ihn verschleppt und in dieses Loch gesperrt haben – und warum?
Mit geschlossenen Augen dachte er angestrengt nach, versuchte die Ereignisse zu rekonstruieren. Seine letzte Erinnerung war das Lagerfeuer am Strand, an dem sich kleine Gruppen abends nach Feierabend trafen. Eine junge Frau hatte sich zu ihm gesetzt … Anna: hübsch, blond, lange Beine – genau sein Typ. Bei einem Bier waren sie ins Gespräch gekommen, hatten über Gott und die Welt geredet. Gegen Mitternacht wollte sie sich verabschieden, weil sie am nächsten Tag früh rausmusste. Sein Angebot, sie zu fahren, hatte Anna nach kurzem Überlegen angenommen. Durch die Dünen waren sie Richtung Parkplatz gegangen …
Fuck! Wieso hatte er keinen Schimmer, was anschließend passiert war? Wurden sie überfallen? Kam daher dieses tierische Dröhnen in seinem Kopf? Wahrscheinlich wurde er niedergeschlagen. Instinktiv hob er die Hände und betastete seinen Schädel. Am Hinterkopf fühlte er eine Beule. Es hatte ihm tatsächlich jemand eins übergezogen. Vielleicht Annas Ex, von dem sie erzählt hatte? Aber weshalb? Wirkte er etwa gefährlich? Er war kein Asozialer, der brutal über das Objekt seiner Begierde herfiel. Gewalt verabscheute er zutiefst – weil er mit ihr aufgewachsen war. Sein Stiefvater, dieses versoffene Arschloch, hatte ihn oft verprügelt und in seinem Zimmer eingeschlossen, wenn die Mutter zum Nachtdienst im Krankenhaus war. Durch die dünne Wand hatte er mitanhören müssen, wie dieses Scheusal seinen kleinen Bruder missbraucht hatte.
In Erinnerung daran ballte er die Hände zu Fäusten. Er würde eine Frau niemals gegen ihren Willen … Es gab also keinen Grund, ihn außer Gefecht zu setzen. Und warum sollte der Ex ihn obendrein verschleppen und hier einsperren? Das ergab keinen Sinn.
Unwillkürlich fragte er sich, wie lange er schon eingekerkert war. – Stunden oder Tage? In diesem stickigen Halbdunkel hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Unweigerlich glitt seine Hand zur Seitentasche seiner bis über die Knie reichenden Cargohosen, tastete nach dem Smartphone. Verschwunden. Auch alles andere, was er normalerweise bei sich trug, hatte man ihm abgenommen.
Wie aus dem Nichts erklang plötzlich ein höhnisches Lachen, hallte von den nackten Wänden wider.
„Wer ist da, verdammte Schei …“ Der Fluch blieb ihm buchstäblich im Hals stecken, als etwas Haariges sein linkes Bein berührte.
Vorsichtshalber benutzten die Jäger für ihre Kommunikation unregistrierte Mobiltelefone mit nicht erfassten SIM-Karten. Obendrein agierten sie untereinander über Pseudonyme: Bube, Dame, König, Joker. Ass hielt sich im Hintergrund, trat selten in Erscheinung. Unter diesen Deckmänteln planten sie ihren Feldzug gegen das Böse, um für Gerechtigkeit zu sorgen.
Wie verabredet rief König seine Partner nacheinander an und führte die Teilnehmer in der Telefonkonferenz zusammen.
„Wie ist es gelaufen?“, wollte er wissen. „Gab es Schwierigkeiten?“
„Überhaupt nicht“, antwortete Dame. „Der Junge ist mir wie ein kleiner Hund gefolgt.“
„Den lassen wir erst mal schmoren“, fügte Bube hinzu. „Wahrscheinlich macht er sich schon vor Angst in die Hose.“
„Das geschieht ihm recht“, meinte König. „Jeder muss für das, was er getan hat, büßen. Ohne Ausnahme. Wir hatten keine andere Wahl, als das Gesetz in unsere Hände zu nehmen. Das sind wir den Opfern schuldig.“
„Was ist mit dem anderen?“, fragte Joker. „Willst du das wirklich durchziehen, obwohl wir geplant haben, den nächsten erst einzukassieren, wenn wir seinen Vorgänger zur Strecke gebracht haben?“
„So eine Gelegenheit ist einmalig. Den vermisst keiner, weil alle glauben, er sei im Angelurlaub. Wir müssen schnell handeln und ihn nach ein paar Tagen zur Jagd freigegeben.“
„Und ich werde derjenige sein, der ihm den Todesstoß versetzt.“ Die Stimme von Bube klang eiskalt. „Ich kann es kaum erwarten.“
„Traust du dir das zu?“, fragte König besorgt. „Wenn du durch den Wald rennst, bevor die Bänderdehnung vollständig ausgeheilt ist, dauert es wieder ein paar Wochen, bis wir die Jagd auf Rügen eröffnen können.“
„Mein Fuß ist wieder voll belastbar. Das war einfach Pech auf Usedom. Der Typ hat Haken geschlagen wie ein Kaninchen auf Ecstasy, bis wir ihn im Unterholz erwischt haben. Kein Wunder, dass er bis heute nicht gefunden wurde.“
„Der sieht nach vier Wochen in der idyllischen Natur bestimmt lecker aus“, spottete Joker. „Ist aber nicht schade um den Drecksack. Und für uns war das so was wie eine Generalprobe.“
Über Papiere gebeugt saß Erik Nordstrøm in seinem Arbeitszimmer. Bewerbungsunterlagen zu lesen, zählte beileibe nicht zu seiner bevorzugten Lektüre. Wenn er aktuell keinen Auftrag hatte, beschäftigte er sich mit einem der zahlreichen Kriminalfälle, über die er in den letzten Jahren Informationen zusammengetragen hatte. War es der Polizei nicht gelungen, einen Fall zu lösen, wurde er früher oder später zu den Akten gelegt, wurde zum sogenannten Cold Case. Erik interessierte sich für unaufgeklärte Tötungsdelikte und Vermisstenfälle. Als Polizeipsychologe hatte er hin und wieder damit zu tun gehabt. Er besaß nicht nur intuitive, sondern ausgeprägte analytische Fähigkeiten. Obwohl er mittlerweile seinen Dienst quittiert und eine Agentur eröffnet hatte, versuchte er, Licht in das Dunkel dramatischer Ereignisse zu bringen. Aus schmerzhafter Erfahrung wusste er, wie wichtig es für Hinterbliebene war, Antworten zu erhalten, um mit der Vergangenheit abschließen zu können.
Unwillkürlich glitt sein Blick zu dem gerahmten Foto auf seinem Schreibtisch, als die gute Seele seiner Agentur nach kurzem Anklopfen eintrat. Mit der Klinke in der Hand blieb Renate Müller nach zwei Schritten stehen.
„Hast du ein paar Minuten?“
Obwohl er dankbar für die Ablenkung war, schüttelte er den Kopf und deutete auf die Unterlagen, die sich vor ihm stapelten.
„Zwischen meinen Terminen muss ich heute endlich die Bewerbungen durchsehen.“
Neben seiner Mitarbeiterin tauchte unerwartet eine Fremde auf.
„Stellen Sie mich ein. Das erspart Ihnen eine Menge Zeit und Arbeit.“
„Was Sie nicht sagen.“ War sein Stoßgebet erhört worden? Interessiert musterte er die Frau. Ihre schlanke Gestalt steckte in engen schwarzen Hosen und einem violetten Trikot. Unter dem Arm trug sie einen giftgrünen Fahrradhelm, der anscheinend für ihr zerzaustes blondes Haar verantwortlich war.
„Lassen Sie sich durch mein Outfit nicht täuschen. Ich bin Volljuristin.“
„Und offenbar entschlossen, sich nicht abweisen zu lassen.“ Das gefiel ihm. Es konnte nicht schaden, sie anzuhören. Er stand auf und beschrieb eine einladende Geste zum Besucherstuhl. „Sie haben fünf Minuten, um mich zu überzeugen.“
Rasch kam sie näher, nahm ihren Rucksack ab und setzte sich. Unterdessen zog sich Eriks Kollegin zurück und schloss die Tür von außen. Er nahm an seinem Schreibtisch Platz und richtete den Blick auf die Besucherin.
„Schießen Sie los.“
„Ich heiße Sara Sachs“, stellte sich die sportliche Frau vor. „Nach dem Abitur war ich 18 Monate in der Welt unterwegs. Work & Travel: Kanada, Australien, Neuseeland, Südafrika. Danach habe ich in Göttingen Jura studiert. Mein erstes Staatsexamen habe ich mit 14, mein zweites mit 16 Punkten abgeschlossen. Anschließend bin ich in die kleine Kanzlei meines Onkels in Berlin eingestiegen. Er war gesundheitlich angeschlagen und brauchte Unterstützung. Nebenbei habe ich meine Doktorarbeit geschrieben. Als er sich sechs Jahre später zur Ruhe setzen wollte, hätte ich die Kanzlei übernehmen können. Nach langem Überlegen habe ich mich dagegen entschieden, sonst hätte ich einen Haufen Schulden, aber überhaupt kein Privatleben mehr gehabt. Da kam mir das Angebot eines großen Konzerns gerade recht. In den letzten vier Jahren habe ich dort gearbeitet und gut verdient, aber so richtig glücklich war ich mit diesem Job nie. Immer ähnliche Vorgänge, keine wirklichen Herausforderungen. Vor zwei Wochen habe ich gekündigt und mir eine Auszeit genommen. Auf meinen Reisen war ich immer gern an der Küste. Deshalb wollte ich am Meer darüber nachdenken, wie es beruflich weitergehen soll. Bei meinen Radtouren habe ich mich in diese wunderbare Insel verliebt. Und dann habe ich unter den Stellenangeboten Ihre Anzeige gelesen.“ Sie kramte in ihrem Rucksack, förderte eine Tüte Lakritze zutage und eine etwas zerdrückte Mappe, die sie auf den Schreibtisch legte. „Leider habe ich nur mein Tablet mit nach Rügen genommen. Darauf sind nicht meine kompletten Bewerbungsunterlagen gespeichert. Was fehlt, reiche ich so schnell wie möglich nach.“
Er bemerkte ihren verstohlenen Blick auf ihre Smartwatch und unterdrückte ein Schmunzeln. Obwohl sie alles Wissenswerte erwähnt hatte, lag sie gut in der vereinbarten Zeit. Anscheinend war sie in der Lage, aus dem Stegreif wichtige und überzeugende Fakten zu präsentieren. Das wertete er als weiteres Plus. Er griff nach der Mappe und schlug sie auf. Für erste Informationen las er den Lebenslauf. Die Bewerberin kam in Goslar zur Welt, lebte in Potsdam und beherrschte drei Sprachen in Wort und Schrift. Die Zeugnisse waren beeindruckend. Er hob den Blick und schaute sie aufmerksam an.
„Warum meine Agentur? Mit diesem ausgezeichneten Prädikatsexamen würde jede renommierte Kanzlei Sie mit Kusshand nehmen.“
„Offen gestanden habe ich bereits mehrere attraktive Offerten über LinkedIn erhalten, aber ich möchte nicht wieder in einem Glaspalast in irgendeiner Großstadt landen. Ich bin 36. Wenn ich nicht bald etwas ändere, tue ich das wohl nie.“
„In den letzten Jahren hatten Sie wahrscheinlich überwiegend mit Wirtschaftsrecht zu tun. Wie sieht es mit Ihren Erfahrungen auf anderen Rechtsgebieten aus?“
„In Berlin habe ich so ziemlich alles gemacht: Erbrecht, Familienrecht, Verkehrsrecht, Arbeitsrecht …“
„Strafrecht?“
„Ich hatte mal einen Mandanten, der wegen Mordes angeklagt war.“
„Wie ist das ausgegangen?“
„Freispruch. Um Ihre nächste Frage zu beantworten: Er war unschuldig. Das konnte ich in einem aufsehenerregenden Prozess ganz klar beweisen. Wäre ich nicht von Anfang an davon überzeugt gewesen, hätte ich das Mandat gar nicht übernommen.“
„Nach diesem Erfolg hätten Sie eine gefragte Strafverteidigerin werden können.“
Entschieden schüttelte sie den Kopf.
„Mir sind daraufhin tatsächlich ein paar interessante Angebote ins Haus geflattert, aber ich wollte nie Ganoven rausboxen, die anschließend das nächste Verbrechen begehen. Es klingt vielleicht pathetisch, aber in erster Linie habe ich Jura studiert, um Menschen, denen Unrecht geschieht, zu ihrem Recht zu verhelfen.“
Anscheinend steckte in dieser Frau mehr, als er zunächst vermutet hatte.
„Sie wissen, was wir hier tun?“
„Ihre Homepage ist sehr informativ. Sie leiten eine Mischung aus Detektei und Beratungsstelle mit jeder Menge Hilfsangeboten. Darunter Opferberatung. Außerdem beschäftigen Sie sich erfolgreich mit Mord- oder Vermisstenfällen – setzen sozusagen dort an, wo die Polizei nicht weiterkommt oder die Akten geschlossen hat. Sie waren ein gefragter Polizeipsychologe und Fallanalytiker, bevor Sie diese Agentur vor ungefähr drei Jahren gegründet haben.“
Einiges davon stand nicht auf der Website. Offenbar hatte sie tiefer gegraben. Solche Leute konnte er gebrauchen.
„Wir sind hier in der Agentur ein gut aufeinander eingespieltes Team. Jeder hat ein Spezialgebiet, springt aber ein, wenn es irgendwo eng wird, zum Beispiel, wenn ein Kollege Hilfe bei einer komplizierten Recherche benötigt.“
„Kein Problem.“
„Bei unseren Ermittlungen kommen wir oft nur mit kleinen Schritten voran. Zwar müssen wir uns nicht aufgrund strenger Vorschriften innerhalb eines vorgegebenen Rahmens bewegen, dafür stehen uns aber nicht die Vorteile eines riesigen Polizeiapparats zur Verfügung. Kurz gesagt, wir sind bei unseren Fällen meist auf uns allein gestellt.“
„Das war ich in der Kanzlei meines Onkels auch.“
„Leider kann ich keine Spitzengehälter wie große Konzerne zahlen.“
„Geld allein macht nicht glücklich.“
Nachdenklich erhob er sich und trat ans Fenster. Vieles sprach für die Bewerberin. Bislang war seine Agentur ohne Rechtsbeistand ausgekommen. Seit einigen spektakulären Ermittlungserfolgen kamen die Hilfegesuche jedoch aus ganz Deutschland und Teilen Skandinaviens. Ein befreundeter Staatsanwalt hatte ihm geraten, einen Juristen einzustellen, der sich um die rechtliche Seite kümmern würde.
Nordstrøm drehte sich herum, als seine Mitarbeiterin den Kopf zur Tür hereinsteckte, um ihn an seinen nächsten Termin zu erinnern.
„Frau Wernicke ist da. Ich habe sie ins Besprechungszimmer gesetzt.“
„Wir sind hier gleich fertig. – Danke, Renate.“
Das war eine gute Gelegenheit, die Bewerberin in die Agenturarbeit schnuppern zu lassen. Er gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen.
„Kommen Sie.“
Sichtlich enttäuscht stand sie auf. Offenbar glaubte sie, ihn nicht überzeugt zu haben. Sie griff nach Rucksack und Helm, worauf er den Kopf schüttelte.
„Ihre Sachen können Sie einstweilen hierlassen.“
Zögernd setzte sie sich in Bewegung. Nordstrøm führte sie über den langen Flur und öffnete eine Tür. Dort ließ er ihr den Vortritt. Er selbst wechselte einige leise Worte mit seiner Mitarbeiterin. Als Renate Müller den Raum verließ, begrüßte er die Mandantin. Zuerst stellte er sich vor, ehe er auf die Bewerberin deutete.
„Das ist Frau Dr. Sachs.“ Sie setzten sich zu der Klientin an den Tisch. Mit einem schnellen Blick taxierte er sie: etwa Ende 60, graues, kurz geschnittenes Haar, schlichte Kleidung. „Was können wir für Sie tun, Frau Wernicke?“
„Es geht um meinen Neffen.“ Nervös nestelten ihre abgearbeiteten Hände am Griff der billigen Handtasche. „Jan … Jan Kolling. Er ist ungefähr seit letztem Sonntag spurlos verschwunden.“
„Zunächst sollten Sie sich an die Polizei wenden und Vermisstenanzeige erstatten.“
„Das habe ich gemacht, aber die tun ja nichts. Die haben gesagt, dass er erwachsen ist und selbst bestimmen kann, wo er sich aufhält.“ Verzweifelt verzog sich ihr zerfurchtes Gesicht. Sie kramte ein Taschentuch hervor und wischte sich über die Augen. „Ich kenne den Jungen. Der verschwindet nicht, ohne mir was zu sagen.“
Verständnisvoll tätschelte er ihren Arm.
„Ich kann Ihre Sorge nachempfinden. Hat er eine Freundin, mit der er unterwegs sein könnte?“
„Nein. – Außerdem würde Jan sein Telefon nicht ausschalten. Einfach abhauen schon gar nicht. Ihm muss was passiert sein.“
„Wie alt ist Ihr Neffe?“
„Vor vier Wochen wurde er 29.“
„Sie haben ein gutes Verhältnis?“
„Sicher doch. Jan ist ein anständiger Junge. Ganz anders als sein jüngerer Bruder. Ron macht immer nur Ärger und meldet sich nie.“
Spontan mischte sich die Juristin in das Gespräch ein. „Ist er vielleicht mal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen?“
„Jan? Nein. Aber Ronny: Diebstähle, Schlägereien und so was. Und immer zu viel Alkohol – wie sein Vater.“ Ein weiches Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. „Jan ist ganz anders: hilfsbereit und zuverlässig.“
Verstehend nickte Nordstrøm.
„Wir sollen also nach ihm suchen.“
„Wenn das nicht zu teuer ist.“ Verlegen senkte sie den Blick. „Ich habe nur eine kleine Rente und wenig Ersparnisse.“
„Darüber werden wir uns bestimmt einigen“, versprach er. „Wir brauchen den vollständigen Namen und die Adresse Ihres Neffen. Dazu ein aktuelles Foto – sowie seine Handynummer.“
Das Taschentuch verschwand. Stattdessen brachte sie einen Zettel und eine postkartengroße Aufnahme zum Vorschein. „Ich habe alles aufgeschrieben. Ein Bild habe ich auch mitgebracht.“
Beides gab sie an ihn weiter.
„Gut.“ Sekundenlang überlegte er. „Haben Sie einen Schlüssel zu seiner Wohnung? Möglicherweise finden wir dort einen Hinweis auf seinen Verbleib.“
„Ja, aber der liegt bei mir zu Hause.“
„Das ist in Ordnung. Heute am Freitag schaffen wir das ohnehin nicht mehr. Wir können uns am Montagvormittag dort treffen. Sagen wir, um zehn Uhr? Falls er bis dahin auftaucht, melden Sie sich bitte.“
Erleichtert nickte sie.
„Sie wissen sicher, wo Ihr Neffe arbeitet. Außerdem sollten wir seine Freunde befragen. Legen Sie bitte am Wochenende eine Liste an. Notieren Sie jeden, der Ihnen einfällt.“ Damit erhob er sich.
„Danke.“ Sie stand auf und ergriff seine ausgestreckte Hand. „Vielen, vielen Dank, Herr Dr. Nordstrøm.“
Sie begleiteten die neue Klientin zu Renate Müller, die sich um alles Weitere kümmern würde, bevor sie ins Arbeitszimmer des Agenturchefs zurückkehrten.
Vor den bodentiefen Fenstern blieben sie stehen. Fragend schaute er die Juristin an.
„Was halten Sie von der Sache?“
„Nach meinem Eindruck hat Frau Wernicke nicht hysterisch reagiert, weil ihr Neffe ein paar Tage nichts von sich hören ließ. Sie scheint wirklich ein gutes Verhältnis zu ihm zu haben. Deshalb ist es ungewöhnlich, wenn er sich nicht meldet. Es wird einen gravierenden Grund für sein Abtauchen geben. Dabei muss es sich aber nicht zwangsläufig um ein Verbrechen handeln.“
„Das beurteile ich genauso. Nächste Woche wissen wir vielleicht mehr.“
„Wir? Bedeutet das …?“
„Wir versuchen es miteinander“, bestätigte er. „Eine dreimonatige Probezeit erscheint mir für alle Beteiligten fair, um herauszufinden, ob Sie zu uns und wir zu Ihnen passen. Einverstanden?“
Sie strahlte übers ganze Gesicht.
„Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.“
„Wann können Sie anfangen?“
„Wenn es Ihnen recht ist, gleich am Montag. Am Wochenende fahre ich nach Hause und hole ein paar Sachen. Vorher muss ich mir aber eine neue Unterkunft auf der Insel suchen, weil ich mein Pensionszimmer morgen räumen muss. Es ist leider weitervermietet. Hoffentlich finde ich so kurzfristig was Passendes.“
Vielsagend schaute er in ihre bernsteinfarbenen Augen.
„Ziehen Sie hier ein. Das erspart Ihnen eine Menge Zeit und Sucherei.“
Sie schien zu überlegen, ob sein Angebot seriös war, und runzelte die Stirn.
„Das ist nicht Ihr Ernst, oder?“
Mit zwei Schritten war er an der Glastür und öffnete sie. Sara Sachs folgte ihm hinaus auf die Dachterrasse. Die Juristin zeigte sich erstaunt über die Ausmaße des Anwesens, das von einer hohen weißen Mauer umgeben war.
„Ihr Grundstück ist riesig.“
„Das alles gehört nicht mir, sondern meiner Tante. Zu DDR-Zeiten war das ein Feriendomizil für hohe Parteifunktionäre. Nach der Wende hat mein Onkel das Gelände erworben, alles saniert und seinen Firmensitz hierher verlegt. Nach seinem Tod hat mir meine Tante diesen Platz für meine Agentur angeboten. Sonst hätte sie wahrscheinlich alles verkauft, weil es für eine Person viel zu groß ist. Außer diesem … nennen wir es mal: Bürogebäude befinden sich zwei weitere auf dem Grundstück.“ Er deutete nach rechts. „Sehen Sie die weiße Villa mit dem Turm? Dort wohnt die ganze Familie. Auf der anderen Gartenseite steht das Gästehaus mit vier Wohnungen. In einem der oberen Apartements wohnt einer meiner Angestellten. Das daneben steht leer; die beiden möblierten im Parterre sind momentan ebenfalls nicht bewohnt.“
„Klingt gut. Glauben Sie, Ihre Tante würde mir eins davon vermieten?“
„Sie ist wegen einer Ausstellung ein paar Tage in Hamburg. Ich rufe sie nachher an. Zuerst möchte ich Sie dem Team vorstellen.“
Innerhalb weniger Minuten versammelte er seine Mitarbeiter in einem Konferenzraum. Dort lernte die Juristin ihre neuen Kollegen kennen: die bildhübsche Christiane Wittig, die unter anderem für Erbschafts- und Unterhaltsangelegenheiten zuständig war, Adam Nowak, der überwiegend Firmenaufträge und Versicherungsfälle bearbeitete, Nico Dietz, den Computerspezialisten und Technikexperten. Renate Müller, die sich um Verwaltung, Buchhaltung und Terminvereinbarungen kümmerte, kannte sie bereits. Recherche jeglicher Art oblag allen Angestellten. Vermisstenfälle übernahm der Agenturchef grundsätzlich selbst.
Später begleitete Erik seine neue Kraft zum Gästehaus. Aus dem Garten stürmten zwei Golden Retriever auf sie zu.
„Sind das Ihre Wachhunde?“
„Die tun nur so. Sherlock und Watson sind gutmütig und verspielt. Wahrscheinlich würden sie einem Einbrecher schwanzwedelnd ihren Ball bringen.“
„Coole Namen.“ Sie streckte die Hand aus und ließ die Tiere daran schnüffeln. Anscheinend waren sie mit ihrem Duft einverstanden und forderten Streicheleinheiten.
„Die Namen hat ihnen meine Tante gegeben“, erzählte ihr zukünftiger Chef, als sie weitergingen. „Sie ist ein großer Krimifan.“
„Das bin ich auch“, gestand sie. „Wie heißt Ihre Tante eigentlich?“
„Vera de Boer.“
„Die Künstlerin?“
„Sie kennen ihre Werke?“
„Vor ein paar Tagen war ich in einer Galerie in Binz. Dort hängen ausdrucksstarke Gemälde von ihr.“ Die Siamkatze, die auf der Gartenmauer in der Sonne lag, war nicht zu übersehen. Blaue Augen in einem dunklen Gesicht musterten die Fremde. „Und das ist wahrscheinlich Miss Marple.“
Die Andeutung eines Lächelns erschien um seinen Mund.
„Sie besitzen eine rasche Kombinationsgabe.“
Wie lange er in diesem Kerker saß, wusste er nicht. Das immer gleiche Dämmerlicht gab keinen Aufschluss darüber, ob es Tag oder Nacht war. Seine Rolex hatten sie ihm abgenommen. Schätzungsweise vor zwei oder drei Tagen. Wie hatte er nur so dumm sein können, sich erpressen zu lassen? Warum hatte er sich nicht geweigert, die Fähre zu nehmen? Weil der Typ damit gedroht hatte, zuerst würde seine Frau und danach die Öffentlichkeit von seinem Geheimnis erfahren, gab er sich selbst die Antwort. Was hätte er tun sollen? Er konnte sich keinen Skandal leisten. Erst recht nicht so kurz vor den Wahlen. Nicht nur seine Ehe, seine Karriere hatte ebenfalls auf dem Spiel gestanden. Notgedrungen musste er sich auf den Vorschlag einlassen, den Mann auf Rügen zu treffen. Ein angeblich perfekter Zeitpunkt, da jeder ihn beim Fischen wähnte. Verflucht! Wie ein naiver Schuljunge war er in die Falle getappt! Seitdem hockte er in diesem verdammten Loch. Wenigstens war er nicht mehr an Händen und Füßen gefesselt. Die Kabelbinder hatten tief in sein Fleisch geschnitten und schmerzende Wunden hinterlassen. Obwohl er sich seitdem frei in diesem muffigen Raum bewegen konnte, fühlte er sich nicht besser. Außerdem bekam er kaum etwas zu essen oder zu trinken. Wollte man ihn hier aushungern, bis er seine Fehler eingestand? Darauf konnten seine Entführer lange warten. Dass es mindestens zwei waren, wusste er inzwischen. Was bildeten die sich eigentlich ein? Sein Geldangebot hatten sie höhnisch lachend abgelehnt. Vielleicht sollte er es noch mal versuchen? Jeder Mensch war käuflich. Es kam nur auf die Höhe der Summe an. Dieses Gefasel von Recht und Gerechtigkeit konnte man doch nicht ernst nehmen. Wahrscheinlich war das ihre Strategie, den Preis in die Höhe zu treiben. Ein Plan musste her! Auf keinen Fall würde er ihnen auch nur einen Cent zukommen lassen, solange er in diesem Keller festgehalten wurde. Er musste ihnen erneut vorschlagen, zusammen zur Bank zu gehen. Nicht nur, um Geld abzuheben. Als Anreiz sollte er sein Schließfach ins Gespräch bringen. Darin lagerte eine sechsstellige Summe. Bösartige Zungen könnten behaupten, es seien Bestechungsgelder. Er bevorzugte die Bezeichnung: Unterstützung zur Entscheidungsfindung. Zwar war das sein Notgroschen, trotzdem könnte er den Verlust verschmerzen. Seine Freiheit, womöglich sogar sein Leben stand auf dem Spiel. Diesen durchgeknallten Verbrechern mit ihrer albernen Maskerade war alles zuzutrauen. Irgendwie würde er sie dazu bringen, seine Bedingungen zu akzeptieren. Vorher musste er sich allerdings vergewissern, was genau sie tatsächlich über ihn in der Hand hatten. Handelte es sich um haltlose Behauptungen oder um wasserdichte Beweise? Diese müssten sie gegebenenfalls vor seinen Augen vernichten. Nur dadurch wäre es vorbei. Aber wäre es das wirklich? Eine Garantie gab es nicht. Vielleicht planten sie, ihn ein Leben lang zu erpressen? Das war im Moment zweitrangig, überlegte er weiter. Zunächst musste er hier rauskommen. Wenn er erst in Freiheit wäre, würde er Leute engagieren, die diese Ganoven aufspürten – und notfalls zum Schweigen brachten.
Wie ein Raubtier im Käfig tigerte er auf und ab, überlegte sich eine Strategie, verwarf sie, entwickelte eine neue. Wie so oft in den vergangenen Tagen hörte er fernes Rufen, das er weder verstehen noch lokalisieren konnte. Allerdings hielt er es für möglich, nicht der einzige Gefangene zu sein.
Irgendwann wurde die Tür entriegelt. Anstatt sich ängstlich in eine Ecke zu verkriechen, trat er einen Schritt nach vorn und blieb breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen, mitten in seiner Zelle stehen. Mit trotzig nach vorn gerecktem Kinn erwartete er seinen Entführer. Nur keine Schwäche zeigen.
„Endlich!“, blaffte er, als der Maskierte eintrat. „Ich verlange sofort etwas zu essen und zu trinken.“
„So, so“, höhnte der Mann. „Vorher möchte ich hören, wie sehr du deine widerlichen Taten bereust.“
„Es gibt nichts zu bereuen. Ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen.“
„Ist das dein letztes Wort?“
„Mein allerletztes.“
„Wie du willst. Komm mit.“
„Wohin?“
„Du hast uns doch ein Angebot gemacht. Wir fahren zur Bank. Also beeil dich. Oder willst du lieber hier verrotten?“
Sekundenlang musterte er den Vermummten skeptisch. Durfte er ihm glauben? Sein Misstrauen wurde vom Drang nach Freiheit zum Schweigen gebracht. Langsam setzte er sich in Bewegung und folgte dem Kerkermeister hinaus.
Nach einem Weg durch schlecht beleuchtete Gänge ging es eine schmale Treppe hinauf. Von dort aus konnte man durch die offenstehende Tür den Sternenhimmel sehen. Instinktiv beschleunigte er seine Schritte. Kaum war er im Freien, wurde er von hinten gepackt. Jemand bog ihm die Arme auf den Rücken, ein Streifen Klebeband erstickte seinen Schrei, ein kratziger Stoff wurde über seinen Kopf gestülpt. Das alles passierte sehr schnell. Dadurch hatte er keine Chance, sich zu wehren. Gegen zwei Männer hätte er in seiner Verfassung ohnehin nichts ausrichten können. Selbst sein innerer Widerstand erlahmte augenblicklich. Wie beim letzten Mal wurde er mit Kabelbindern an Händen und Füßen fixiert und in einen Wagen gestoßen. Vermutlich abermals in den Transporter.
Zunächst schien die Strecke über eine asphaltierte Straße zu führen, wurde jedoch bald holpriger. Dadurch prallte er hin und wieder gegen den Radkasten. Ein Feld- oder Forstweg? Nach einer gefühlten Ewigkeit endete die Fahrt und er wurde von den Plastikfesseln befreit. Jemand zerrte ihn aus dem Wagen und stellte ihn auf die Füße. Der muffige Stoff wurde von seinem Kopf gezogen, der Klebestreifen mit einem schmerzhaften Ruck vom Mund.
Reflexartig kniff er die Lider zusammen, doch statt der erwarteten hellen Beleuchtung herrschte um ihn herum Dunkel. Seine Augen gewöhnten sich schnell daran, erkannten dicht stehende Baumstämme. Ein Wald? Schlagartig überfiel ihn die Erkenntnis: Sie hatten ihn mit der Behauptung, zur Bank zu fahren, reingelegt, um ihn bequem aus dem Kerker ins Auto zu verfrachten.
„Was soll das?“, fragte er, um eine feste Stimme bemüht. „Ich will in die Stadt zur Bank!“
„Wir wollen dein dreckiges Geld nicht“, sagte einer der beiden Maskierten. „Trotzdem bekommst du die einmalige Chance, dein armseliges Leben zu retten. Und jetzt hau ab!“
Ungläubig riss er die Augen auf.
„Ihr lasst mich gehen?“
„Lauf! Wenn wir dich erwischen, bist du tot!“ Der Vermummte versetzte ihm einen Schlag gegen die Schulter. „Verschwinde, Mann! Sofort!“
Einen Augenblick lang zögerte er. Schließlich wirbelte er herum. Da sich die zwei Männer neben dem Lieferwagen aufgebaut hatten, konnte er nur in die entgegengesetzte Richtung fliehen. Planlos lief er los. Nur weg von hier! In der Dunkelheit konnte er nicht weit sehen, erkannte jedoch den Pfad, der hoffentlich aus dem Wald führte. Im Laufen warf er einen Blick über seine Schulter, sah die kleiner werdenden hellen Punkte. Das waren die Autoscheinwerfer! Verdammt! Diese Schweine würden ihn bestimmt verfolgen! Er musste von diesem Weg runter und sich durchs Unterholz kämpfen. Dort kamen sie mit dem Wagen nicht durch. Zwischen zwei Bäumen tauchte er ins Dickicht. Das Vorankommen wurde beschwerlicher. Orientierungslos hastete er vorwärts, stolperte über eine Wurzel und stürzte. Reglos blieb er liegen und lauschte. Zunächst wirkte es völlig ruhig um ihn herum. Nur sein heftiger Atem war zu hören, klang überlaut. Unweigerlich hielt er die Luft an. Nun war der Wald überhaupt nicht mehr still, sondern voller Geräusche. Über sich vernahm er den Flügelschlag eines Vogels und ein leises Rascheln in der Nähe. Ein Tier? Zweige brachen, als würde sich jemand den Weg zu ihm bahnen. Plötzlich dröhnte es durch das Gehölz. Sofort war ihm klar, was das war. Dieses dumpfe Klopfen stammte von Knüppeln, die gegen Baumstämme geschlagen wurden. Ein Parteifreund hatte ihn im letzten Herbst zu einer Treibjagd eingeladen. Dieser Lärm sollte das Wild aufschrecken und so von den Treibern in eine bestimmte Richtung gescheucht werden. Nun war er der Gejagte. Stöhnend rappelte er sich hoch und rannte weiter. Irgendwann hörte der Krach auf. Trotzdem wankte er vorwärts. Sein Atem pfiff, seine Lungen schmerzten. Besonders sportlich war er nie gewesen. Das rächte sich nun. Zu seiner schlechten Kondition hatte das tagelange Darben in diesem Kellerloch beigetragen. Allmählich geriet er an seine Belastungsgrenze und strauchelte, hielt sich aber auf den Beinen. Seine Schweißdrüsen arbeiteten auf Hochtouren. Um ihn herum wurde es stiller. Nur das Knacken im Unterholz war noch zu hören. Es schien von zwei Seiten zu kommen. Waren ihm seine Verfolger so dicht auf den Fersen? Oder bildete er sich das nur ein? Hektisch blickte er sich um, versuchte die Finsternis zu durchdringen. Wie durch ein Wunder entdeckte er halb rechts von sich einen helleren Fleck. Das Ende des Waldes? Mit letzter Kraft lief er über einen Holzweg darauf zu. Auf einmal wusste er, wo er sich befand. Dieser Wald war die Stubnitz! Hier kannte er sich aus. Als Kind war er oft im Nationalpark unterwegs gewesen, später mit Frau und Tochter. Nun wurden die Bäume lichter und er hörte die Meeresbrandung sowie ein bekanntes Rauschen. Der Kieler Bach, schoss es ihm durch den Kopf. Nicht weit vor ihm stürzte das Wasser in die Tiefe und verschmolz mit der Ostsee. Erleichtert taumelte er aus dem Wald. Trotz der besseren Sicht im schwachen Mondlicht legte er die letzten Schritte bis zur Abbruchkante achtsam zurück und tastete nach dem stabilen Geländer. Seine Finger klammerten sich daran, während er sich kurz dagegen lehnte. Der leichte Wind kühlte seine schweißnasse Stirn. Für einen Sekundenbruchteil erschien das Bild einer jungen Frau vor seinem geistigen Auge, mit der er sich vor ein paar Jahren ganz in der Nähe vergnügt hatte. Unwirsch schüttelte er diesen Gedanken ab. Fast hatte er es geschafft, seinen Verfolgern zu entkommen. Er musste nur die steile Rettungsleiter hinabsteigen und vom Kieler Ufer aus versuchen, sich am Strand entlang Richtung Sassnitz durchzuschlagen. Am Hafen würde er ein Taxi nach Hause nehmen. Zu Iris. Zu der Frau, die er trotz seiner vielen kleinen Affären liebte. Sie war sein Anker, sein Fels in der Brandung.
Vorsichtig setzte er einen Fuß auf die erste stählerne Treppenstufe, als er ein Geräusch in seinem Rücken vernahm. Von Panik erfasst hielt er inne. Die Angst versetzte ihn für einen Moment in eine Art Schockstarre. Mit Mühe besann er sich und nahm hastig Stufe für Stufe, verpasste eine davon und wäre beinah gestürzt. Hinter sich hörte er schwere Schritte auf der Metalltreppe. Atemlos erreichte er das Podest und taumelte gegen den Holzpfeiler. Mit beiden Händen suchte er daran Halt und warf einen Blick zurück auf seinen Verfolger, der ihn mit einer seltsamen Waffe im Anschlag wie ein stieläugiger Alien anvisierte.
Am Montagmorgen eilte Sara Sachs die kurze Strecke vom Gästehaus zur Agentur hinüber. Sie war erst gegen Mitternacht aus Potsdam zurück gewesen und hätte beinah verschlafen. Am ersten Arbeitstag zu spät zu kommen, wäre ihr megapeinlich gewesen. Renate Müller begrüßte sie freundlich und führte sie zu dem kleinen Büro mit ihrem künftigen Arbeitsplatz. Sogar ihr Name stand bereits auf dem Türschild. Eine Box mit dezent gestalteten Visitenkarten lag wie angekündigt auf dem Schreibtisch.
„Ist der Chef schon im Haus?“
„Um diese Zeit frühstückt er mit seiner Familie. In einer halben Stunde können wir mit ihm rechnen. Inzwischen mache ich Sie mit den Räumlichkeiten vertraut.“
„Danke, Frau Müller.“
„Renate“, wurde sie lächelnd korrigiert. „Wir duzen uns hier.“
„Prima. Ich bin Sara.“
Bei einem Rundgang schauten sie in die Arbeitszimmer der Kollegen, in die Teeküche sowie in die Konferenz- und Besprechungsräume. Das umfangreiche Archiv wunderte Sara. In zahlreichen Regalen lagerten jede Menge Ordner, Handakten und Kartonagen.
„Erstaunlich, wie viel sich hier in drei Jahren angesammelt hat.“
„Zwar haben wir gut zu tun, aber so viel dann doch nicht.“ Renate deutete nach links. „Dort stehen die Akten zu unseren Klienten. Den Rest hat der Chef zusammengetragen. Das alles betrifft ungelöste Verbrechen. Damit beschäftigt er sich, wenn nichts anderes anliegt. In den Archivboxen befinden sich unzählige Berichte, Zeitungsartikel …“
Davon hatte Sara im Internet gelesen.
„Das scheint ihm sehr wichtig zu sein.“
„Er weiß, was es für Angehörige bedeutet, im Ungewissen zu sein, was genau passiert ist oder nichts über den Verbleib eines geliebten Menschen zu erfahren. Sie finden keine Ruhe, können mit dem Geschehen nicht abschließen. Das ist quälend.“
Das erinnerte Sara an eine Frau aus ihrem näheren Umfeld.
„Aus meiner Nachbarschaft kenne ich so etwas: Unfall mit Fahrerflucht, bei der ein Teenager tödlich verletzt wurde. Leider wurde der Fahrer nie ermittelt. Die Mutter des Mädchens ist völlig fertig, steht ständig unter Psychopharmaka.“ Entschlossen schaute sie die Ältere an. „Wenn ich den Chef bei seinen Recherchen unterstützen kann, tue ich das gern.“
Es dauerte nicht lange, bis Erik Nordstrøm in der Agentur erschien. Der Enddreißiger betrat den Konferenzraum, in dem er von seinen Mitarbeitern erwartet wurde. Laut Renate wurden dort an jedem Montagmorgen zunächst die aktuellen Bearbeitungsvorgänge der Kollegen besprochen.
„Also habt ihr alle zu tun“, resümierte er. „Seit Freitag haben wir einen neuen Fall. Ein junger Mann ist seit etwa einer Woche abgängig. Seine Tante hat uns mit der Suche nach ihm beauftragt. In einer Stunde treffe ich mich mit ihr in seiner Wohnung.“
„Nehmen Sie mich mit?“ Erwartungsvoll schaute Sara ihn an. „Oder gibt es ein juristisches Problem, das ich bearbeiten könnte?“
„Zurzeit nicht.“ Er schien zu überlegen. „Als neue Kollegin sollten Sie so viele Aufgabenbereiche wie möglich kennenlernen, um über die Arbeitsabläufe Bescheid zu wissen. Dadurch wären Sie im Vorfeld informiert, worum es sich handelt, falls sich juristische Fragen dazu ergäben.“ Rasch warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. „Wir fahren in 30 Minuten.“
Vor den Garagen stiegen sie in seinen dunkelgrauen Volvo Kombi. Über den Kindersitz auf der Rückbank verlor Sara kein Wort.
„Bei so was war ich noch nie dabei“, gestand sie unterwegs. „Soll ich wie im Krimi nach Auffälligkeiten suchen?“
„Das wäre hilfreich.“
„Soll ich Fotos machen?“
„Wir werden sehen, ob das nötig ist. Die Ausrüstung liegt im Kofferraum.“
Sie deutete auf den Rucksack auf ihrem Schoß.
„Die brauchen wir nicht. Ich habe meine Kamera immer dabei.“
„Gibt es dafür einen besonderen Grund?“
„Seit ein paar Jahren habe ich einen Internet-Blog, auf dem ich über meine Reisen und Radtouren berichte und Tipps über das ganze Drumherum gebe. Dazu gehören Fotos. Vom Fahrradsattel aus sieht man mehr von der Welt.“
„Lohnt sich das?“
„Das mache ich nicht des Geldes wegen, sondern damit Gleichgesinnte von meinen Erfahrungen profitieren können. Im deutschsprachigen Raum habe ich monatlich ungefähr 60000 Leser. Außerdem kann man die Beiträge in Englisch und Spanisch abrufen, was etwa 15000 Interessierte tun.“
„75000 Leser – das ist beeindruckend. Scheint ein erfolgreiches Projekt zu sein.“
„Weil es authentisch ist. Ich schreibe nur über das, was ich selbst gesehen, erlebt oder ausprobiert habe. Das schätzen meine Leser.“
Das Navi wies ihnen den Weg zu einer Siedlung am Rande von Bergen. Nach fünfzehnminütiger Fahrt erreichten sie ihr Ziel. Die Grundstücke zu beiden Seiten der schmalen Straße waren etwa Anfang des letzten Jahrhunderts mit kleinen Einfamilienhäusern bebaut worden.
Bei ihrer Ankunft schloss Grete Wernicke ihr Fahrrad am Jägerzaun an. Nach einer kurzen Begrüßung betraten sie das Grundstück. Der Plattenweg bis zur Haustür ähnelte einem Flickenteppich. Dort wandte sich Nordstrøm an seine Auftraggeberin.
„Sie sollten nicht mit reinkommen. Wer weiß, was uns da drinnen erwartet.“
„Da ist nichts. Ich war ein paar Tage nach Jans Verschwinden hier, um nachzusehen, ob ihm was zugestoßen ist.“
„Trotzdem ist es besser, wenn wir uns zunächst allein ein Bild machen“, beharrte er und zeigte auf die verwitterte Bank im Vorgarten. „Setzen Sie sich bitte solange. Wir holen Sie, wenn wir fertig sind.“
Sie zögerte, nickte aber und übergab ihm den Schlüssel.
„Jan wohnt im Erdgeschoss. Sein Bruder haust oben, wenn er mal da ist. Sie haben das Häuschen von ihren Großeltern geerbt.“
Während sie sich auf der Bank niederließ, betraten Erik und seine Kollegin das Gebäude. Im Flur roch es nach einer Mischung aus Bratkartoffeln und alten Socken.
„Hier müsste mal gelüftet werden“, bemerkte Sara und schaute sich um.
Bevor Nordstrøm im Wohnzimmer verschwand, reichte er ihr Einmalhandschuhe, die sie überstreifte, und dann in die Küche ging. Gläser und benutztes Geschirr stapelten sich auf der Arbeitsplatte. Unter dem Fenster wartete ein Haufen Pizzakartons auf Entsorgung. Im übervollen Mülleimer verweste etwas Unidentifizierbares, das einen ekelhaften Gestank verströmte. Angewidert verließ Sara das unappetitliche Szenario und betrat den Schlafraum. Das blutrote Zeichen über dem ungemachten Bett sprang ihr förmlich ins Auge.
„Krass!“, entfuhr es ihr. Sie nahm die Nikon und schoss die ersten Fotos. „Chef!“, rief sie dabei. „Das müssen Sie sich ansehen!“
Alarmiert kam er herein, blieb mitten im Raum stehen und fixierte die Wand, auf der jemand mit einem dicken Pinsel etwas gemalt hatte, das aussah wie das bekannte Peace-Zeichen – allerdings ohne den Kreis darum. Rinnsale roter Farbe liefen daran hinunter und verschwanden im Nirgendwo hinter dem Kopfteil des Bettes.
„Haben Sie so etwas schon mal gesehen?“
Darüber musste er nicht lange nachdenken.
„Das ist eine Rune. Sie symbolisiert den Tod.“
„Sicher?“
„Ein stilisierter, nach oben wachsender Baum bedeutet Leben, ein umgekehrter Lebensbaum steht für das Ende.“ Er steckte das Foto von den Brüdern Kolling ein, das er im Wohnzimmer gefunden hatte, und zog sein Telefon aus der Tasche. „Wir dürfen hier nichts verändern. Ich informiere die Polizei.“
Nach dem Anruf verließen sie das Haus. Erik setzte sich zu Frau Wernicke. So behutsam wie möglich berichtete er ihr, was sie entdeckt hatten.
Zuerst schüttelte sie ungläubig den Kopf, bevor sie den Psychologen entschlossen anschaute.
„Jan macht so was nicht. Der schmiert die Wände nicht mit irgendwelchen Zeichen voll. Ich muss mir das erst mal selbst angucken.“
Rasch legte er die Hand auf ihren Arm, um sie am Aufstehen zu hindern. Sie machte zwar einen robusten Eindruck, aber er wollte ihr in erster Linie den Schrecken ersparen.
„Besser nicht. Wir dürfen keine Spuren verwischen. Die Polizei ist bald hier.“
„Wieso die Polizei?“ Ihre Augen weiteten sich entsetzt. „Glauben Sie etwa, ein Fremder war im Haus?“
„Das können wir nicht ausschließen.“ Aufmerksam forschte er in ihrem Gesicht. Er wollte sie nicht ängstigen, brauchte aber mehr Informationen. „Erinnern Sie sich, an welchem Tag Sie hier waren?“
„Am Freitag habe ich das letzte Mal mit Jan telefoniert. Seit Sonntagabend konnte ich ihn nicht mehr erreichen. Dienstag bin ich hergeradelt, um nach dem Rechten zu sehen.“
„Waren Sie in seinem Schlafzimmer?“
„Sicher doch.“
„Ist Ihnen dort etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“
„Ne, es war alles wie immer. Das Bett war nicht gemacht und es lagen überall Klamotten rum. Und die Küche sah schlimm aus. Mich juckt es jedes Mal in den Fingern, wenn ich das sehe, aber ich räume nicht mehr hinter ihm her. Sonst lernt er es nie.“
„Und Ihr zweiter Neffe? Hat der inzwischen von sich hören lassen?“
„Im Gegensatz zu Jan meldet sich Ron nie. Der ist manchmal wochenlang unterwegs.“
Lange mussten sie nicht warten, bis eine dunkle Limousine vor dem Grundstück hielt. Am Steuer saß Britta Kayser aus dem Kriminalkommissariat Bergen. Ihr folgte ein schwarzer SUV, aus dem der Stralsunder Hauptkommissar Hans Bock ausstieg – ein rundlicher Mann in den Fünfzigern mit eisgrauem Haar und struppigem Schnauzer.
Mit diesem Mann hatte Erik nicht gerechnet. Er stand auf und ging den beiden mit langen Schritten entgegen.
„Dr. Nordstrøm“, polterte der Polizist im Näherkommen. „Sind Sie etwa wieder in irgendwelche Gewaltverbrechen verwickelt?“
„Davon kann zum jetzigen Zeitpunkt keine Rede sein.“ Er stellte sich dem Mann in den Weg, um außer Hörweite seiner Klientin zu bleiben. „Deshalb wundert mich Ihr persönliches Auftauchen.“
„Bilden Sie sich mal nichts darauf ein. Ich war sowieso in der Nähe.“
Normalerweise kam Bock nur auf die Insel, wenn es sich nicht vermeiden ließ – zumeist wegen eines unnatürlichen Todesfalls. Erik nickte der Kommissarin, die bei ihnen stehen blieb, knapp zu und konzentrierte sich auf ihren Kollegen.
„Hat ein Mord Sie hergelockt?“
„Das muss Sie nicht interessieren. Sie wollen mir doch nicht wieder ins Handwerk pfuschen?“
Trotz dieser Worte sah Erik dem Gesetzeshüter an, dass er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. Was keine Kunst war, da es sich bei Bock um den Stralsunder Leiter des Kommissariats für Tötungsdelikte handelte.
„Wenn die Leiche nichts mit meinem Vermissten zu tun hat, halte ich mich aus Ihrer Arbeit raus.“
„Das ist ja ganz was Neues. Meine Ermittlungen sind für Sie in jedem Fall tabu.“ Mit zwei Fingern strich er sich über seinen Schnurrbart. „Was ist nun so besonders an Ihrem Auftrag?“
„Das schauen Sie sich am besten selbst an.“
Erik führte die Polizisten ins Haus. An der Schlafzimmertür ließ er ihnen den Vortritt.
„Wahnsinn!“, rief Oberkommissarin Kayser aus, wobei sie das Symbol an der Wand anstarrte. „Was ist das?“
Abermals erläuterte Erik, worum es sich handelte.
„Ist das rote Farbe oder Blut?“
„Das werden die Kriminaltechniker rausfinden“, bestimmte Bock. „Ich fordere sie an. Bis die hier eintreffen, betritt niemand das Haus. Sorgen Sie dafür.“
Mit einer Handbewegung scheuchte er die beiden hinaus. Bei den wartenden Damen blieben sie stehen. Während der Hauptkommissar telefonierte, wurde Frau Wernicke von Erik über die weitere Vorgehensweise informiert.
„Und wer sind Sie?“, fragte Bock nach dem Telefonat mit Blick auf Sara. „Die Freundin des Vermissten?“
„Das ist Frau Dr. Sachs. Sie gehört zu mir.“
„Aha.“ Seine buschigen Brauen hoben sich. „Noch eine Psychologin?“
„Juristin“, gab Sara ihm Auskunft. „Heute ist mein erster Arbeitstag. Herr Dr. Nordstrøm hat mich freundlicherweise mitgenommen, damit ich alle Bereiche kennenlerne, mit denen die Agentur zu tun hat.“
„Aha“, wiederholte Bock. „Dann passen Sie mal schön auf Ihren Chef auf, damit er nicht wieder seine Kompetenzen überschreitet.“ Damit wandte er sich an seine Kollegin. „Ich fahre nach Stralsund zurück. Halten Sie hier die Stellung.“
Während er in seinen Wagen stieg, kramte Grete Wernicke ein zusammengefaltetes Papier aus ihrer Umhängetasche und übergab es Erik. Der warf nur einen kurzen Blick darauf.
„Wir werden die Liste abarbeiten. Sobald wir auf eine Spur stoßen, melden wir uns bei Ihnen. Wenn es Ihnen recht ist, behalten wir den Schlüssel vorläufig, falls wir noch mal ins Haus müssen.“
Damit war sie einverstanden. Sie verabschiedete sich und stieg tief beunruhigt auf ihren Drahtesel.
Kaum war sie verschwunden, nahm der Agenturchef den Arm der Polizistin. Sie waren etwa im gleichen Alter, kannten sich seit Jahren und hatten während seiner aktiven Dienstzeit bei manchen Ermittlungen zusammengearbeitet.
„Wo wurde die Leiche gefunden?“
„Das darf ich dir nicht sagen.“
„Komm schon, Britta. In ein paar Stunden hat sich das sowieso rumgesprochen.“
„Obwohl ich dir gern helfen würde, darf ich mit Außenstehenden nicht darüber reden“, beharrte sie. „Sonst komme ich in Teufels Küche.“
„Dort ist es ziemlich ungemütlich. Das werden wir Ihnen ersparen.“ Mit ihrem Smartphone in der Hand trat Sara zu ihnen. „Als Vorbereitung auf meine Reise bin ich vor Kurzem einer tollen Facebook-Gruppe beigetreten: Sonneninsel Rügen. Dort habe ich viele gute Tipps und Infos bekommen. Vor einer halben Stunde hat jemand etwas über eine Leiche gepostet, die heute Morgen am Kieler Ufer gefunden wurde.“
Erik warf seiner neuen Mitarbeiterin einen anerkennenden Blick zu.
„Steht da zufällig auch, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt?“
„Leider nicht.“
