Mörderische Brise - Der Tote am Sandstrand - Nina Ohlandt - E-Book

Mörderische Brise - Der Tote am Sandstrand E-Book

Nina Ohlandt

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Beschreibung

Mit einem solch heiklen Fall hat Kommissarin Hannah Bülow nicht gerechnet, als sie in ihre Heimat Ostersande zurückkehrt. Frisch verwitwet will sie an der Wismarer Bucht ihr Leben neu ordnen und für ihren Vater sorgen. Ihr Dienst in der Polizeiwache, wo ihre alte Freundin Constanze Chefin ist, beginnt betulich. Dann wird der Psychiater einer nahen Klinik erschlagen am Strand aufgefunden. Bei ihm eine kryptische Notiz, die den Missbrauch einer Patientin nahelegt. Ein Rachemord? Die Ermittlungen führen Hannah und Constanze zurück in den Sommer 1993, als sie an einem Bootsunglück beteiligt waren. War es womöglich keine gute Idee, nach Ostersande zurückzukehren? Die Geister der Vergangenheit ruhen nie.

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Seitenzahl: 552

Veröffentlichungsjahr: 2025

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I N H A L T

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorenTitelImpressumPROLOGTEIL 1123456TEIL 3202122232425262728293031323334TEIL 435363738394041424344454647484950515253EPILOGNACHWORT

Über dieses Buch

Mit einem solch heiklen Fall hat Kommissarin Hannah Bülow nicht gerechnet, als sie in ihre Heimat Ostersande zurückkehrt. Frisch verwitwet will sie an der Wismarer Bucht ihr Leben neu ordnen und für ihren Vater sorgen. Ihr Dienst in der Polizeiwache, wo ihre alte Freundin Constanze Chefin ist, beginnt betulich. Dann wird der Psychiater einer nahen Klinik erschlagen am Strand aufgefunden. Bei ihm eine kryptische Notiz, die den Missbrauch einer Patientin nahelegt. Ein Rachemord? Die Ermittlungen führen Hannah und Constanze zurück in den Sommer 1993, als sie an einem Bootsunglück beteiligt waren. War es womöglich keine gute Idee, nach Ostersande zurückzukehren? Die Geister der Vergangenheit ruhen nie.

Über die Autoren

Nina Ohlandt, ausgebildete Sprachlehrerin, arbeitete in vielen Berufen, bis sie zu ihrer wahren Berufung zurückfand: dem Krimischreiben. Ihre Nordsee-Krimireihe mit John Benthien als ermittelnden Kommissar war sensationell erfolgreich. Nina Ohlandt starb im Dezember 2020.

Jan F. Wielpütz Die Krimireihe der 2020 verstorbenen Autorin Nina Ohlandt wird von Jan F. Wielpütz fortgesetzt, der als Verlagslektor Krimi- und Thrillerautoren betreute und - teils unter Pseudonym - mehrere Bücher veröffentlichte, die auf der SPIEGEL-Bestsellerliste standen.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © 2025 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln, Deutschland

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten. Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.

Textredaktion: Angela Kuepper, München

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven von © Adobe Stock: Asraf und © shutterstock: David G Hayes | 3D2 | Sophie McAulay | Annalucia | Lapse studio | Dmitry Pichugin

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-8412-2

luebbe.de

lesejury.de

P R O L O G

Wie es wohl sein würde, zu sterben?

Die Frau, die in ihrem Boot über die nächtliche Ostsee glitt, hatte sich das schon manches Mal gefragt. Wer tat das nicht? Sie war kein religiöser Mensch, weshalb sie nicht an irgendwelche Lichterscheinungen am Ende eines Tunnels oder ein Wiedersehen mit lange verstorbenen Verwandten oder Freunden glaubte. Ein Freund, der ähnlich dachte, hatte einmal gemutmaßt, dass es wohl wie Einschlafen sein würde, vermutlich würde man nicht einmal wissen, dass man tot war. Ein seltsamer Gedanke, fand die Frau, so etwas konnte man sich nicht vorstellen, andererseits war es auch tröstlich. Einfach gar nicht mitbekommen, dass man nicht mehr da war.

Das Stottern des Motors holte sie aus ihren Gedanken. Die betagte Maschine gab ein letztes, heiseres Geräusch von sich und verstummte dann vollends. Stille trat ein, als das kleine Kajütboot noch ein Stück durch die spiegelglatte Ostsee glitt und dann zum Stillstand kam.

Die Frau ließ sich mit einem Seufzen auf dem Stuhl aus zerschlissenem Leder hinter dem Steuerrad nieder. Ihr Blick wanderte hoch zu den Sternen, die bis zum Horizont über der See funkelten.

Sie war so lange auf das offene Meer hinausgefahren, bis der Treibstoff aufgebraucht war. Und damit war es nun entschieden, hier würde sie ihrem Leben ein Ende bereiten.

In ihrem Beruf hatte sie es viele Male mit dem Tod zu tun gehabt. Er hatte zahlreiche Gesichter, manche davon grausame Fratzen, von denen man wünschte, sie nie gesehen zu haben. Andere wiederum waren weich und friedlich.

So oder so, das Amüsante am Sterben war, dass die meisten Menschen den Ort ihres Ablebens bereits kannten, ohne es zu wissen. Sie hatten in ihrem Leben viel Zeit dort verbracht oder waren zumindest etliche Male daran vorbeigekommen, ohne auch nur ahnen zu können, dass dies die Stelle sein würde, an der sie ihren letzten Atemzug täten.

Auch die Frau kannte den Ort, den sie gewählt hatte, schon sehr lange. Sie liebte das Meer, war an seinem Saum aufgewachsen, hatte als Kind und später mit ihrer Familie viele wundervolle Stunden dort verbracht. Insofern erfüllte es sie mit einer gewissen Zufriedenheit, dass es hier zu Ende gehen würde.

Die Frau machte sich daran, sich auszuziehen, und streifte ihren Pullover ab. Irgendwie erschien es ihr passend, die letzte Reise so anzutreten, wie die Natur sie erschaffen hatte.

Doch dann hielt sie inne.

Nein, wenn man die Kleidungsstücke hier an Bord fand, wäre es offensichtlich, dass sie den Freitod gewählt hatte.

Natürlich könnte sie auch das Boot versenken, dann gäbe es keinen Hinweis auf ihren Verbleib. Doch sie wollte eine Spur hinterlassen, zumindest eine vage, die ihren Lieben den tröstenden Gedanken erlauben würde, dass es sich um einen Unfall handelte.

Also zog sie den Pullover wieder an.

Der Tod an sich machte ihr keine Angst. Wenn, dann waren es die Minuten davor.

Jemand, der sich damit auskannte, hatte ihr einmal erklärt, dass das Ertrinken zu den unangenehmsten Wegen zählte, aus dem Leben zu scheiden. Der Moment, wenn das Wasser in die Lunge eintrat – besonders salziges Meerwasser –, die Krämpfe, platzende Adern. Von der Furcht und der aufkommenden Panik mal ganz abgesehen.

Dennoch hatte sie sich für diese Methode entschieden.

Natürlich war sie unzählige andere Möglichkeiten durchgegangen, doch diese hier erschien ihr am Ende immer wieder als die geeignetste, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zum gewünschten Ergebnis auch in der Welt der Lebenden führen würde – eben, dass es sich um einen tragischen Unfall handelte und niemand allzu viele Fragen stellen würde.

Sie schaltete die Positionslichter des Bootes aus. Dann setzte sie sich auf die Reling und ließ die Beine ins Wasser baumeln. Für eine Herbstnacht war es überraschend warm, letztlich aber immer noch kalt genug. Das würde ein wenig helfen.

Zeit für letzte Gedanken.

Sie konnte sich nicht beklagen. Ein gutes Leben lag hinter ihr, besser als das, was die meisten Menschen auf diesem verrückten Planeten geboten bekamen.

In Gedanken kehrte sie zu dem Moment zurück, als die Hebamme ihr nach der Geburt ihr Kind in die Arme gelegt hatte. Dieses kleine, hilflose Bündel Mensch, dem sich ihr Herz für alle Ewigkeit verschrieben hatte. Der schönste Augenblick in ihrem Leben.

Wehmut kam in der Frau auf. Nun würde sie nie erleben, was aus dem kleinen Bündel werden würde. Doch das war wohl der Preis, den sie für das zahlen musste, was sie getan hatte. Und letztendlich war das, was nun kam, ein letzter Dienst an dem kleinen Bündel, um es vor großem Ungemach zu beschützen.

Mit einem Ruck stieß sich die Frau von der Reling ab und glitt ins Wasser. Was ihr eben noch einigermaßen warm vorgekommen war, ließ sie nun nach Luft schnappen. Als ob Tausende kleiner Nadeln überall in ihren Körper eindrangen.

Noch nicht. Beruhige dich. Atme.Noch einen Moment.

Sie machte einige kräftige Schwimmzüge und entfernte sich ein Stück von dem Boot. Dann drehte die Frau sich auf den Rücken.

Alleine hier draußen auf der Ostsee fühlte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben vollkommen frei. Ein makabrer Gedanke, doch sie konnte sich seiner nicht erwehren. Ohne ein Morgen brauchte man sich keine Sorgen mehr machen, was sein würde, was zu tun war oder welche Fehler man vielleicht begehen konnte. Nun war alles egal.

Eine Leichtigkeit erfüllte die Frau, die sie festhalten und mit sich nehmen wollte.

Sie schloss die Augen, atmete aus und ließ sich in die Tiefe sinken.

Im Luftanhalten war sie noch nie besonders gut gewesen. Es dauert nicht lange, bis die Atemnot sie überkam.

In dem Moment fiel ein heller Lichtschein auf sie herab, warm, einladend, als würde er sie zu sich rufen.

Bevor sie Luft holte und Salzwasser in ihre Lungen sog, womit schließlich doch wilde Panik sie ergreifen würde, fasste die Frau einen letzten klaren Gedanken.

Ich vergebe dir, Hannah Bülow.

T E I L 1

D i e G e i s t e r d e r V e r g a n g e n h e i t

1

Hannah Bülow steuerte ihren Wagen in gemächlichem Tempo durch die lang gezogene Allee. Zwischen den Ästen der Bäume funkelte die Sonne hindurch, und das bunte Laub segelte, angetrieben von einer leichten Brise, zu Boden. Durch das offene Fenster wehte der Geruch von Herbst herein.

Hannah hatte es nicht eilig.

Wenn ein neuer Lebensabschnitt begann, durfte man sich ruhig Zeit lassen.

Tobby sah das offenbar anders.

Der Mischlingshund mit braun-weiß geschecktem Fell gab ein Winseln von sich und lief ungeduldig in dem eigens für ihn ausgepolsterten Kofferraum des Mini Clubman hin und her.

»Ist es sehr dringend?«, erkundigte sich Hannah mit einem Blick in den Rückspiegel.

Als Antwort spitzte Tobby die Ohren, legte den Kopf schief und winselte erneut.

»Verstehe.« Hannah sah wieder auf die Straße. Voraus zeichneten sich hinter den Bäumen die Konturen eines alten Herrenhauses ab. »Es ist nicht mehr weit bis Ostersande. Fünf Minuten.«

Noch ein Winseln.

Hannah seufzte. »Schon gut, ich fahr rechts ran.«

Tobby hatte sich bisher als äußerst geduldiger Mitfahrer erwiesen. Auf der Fahrt von Münster hierher hatte er sich bislang mit nur einer Pinkelpause begnügt. An einem Montagmittag herrschte wenig Betrieb, also waren sie gut durchgekommen. Und wäre Hannah hinter Lübeck nicht auf die Landstraße abgebogen, um bei Boltenhagen noch einen Schwenk entlang der Ostsee zu machen, wären sie längst an ihrem Ziel angelangt. Tobby hatte also jedes Recht, seine Bedürfnisse anzumelden.

Hannah lenkte den Wagen an den Straßenrand und brachte ihn zum Stehen. Mit einem Haargummi band sie sich noch schnell ihre lockigen braunen Haare zusammen, dann stieg sie aus und öffnete die Flügeltür des Kofferraums. Tobby sprang heraus, lief hinüber zum nächsten Baum, beschnüffelte ihn kurz und hob das Bein. Als er fertig war, schaute er auf die weitläufige und akkurat gemähte Wiese vor dem Herrenhaus und warf Hannah einen fragenden Blick zu.

Sie lehnte sich gegen den Wagen, schob die Hände in die Jeanstaschen und lächelte unwillkürlich. »Warum nicht, wir haben ja Zeit. Also flitz schon los!«

Tobby rannte davon, tollte im Zickzack über die Wiese, bis er nach einer Weile eine für sein Dafürhalten geeignete Stelle für ein weiteres, größeres Geschäft gefunden hatte.

In der Ferne sah Hannah vor der Treppe, die zum Eingang des Herrenhauses führte, einen Mann in grüner Latzhose mit einem Laubbläser. Er hielt plötzlich inne, als er Tobby gewahr wurde, blickte dann zu ihr herüber und schüttelte den Kopf.

Hannah hob eine Hand und winkte ihm zu. »Immer hübsch freundlich zu den Eingeborenen sein.«

Der Laubbläser schüttelte erneut den Kopf, wandte sich dann aber wieder seiner Arbeit zu.

Hannah verschränkte die Arme vor ihrem braunen Kaschmirpullover, unter dem sie ein weißes Hemd trug, und musterte das Anwesen. Sie hatte es in deutlich schlechterem Zustand in Erinnerung.

Gut Ostersande war Anfang des neunzehnten Jahrhunderts von einem Adelsgeschlecht erbaut worden. Ehemals hatten Stallungen und ein kleinerer Bau mit Zimmern für Bedienstete dazugehört. Übrig geblieben war nur das Haupthaus in barockem Stil, auf dessen Dach zwei Zwiebeltürme thronten.

Als Hannah das letzte Mal hier gewesen war, hatte die ehemals beige Fassade unzählige Risse gehabt, der Putz war abgeblättert, und an zahlreichen Stellen hatte Efeu das alte Gemäuer überwuchert. Der Park hinter dem Haus hatte einem Urwald geglichen.

Heute erstrahlte das Anwesen in neuem Glanz.

Das Haupthaus war renoviert worden, und dort, wo einst die Nebengebäude gestanden hatten, hatte man einen langen modernen Anbau hingesetzt, der überwiegend aus Stahl und Glasfassade bestand.

Erinnerungen blitzten vor Hannahs innerem Auge auf. Sie sah sich wieder mit ihren Freunden durch die leeren, nach Moder und Verfall riechenden Salons des Herrenhauses streifen, auf der Suche nach einem ausgefallenen Ort für das Konzert ihrer Band.

Das waren die guten Erinnerungen.

Doch es gab eben auch die anderen, die bösen Erinnerungen, die sie bis heute in ihren Albträumen heimsuchten.

Hannah raffte sich auf, ging auf die Wiese, um ihren Hund einzufangen. »Komm, Tobby, wir wollen weiter …«

Plötzlich drang aus der Ferne Motorenlärm an ihr Ohr und kam rasch näher. Ein schwarzer Porsche Targa flog heran, gefolgt von einem Streifenwagen mit Blaulicht.

Der Porsche drosselte das Tempo und kam wenige Meter weiter hinter Hannahs Mini zum Stehen.

Der Streifenwagen hielt ebenfalls.

Es dauerte einen Moment, bis zwei Uniformierte ausstiegen.

Der Beamte auf der Fahrerseite setzte sich eine Polizeimütze auf die lockigen schwarzen Haare und zog sich die Hose am Ausrüstungsgürtel hoch. Er hatte einen modisch kurz gestutzten Vollbart.

Sein Kollege, dessen Oberlippe ein buschiger Schnauzer zierte, war deutlich kräftiger gebaut. Sein kolossaler Bauch hing über den Hosenbund, und das blaue Uniformhemd spannte so sehr, dass es die Knöpfe zu sprengen drohte.

Im Näherkommen hörte Hannah den Schnauzer sagen: »Tu mal was für dein Geld.« Er deutete mit einem Nicken auf den Porsche. »Fahrzeugpapiere und Fleppe.«

Der Hagere, der seinen Kollegen um zwei Köpfe überragte, schüttelte bloß den Kopf und machte keine Anstalten, den Porsche zu kontrollieren. »Komm mir nicht so. Ich bin die ganze Zeit gefahren. Jetzt bist du dran.«

»Wenn ich dann auch so eine tolle Beurteilung bekomme«, gab der Schnauzer zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Der Hagere schüttelte den Kopf. »Geht’s dir noch immer darum?«

Hannah machte sich mit einem Räuspern bemerkbar. »Kann ich den Herren vielleicht irgendwie behilflich sein?«

Der Hagere schrak zusammen, und der Schnauzer machte ein betretenes Gesicht wie ein Kind, das man mit den Händen in der Pralinenschachtel erwischt hatte. Doch er fand schnell die Fassung wieder. »Dies ist eine Polizeiangelegenheit. Treten Sie bitte zur Seite und halten Sie Abstand, junge Frau.«

»Danke für das ›junge Frau‹.« Hannah verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln. Ein solches Kompliment bekam man mit neunundvierzig Jahren nicht jeden Tag.

Der Hagere setzte sich in Bewegung, ging zum Fahrerfenster des Porsches hinüber und ließ sich von dessen Besitzer die Papiere zeigen.

Während der Schnauzer seinen Kollegen mit prüfendem Blick beobachtete, ging Hannah zum Kofferraum und ließ Tobby hineinspringen. Als sie die Flügeltüren schloss, stand der Schnauzbärtige plötzlich neben ihr. Sein Blick wanderte zum TÜV-Siegel auf ihrem Kennzeichen.

»Sie sind überfällig, junge Dame.« Er hob mahnend die Augenbrauen.

Hannah betrachtete nun ihrerseits prüfend die Plakette. Der Mann hatte recht. »So eine Scheiße.«

Der TÜV-Termin war ihr wegen des Umzugs und in dem allgemeinen Chaos, in das sich ihr Leben in den letzten Monaten verwandelt hatte, doch glatt durchgegangen.

Der Schnauzer räusperte sich. »Seit vier Monaten … das macht dann leider fünfundzwanzig Euro.«

»Entschuldigen Sie«, Hannah hob die Hände, »das ist mir wirklich schrecklich peinlich. Die letzten Monate … Mein Mann ist vor nicht allzu langer Zeit verstorben, müssen Sie wissen, und ich habe meinen Umzug …«

Der Schnauzbärtige schloss die Augen, zog einen Schmollmund und nickte. »Natürlich. Das bekommen wir jeden Tag zu hören. Sie werden das Verwarngeld zahlen müssen. Gesetz ist Gesetz. Und demnächst kümmern Sie sich einfach besser um Ihre Angelegenheiten.« Er streckte eine Hand aus. »Fahrzeugpapiere und …«

»Schon gut.« Hannah stieß einen Seufzer aus, kroch ins Wageninnere und holte die Papiere aus ihrer Handtasche. Gott, war ihr das jetzt peinlich.

Während der Hagere dem Porschefahrer die Leviten las und dabei mit dessen Papieren wedelte, studierte der Schnauzer zunächst Hannahs Führerschein, wobei er ihren Namen leise flüsterte und die Stirn krauszog. »Frau Bülow …«

Dann inspizierte er ihre Ausweispapiere, und seine buschigen Augenbrauen flutschten nach oben. »Donner und Kanonenrohr!« Sein Blick wanderte zu seinem Kollegen, der gerade herüberkam.

»Was gibt es?«, erkundigte sich der Hagere.

»Das …« Der Schnauzer hielt ihm den Ausweis hin. »Das ist unsere neue Chefin.«

Die beiden Beamten starrten Hannah mit entgeisterter Miene an.

»Da habe ich uns ja alle schön in die Bredouille gebracht, was?« Hannah versuchte sich an einem Lächeln, um das Eis zu brechen, doch an den Gesichtern ihrer zukünftigen Kollegen konnte sie ablesen, dass der Versuch gründlich danebenging.

Der Schnauzer runzelte die Stirn, als rätselte er über die Bedeutung ihrer Worte, und der Hagere stammelte: »Wie … also was …«

Hannah seufzte. »Ist doch ganz einfach. Ihnen ist das peinlich. Mir ist das peinlich. Wie bekommen wir nun die Kuh vom Eis?«

»Ich weiß nicht …«, stammelte der Schnauzbärtige.

»Fangen wir doch damit an, dass wir einander bekannt machen«, schlug Hannah vor. »Wie ich heiße, wissen Sie ja schon.«

Der Hagere strich sich nachdenklich um den Bart, nahm dann aber seine Mütze ab und reichte ihr die Hand. »Sibert Hansen.« Sein stämmiger Kollege verzichtete auf den Handschlag und brummelte nur: »Klaus-Peter Diekfoß.«

»Und jetzt, wo wir uns kennen«, sagte Hannah, »mache ich Ihnen einen Vorschlag. Ich zahle ganz einfach die Strafe, und damit ist es erledigt.«

Klaus-Peter Diekfoß hakte die Daumen in seinen Ausrüstungsgürtel. »Wollen Sie Ihre neue Stelle wirklich so antreten? Ich meine, wir müssen das Verwarngeld ja offiziell erfassen.«

»Davon bricht mir kein Zacken aus der Krone, und ich vermute kaum, dass man mich deshalb gleich wieder rausschmeißt. Und wie Sie eben selbst festgestellt haben, Gesetz ist Gesetz. Bringen wir es also hinter uns.«

Und so begann ihr neues Leben in ihrer alten und neuen Heimat Ostersande, dem kleinen Ort an der Ostsee, in dem sie aufgewachsen war und nun wieder leben würde, mit einer Geldstrafe. Hätte kaum besser laufen können.

Hannah sah zu, wie Diekfoß und Hansen nach verrichteter Arbeit in den Streifenwagen stiegen und davonfuhren. Sie würde die beiden dann morgen auf der Wache wiedersehen.

Sie öffnete die Fahrertür ihres Wagens und wollte schon einsteigen, als ihr Blick den Porschefahrer streifte. Sie hatte dem Mann bislang keine große Beachtung geschenkt. Er war ausgestiegen und sah ebenfalls dem Streifenwagen nach. Dann drehte er sich zu ihr herum.

»Da haben die beiden ja ordentlich Kasse gemacht«, meinte er. »Gleich zwei auf einen Streich.«

»Des einen Pech, des anderen …« Hannah hielt inne, nun, wo der Mann sich ihr zugewandt hatte und sie sein Gesicht sah. Das schmale Gesicht, das Grübchen in seinem Kinn, die grünen Augen und das kurz geschnittene kupferrote Haar. »Philip?« Sie schloss die Wagentür und ging zu ihm hinüber.

Der Porschefahrer kniff die Augen zusammen, dann hellte sich seine Miene auf. »Ist doch nicht wahr. Hannah! Hannah Bülow.«

Sie fielen sich lachend in die Arme.

Dann hielt er sie auf Armeslänge an den Schultern gefasst von sich. »Wie konnte ich dieses süße Sommersprossengesicht nicht sofort erkennen?«

Hannah blickte aus dem Augenwinkel auf den Porsche Targa. »Und ich hätte es mir auch gleich denken können. So ein Ding hattest du früher als Modell in deinem Zimmer stehen.«

»Manche Träume werden eben wahr. Was treibt dich her?«

»Ich trete morgen meine neue Stelle auf der Wache in Ostersande an.«

Philip Langmar machte große Augen. »Du ziehst wieder hierher?«

»So ist es.«

»Aber was heißt Wache? Meinst du etwa die Polizeiwache? Du bist doch wohl nicht …«

»Doch, bin ich.« Hannah präsentierte ihm ihren Dienstausweis. »Polizeihauptkommissarin.«

»Ist nicht wahr.« Sein Blick wanderte in die Richtung, in die der Streifenwagen davongefahren war, und ein spitzbübisches Lächeln spielte um seine Mundwinkel. »Dann haben dir deine Kollegen gerade eine Knolle verpasst?«

Hannah sah beschämt zu Boden, konnte sich aber ebenfalls ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich schätze schon.«

»Ob das Constanze gefallen wird? Ich meine, du wirst ja mit ihr zusammenarbeiten, oder wie läuft das?«

»Natürlich. Ich bin die neue Dienstgruppenleiterin.« Auf seinen fragenden Blick fügte sie an: »Sozusagen Constanzes Stellvertreterin.«

Wieder das spitzbübische Lächeln. »Verstehe. Sie hat dir die Stelle zugeschanzt. Ich meine, ihr beide wart damals Nachbarskinder und wie Schwestern. Gott, wie lange ist es her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben?«

»Ziemlich lange.« Hannahs Blick wanderte hinüber zu dem Herrenhaus. Sie konnte es auf den Tag genau sagen. In wenigen Tagen würden es exakt 32 Jahre sein. Sommer 1993. Damals war Hannah mit ihren Freunden in den Gewölbekeller des Herrenhauses hinabgestiegen, auf der Suche nach einem Ort für das Konzert ihrer Band. Constanze, Philip und sein Bruder Julian, und natürlich war auch Dana dabei gewesen. Das letzte Mal, dass sie in dieser Konstellation als Freunde zusammen gewesen waren.

Bevor das Unglück geschehen war.

Philip betrachtete nachdenklich das Anwesen. »Das müssen über dreißig Jahre sein. Wahnsinn, wie die Zeit verfliegt. Wie ist es dir ergangen? Kinder?«

Hannah nickte. »Zwei Töchter. Inken und Nele.«

»Wie alt?«

»Beide fünfundzwanzig. Inken ist mit einem blonden Jüngling mit knackigem Hintern nach Schweden durchgebrannt. Sie ist Köchin. Nele ist Anwältin in Brüssel. Für sie gibt es nur die Arbeit. Wenn, dann kommen meine Enkel also aus Stockholm. Und du?«

»Ebenfalls eine Tochter. Zehn, noch bei uns zu Hause und der Augapfel ihres Vaters.« Er lächelte. »Du bist alleine unterwegs. Was ist mit deinem Mann?«

»Tot.«

Philip zuckte zusammen, und Hannah schalt sich im Stillen, dass sie ihm das so einfach an den Kopf geworfen hatte. Ihre direkte Art war nicht in allen Situationen passend. Andererseits konnte sie ihre Natur nicht verleugnen. Klare Worte ersparten Zeit.

»Das tut mir leid«, sagte Philip.

»Mir auch.« Hannah spürte, wie eine Welle der Trauer sie erfasste, und sie musste sich auf die Unterlippe beißen. Es war jetzt ein Dreivierteljahr her. Trotzdem war sie noch nicht darüber hinweg, würde es vielleicht nie sein. »Ein überarbeiteter Lkw-Fahrer hat am Stauende das Bremsen vergessen. Malte … mein Mann hatte das Pech, im letzten Wagen in der Schlange zu sitzen.«

Philip fasste sie an den Schultern und drückte sie dann an sich. Hannah ließ ihn gewähren. Nach so langer Zeit war es schön, seine Nähe zu fühlen.

»Warum Ostersande?«, fragte er schließlich. »Nur wegen der Arbeit?«

»Nein, mein Vater.«

»Uwe … Ich habe gehört, dass es ihm nicht gut geht.«

»Ich werde sehen, ob ich ihn wieder auf Vordermann bekomme.« Hannahs Mutter war vor zwei Jahren gestorben, und seitdem ging es mit ihrem Vater schleichend bergab. Nachbarn, die sie noch von früher kannte, hatten sich bei ihr gemeldet und berichtet, dass er kaum noch das Haus verließ, außer zum Angeln, und die meiste Zeit vor dem Fernseher verbrachte. Der Garten verwilderte, und das Haus verfiel langsam im Gleichtakt mit seinem Bewohner. Deshalb hatte Hannah eine Entscheidung getroffen. Sie liebte ihren Vater zu sehr, um aus der Ferne dabei zuzusehen, wie er zu einem alten Trauerkloß degenerierte und sich selbst zugrunde richtete. Constanzes Angebot, die Dienstgruppenleitung zu übernehmen, war zur rechten Zeit gekommen. Die Kinder waren aus dem Haus, der Mann unter der Erde. Zeit für einen kernigen Ortswechsel, ein Leben als trauernde Witwe wollte sie jedenfalls nicht führen.

»Was ist mit dir?«, fragte Hannah.

Sein Blick wanderte zu dem Herrenhaus hinüber. »Ich arbeite dort. Die psychiatrische Klinik Ostersande-Wismar.«

»Dann bist du …«

»Psychiater und Psychotherapeut.«

»Immerhin weiß ich jetzt, an wen ich mich wenden kann.«

Philip lachte. »Du bist jederzeit willkommen, falls du Gesprächsbedarf hast.« Er blickte auf die silberne Uhr an seinem Handgelenk. »Ich fürchte, ich muss los. Eine Patientin wartet.«

»Dann lass dich nicht aufhalten.«

Sie umarmten sich zum Abschied. Dann stieg Philip in seinen Porsche und brauste die Einfahrt zur Klinik hinauf.

Hannah blickte ihm nach.

Philip Langmar. Kaum zu glauben. Sie war einmal bis über beide Ohren in den Kerl verliebt gewesen. Wäre damals nicht alles so schrecklich schiefgelaufen, könnte sie heute eine Frau Doktor sein und mit dem Porsche zum Shoppen fahren.

Ostersande, der kleine Ort in der Nähe von Wismar, in dem Hannah aufgewachsen war und wo sie nun vielleicht auch den Rest ihres Lebens verbringen würde, bestach mit seinem zweckmäßigen, kompakten Charme – wenn man es positiv formulieren wollte. Eine weniger wohlgesonnene Betrachtung des Ortes, der vor Jahrhunderten einmal von Fischern gegründet worden war, wäre wohl zu dem Schluss gekommen, dass es sich um ein Straßendorf handelte, dessen Häuser sich, mal abgesehen von den Neubauten, in einer solch monotonen Uniformität glichen, dass sie dem Betrachter nur ein müdes Gähnen entlockten, das aber mit dem Glück gesegnet worden war, zwischen einem üppigen Wäldchen und der Ostsee zu liegen, noch dazu gleichermaßen ausgestattet mit einem feinkörnigen Sandstrand. Anders war es nicht zu erklären, dass Ostersande sich mit den Jahren zu einem Geheimtipp unter den Urlaubern gemausert hatte.

Ein ruhiges Fleckchen Erde, das seinen Gästen für die schönsten Wochen des Jahres die perfekte Idylle versprach.

Hannahs Aufgabe war, fortan dafür zu sorgen, dass es so blieb. Und sie machte sich keine Illusionen darüber, was da auf sie zukam. Denn für sie würde es alles andere als eine Idylle sein, Constanze hatte sie vorgewarnt.

In einem kleinen Badeort wie diesem stand die Polizei unter ständigem Druck. Einerseits galt es, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, damit alles seinen gesitteten Gang gehen konnte, was den hiesigen Geschäftsleuten und Politikern aus naheliegenden Gründen sehr am Herzen lag. Andererseits durften sie dabei allerdings keine zu großen Wellen schlagen – neben offener Kriminalität und Gewalttaten gab es für das Image als Urlaubsparadies wohl wenig Schlimmeres als Aufsehen erregende Polizeieinsätze.

An solche Leisetreterei würde Hannah sich wohl erst gewöhnen müssen, in Münster hatte es nicht viel ausgemacht, wenn man mal etwas robuster auftrat.

Hannah passierte das Ortsschild und fuhr ein Stück die Hauptstraße entlang. Geradeaus lag der Ortskern mit seinen Geschäften. In ihrer Jugend hatte es hier lediglich einen Bäcker gegeben, für alles andere hatte man nach Wismar fahren müssen. Mit den Feriengästen waren ein großer Supermarkt, Imbissbuden, Boutiquen und vieles andere dazugekommen, das geeignet war, den Urlaubern das Geld aus der Tasche zu locken.

Links der Hauptstraße hatte man einige Apartmentkomplexe und Hotels an den Waldrand gebaut, natürlich unter den vehementen, aber wenig erfolgreichen Protesten der Umweltschützer. Das einzige Hotel mit Meerblick befand sich wenige Hundert Meter weiter die Straße runter, dort, wo vor zehn Jahren eine Seebrücke errichtet worden war.

Hannah bog bei der nächsten Gelegenheit rechts ab und folgte einer schmalen, schlecht asphaltierten Straße, die zur Steilküste hinaufführte.

Hinter einigen neu gebauten Häusern folgte ein kleiner Waldabschnitt. Die Straße wurde noch enger und bestand bald nur mehr aus groben Kopfsteinen. Vor Jahren hatte man einmal den Versuch unternommen, sie zu erneuern, allerdings hätten die Anwohner, also Hannahs Eltern und die von Constanze, die direkt gegenüber wohnten, ihren Teil dazu beitragen müssen – womit das Projekt unter großem Gezeter schnell beerdigt worden war.

Als der Wald sich lichtete, tauchten zwei baugleiche, mit Reetdach bedeckte Fischerkaten zwischen den Bäumen auf. Hannah steuerte auf die rechte zu und hielt in der Einfahrt.

Sie stieg aus und ließ Tobby aus dem Kofferraum springen.

»Da wären wir also.«

Sie blickte sich um. Die andere Kate, in der früher Constanze mit ihren Eltern gewohnt hatte, befand sich in einem wesentlich besseren Zustand als die ihres Vaters. Sie gehörte immer noch Constanze, ihrer alten Freundin und neuen Chefin. Sie vermietete sie seit dem Tod ihrer Eltern an Feriengäste.

Hannah holte zwei große Reisetaschen aus dem Kofferraum, ihre Sachen für die ersten Wochen, alles andere würde warten müssen, bis sie ihre wohnliche Situation endgültig geklärt hatte. Ihr Hab und Gut lagerte geduldig in einem Self-Storage-Center in Münster.

Tobby hatte sich bereits vor die Haustür gesetzt.

Zwischen den Steinen der Einfahrt wucherten Moos und Unkraut. Die dicken Backsteine, aus denen die Kate gemauert war, hatten sich einigermaßen gut gehalten, schimmerten im späten Sonnenlicht aber an einigen Stellen grünlich. Von den Fensterläden war der Lack abgeplatzt, das Holz verwittert und spröde. Ihre ursprüngliche Farbe ließ sich nicht einmal mehr erahnen. Um die Eingangstür kletterten die Efeuranken wild.

Hannah stellte ihre Taschen ab und betätigte die Klingel.

Nichts.

Sie wartete einen Moment, versuchte es dann erneut.

Niemand öffnete, was sie aber auch nicht sonderlich verwunderte. Nachdem sie mit einem Anruf nicht zu ihrem Vater durchgekommen war, hatte sie ihm von unterwegs eine SMS geschrieben, wann sie ungefähr ankommen würde. Vater war einer der letzten Menschen, die ein althergebrachtes Handy benutzten, das lediglich zum Telefonieren und Kurznachrichtenschreiben taugte, eines mit großen Tasten. Wenn es hochkam, schaute er zwei oder drei Mal am Tag auf das Display.

»Er wird bestimmt gleich auftauchen«, versprach sie Tobby. »Komm, ich zeig dir mal deine neue Spielwiese.«

Sie ging um das Haus herum, auf dessen Rückseite sich ein Garten mit Wiese befand – oder besser: ein Urwald, wenn man den aktuellen Zustand betrachtete. Das Gras ragte Hannah über die Knöchel, was Tobby aber nicht zu stören schien. Er rannte los und begann sich im Gras zu wälzen.

Von dem verwitterten Strandkorb, der in einer Ecke der Terrasse stand, konnte man üblicherweise den Blick auf die Ostsee genießen. Doch die Büsche und Bäume waren derart in die Höhe geschossen, dass sie die Aussicht komplett verstellten.

Hannah ging über die Wiese zu einem hohen Rhododendron. Sie musste einen Moment nach der richtigen Stelle suchen, dann bog sie ein paar Äste zur Seite. Ein schmaler Trampelpfad kam zum Vorschein.

Sie pfiff durch die Zähne. »Hey, Tobby, komm mal.«

Tobby wieselte an ihr vorbei. Hannah zwängte sich zwischen den Ästen hindurch und folgte ihm.

Hinter dem Garten lichtete sich bald das Gestrüpp. Der Pfad führte zwischen dem Strandhafer zur Abbruchkante der Steilküste und von dort zum Strand hinunter.

Das Haus und der Garten lagen etwas erhöht; um ans Meer zu gelangen, musste man am Ende des Trampelpfades einen kleinen Abhang hinabsteigen. Hannah blieb an seiner Kante stehen. Der Blick ging von hier weit auf die vom Wind gekräuselte Ostsee hinaus. Ein Segler schnitt durch die glitzernden Wellen, mit Kurs auf den Hafen von Wismar, das in der Ferne zu sehen war.

»Ist das nicht schön?« Hannah kniete sich hin und wuschelte Tobbys Fell. »Hier wirst du viele feine Spaziergänge unternehmen können.«

Sie richtete sich wieder auf und blickte auf das Meer hinaus. In der Bucht vor Wismar lag eine kleine bewaldete Insel. Die Insel Walfisch. Im Laufe der Jahrhunderte hatte sie immer wieder eine Rolle bei der Verteidigung und Belagerung der Stadt gespielt, angefangen bei Wallensteins Truppen bis hin zu schwedischen Eroberern.

Auch in Hannahs persönlicher Geschichte nahm sie einen wichtigen Platz ein. Allerdings keinen guten. Sie dachte ungern an das zurück, was sich vor vielen Jahren auf dem Meer vor der Insel abgespielt hatte.

Dana …

Plötzlich hörte sie hinter sich das Knacken von Zweigen.

Hannah fuhr herum. Tobby spitzte die Ohren und knurrte den Mann an, der von hinten an sie herantrat.

Das Gesicht fahl, als hätte er seit Wochen keine Sonne gesehen. Die Wangen eingefallen, die Gläser der silbernen Stahlgestellbrille auf seiner Nase schmutzig. Die letzten grauen Haare, die ihm geblieben waren, lagen zerzaust und fettig um seine Glatze herum. Er trug eine Cordhose und eine graue Strickjacke über einem Karohemd.

»Uwe«, begrüßte Hannah ihren Vater. Sie sprachen sich schon seit langer Zeit nur noch mit dem Vornamen an.

»Ach, ihr seid das …« Er betrachtete sie mit leicht vernebeltem Blick, als wäre er auf zwei Geister gestoßen. »Ich hab geschlafen.«

»Entschuldige, wenn ich dich wachgeklingelt habe.«

Ihr Vater stand einen Moment regungslos da. Dann meinte er: »Ich habe dein altes Zimmer zurechtgemacht.«

Damit drehte er sich um und ging zurück zum Haus.

Tobby blickte zu Hannah hoch.

»Er kann auch anders, wenn er ausgeschlafen ist. Das wird schon«, munterte sie ihren Hund und sich selbst auf. »Hoffe ich zumindest.«

Bevor sie ihrem Vater folgte, wandte sie den Blick noch einmal hinüber zur Wismarer Bucht.

Sie hatte gewusst, dass es nicht einfach werden würde.

Die Geister der Vergangenheit ruhten nicht. Die kleine Insel dort draußen in der Ostsee würde hier immer in ihrem Blick liegen, als stete Erinnerung an die Schuld, die sie vor nun bald zweiunddreißig Jahren auf sich geladen hatte.

2

Es war ein Schlachtfeld. Anders konnte man es nicht bezeichnen, und Hannah mochte sich kaum vorstellen, wie ihr Vater bisher alleine hier gehaust hatte.

Im Hausflur und im Wohnzimmer lagen die Staubflocken so dick in den Ecken, dass man daraus eine Mütze stricken konnte. Das letzte Mal, dass hier jemand gestaubsaugt, geschweige denn geputzt hatte, musste Wochen, wenn nicht Monate her sein. Die Pflanzen auf der Fensterbank ließen die Blätter hängen. Ein Haufen ungeöffneter Post lag auf dem Wohnzimmertisch. Und in der Küche stapelte sich in der Spüle das schmutzige Geschirr. Die Spülmaschine hatte den Geist aufgegeben. Außerdem war es im ganzen Haus zugig.

»Du brauchst das nicht machen«, sagte ihr Vater. »Ich hätte das morgen früh erledigt.«

Er saß am Küchentisch und studierte die Zeitung, während Hannah sich dem Abwasch widmete.

»Ich mach das gerne«, log sie. Viel lieber hätte sie ihn freundlich ins Gebet genommen und motiviert, seinem Leben neuen Schwung zu verleihen.

In ihren Berufsjahren hatte sie immer wieder mit Menschen zu tun gehabt, die depressiv und lethargisch geworden waren, natürlich aus unterschiedlichen Gründen, aber eben nicht selten, weil sie ihren Lebenspartner verloren hatten. Bei Gott, sie konnte es ja nur allzu gut nachvollziehen. Als Malte gestorben war, hatten auch sie die Gefühle übermannt, und sie hatte sich nicht vorstellen können, wie das Leben ohne ihn weitergehen sollte. Nur dass sie mit solchen Situationen eben oft genug bei anderen konfrontiert gewesen war und gewusst hatte, wie sie sich gegen die Schwermut wehren konnte, die einen hinabzuziehen drohte wie in einen Morast.

Sie wusste aber auch, dass es Zeit brauchte. Vor allem musste der Wille entstehen, sich selbst aus dem tiefen Loch freizuschaufeln. So weit war ihr Vater vermutlich noch nicht, und schon gar nicht brauchte sie gleich am ersten Abend den Versuch zu wagen.

Hinzu kam auch ihre nicht ganz unproblematische Beziehung …

»Was wollen wir heute Abend essen?«, fragte sie.

Ihr Vater las weiter die Zeitung. »Brauchst für mich nicht kochen. Ich bin unterwegs.«

»Was bedeutet ›unterwegs‹?«

Als sie keine Antwort hörte, blickte Hannah sich abermals um. Ihr Vater hatte die Zeitung sinken lassen und bedachte sie mit abschätzigem Blick. »Tu das nicht.«

»Tu was nicht?«

»Mich überwachen.«

»Ich wollte doch nur wissen, ob wir gemeinsam essen …«

»Nein. Du hast deine Antwort.« Ihr Vater widmete sich wieder den Schlagzeilen.

Hannah trocknete einen Teller ab und legte ihn auf die anderen, die sie bereits gespült hatte. »Ich fahre gleich mal zu Constanze. Sie hat mich auf ein Glas Wein eingeladen, bevor wir uns morgen in die Arbeit stürzen.«

»Du machst deine Dinge, ich mache meine Dinge«, sagte ihr Vater bestimmt.

Das konnte ja lustig werden. Hannah atmete einmal tief durch, um die Beherrschung nicht zu verlieren. Fang nicht gleich am ersten Abend einen Krieg an.

Sie wollte gerade nach Tobby pfeifen, damit sie sich auf den Weg machen konnten, als sie innehielt.

Mist, sie konnte ihn ja gar nicht mitnehmen …

Ihr Blick wanderte zu ihrem Vater.

Wenn er in dieser Stimmung war, hätte sie ihm eigentlich nicht einmal einen Kaktus anvertraut. Andererseits hatten sie in ihrer Kindheit lange Jahre einen Hund gehabt, und Vater war immer gut mit dem Tier umgegangen. Tatsächlich waren die beiden ein Herz und eine Seele gewesen, und manchmal hatte Hannah den Eindruck gehabt, ihr Vater rede mehr mit dem Tier als mit ihrer Mutter. Vielleicht würde Tobby sogar eher einen Zugang zu dem alten Griesgram finden als sie.

»Hör zu«, begann sie in versöhnlichem Tonfall, während sie sich den nächsten Teller vornahm. »Ich würde Tobby ungern alleine hierlassen.«

»Dann nimm ihn doch mit.«

»Constanzes Mann hat eine Hundeallergie. Das will ich ihm nicht antun.«

Der Kommentar ihres Vaters beschränkte sich auf ein knappes »Hm«.

»Vielleicht kannst du ihn mitnehmen? Wo gehst du hin?«

»Zu Freunden.« Die Zeitung raschelte. Ihr Vater stand auf, wobei der Küchenstuhl über den Boden kratzte, trat hinaus in den Flur und zog sich eine Schirmmütze auf.

»Kannst du ihn nicht doch mitnehmen?«, wiederholte Hannah und sah davon ab, weiter nachzubohren, welche Freunde er nun genau meinte.

Tobby kam wie aufs Stichwort aus dem Wohnzimmer getrabt, wo er es sich neben dem Heizkörper gemütlich gemacht hatte, den Hannah sehr zum Missfallen ihres Vaters eingeschaltet hatte.

Er hockte sich vor ihren Vater und spitzte die Ohren. Menschen, die zu einem Spaziergang aufbrachen, fanden seit jeher seine Aufmerksamkeit.

Ihr Vater blickte auf ihn hinab. »Kann er sich benehmen?«

Hannah trocknete sich die Hände mit einem Küchentuch ab. Dann ging sie in die Diele, hakte Tobbys Leine in seinem Halsband ein und drückte sie ihrem Vater in die Hand. »Ich weiß ja nicht, wer deine Freunde sind. Aber wenn sie sich benehmen und nett zu ihm sind, wird Tobby es auch sein.«

Ihr Vater grunzte etwas Unverständliches, drehte sich um und verschwand zur Tür hinaus. Bevor er sie schließen konnte, rief Hannah ihm noch nach: »Hast du ein Fahrrad? Wenn wir etwas trinken.«

»Du hast doch ein Auto«, kam es zurück.

»Aber wenn wir etwas trinken …«

Ihr Vater blickte sie verständnislos an. »Schau mal im Geräteschuppen nach.«

Er ließ Tobby auf die Rückbank seines alten VW Golf springen, den er bereits gefahren hatte, als Hannah noch auf der Polizeischule gewesen war. Der Motor des betagten Gefährts sprang beim dritten Mal an. Eine Rauchwolke kam aus dem Auspuff.

Hannah blickte ihm kurz nach, wie er langsam und in leichten Schlangenlinien den Kiesweg in Richtung Ort davonfuhr.

Sie schloss die Tür, ging in die Küche und öffnete auf gut Glück den Kühlschrank. Auch hier hatte sich also kaum etwas verändert. Denn wenig überraschend stand in der Tür des Kühlschranks eine Flasche Bierbrand der Wismarer Brennerei Hinricus Noyte’s, schon in ihrer Kindheit eines von Vaters Lieblingsgetränken. Sie konnte das Zeug nicht ausstehen, seit er sie als Zwölfjährige einmal daran hatte nippen lassen, doch es würde seinen Zweck erfüllen.

Hannah setzte sich an den Küchentisch, schenkte sich ein Glas ein und trank es in einem Zug aus. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus. Sie schickte gleich noch ein zweites Glas hinterher.

Dann verschränkte sie die Arme auf dem Tisch, legte den Kopf darauf und ließ den Tränen freien Lauf.

Das Leben war voller Auf und Abs. In einem Moment fiel einem noch die Decke auf den Kopf, im nächsten glaubte man, Bäume ausreißen zu können.

Auf dem Fahrrad fühlte Hannah sich plötzlich wieder jung und frei. Der Wind verwehte ihr die Haare, die Landschaft sauste an ihr vorbei, als wäre sie ein Vogel im Sturzflug.

Die Straße in den Ort führte leicht bergab. Obwohl sie versucht war, die Augen zu schließen und einen Moment freihändig zu fahren, hielt Hannah den Lenker mit beiden Händen fest. Auf der Schotterpiste durfte man sich keinen Schlenker erlauben, so etwas endete schnell im Graben.

Wie oft war sie die Strecke früher gefahren? Zur Schule, zu Freunden, hinaus in ihre damals noch kleine heile Welt.

Hannah hatte tatsächlich ein Fahrrad im Geräteschuppen gefunden. Papas altes Herrenrad, mit dem er eine Ewigkeit nicht mehr gefahren sein musste. Die Reifen platt wie Flundern, die Kette verrostet, von drei Gängen funktionierte nur noch einer. Immerhin waren die Lichter vorne und hinten noch intakt.

Der Schotterweg ging in den asphaltierten Teil über. Bevor man auf die Hauptstraße gelangte, führte rechts ein vor Jahren neu angelegter Fahrradweg – der inzwischen Teil des Ostseeradwanderwegs war – in Richtung Ortsmitte. Hannah folgte ihm und erreichte bald die Seebrücke und Promenade von Ostersande, wo sie ihre Fahrt verlangsamen musste. An einem lauen Abend wie diesem tummelten sich hier die Urlauber. Kinder tollten herum, lange Schlangen hatten sich an den Imbissständen gebildet, wo es Fischbrötchen und Backfisch mit Pommes gab. Vom Strand her wehten Musik und Grillgeruch herüber.

Hannah bahnte sich einen Weg durch das Gewusel. Von der Seebrücke aus waren es nur wenige Hundert Meter bis zum Hafen, wenn man ihn denn noch so nennen konnte. In der Gründerzeit von Ostersande waren die Boote von hier aus zu ihren Fischzügen in der Ostsee aufgebrochen, und noch bis in die Neunzigerjahre hinein hatte Ostersande eine kleine Fischerflotte besessen. Heute war davon nichts mehr übrig und der Hafen lediglich eine Touristenattraktion, in der ab und an ein paar Segler festmachten.

Daran sollte sich aber wohl zukünftig etwas ändern.

Unweit der Hafenmole entdeckte Hannah ein Plakat. In zwei Monaten standen Kommunalwahlen an, und der Kampf um die Gunst der Wähler lief bereits auf Hochtouren. Der Politiker einer konservativen Partei warb auf dem Plakat für den Umbau der Hafenanlage in eine moderne Marina. Hannah konnte sich vorstellen, welche hitzigen Diskussionen darüber wohl geführt wurden, wie immer standen sich finanzielle Interessen und Umwelt gegenüber.

Das Gesicht auf dem Plakat war ihr wohlbekannt. Volle schwarze Locken, in die sich graue Strähnen geschlichen hatten. Schmale Wangen und ein fliehendes Kinn. Es war Georg Grotewohl, Constanzes Ehemann.

Im bürgerlichen Leben war Georg als Rechtsanwalt tätig. Allerdings war er schon lange in der Politik und hatte sich nach oben gearbeitet. Bei den anstehenden Wahlen würde er für das Bürgermeisteramt in Ostersande kandidieren.

So viel wusste Hannah von ihren zurückliegenden Besuchen bei Constanze. Das waren nicht viele gewesen, in den vergangenen Jahren hatte sie Ostersande ein- oder zweimal im Jahr einen Besuch abgestattet. Doch es hatte gereicht, um den Kontakt zu ihrer alten Freundin aufrechtzuerhalten. Und wann immer Georg zugegen gewesen war, hatte sie, ob sie nun wollte oder nicht, eine Zusammenfassung über den aktuellsten Stand der Kommunalpolitik erhalten, mitsamt den großen Plänen, die er für den Ort hegte.

Sie konnte daher nur hoffen, dass er heute Abend nicht zu Hause war.

Hinter dem Hafen bog Hannah ins Wohngebiet ab.

Constanze und Georg wohnten in einem unscheinbaren Einfamilienhaus wenige Straßen weiter. In der Einfahrt stand ein Streifenwagen geparkt.

Hannah stellte ihr Fahrrad daneben ab und klingelte an der Haustür.

Ein blonder Jüngling mit strähnigem Haar und einem Shirt von Iron Maiden öffnete ihr. »Oh, du bist es«, begrüßte er sie und rief über die Schulter: »Maaaama! Hannah ist da. Komm rein.«

Er öffnete die Tür, drehte sich um und schlurfte die Treppe hinauf ins obere Stockwerk.

Dort befand sich wohl seine Höhle, mutmaßte Hannah, die von seinem Verhalten nicht sonderlich irritiert war, sie kannte das noch aus der Zeit, als ihre Töchter vor sich hin pubertiert hatten.

Sie trat in die offene Türe, und Constanze kam ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Hallo, meine Liebe! Entschuldige bitte.«

»Macht doch nichts«, winkte Hannah ab.

Sie umarmten sich.

Constanze war eine drahtige Person, etwa einen Kopf kleiner als Hannah. Die schwarzen Haare trug sie kurz und strubbelig. Ihr Gesicht lief schmal zusammen, wie das einer Spitzmaus. Sie blickte die Treppe hinauf. »Tim ist da gerade mit seinen Freunden online in irgendeinem Spiel.«

»Jungssachen eben. Bei meinen Mädels war es Social Media.«

»Wird das irgendwann besser?«

»Ein wenig. Wenn sie anfangen, sich zu paaren. Das ist wohl das Einzige, was mehr Spaß macht.«

Constanze lachte. »Komm rein.«

Hannah folgte ihrer Freundin in die Küche, wo ihr Ehemann sie bereits erwartete. Er entkorkte gerade eine Flasche Rotwein.

»Hannah«, sagte Georg, »wie schön, dich zu sehen.«

Er nahm sie kurz in den Arm und schenkte ihnen dann Wein ein. Sie setzten sich an den Küchentisch.

»Bist du gut hergekommen?«, erkundigte sich Constanze.

»Überraschenderweise ja, keine größeren Staus.«

»Aber jetzt bist du hoffentlich nicht mit dem Auto hier«, sagte Georg mit Blick auf die Flasche Wein. »Nicht, dass Constanze dir gleich eine Knolle verpassen muss.«

»Ihr werdet nicht glauben, was mir passiert ist«, lachte Hannah. Sie erzählte von ihrer Begegnung mit Diekfoß und Hansen.

Constanze schüttelte den Kopf. »Oh Mann, diese Erbsenzähler, die hätten doch einfach fünfe gerade sein lassen können.«

»Ich habe darauf bestanden, dass wir das korrekt abwickeln«, nahm Hannah ihre künftigen Kollegen in Schutz. »Ich wollte die beiden nicht noch weiter in die Bredouille bringen.«

»Das ehrt dich«, meinte Constanze.

»Und natürlich bin ich jetzt mit dem Fahrrad gefahren. War ein bisschen wie früher. Der frische Wind im Haar … Bin an der Seebrücke und am Hafen vorbei. Ganz schön viel Trubel.«

»Die Herbstferien«, erklärte Constanze. »Bald haben wir wieder unsere Ruhe.«

»Und ich hoffe, dann kommen wir auch mit dem Hafen voran«, sagte Georg. »Weißt du schon von dem Projekt, das ich plane?«

»Möchtest du um meine Stimme werben?«, fragte Hannah.

»Du kannst dein Kreuzchen setzen, wo du magst. Doch es ist eine wirklich spannende Sache …«

Es folgte das Unweigerliche.

Die kommende halbe Stunde drehte sich fast ausschließlich um das große Marinaprojekt, die Investoren, die vor der Tür standen, und wie positiv sich das auf Ostersande auswirken würde. Hannahs Einwand, dass nicht alle Eingeborenen Lust auf noch mehr Trubel hatten, ließ Georg nicht gelten, da es dem Wohlstand aller im Ort zugutekommen würde. Schließlich referierte er noch darüber, wie es mit seiner politischen Karriere weitergehen könnte, sollte er erst mal ins Bürgermeisteramt gewählt werden.

Kurzum, es war ein typisches Gespräch mit einem Mann, denn die erzählten Hannahs Erfahrung nach am liebsten immer von sich selbst, ob es das Gegenüber nun interessierte oder nicht.

Hannah konnte Constanze ansehen, dass sie ähnlich dachte, das blühende Ego ihres Ehegatten aber nicht kränken wollte.

Während Georg erzählte, arbeiteten sie daher die erste Flasche Wein ab und entkorkten alsbald eine zweite.

Hannah fühlte sich schon reichlich angeschickert, als Georg schließlich verkündete: »So, jetzt ist es aber auch Zeit. Ich fürchte, deine restlichen Fragen muss ich ein andermal beantworten. Die Gemeinderatssitzung wartet auf mich.«

»Oh, das ist aber schade«, meinte Hannah, woraufhin Constanze ein Lachen unterdrücken musste und sich beinahe am Wein verschluckte.

»Was denn, was denn?« Georg machte große Augen. »Hat euch das etwa nicht interessiert?«

»Doch, brennend«, antwortete Constanze. »Mach, dass du zu deiner Sitzung kommst.«

Als er zur Tür hinaus war, stützte Hannah den Kopf in die Hände und schenkte ihrer Freundin einen mitleidigen Blick. »Wie hältst du das auf Dauer aus?«

»Das kommt nur anfallsweise.« Constanze trank einen Schluck Wein. »Er macht das gerne, wenn andere Leute da sind. Sonst ist er ganz zahm, verzieht sich unten in seine Männerhöhle und bastelt irgendwelche Modellautos zusammen. Hatte deiner nicht auch solche Anwandlungen?«

»Selten. Er erzählte natürlich gerne von seinem Restaurant. Vor allem aber war Malte ein guter Zuhörer. Er gab einem das Gefühl, ganz für einen da zu sein und sich wirklich zu interessieren …« Hannah spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle bildete. Wieder einmal merkte sie, wie sehr ihr Malte fehlte.

»Entschuldige«, sagte Constanze, »das hätte ich nicht fragen sollen.«

»Es … ist wohl doch noch etwas frisch.«

»Reden wir über etwas anderes, was meinst du?«

»Ja«, antwortete Hannah und wischte sich über die Augen. »Wann soll ich morgen eigentlich auf der Matte stehen?«

»Dienstbeginn ist sieben Uhr. Wir schauen dann noch, in welche Schicht wir dich packen. Ich würde aber sagen, lass es langsam angehen. Es reicht, wenn du gegen acht Uhr da bist.«

»Ich werd pünktlich sein, schließlich muss ich doch meinen Ruf bei den neuen Kollegen aufpolieren.«

Constanze winkte ab. »Die beiden sind eigentlich recht verträglich.«

»Weißt du, wen ich auch noch getroffen habe?«

»Erzähl.«

»Philip Langmar.«

»Tatsächlich?« Constanze griff nach ihrem Glas und trank einen Schluck. Hannah entging nicht, dass ihre Hand zitterte.

»Alles gut bei dir?«

»Was denn?«

»Deine Hand.«

»Ach, das«, Constanze stellte das Glas ab und ballte die Hände zur Faust. »Ich fürchte, das Alter geht auch an mir nicht spurlos vorbei.«

»Da sagst du was.« Hannah lachte. »Egal, mit wem ich mich in unserem Alter unterhalte, man kommt schnell auf die ganzen Zipperlein zu sprechen, die sich einschleichen. Und ich dachte, das würde erst mit sechzig beginnen.«

»Mit dem Irrglauben warst du wohl nicht allein«, stimmte Constanze zu. »Was sagt Philip?«

»Er erzählte, dass er in der Klinik arbeitet, als Psychiater. Habt ihr noch Kontakt?«

»Wir laufen uns ab und zu über den Weg, aber eher selten. Er wohnt mit seiner Familie drüben in Wismar.« Constanze füllte Hannahs Weinglas auf.

»Was ist mit Julian?«, erkundigte sich Hannah nach dem Bruder ihres Jugendschwarms und dem Ex-Freund von Constanze.

»Ebenfalls selten. Er hat die Baufirma seines Vaters übernommen. Bin ihm jetzt schon eine ganze Weile nicht mehr begegnet.« Constanze griff an ihren Hals und berührte die Brandnarbe, die sich von ihrer Schulter über den Hals bis in die linke Hälfte ihres Gesichts zog.

»Macht dir das noch immer zu schaffen?«, fragte Hannah.

»Wenn ein Wetterumschwung ansteht, juckt es manchmal noch. Will man nach all den Jahren eigentlich ja gar nicht für möglich halten …«

»Denkst du noch oft daran?«

»Mit der Zeit bin ich recht erfolgreich darin geworden, es zu vergessen. Aber manchmal holt es einen wieder ein. Meistens unerwartet …«

»Du meinst, wenn einem zum Beispiel die alte Freundin wieder gegenübersitzt?«

Constanze kniff die Lippen zusammen und wandte den Blick ab. »Das ist lange her. Lass uns einfach nicht davon reden.«

»Eigentlich war das auch mein Plan, einfach nicht daran zu denken«, gab Hannah zu. »Aber es fällt mir schwer. Vieles hier erinnert mich daran.«

»Bist du deshalb so selten hier gewesen?«

Hannah nickte schweigend. Gute Freundinnen konnten in einem lesen wie in einem offenen Buch. »Nicht nur wegen der Erinnerungen. Es ist auch wegen meinem Vater …«

»Es steht immer noch zwischen euch, was?«

»Leider ja. Er denkt nach wie vor, dass alles anders gelaufen wäre, wenn ich damals getan hätte, was er gesagt hatte.« Hannah hob die Schultern und blickte auf Constanzes Narbe. »Ist ja auch so. Letztendlich bin ich schuld, dass du …«

Constanze unterbrach sie mit erhobener Hand. »Lass es. Die Vergangenheit ist Vergangenheit, und wir können nichts daran ändern. Ich habe dir nie die Schuld dafür gegeben, das weißt du.«

Natürlich wusste Hannah das, oder besser gesagt, sie wusste, dass Constanze es versucht hatte, doch in Wahrheit war ihr das nicht gelungen. Bei ihren seltenen Besuchen hier hatte Hannah es immer gespürt. Sie hatte Schuld an dem, was geschehen war, und Constanze wusste es.

»Schaffen wir den Rest noch?« Constanze hob die Weinflasche hoch, die nur noch zu einem Drittel gefüllt war.

»Ich werde mir Mühe geben.« Hannah trank ihr Glas in einem Zug leer und hielt es ihrer Freundin hin, damit sie nachschenken konnte.

Der Rückweg erwies sich als etwas schwieriger als der Hinweg. Was zum einen daran lag, dass Hannah schon seit sehr langer Zeit nicht mehr angetrunken auf einem Fahrrad gesessen hatte – was in ihrer Jugend durchaus häufiger vorgekommen war. Das Gleichgewicht zu halten, war nicht so einfach, wie sie es in Erinnerung hatte. Vielleicht auch so ein Ding, wenn man älter wurde, sie entsann sich, dass ihre Großmutter im fortgeschrittenen Lebensabschnitt so oft vom Drahtesel gefallen war, dass sie es irgendwann aufgegeben hatte. Zum anderen hatte sich in Ostersande einiges verändert. Zurück fuhr sie durch die Nebenstraßen, wo sie sich aber zwischen den vielen Neubauten und Apartmentkomplexen rasch verirrte. Erst als sie eher zufällig zur Seebrücke zurückfand, erkannte sie den Weg wieder.

Als sie wenig später den Schotterweg nach Hause fuhr, sah sie aus der Ferne bereits das Licht, das im Nachbarhaus brannte. Das ihres Vaters lag im Dunkeln. Tobby und er waren also noch nicht zurück.

Hannah schob das Fahrrad in den Geräteschuppen, den sie anschließend hinter sich schloss.

Im Haus gegenüber konnte sie die Silhouette einer Frau ausmachen, die im Wintergarten an einem Laptop arbeitete.

Es war ein seltsames Gefühl, jemand Fremden dort zu sehen. Früher war sie in Constanzes Elternhaus ein und aus gegangen, sie waren wie Schwestern aufgewachsen.

Bis zu jenem Sommer im Jahr 1993.

Was war von ihrer unverbrüchlichen Freundschaft übrig geblieben? So wirklich hatten sie das nie herausgefunden und es wohl beide auch nicht auf die Probe stellen wollen.

Natürlich waren sie nach wie vor Freundinnen und fühlten sich einander verbunden. Neben allen beruflichen Meriten, die Hannah mit sich brachte, war es sicherlich auch ein freundschaftlicher Dienst gewesen, dass Constanze ihr die Stelle angeboten hatte.

Trotzdem.

Sich ein oder zwei Mal im Jahr zu sehen und einen oberflächlichen Kontakt zu halten, war etwas anderes, als jeden Tag miteinander zu arbeiten.

Es würde sich herausstellen, wie gut sie wirklich noch miteinander auskamen.

Hannah schloss die Haustür auf und ging hoch in ihr Zimmer. Sie sparte sich das Zähneputzen und legte sich angekleidet ins Bett. Bevor sie das Licht ausmachte, fiel ihr noch ein, dass sie ihren Töchtern eine Meldung schuldete, dass sie gut angekommen war. Sie schrieb schnell eine Textnachricht, legte das Smartphone dann auf den Nachttisch und schaltete die kleine Lampe darauf aus.

Ihr letzter Gedanke galt Tobby und ob er wohl gut mit ihrem Vater klarkam.

Sie schlief so gut wie lange nicht mehr – und wie sie es in den kommenden Tagen auch nicht wieder tun würde.

Nur konnte sie das natürlich nicht ahnen.

3

Als Hannah am nächsten Morgen erwachte, war sie für einen Moment desorientiert. Im ersten Augenblick wähnte sie sich in ihrem alten bequemen Doppelbett in ihrem Reihenhaus in Münster. Dann schlich sich schnell die Realität ein, was vor allem mit der Kälte zu tun hatte. Wobei das nicht ungewöhnlich war, denn seit Maltes tödlichem Unfall blieb die Bettseite neben ihr verwaist, und die menschliche Wärme fehlte. In diesem Fall allerdings hatte die Kälte einen ganz anderen Grund. Die Heizung schien ausgegangen zu sein, und obwohl die Tage noch angenehm warm waren, konnten die Nächte schon überraschend kühl werden – was ihr gestern auf dem Heimweg in ihrem angeschickerten Zustand gar nicht aufgefallen war, dafür nun aber umso mehr.

Hannah hob den Kopf, nur um ihn sofort wieder auf das Kissen fallen zu lassen, als ein scharfer Schmerz durch ihre Schläfen fuhr.

Willkommen in deinem neuen Leben.

Sie wartete einen Moment, bis sich das Pochen verzogen hatte, dann warf sie einen Blick ans Fußende. Dort rollte sich Tobby zusammen, was natürlich undenkbar gewesen war, solange Malte noch gelebt hatte. Doch in letzter Zeit hatte Hannah die tierische Wärmflasche zu schätzen gelernt. Außerdem fühlte sie sich dann nicht so alleine.

Schließlich gab sie sich einen Ruck, rieb sich den Schlaf aus den Augen und rollte sich auf die Seite, um nach dem Smartphone auf dem Nachttisch zu greifen. Es lag neben den beiden Fotos, die sie dorthin gestellt hatte. Das eine zeigte ihre Töchter Nele und Inken. Die Zwillinge, die sich glichen wie ein Ei dem anderen und die ihre Abstammung nicht verleugnen konnten. Das lockige braune Haar, die braunen Augen und dieselben Sommersprossen wie ihre Mutter. Das andere Bild zeigte Malte an seinem Lieblingsort, der Küche seines Restaurants. Er trug seine Kochuniform mit Mütze, und seine blauen Augen strahlten in die Kamera.

Hannah fuhr mit der freien Hand über Maltes schmales Gesicht mit dem Dreitagebart. Dass sie ihn nie wieder berühren, nie wieder liebkosen, nie wieder ein Wort mit ihm wechseln würde, damit hatte sie sich noch immer nicht abgefunden.

»Guten Morgen, mein Liebster«, flüsterte Hannah. »Du fehlst mir.«

Ihr schwindelte leicht. Sie schloss die Augen und atmete einen Moment lang tief durch, bevor sie einen Blick auf ihr Smartphone warf.

Nele und Inken hatten ihr geantwortet.

Wie ist es?, fragten die Zwillinge. Und wie geht es Opa?

Hannah warf einen Blick auf die Uhr. Kurz vor sechs. In einer Stunde musste sie den Dienst antreten.

Sie drehte sich auf den Rücken und blickte zu der schrägen Decke hinauf. In ihrer Jugend hatte dort einmal ein Poster von Bryan Adams gehangen.

Ihre Eltern hatten ihr altes Zimmer schon vor Jahrzehnten für Gäste hergerichtet. Ein Doppelbett, ein Schrank, ein altes Sofa. Spartanisch, aber zweckmäßig.

Hannah begann mit den Daumen auf dem Smartphone zu texten.

Opa war gestern nicht sehr gesprächig …

Sie hielt inne.

Das war zwar maßlos untertrieben, doch sie wollte nicht, dass ihre Töchter sich unnötig Sorgen machten. Sie hatten ihr eigenes Leben, ihre eigenen Probleme. Hannah löschte den Text und schrieb stattdessen: Alles gut hier. Opa geht es prima.

Sie fügte ein Smiley hinzu.

Dann legte sie das Smartphone wieder auf den Nachttisch und setzte sich auf. Als ihre Füße die kühlen Bodenfliesen berührten, bekam sie augenblicklich Gänsehaut.

Sie zog sich Socken an. Erst jetzt bemerkte sie die Staubflocken, die an ihren Fußsohlen klebten. Sie kniff die Augen zusammen. Die Fliesen waren mit einer Staubschicht bedeckt, was bei näherem Hinsehen auch für die Möbel im Zimmer zutraf. Sie schüttelte den Kopf und schlüpfte in die Hausschuhe. Dann schlich sie hinaus auf den Flur. Hier oben gab es neben ihrem alten Zimmer nur das Schlafzimmer ihres Vaters und das Bad. Eine steile Holztreppe führte hinunter ins Erdgeschoss. Kaffeegeruch drang herauf.

Die Kate befand sich schon seit Generationen im Familienbesitz. Ihre Großeltern hatten sie einst einem Fischer abgekauft.

In Hannahs Kinderjahren hatte ihre Großmutter ebenfalls hier gewohnt. Unten gab es neben der Küche noch ein Wohnzimmer und ein kleineres Zimmer, das man an heutigen Verhältnissen gemessen als bessere Abstellkammer bezeichnen würde. Dort hatten Omas Bett und ein Kleiderschrank gestanden. Sie war ein bescheidener und ebenso geselliger Mensch gewesen, weshalb sie die meiste Zeit – solange das ihre Gesundheit noch zuließ – ohnehin außer Haus verbracht hatte, etwa, um im Café den neuesten Tratsch auszutauschen oder sich mit Freundinnen zum Skatspiel zu treffen.

Hannah machte sich fertig und stieg dann die Treppe hinunter. Die Holzstufen knarzten.

Sie fand ihren Vater am Küchentisch, vor sich einen Pott Kaffee, die Nase in die Tageszeitung vertieft.

Tobby, der längst nach unten gelaufen war, fraß zu seinen Füßen von einem Teller.

Hannah kniff die Augen zusammen. »Ist das etwa Rührei mit Schinken?«

Ihr Vater lugte über den Rand der Zeitung. Die Haare hatte er sich noch immer nicht gewaschen, aber zumindest zu einem dünnen Seitenscheitel über seine Glatze gekämmt. Außerdem trug er dieselben Sachen wie gestern. »Guten Morgen.«

Hannah deutete auf ihren Hund und wollte ihre Frage wiederholen, ließ es dann aber bleiben. Stattdessen kniete sie sich hin, nahm Tobby den Teller weg und warf das Essen in den Müll.

»Das ist Verschwendung«, kommentierte ihr Vater. »Der Hund kann die Reste essen.«

»Wenn du nicht möchtest, dass er Durchfall bekommt und hier alles vollkackt, solltest du schnell lernen, was er nicht verträgt.«

»Es hing keine Gebrauchsanweisung an seinem Halsband«, erwiderte er. »Außerdem hoffe ich für dich, deine Kinder sprechen in einem anderen Tonfall mit dir.«

»Sie sprechen, wie es der Situation angemessen ist.« Hannah deutete mit einem Nicken auf Tobby. »Jedenfalls würde ich mich freuen, wenn er abends noch lebt, wenn ich nach Hause komme.«

Ihr Vater zog eine überraschte Miene. »Soll das bedeuten, du lässt ihn hier?«

»Was denn sonst, ich kann ihn ja schlecht mit auf die Wache nehmen. Tobby wird dir keinen Stress machen.«

»Ich habe Besseres zu tun, als auf den Hund aufzupassen.«

»Und das wäre?«

»Dinge.«

»Du meinst Dinge wie den ganzen Abend bei Freunden herumlungern?« Hannah stemmte die Hände in die Hüften. »Wo warst du wirklich?«

»Wir hatten gestern etwas besprochen, falls du dich erinnerst.«

»Du warst in der Kneipe, richtig?«

Ihr Vater widmete sich wieder demonstrativ seiner Zeitung. »Ich kann nicht auf den Hund aufpassen. Ich muss nachher auch weg.«

»Tatsächlich? Wichtige Verabredungen, ja? Wie wäre es, wenn du stattdessen mal den Garten machst, Staub wischst oder … dich rasierst und dem Friseur einen Besuch abstattest?«

»Zu teuer. Außerdem hörst du dich an wie deine Mutter.«

»Vielen Dank.«

»An meinem Aussehen hat sich bisher niemand gestört. Ich bin alleine hier.«

»Jetzt nicht mehr.«

»Leider.«

»Der Tag fängt ja prima an.« Hannah nahm sich eine Tasse aus dem Küchenschrank, ging zur Kaffeemaschine, schenkte sich ein und trank einen Schluck.

Ihr Ärger verrauchte fast augenblicklich.

Tatsächlich tat es ihr leid, dass sie so harsch zu ihrem Vater gewesen war. Manchmal brannten die Emotionen mit ihr durch, und von denen gab es bezüglich ihres alten Herrn eine ganze Menge – gute wie schlechte.

In ihrer Kindheit war er ihr Held und sie beide ein Herz und eine Seele gewesen, manchmal zum Leidwesen ihrer Mutter, die gerne ein strengeres Regiment geführt hätte. Allerdings hatte Hannah es, wie vermutlich die meisten Töchter, verstanden, ihrem Herrn Papa mit einem Augenaufschlag das Herz zum Schmelzen zu bringen und fast jeden Wunsch erfüllt zu bekommen.

Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, als sie sein Vertrauen missbraucht hatte. Mit furchtbaren Konsequenzen.

Es bestand überhaupt kein Zweifel daran, dass es ihre Schuld gewesen war, und sie hatte sich entschuldigt. Was aber natürlich nicht gereicht und schon gar nichts wiedergutgemacht hatte. Vater war völlig im Recht gewesen, als er ihr eine Standpauke gehalten hatte.

Nur hatte Hannah nicht gedacht, dass dieser Groll ein Leben lang anhalten und ihre Beziehung nie wieder dieselbe sein würde.

Dabei hatte es manche Gelegenheit gegeben, zu verzeihen und aufeinander zuzugehen. Etwa am Grab ihrer Mutter.

Doch ihr Vater war hart geblieben.

Und deshalb … So gerne Hannah sich auch umgedreht, sich für die schroffen Worte entschuldigt und ihn in den Arm genommen hätte, sie konnte es nicht.

Durch das Sprossenfenster über der Anrichte sah sie das Nachbarhaus. Im Wintergarten saß wieder die Frau, diesmal konnte Hannah sie besser erkennen. Sie hatte rotes Haar und schien zu frühstücken. Sie hatte Hannah ebenfalls bemerkt, sah kurz herüber, widmete sich dann aber wieder ihrem Laptop, der auf dem Tisch vor ihr stand.

Hinter sich hörte Hannah, wie ihr Vater die Zeitung raschelnd zusammenfaltete. »Tut mir leid«, murmelte er. »War nicht so gemeint.«