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Hat der Weihnachtsmann eigentlich die EU-Einfuhrzollformulare korrekt ausgefüllt? Wen lädt sich Fräulein Sophie ein, um an Silvester ihr Dinner nicht ganz allein einnehmen zu müssen? Läuft zum Weihnachtsfest in Charlotte Sterns Senioren-WG alles glatt oder passiert gar Kriminelles? Und kann Flora Kamphusen einen Stand beim Weihnachtsmarkt betreuen, ohne dass ihr ein Verbrecher vor die Füße läuft? 28 berührende und heitere Geschichten und Gedichte, kriminell-festliche Storys und jede Menge Lesespaß im Advent verspricht das weihnachtliche Buch der beiden Krimiautorinnen, die in einigen Geschichten auch ihre beliebten Ermittlerteams aus den Kriminalromanen im weihnachtlichen Setting aktiv werden lassen. In der Region Hannover, im Aller-Leine-Tal, am Nordpol und sogar in England spielen die Geschichten - ideal, um sich mit einer Tasse Tee an den prasselnden Kamin zu setzen und sich auf die Feiertage einzustimmen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Fest der Liebe - legendär und erlebnisreich. Wenn Sie dieses Buch in der Hand halten, werden Sie zu jenen Menschen gehören, die Weihnachten mögen. Haben Sie es sich gerade mit einem Tee am Kamin gemütlich gemacht, um die Vorfreude zu genießen? Oder blättern Sie nur rasch ein wenig, weil es im Advent noch so viel zu tun gibt?
Kein Fest ohne Geschenke und den perfekten Christbaum, ohne Hektik der Vorweihnacht oder besinnliche Stunden bei Kerzenlicht. Dabei kann schon mal etwas schiefgehen. Gelegentlich sogar eine Menge, ob vor der Haustür oder in den unendlichen Weiten des Nordpols. Auch davon handeln unsere Geschichten - und von Erinnerung, Sehnsucht, vom Weihnachtsmann sowie von Übeltätern, die gern im düsteren Dezember unterwegs sind. Die kühn aufs Papier geworfenen Texte dieses Buches sind eine Einladung für alle, die dem Weihnachtsstress ein Weilchen entfliehen wollen.
Lehnen Sie sich zurück und tauchen Sie ein in unsere ganz spezielle Weihnachtswelt. Lassen Sie sich berühren, zum Lachen bringen oder in atemlose Spannung versetzen.
Eine schöne Weihnachtszeit wünschen Ihnen
Claudia Rimkus und Bettina Reimann
von Claudia Rimkus
Der Wind jagte dunkelgraue Wolken über den Himmel, fuhr in die Kronen der hohen Bäume, zerrte letzte Blätter von den Ästen. Schon am frühen Nachmittag reichte das diffuse Tageslicht im alten Forsthaus in der Wedemark nicht mehr aus. Den Hauskater störte das nicht. Die graue Fellnase lag auf der Aussichtsplattform Fensterbank und hielt ein Nickerchen.
Lina legte ihr Buch aus der Hand, stand auf und schaltete die Stehlampe mit dem gedrechselten Holzfuß und dem fransenbesetzten Lampenschirm ein. Warmes Licht erfüllte die Wohnstube.
»Danke, meine Liebe«, sagte ihre Schwester Martha, die bei leisen weihnachtlichen Klängen mit ihrem Stickrahmen in einem der beiden Ohrensessel saß. »Machst du bitte das Radio lauter? Ich möchte den Wetterbericht hören. Sollte es wirklich Sturm geben, müssen wir uns darauf einstellen.«
»Den Wagen habe ich vorhin schon in die Scheune gefahren«, erwiderte die pragmatische Lina und drehte am Lautstärkenregler. »Ich hole gleich noch Kaminholz rein.«
Sie setzte sich in den Sessel auf der anderen Seite des runden Beistelltisches und griff nach ihrer Lektüre, las aber nicht, da auch sie zunächst die 15-Uhr-News hören wollte.
Bei den Schreckensnachrichten aus aller Welt schüttelte sie mehrmals verständnislos den Kopf mit den akkurat frisierten weißen Löckchen. Ihr war unbegreiflich, warum die Machthaber rund um den Globus nicht in der Lage waren, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Stattdessen fingen sie immer wieder Kriege an.
Unter den Neuigkeiten aus der Region war ein Bericht über einen Banküberfall in der nahegelegenen Samtgemeinde Schwarmstedt zu hören. Einer der beiden Täter hatte den Filialleiter erschossen. Mit der Beute in niedriger sechsstelliger Höhe waren die Verbrecher entkommen. Es folgte eine Warnung, Fremde nicht im Auto mitzunehmen. Außerdem wurde über einen schweren Unfall auf der Landstraße 190 mit Fahrerflucht informiert. Eine Studentin war dort mitsamt ihrem Mountainbike von einem Auto überrollt und erheblich verletzt worden.
In der anschließenden Wettervorhersage warnte der Moderator vor Starkregen, schweren Orkanböen und hohen Windgeschwindigkeiten. Die Bevölkerung solle Wälder meiden und möglichst zu Hause bleiben.
Martha ließ die Hände mit der Stickarbeit in den Schoß sinken. »Immer neue Katastrophenmeldungen. Es wird von Tag zu Tag schlimmer.«
»Deshalb müssen wir die Welt ein klein wenig besser gestalten. Jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten.«
Mit einem Seufzer nickte Martha. Ihre Schwester hatte recht. Immerhin engagierten sie sich seit Jahren für die gute Sache.
Von Kind an lebten sie in diesem Haus. Die Mutter starb, als sie Teenager waren. Kurz vor der Pensionierung des Vaters, der Förster war, wurde ein neues Forsthaus am Waldrand gebaut, das über die Landstraße einfacher erreichbar war. Ihrem Vater bot man das alte Gebäude samt Grundstück günstig an und er hatte zugegriffen. Es war groß genug für ihn und seine mittlerweile erwachsenen Töchter. Später zog Hans ein, der Mann, den Martha dummerweise geheiratet hatte. Der charmante, aber leider untreue Holzhändler war nach dreiundzwanzig Ehejahren und etlichen Affären auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
Lina war eine solche Erfahrung erspart geblieben, da sie vorsichtshalber unbemannt blieb. Nur hin und wieder hatte sie sich ein paar amouröse Stunden gegönnt, über Details jedoch den Mantel des Schweigens gehüllt.
Beide Schwestern hatten mit Kindern gearbeitet. Martha als Lehrerin in Schwarmstedt, Lina in einem Langenhagener Kinderheim als Erzieherin. Seit etwa 75 Jahren wohnten sie nun schon in diesem Haus zusammen. Keine wäre jemals auf den Gedanken gekommen, sich woanders niederzulassen. Sie liebten die Abgeschiedenheit mitten in der Natur. Nur Kartäuserkater Sokrates lebte mit ihnen im Haus. Die resolute und handwerklich geschickte Lina kümmerte sich um kleine Reparaturen und alles, was mit Technik zu tun hatte. Martha hingegen führte das Regiment in der Küche. Die Gartenarbeit teilten sie sich.
Besucher verirrten sich selten hierher. Manchmal kamen Wanderer vorbei, blieben für einen Plausch am Jägerzaun stehen und fotografierten das idyllisch gelegene Haus am Wald. Im Sommer zierten rot blühende Geranien die Blumenkästen vor den Fenstern und im Garten brummten und summten Insekten bei ihren Flügen von Blüte zu Blüte. Die Vögel des Waldes zwitscherten um die Wette, der Specht hämmerte an seinem Zuhause, hin und wieder rief der Kuckuck oder abends ein Käuzchen. Eichhörnchen plünderten die Haselnusshecke und nachts schlich der Fuchs um den Hühnerstall.
In den Wintermonaten wurde es stiller. Die Tiere des Waldes waren seltener zu hören oder zu sehen. Hatte es jedoch geschneit, zeugten am Morgen die Spuren im Schnee von vierbeinigen Nachtschwärmern.
In diesem Jahr würde es laut Vorhersage keine weißen Weihnachten geben. Bei Plustemperaturen um die acht Grad regnete es oft und ergiebig. Nun war dazu Sturm angesagt. Den brauchte kein Mensch. Schon gar nicht zwei Tage vor dem Christfest. Dennoch mussten sich Martha und Lina keine Sorgen machen. Ihr Haus war aus dicken Eichenbohlen erbaut und hielt sogar einem Orkan stand.
Wie in den vergangenen Jahren hatte der amtierende Förster seinen Sohn mit einer prächtigen Tanne zu ihnen geschickt, die seit zwei Tagen festlich geschmückt in einer Ecke der Wohnstube erstrahlte und einen frischen, würzigen Duft verströmte. Am Morgen waren die Schwestern nach Elze zu Edeka Lüders gefahren, um ihre Vorräte aufzustocken. Das reichte bis nach Neujahr. So konnten sie entspannt dem entgegensehen, was auf sie zukommen würde.
Mit dem Kaminholz betrat Lina später die Stube.
»Der Wind ist deutlich stärker geworden«, berichtete sie und stellte den Korb neben der Feuerstelle ab. »Außerdem schüttet es inzwischen wieder. Die Hühner sind freiwillig in ihren Stall geflüchtet.«
»Die wissen eben, was gut für sie ist«, erwiderte Martha, die Biologie und Chemie unterrichtet hatte. »Laut einer Studie sind sie intelligenter als allgemein angenommen.«
»Diesen Artikel habe ich auch gelesen. Der Vergleich mit dem dummen oder verrückten Huhn hinkt anscheinend.«
»Genauso wie der mit der Rabenmutter. Diese Vögel kümmern sich vorbildlich um ihre Brut.«
Nachdenklich nickte ihre Schwester und ließ sich in ihren Sessel sinken.
»Hätte Hans nicht ständig in fremden Revieren gewildert, sondern mehr Zeit in seinem Ehebett verbracht, hättest wenigstens du Kinder. Du wärst bestimmt eine tolle Mutter geworden.«
»Es hat halt nicht sollen sein. Zum Glück hat unsere Cousine erfolgreich an der Nachwuchsfrage gearbeitet.«
»Dadurch werden unsere beiden Patenkinder das alles hier mal übernehmen«, fügte Lina hinzu. »Das Anwesen ist bei ihnen in guten Händen.«
Als die Schwestern beim Abendessen saßen, nahm der Sturm hörbar Fahrt auf. Der Regen peitschte unablässig gegen die Scheiben des Küchenfensters. Für Lina und Martha waren solche Unwetter nichts Neues. Sie wussten, wie sie sich verhalten mussten und blieben gelassen.
Nur der Kater streifte unruhig durchs Haus. Spätestens wenn sich seine Menschen vor den Fernseher setzten, würde er sich dazu gesellen und mit ihnen in der Nähe des behaglichen Kaminfeuers auf den Donnerstagskrimi warten.
Kaum hatten es sich die Damen im Wohnzimmer gemütlich gemacht, durchdrang ein dumpfes Poltern das Sturmbrausen.
Lina richtete sich kerzengerade in ihrem Ohrensessel auf.
»Hast du das gehört? Was war das?«
»Anscheinend hat der Wind im Hof irgendwas umgerissen.« Martha erhob sich, trat ans Fenster und schaute hinaus. Erkennen konnte sie nichts. Sie zuckte die Schultern und wandte sich wieder um. Im nächsten Moment erklang das Dröhnen erneut. Nun mehrmals hintereinander.
»Da ist jemand an der Tür«, vermutete Lina und stand ebenfalls auf. »Ich sehe mal nach.«
»Lass bloß keine fremden Männer rein«, scherzte Martha. »Es sei denn, der Weihnachtsmann begehrt Einlass.«
»Der wird sich hüten, bei dem Sauwetter Hausbesuche zu machen.« Entschlossen ging Lina in die Diele. Dort lugte sie durch den Türspion. Draußen stand ein Mann, dem das Wasser aus den klatschnassen Haaren lief.
Mit der Faust hämmerte er gegen die Eichentür.
»Hallo! Machen Sie bitte auf!«
Lina zögerte nur einen Moment, dann drehte sie den Schlüssel im Schloss und öffnete. Die kleine Hauslaterne schaukelte vom Wind getrieben über dem Kopf des Besuchers quietschend hin und her.
»Tut mir leid, Sie zu stören. Ich brauche dringend ein trockenes Plätzchen. Das Unwetter hat mich auf meiner Wanderung kalt erwischt. Darf ich das Ende des Sturms in Ihrer Scheune abwarten?«
»Kommen Sie erst mal ins Warme«, erwiderte sie mitfühlend und gab die Tür frei. Er schlüpfte an ihr vorbei in die Diele, blieb aber nach zwei Schritten stehen.
»Ich will Ihnen nicht alles nass und dreckig machen.«
»Ziehen Sie Jacke und Schuhe aus. Ich hole Ihnen ein Handtuch.« Während er seinen Rucksack ablegte, betrat Lina das kleine Erdgeschossbad und kehrte mit einem großen Frotteetuch zurück.
»Vielen Dank.« Er rubbelte mit dem Stoff zuerst durch sein dichtes Haar, dann fuhr er damit über sein Gesicht. »Ich hätte mich wohl vor meinem Aufbruch nach dem Wetterbericht erkundigen sollen, aber wer rechnet schon so kurz vor Weihnachten mit Dauerregen und Sturm?«
»Winterstürme sind im Dezember gar nicht so selten. Egal ob mit Regen oder Schnee.« Interessiert musterte sie ihn von Kopf bis Fuß. Er war etwa Ende zwanzig und wahrscheinlich bis auf die Haut durchnässt. »Haben Sie trockene Klamotten dabei?«
»Leider nicht.« Sein bedauerndes Lächeln wirkte sympathisch. »Meine Freundin hat mich abserviert, weil sie sich in einen anderen verliebt hat. Da bin ich einfach losgelaufen, um den Kopf freizukriegen.«
Verstehend nickte Lina.
»Dann kommen Sie mal mit, Herr …«
Er deutete eine Verbeugung an. »Thomas Müller.«
»Ich bin Lina Rombach.« Sie führte ihn in die erste Etage zum ehemaligen Zimmer ihres Vaters, das hin und wieder für Gäste genutzt wurde. Aus einer Kommode nahm sie Jeans und ein kariertes Hemd. Beides legte sie aufs Bett.
»Das müsste Ihnen passen. Mein verstorbener Vater hatte ungefähr Ihre Statur. Ziehen Sie sich um und dann kommen Sie runter. Sie haben bestimmt Hunger.«
»Vielen Dank, aber ich möchte Ihnen keine Umstände machen.«
»Das tun Sie nicht.« Lina verließ den Raum und schloss die Tür.
Im Erdgeschoss unterrichtete sie ihre Schwester über den Übernachtungsgast, bevor sie in der Küche einen Teller mit Schnittchen zubereitete.
Nach einer Weile betrat sie mit dem Besucher die Wohnstube.
»Das ist meine Schwester Martha«, sagte Lina, die ein Tablett hereintrug. »Wir bewohnen das Haus zusammen.«
»Danke, dass ich hier sein darf«, sagte er lächelnd und setzte sich an den Tisch. »Sie sind meine Rettung.«
Auch ohne Fernsehkrimi wurde es ein angenehmer Abend mit guten Gesprächen. Der nette Herr Müller verstand es, interessant zu plaudern, besaß Humor und versprühte seinen Charme bei den Schwestern.
Nur Sokrates empfand den Besuch als Zumutung. Fremde waren ihm suspekt. Er verzog sich genervt in seine Katzenhöhle. Immerhin war er nicht mehr der Jüngste und fühlte sich in seinem gewohnten Tagesablauf empfindlich gestört.
Wie gewöhnlich saßen die Schwestern am nächsten Morgen zeitig beim Frühstück. Der freundliche Herr Müller war noch nicht heruntergekommen. Über Nacht waren Sturm und Regen weitergezogen. Es versprach ein sonniger Tag zu werden.
Während Martha ihr Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine räumte, verließ Lina die Küche, um das Fenster in ihrem Zimmer zu schließen. Als sie an der Gästeunterkunft vorbeiging, drang von drinnen kein Geräusch auf den Flur. Nach der langen Wanderung durch das Unwetter war der junge Mann wohl völlig erschöpft in einen komaähnlichen Zustand gefallen.
Lina betrat ihren Schlafraum und machte zuerst das Bett. Als sie sich zum gekippten Fenster wandte, sah sie durch die Gardine einen Schatten. Offenbar war Herr Müller nebenan auf den Balkon gegangen, der über die gesamte Hausseite verlief. Lina wollte sich bemerkbar machen, hielt jedoch inne, da ihr Gast sein Telefon ans Ohr hob.
»Nach dem Frühstück verschwinde ich aus Nienburg«, teilte er seinem Gesprächspartner mit, bevor er einen Moment zuhörte. »Ja, es wäre zu gefährlich, die beiden alten Schachteln am Leben zu lassen. Niemand wird erfahren, in welcher Gegend sich der Bankräuber aufgehalten hat.« Mehr konnte Lina nicht verstehen, da er sich herumdrehte und ihr den Rücken zuwandte.
Im ersten Moment war sie fassungslos, verfiel aber nicht in Panik. Auf Zehenspitzen verließ sie ihr Zimmer, lief in die Küche und schloss die Tür von innen. So ruhig wie möglich berichtete sie ihrer Schwester, was sie gehört hatte.
»Das wundert mich nicht.« Martha tippte aufs Display des vor ihr liegenden Tablets, worauf sich eine Zeitungsseite mit einem Phantombild öffnete. »Das ist eindeutig der nette Herr Müller. Angeblich war er es, der unseren Filialleiter erschossen hat. Und uns will er jetzt also auch umbringen.«
»Genau. Und er hat am Telefon behauptet, er sei in Nienburg. Das ist etwa 50 Kilometer von hier entfernt. Anscheinend hat er keine Lust, die Beute mit seinem Komplizen zu teilen und ihm deshalb einen falschen Aufenthaltsort genannt.«
»Wir müssen sofort die Polizei rufen.«
»Dafür ist keine Zeit. Bis die hier ist, hat uns der reizende Herr Müller womöglich schon abgemurkst.«
»Was schlägst du vor?«
»Haben wir unsere Probleme nicht immer auf unsere Weise gelöst?«
»Du willst …?«
»Hast du eine bessere Idee? Wir müssen uns beeilen.«
»Okay.« Während Lina schon die Warmhaltekanne öffnete, stand Martha auf und fischte hinter der Suppenterrine ein kleines braunes Pipettenfläschchen aus dem Küchenbuffet. Auf den ersten Blick wirkte es unscheinbar. Auf den zweiten gefährlich, da das Glas mit einem Totenkopfaufkleber verziert war. Als Chemielehrerin war Martha es gewohnt, akkurat zu dosieren. Zwanzig Tröpfchen einer klaren Flüssigkeit verfeinerten im Nu den Kaffee. Während Lina die Kanne verschloss, verschwand das Fläschchen in seinem Versteck und das Tablet in einer Schublade.
Näher kommende Schritte veranlassten sie, sich rasch an den Tisch zu setzen. Keine Sekunde zu früh. Der reizende Herr Müller kam herein und wünschte bester Stimmung einen guten Morgen.
»Setzen Sie sich«, sagte Lina mit Unschuldslächeln. »Sie können bestimmt ein kräftiges Frühstück vertragen.«
Martha nahm den Deckel von einer Thermoschüssel.
»Ich habe Ihnen Rührei mit Schinken warmgehalten.«
»Sie verwöhnen mich.«
»Das tun wir gern.« Sie häufte ihm eine Portion auf den Teller, während Lina seine Kaffeetasse füllte und das Milchkännchen in seine Reichweite rückte.
»Es war gestern ein schöner Abend.« Lina wechselte einen schnellen Blick mit ihrer Schwester. »Durch Ihr Beziehungs-Aus haben Sie vielleicht Zeit, noch ein paar Tage zu bleiben. Sie könnten Weihnachten mit uns verbringen. Marthas Gänsebraten ist sensationell.«
»Das ist ein sehr verlockendes Angebot, aber meine Eltern würden es mir nie verzeihen, wenn ich über die Feiertage nicht nach Hause käme.«
»Schade. Wir haben selten einen so netten Gast.«
Während er frühstückte, erzählten die Schwestern von Weihnachtsfesten in ihrer Kindheit, als die ganze Familie am Tisch saß und der Weihnachtsmann durch den verschneiten Wald gestapft kam. Der ahnungslose Herr Müller durchschaute das Ablenkungsmanöver nicht. Er ließ sich das reichhaltige Angebot schmecken und lobte das besondere Aroma des Spezialitätenkaffees, den Lina übers Internet bei einer Rösterei in Bremen bestellte. Der junge Mann gestand, wie lebenswichtig Kaffee für ihn besonders morgens sei, um in die Gänge zu kommen. Lina versprach, ihm ein Päckchen dieser besonderen Sorte mitzugeben. Darüber schien er sich zu freuen. Als er nach der dritten Tasse mehrmals gähnte, äußerte Lina die Vermutung, er sei nach der anstrengenden Wanderung durch das Unwetter noch etwas angeschlagen. Frische Luft sei bestimmt hilfreich.
Durch die Hintertür gelangten sie von der Küche aus direkt in den Garten auf der Rückseite des Hauses. Resolut hakte Lina den leicht schwankenden Herrn Müller unter und führte ihn zu einer rustikalen, aus Eichenstämmen gezimmerten Bank unter einer überdachten Pergola. Dort konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Lina setzte sich und zog ihn neben sich.
»Ich kann mir das gar nicht erklären«, nuschelte der nette Herr Müller. »In meinem Kopf fühlt es sich an wie … eine Achterbahnfahrt im Vollrausch.«
»Das liegt am Spezialkaffee«, erklärte sie gleichbleibend freundlich, wobei sie ihn eingehend musterte. So kraftlos konnte er ihr nicht mehr gefährlich werden. »Gestern ist es Ihnen gelungen, die beiden alten Schachteln zu täuschen, aber inzwischen wissen wir Bescheid. Sie sind einer der gesuchten Bankräuber. Bevor sie sich vom Acker machen würden, wollten Sie uns aus dem Weg räumen. Dummerweise haben wir andere Zukunftspläne. Das verstehen Sie doch, oder?«
»Was? Nein, nein! Wie kommen Sie denn auf so was?« Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Anscheinend hielt er es für gesünder, zu kooperieren. »Aber Sie haben recht … Mein Kumpel hat mich zu dem Überfall überredet. Er war es auch, der … geschossen hat.« Das Sprechen fiel ihm zusehends schwerer. »Und dann stand neben … unserem Fluchtwagen ein großes Lieferfahrzeug. Wir konnten … unmöglich warten, bis … der Fahrer auftaucht und … haben uns getrennt.«
»Eine interessante Geschichte«, befand Lina und deutete nach rechts. »Sehen Sie das große Blumenbeet? Im Sommer blüht es dort an der gesamten Zaunlänge in allen Farben. Bevor unsere Mutter starb, hat sie unserem Vater das Versprechen abgenommen, sie hier auf dem Gelände zu beerdigen. Irgendwie ist es ihm dann gelungen, die Urne mit ihrer Asche zu organisieren und unter den Rosen beizusetzen. So war sie immer in unserer Nähe. Nach dem Tod unseres Vaters haben wir es genauso gemacht und seine Urne neben unserer Mutter bestattet.« Sie musterte ihn freundlich lächelnd, bemerkte sein bleiches Gesicht und seinen schweren Atem. »In den darauffolgenden Jahren mussten wir unseren kleinen Friedhof immer mal wieder erweitern.«
Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Das ist nicht … Ihr Ernst …«
Lina ließ einen übertriebenen Seufzer hören.
»Unter dem Rhododendron ruhen die sterblichen Überreste meines Schwagers, der nicht nur untreu, sondern dazu noch ein skrupelloses Schwein war. Na ja, und den korrupten Kommunalpolitiker, der sich die Taschen vollgestopft hat, anstatt das Kinderheim zu sanieren, hat es leider auch erwischt.«
Sie tat, als würde sie nachdenken. »Das war zwei Jahre bevor dieser Ausbrecher die Gegend unsicher gemacht hat. Ein brutaler Vergewaltiger, den nur eine Kugel stoppen konnte. Zum Glück haben wir für den Notfall die Flinte unseres Vaters im Haus. Jetzt ruht der entflohene Sträfling friedlich unter den Maiglöckchen.« Fragend schaute sie den Mann neben sich an. »Bevorzugen Sie ein Plätzchen bei den herrlichen Hortensien oder lieber neben dem Fliederbusch?« Da sie den Kaffeesatz regelmäßig als Dünger benutzten, würde der dahinscheidende Besucher noch lange in den versprochenen Genuss kommen.
Ein Zittern ergriff den Körper des netten Herrn Müller.
»Bitte, lassen Sie … mich gehen. In meinem Ruck … sack ist eine Menge Kohle. Sie können … alles behalten.«
»Die Beute aus dem Bankraub hat meine Schwester inzwischen bestimmt schon sichergestellt. Wir werden das Geld an verschiedene soziale Einrichtungen spenden. Beispielsweise braucht das örtliche Kinderheim dringend ein neues Dach. Das ist bestimmt in Ihrem Sinne, lieber Herr Müller.«
Stöhnend riss er noch einmal die Augen auf, dann kippte er mit einem letzten Schnaufer einfach zur Seite.
Martha hatte die Szene von der Scheune aus beobachtet und eilte mit einer moosgrünen Plane herbei, die sie über dem toten Herrn Müller ausbreitete.
»Mit Gartenarbeit haben wir uns so kurz vor Weihnachten noch nie die Zeit vertrieben«, sagte sie mit leisem Vorwurf in der Stimme. »Erfreulicherweise ist die Erde nicht gefroren, sonst müssten wir den netten Herrn Müller bis zum Frühling irgendwo zwischenlagern.«
»Lass uns am besten gleich mit dem Graben anfangen. Und morgen zünden wir nach dem Weihnachtsgottesdienst eine Kerze für den großzügigen Herrn Müller an.«
von Claudia Rimkus
Kennt ihr alle das nicht auch?
Dies leichte Kribbeln tief im Bauch?
Ein Blick auf den Kalender
spätestens Anfang September.
Endlich ist es dann so weit,
es beginnt die Weihnachtszeit.
Die Warterei hat nun ein Ende
zum Supermarkt geht es behände.
Vollgepackt mit einem Male
sind Tische oder die Regale
mit dem, was wir so sehr vermisst,
weil man es erst im Winter isst.
Der Anblick ist bezaubernd schön,
acht Monate hat man’s nicht geseh’n.
Die Sehnsucht war schon riesengroß
das war wirklich nicht famos.
Zu lange mussten wir schon darben,
nun wollen wir uns richtig laben,
an dem, was unser Herz begehrt,
was wir lange nicht verzehrt.
Sollen es Aachener Printen sein?
Oder nur ein Dominostein?
Aus Lübeck kommt das Marzipan,
in Brotform in den Läden an.
Spekulatius, Pfeffernüsse,
sind so liebliche Genüsse.
Anisplätzchen und Zimtsterne
knabbern wir im Freibad gerne.
Vanillekipferl und Lebkuchen
wollen wir schon jetzt versuchen.
Die Bethmännchen und Spitzbuben
erobern im Hochsommer unsere Stuben.
Florentiner und Makronen,
wollen wir auch nicht verschonen.
Und in allergrößter Not
tut es auch ein Früchtebrot.
Gebrannte Mandeln, Knickebein
dürfen’s auch beim Grillfest sein.
Nougat, Kardamom und Zimt
man gerne mit nach Hause nimmt.
So wird in kühler Sommernacht
schon mal der Glühwein heiß gemacht.
Mit dem Mann aus Schokolade
kennen wir auch keine Gnade.
Christstollen und Spritzgebäck,
mümmeln wir genüsslich weg.
Drum ist es schon häufig vorgekommen,
dass vor Advent man zugenommen.
von Claudia Rimkus
Warm angezogen verließ Louisa das Haus, um einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Früher war sie stets mit ihrem Mann und ihrem Sohn in den Wald gefahren, wo sie eine stattliche Tanne ausgesucht und selbst geschlagen hatten. Seit einigen Jahren war sie nun schon allein. Seitdem genügte ihr ein kleines Bäumchen.
An diesem Freitagnachmittag vor den Feiertagen herrschte dichtes Gedränge am Verkaufsstand in der Nähe des Weihnachtsmarkts auf der Lister Meile in Hannover. Aufgereiht standen Bäume unterschiedlicher Größe in Holzständern und warteten darauf, für eine Weihnachtsstube ausgesucht zu werden. Die Auswahl erwies sich als vielfältig. Nordmanntannen, Blaufichten, intensiv duftende Edel- oder Nobilistannen. Bio-Bäume mit oder ohne Ballen. Sogar Mietweihnachtsbäume wurden neuerdings angeboten.
Louisa beschloss wegen des Andrangs, zuerst ihren täglichen Spaziergang zu unternehmen und anschließend noch einmal herzukommen. Fünfzehn Minuten später tauchte sie in den Stadtwald Eilenriede ein. Dort waren viele Leute unterwegs. Spaziergänger, Radfahrer, Familien mit Kindern und Hundebesitzer nutzten trotz der Kälte das sonnige Winterwetter, um frische Luft zu tanken.
Bei Louisas Rückkehr zur Tannenbaumverkaufsstelle waren nur noch vereinzelte Kunden auf Christbaumsuche. Der Trubel hatte sich offenbar auf den Weihnachtsmarkt verlegt, wo außer kunstvollem Adventsschmuck auch Glühwein und Schmackhaftes vom Grill angeboten wurden.
Louisa schlenderte die Reihen der aufgestellten Bäume entlang.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Verkäuferin, worauf Louisa sie interessiert musterte. Die Steppjacke schien ihr etwas zu groß und schon bessere Tage erlebt zu haben. Unter der tief in die Stirn gezogenen Strickmütze blickte die Frau die Kundin fragend an. »Tanne oder Fichte?«
»Eine Nordmanntanne oder vielleicht eine Nobilis.«
»Von welcher Größe sprechen wir?«
Unentschlossen zuckte Louisa die schmalen Schultern. Sie streckte die Hand aus, um die Höhe anzudeuten, als ein Kind auf sie zugelaufen kam. Beim Anblick des Jungen wurde ihr warm ums Herz.
»Mama, ich bin fertig!«, rief er schon von weitem und blieb bei ihnen stehen. »Darf ich jetzt zu den Möllers?«
»Entschuldigen Sie bitte einen Moment«, wandte sich die Verkäuferin an Louisa, bevor sie ihren Sohn anschaute. »Hast du deine Hausaufgaben erledigt?«
Er nickte eifrig.
»Die Bilder habe ich auch in die Erdkundemappe geklebt. Außerdem habe ich abgewaschen und die Küche aufgeräumt.«
»Das sollst du doch nicht tun. Dafür bin ich zuständig.«
»Ich bin acht und benutze genauso viel Geschirr wie du. Aber ich habe mehr Zeit und arbeite nicht bis abends.«
»Du bist ein Kind, Tim, und sollst …«
»Du hast mal gesagt, wir sind Partner«, fiel er seiner Mutter ins Wort. »Die teilen sich die Arbeit.«
Liebevoll lächelnd schüttelte sie den Kopf und zog seine Mütze gerade, unter der ringsherum blonde Locken hervorlugten.
»Okay, Partner. Komm aber nicht auf die Idee, dich nach dem Klavierunterricht im Dunkeln allein auf den Heimweg zu machen. Ich hole dich ab.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Bis später.«
Tim nickte und lief davon.
»Ein reizender Junge«, sagte Louisa und blickte ihm wehmütig nach. »Sie können stolz auf ihn sein.«
»Das bin ich. Wäre Tim nicht so selbstständig und einfühlsam, würde ich das alles gar nicht schaffen.«
»Das klingt, als würden Sie ihn allein großziehen.«
Sekundenlang schlich sich ein trauriger Ausdruck in die Augen der Frau, aber sie bekam sich rasch wieder unter Kontrolle.
»Sein Vater war wohl überfordert und hat sich aus dem Staub gemacht, als er von meiner Schwangerschaft erfuhr.« Ihr Lächeln wirkte etwas gezwungen. »Wie groß soll Ihr Weihnachtsbaum ungefähr sein?«
Ratlos blickte Louisa sich um.
»Welche Größe stellen Sie sich in die Stube?«
»In unserer kleinen Souterrainwohnung haben wir leider nur Platz für ein Mini-Bäumchen, obwohl Tim sich insgeheim wenigstens einmal einen großen Christbaum wie bei seinen Freunden wünscht.« Sie seufzte leise. »Andererseits versteht er, dass es wichtigere Dinge gibt.« Fragend hob sie die Brauen. »Haben Sie sich schon entschieden oder möchten Sie sich erst noch ein wenig umsehen?«
»Nicht nötig.« Spontan änderte Louisa ihre ursprünglichen Pläne. »Ich bewohne ein großes Haus. Deshalb muss der Baum mindestens zwei Meter hoch sein.«
Es dauerte nicht lange, bis sie eine prächtige Nordmanntanne ausgesucht hatte.
»Können Sie den Baum liefern?«
»Da bin ich überfragt. Ich mache diesen Job hier nur übergangsweise.« Rasch zog sie ihr Handy aus der Tasche. »Moment bitte, ich kläre das.«
Nachdem sie ihren Chef, den Tannenbaumhändler Bodo Schmitz, über den Kundenwunsch informiert hatte, gab sie das Telefon an Louisa weiter, die mit dem Mann über Lieferbedingungen sprach und ihre Adresse angab.
»Wunderbar. Vielen Dank«, beendete sie das Gespräch. Sie ging zu der Verkäuferin hinüber und gab das Telefon zurück. »Herr Schmitz bringt mir den Baum morgen Vormittag. Ich soll ihn bei Lieferung bezahlen.«
»Prima. Dann klappt es also.«
»Dank Ihrer Hilfe, Frau …?«
»Amberg, Verena Amberg.«
»Freut mich. Ich bin Louisa Meywald. Schön, Sie kennengelernt zu haben. Passen Sie gut auf sich und Ihren Jungen auf.«
»Frohe Weihnachten«, rief Verena der eleganten Dame noch nach und widmete sich dem nächsten Kunden.
Den verlockenden Düften vom nahen Christkindlmarkt konnte Louisa nicht widerstehen. Sie aß eine Bratwurst im Brötchen und trank einen Becher Glühwein dazu. Kurzentschlossen orderte sie anschließend einen Becher Kakao mit Schuss im Hannoccino- to-go-Gefäß und lief die kurze Strecke zum Weihnachtsbaumverkauf zurück. Dort drückte sie der verwunderten Verena den Mehrwegpfandbecher in die Hand.
»Der wärmt von innen«, sagte Louisa lächelnd und begab sich auf den Heimweg.
Später saß sie vor dem flackernden Kaminfeuer und blickte nachdenklich in die Flammen. Sie hatte heute zwei Menschen kennengelernt, von deren Existenz sie bis vor wenigen Wochen nichts gewusst hatte. Auf einer Benefizveranstaltung in der Stadthalle war sie zufällig Knud Schumann, einem Studienfreund ihres Sohnes, begegnet, der seit langem in Brasilien lebte und sich zum Familienbesuch in der alten Heimat aufhielt. Die beiden Wissenschaftler waren damals mit einer Forschungsgruppe im Auftrag eines Pharmazeutischen Instituts in den Amazonas-Dschungel aufgebrochen, um Biorohstoffe zu sammeln, aus denen man Medikamente gewinnen könnte. Dort kam Louisas Sohn Alexander durch den Biss einer Giftschlange ums Leben. Er wurde nur 36 Jahre alt. Schumann, inzwischen Professor an der Universität São Paulo, erzählte der Mutter seines verstorbenen Freundes von seinem Leben in Brasilien und seiner Familie.
Schließlich erkundigte er sich nach Louisas Enkel, was sie zunächst wunderte. Als er jedoch von einer Freundin ihres Sohnes berichtete, die kurz vor der Expedition von ihm schwanger wurde, konnte sie das kaum glauben. Alexander hatte vor seiner Abreise kein Wort darüber verloren. Vermutlich musste er die Neuigkeit selbst erst einmal verarbeiten.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Louisa damit abgefunden, den Rest ihres Lebens allein zu verbringen. Nun wollte sie unbedingt herausfinden, wer diese Verena war und ob sie das Kind tatsächlich bekommen hatte. Immerhin war eine Abtreibung nicht abwegig, wenn man befürchtete, das Kind allein großziehen zu müssen.
Louisa besprach sich vor Wochen mit ihrem Rechtsanwalt und bat ihn, Nachforschungen anzustellen. Bald erfuhr sie Näheres: Verena Amberg hatte sieben Monate nach Alexanders Tod ein Kind zur Welt gebracht, einen Jungen, der Tim hieß und inzwischen acht Jahre alt war. Seine Mutter hatte bis vor einem halben Jahr in einem kleinen Steuerberaterbüro gearbeitet. Als ihr Chef aus Altersgründen verkaufen wollte, hätte sie die Kanzlei übernehmen können, aber ihr fehlte das nötige Kapital. In ihrem Beruf fand sie zunächst keine neue Anstellung. Das Arbeitslosengeld reichte hinten und vorn nicht. Verena zog mit ihrem Sohn in eine günstigere kleine Wohnung und hielt sich und Tim mit diversen Jobs über Wasser.
Lange hatte Louisa gezögert, ob sie Verena aufsuchen sollte. Da diese Frau sich womöglich von Alexander im Stich gelassen fühlte, war sie vermutlich nicht an einem Besuch seiner Mutter interessiert. Außerdem wollte Louisa keine alten Wunden aufreißen. Andererseits blieb ihr mit ihren 74 Jahren nicht mehr unendlich viel Zeit. Durch ihren Anwalt erfuhr sie von Verenas derzeitigem Job und beschloss, die junge Frau zunächst unverfänglich als Kundin aufzusuchen. Nun war Louisa unsagbar erleichtert, weil sie Verena nicht als verbitterte, sondern als sympathische, hilfsbereite Person kennengelernt hatte. Und Tim? Am liebsten hätte sie diesen wunderbaren Jungen sofort in die Arme geschlossen. Leider war das nicht so einfach. Sie musste behutsam vorgehen. Dennoch malte sie sich ein gemeinsames Familienleben in der Villa aus. So oft er wollte, könnte Tim auf dem Flügel üben und Verena könnte in der kleinen Einliegerwohnung eine Steuerkanzlei eröffnen. Insgeheim ermahnte sich Louisa, sich nicht in Träumen zu verlieren, sonst würde eine Enttäuschung doppelt schmerzen.
Verena saß am Bett ihres Sohnes. Wie an jedem Abend sprachen sie über ihren Tag.
»Wie war die Probe, Tim? Hat alles geklappt?«
»Inzwischen kann ich die Stücke für die Christmesse auswendig spielen«, erwiderte er mit strahlenden Augen. »Frau Möller hat gesagt, dass ich ihr bester Klavierschüler bin und Pianist werden könnte. Dann müsste ich aber jeden Tag üben.«
»Dafür bräuchtest du ein eigenes Instrument.« Es tat ihr weh, ihrem Sohn diesen Wunsch nicht erfüllen zu können. »Vielleicht finde ich im neuen Jahr wieder einen festen Job. Und wenn wir sparsam sind, reicht es irgendwann für ein Klavier.«
»Vielleicht«, wiederholte der Junge mit ernster Miene. »Wenn nicht, ist das auch nicht schlimm. Du sollst wegen mir nicht so viel arbeiten.« Aufmerksam schaute er seine Mutter an. »Heute war es ganz schön voll am Tannenbaumstand. Bist du sehr müde?«
»Geht so. Ich habe viele Bäume verkauft. Erinnerst du dich an den größten von allen? Der wird bei einer sehr netten älteren Dame zu einem herrlichen Christbaum erstrahlen.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Stell dir vor, sie war sogar so freundlich, mir einen Becher heißen Kakao zu bringen, der mich wärmen sollte.«
Zwei Tage später zog es Louisa am frühen Abend wieder zum Tannenbaumverkaufsstand, aber sie konnte Verena nicht entdecken. Ein älterer Mann war nun für den Verkauf zuständig. Enttäuscht wollte Louisa wieder gehen, doch dann fragte sie den Bärtigen nach seiner Kollegin und erfuhr von ihrem freien Nachmittag. Bei einem Becher Glühwein auf dem nahen Weihnachtsmarkt überlegte sie, ob sie Verena zu Hause aufsuchen sollte. Die Adresse kannte sie von ihrem Anwalt. Wenn sie an den Feiertagen ihren Enkel kennenlernen wollte, musste sie bald handeln. Mit gemischten Gefühlen bestieg sie an der Straßenecke ein Taxi. Eine Viertelstunde später stand sie vor dem schlichten Mehrfamilienhaus in Vahrenwald. Der Eingang zur Souterrainwohnung lag rechts neben der Haustür. Louisa atmete tief durch und klingelte.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung, Frau Amberg«, sagte sie, als Verena öffnete. »Ich möchte gern etwas mit Ihnen besprechen.«
Verena zog verwundert die Brauen hoch, trat aber beiseite und ließ Louisa eintreten. In der kleinen Wohnstube bot sie ihr Platz an uns setzte sich ihr gegenüber.
»Was kann ich für Sie tun? Stimmt etwas mit dem Baum nicht?«
»Der ist wunderschön«, verneinte sie. »Es geht um … Tims Vater. Sie sagten, er hätte sich damals aus dem Staub gemacht. Ich möchte das gern richtigstellen.«
»Woher …« Verena war sichtlich verwirrt. »Sie kennen Alexander Forster?«
»Alex war mein Sohn«, erklärte Louisa, bevor sie von den Umständen seines Todes sprach – und auf welche Weise sie kürzlich von Verena und Tim erfahren hatte.
Fassungslos hörte Verena zu.
»Und warum haben Sie mir vorgestern einen falschen Namen genannt? Wollten sie erst mal testen, ob ich Ihren Vorstellungen entspreche?«
»Das wollte ich keineswegs. Ich heiße Meywald, weil ich einige Jahre nach dem Tod meines ersten Mannes noch einmal geheiratet habe. Alex war zu diesem Zeitpunkt schon erwachsen.«
Verstehend nickte Verena.
»Was wollen Sie denn nun von mir?«
»Ich würde gern etwas für Sie tun. Und natürlich für Tim. Der Junge spielt doch Klavier. Er könnte …«
»Halt«, wurde sie von Verena unterbrochen. »Das können Sie vergessen. Wir brauchen keine Almosen. Tim und ich kommen gut allein zurecht.«
»Daran zweifle ich nicht.« Bedauernd schüttelte Louisa den Kopf. »Entschuldigen Sie. Anscheinend habe ich mich ungeschickt ausgedrückt. Mein größter Wunsch ist, Sie und Tim besser kennenzulernen. Wenn Sie keine anderen Verpflichtungen haben, möchte ich Sie gern einladen, mit mir zusammen Weihnachten zu feiern.«
»Tut mir leid, das geht nicht«, lehnte Verena ab. »Wir haben schon Pläne für die Feiertage.«
»Schade.« Louisa ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. Sie nahm eine Visitenkarte aus der Handtasche und legte sie auf den Tisch. »Falls Sie es sich anders überlegen sollten, können Sie mich jederzeit anrufen.« Schwerfällig erhob sie sich. »Ich finde allein raus.«
In der kleinen Diele sah sie ihren Enkel neben einer Tür stehen. Stumm musterte das Kind sie. Nach kurzem Zögern verließ Louisa die Wohnung und zog leise die Tür hinter sich zu. Vor dem Haus holte sie ihr Telefon hervor und rief sich ein Taxi. Während sie auf den Wagen wartete, lehnte sie sich gegen die Straßenlaterne. Offenbar hatte sie das völlig falsch angefangen, warf sie sich vor, wobei sich ihre Augen mit Tränen füllten. Von dem heimlichen Beobachter ahnte sie nichts.
Tim lief im Schlafanzug in die Wohnstube und setzte sich zu seiner Mutter. »Wer war die Frau?«
»Ach, das war … die Kundin mit der großen Tanne.«
»Die nette Frau, die dir Kakao gebracht hat?«
»Mmm …«
»Was wollte sie von dir?«
»Das verstehst du nicht.«
»Dann erklär es mir.«
»Das ist nicht so einfach«, sagte Verena mit einem Seufzer.
»Sie kannte deinen Vater.«
»Echt?«, fragte der Junge gespannt. »Hat sie gesagt, wo er ist?«
»Nein. Ja. Er ist leider gestorben, bevor du geboren wurdest.«
Ungläubig verzog er das Gesicht.
»Du hast mir doch erzählt, er ist einfach abgehauen.«
»Das war meine Vermutung, weil er sich nie wieder gemeldet hat.«
»Und woher weiß die Frau das?«
»Sie ist … seine Mutter.«
Seine Augen weiteten sich. Schnell wurde ihm klar, was das bedeutete.
»Dann ist sie meine Oma?«
Vage zuckte Verena die Schultern.
»Scheint so.«
»Cool!« Tim strahlte, wurde jedoch schlagartig ernst. »Warum war sie so traurig? Mag sie keine Kinder?«
»Doch … schon.«
»Wieso hat sie dann geweint, als sie draußen auf das Taxi gewartet hat?«
»Hat sie das?«, fragte Verena schuldbewusst. »Bist du sicher?«
»Ich hab genau gesehen, wie sich mit einem Taschentuch über die Augen gewischt hat.«
»Das tut mir leid. Ich hätte ihr nicht unterstellen dürfen …« Tim löcherte seine Mutter so lange, bis sie ihm alles erzählte.
»Wir haben doch gar keine Pläne für Weihnachten«, stellte er anschließend fest. »Nur für Heiligabend, wenn ich in der Kirche spiele. Danach können wir meine Großmutter besuchen.«
»Ich werde darüber nachdenken«, versprach seine Mutter. »Jetzt ab ins Bett mit dir.«
Als Tims Klavierspiel an diesem Heiligabend die Kirche erfüllte, gab es kaum eine Mutter, die stolzer auf ihr Kind war. Während Verena seiner Musik lauschte, bedauerte sie, Louisa Meywald nicht dazu eingeladen zu haben. Zunächst hatte sie befürchtet, diese Frau könne sich bei näherem Kontakt womöglich in ihre Erziehung einmischen, Tim beeinflussen oder ihm falsche Werte vermitteln. Verena hatte sich im Internet über die alte Dame informiert und erfahren, wie vermögend sie war. Ihr 2. Mann war Zahnarzt mit einer gutgehenden Praxis gewesen. Das Haus, in dem seine Witwe lebte, war sein Elternhaus. Louisa engagierte sich seit Jahren ehrenamtlich für benachteiligte Kinder, sammelte Spenden und organisierte Benefizveranstaltungen.
Konnte ein Mensch, der so viel für andere tat, egoistisch sein? Immerhin hatte Verena sie als aufrichtig kennengelernt. Außerdem handelte es sich bei ihr um Tims Großmutter und noch dazu um die einzige noch lebende Verwandte. Verenas Eltern starben bei einem Autounfall als Tim noch kein Jahr alt war. Wie jede Mutter liebte sie ihren Sohn. Der Junge war alles, was sie hatte. Musste sie ihm nicht die Chance geben, seine Großmutter kennenzulernen?
Nach dem Gottesdienst lud das Pastorenehepaar Möller einige Freunde zum Kaffee ein. Verena und Tim waren auch unter den Gästen.
Louisa saß am späten Nachmittag bei Tee und Gebäck in einem Sessel vor dem Kamin, ein Buch auf den Knien. Es fiel ihr schwer, sich auf ihre Lektüre zu konzentrieren, aber ihr war bewusst, wie sehr sie die Ablenkung brauchte. Sie durfte nicht ständig über ihren Kummer nachdenken.
Leider hatte sich Verena nicht bei ihr gemeldet. Offenbar legte sie keinen Wert auf Kontakt mit der Mutter des Mannes, der – wenn auch unfreiwillig – nicht zu ihr zurückgekehrt war. Sie war eine starke Frau, die ihr Kind allein großzog, die zu stolz war, Hilfe anzunehmen. Das musste Louisa respektieren, so schwer ihr das auch fiel. Trotzdem war sie unbemerkt in der Kirche gewesen, um ihren Enkel spielen zu hören.
Als es läutete, war sie in Versuchung, es zu ignorieren. Wahrscheinlich wollte ihr die Nachbarin frohe Weihnachten wünschen. Auf Gesellschaft legte Louisa in ihrer Verfassung keinen Wert. Erst als es abermals und anhaltend klingelte, erhob sie sich mit einem Seufzer.
Leicht verärgert öffnete sie die schwere Eichentür – und hob ungläubig die Brauen. Draußen standen Verena und Tim. Stumm schauten sie einander an.
»Fröhliche Weihnachten – Großmutter«, brach der Junge schließlich das Schweigen. »Dürfen wir reinkommen?«
Gerührt beschrieb Louisa eine einladende Geste und ließ sie eintreten. »Herzlich willkommen. Ich freue mich sehr über euren Besuch.«
In der Wohnhalle bewunderte Tim die große, wunderschön geschmückte Tanne neben der Treppe. Darunter lagen bunte Päckchen.
Im Wohnzimmer knisterte im Kamin ein Feuer und in der Nähe des raumhohen Fensters stand ein schwarzer Flügel, den der Junge ehrfürchtig bestaunte.
»Wow!«, war alles, was er hervorbrachte. Unsicher schaute er seine Großmutter an. »Darf ich mal darauf spielen?«
»Jederzeit. Ich war heute in der Kirche. Dein Spiel war wunderschön. Wenn du magst, kannst du den Flügel sofort ausprobieren. Inzwischen unterhalte ich mich nebenan mit deiner Mama.«
Da seine Mutter ihm aufmunternd zunickte, setzte er sich an das Instrument, klappte es auf und begann zu spielen: Leise rieselt der Schnee …
Louisa und Verena führten unterdessen ein ernstes Gespräch und wurden sich bald einig, es Tim zuliebe miteinander zu versuchen.
So wurde es für drei Generationen in der alten Villa ein wundervolles Weihnachtsfest, dem noch viele gemeinsame Stunden folgen sollten.
von Bettina Reimann
Er roch es, gleich nachdem er die Tür des Hauses aufgehebelt hatte. Hier hatte doch jemand Kekse gebacken!
Man sollte keinen Einbruch begehen, wenn man Hunger hat, dachte er. Leise schlich er durch die Küche, deren Außentür jetzt offen stand. Das Licht der Taschenlampe fiel auf ein großes Blech mit Keksen. Es roch nach Zimt und wunderbar süß.
Er konnte ja mal einen probieren. Ein zweiter ging auch noch.
Das Haus im stillen Dörfchen Hainhaus hatten seine Freunde ausgespäht. Er wusste genau, wohin er jetzt gehen musste. Die Besitzer waren nicht daheim, das hatten seine Kumpels herausgefunden und warteten vor dem Langenhagener Theatersaal, um ihn gegebenenfalls zu warnen. Dort besuchten die Hausbewohner eine Kabarettveranstaltung. Die Leute waren einfach zu naiv. Ließen fremde Männer in ihre Villa, nur weil sie Namensschilder mit dem Logo eines Stromanbieters um den Hals trugen und angeblich etwas am Stromzähler kontrollieren mussten. Und wenn sie dann noch Theaterkarten auf der Flurkommode liegen hatten - Volltreffer! Das war ja fast eine Einladung zum Einbruch!
Im Wohnzimmerschrank, linke Tür, untere Schublade, da waren sie, die Werte, auf die er es abgesehen hatte, war er von den Gaunerkollegen informiert. Einer seiner Kumpanen hatte es geschafft, allein im Wohnzimmer des Hauses zurückzubleiben, während der andere angeblich den Stromzähler ablas. Die Leute waren wirklich zu vertrauensselig. Er lachte auf dem Weg in das Wohnzimmer. Und drehte plötzlich um, denn er wollte auf jeden Fall noch so einen Keks. Mann, waren die lecker.