Mörderische Literaturwerkstatt - Stephan Steinbauer - E-Book

Mörderische Literaturwerkstatt E-Book

Stephan Steinbauer

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Beschreibung

August Pauspertl hat mit Literatur nicht viel zu schaffen. Um das zu ändern, bucht ihm seine Frau einen Platz in der renommierten "Literaturwerkstatt" an der Wilhelmspfalz. Dort soll der Bankangestellte mit fünf anderen Gästen lernen, wie man Krimis schreibt. Dass er dabei selbst in einen Mord verwickelt wird, ahnt er zu diesem Zeitpunkt freilich nicht. Schon bei der Ankunft zeigt sich die Wilhelmspfalz als geheimnisvoller Ort, der von sonderbaren Gestalten bewohnt wird. Hier ist nichts, wie es scheint: Um Hausherr Emanuel, dessen Mutter, Kursleiter Marionet, Verleger Klöterbock und den fast hundert Jahre alten Gärtner spinnen sich jede Menge Neid, Missgunst und Intrigen... Was wie ein harmloser Autorentreff in der Herrschaftsvilla beginnt, entpuppt sich als mörderischer Wettlauf gegen die Zeit!

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Stephan Steinbauer

Mörderische Literaturwerkstatt

Dachbuch Verlag

1. Auflage: September 2021Veröffentlicht von Dachbuch Verlag GmbH, Wien

ISBN 978-3-903263-40-6EPUB ISBN 978-3-903263-41-3

Copyright © 2021 Dachbuch Verlag GmbH, WienAlle Rechte vorbehalten

Autor: Stephan Steinbauer

Lektorat: Nikolai Uzelac, Georg KarstKorrektorat: Rotkel e. K.Satz: Daniel UzelacUmschlaggestaltung: Katharina NetolitzkyUmschlagmotiv: 1000 Words/Shutterstock.comDruck und Bindearbeiten: Rotografika, SuboticaPrinted in Serbia

Besuchen Sie uns im Internetwww.dachbuch.at

Alle Personen, Namen, Schauplätze und Ereignisse in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit natürlichen oder juristischen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Barbara

Wir wären gut, anstatt so roh,

doch die Verhältnisse, die sind nicht so.

- Bert Brecht, Dreigroschenoper

PrologDie letzten Minuten im Partykeller, Sonntag, 17:42 Uhr

»Oh my god! Wie das prickelt! So schööön! Und der Schaum!«

Ich spritz dich voll, Dickerchen! Schau nicht so abgestochen. Macht doch Spaß, oder? Lach doch mal. Hast es ja so gewollt. Wie gut, dass du meine Gedanken nicht lesen kannst. Und? Bist wohl erstaunt, wie schnell ich Ja gesagt hab. Bist erstaunt, dass ich Spaß haben will. Nicht nur du willst Spaß. Ich will Spaß. Ich. Ich bin eben nicht so wie die anderen Mädels, so gesittet, so wohlerzogen, so angepasst. Ich bin ein ganz spezielles Exemplar meiner Gattung. Damit mussten sie alle klarkommen, meine Eltern, meine Lehrer, meine Klassenkameradinnen und die ganzen Herren der Schöpfung, die meinen Weg kreuzten.

»Ja … so! … Uhh!«

Nur nicht so schüchtern, Dickerchen! Bist etwas ungeschickt. Wüsstest wohl gerne, was ich jetzt so denke, in Wirklichkeit denke, über mich und über dich und über das ganze Affentheater hier um uns herum. Aber ich kann mich verstellen, konnte ich immer schon. Jetzt schau nicht schon wieder so streng. Macht doch nix, wenn ich was vom Schampus verschütte. Schampus-Bad, voll geil. Zieh keine Schnute, ist doch genug da. Feinste Marke, französisch, vegan, sauteuer, aber du hast es ja, Dickerchen. Ja, du hast es. Und deswegen hast du mich. Mach dir nix vor, du alter Sack. Wegen deiner sexy Figur hätt ich nie …

»Uhh! Nicht so stürmisch … langsam … jaa … so ist es besser!«

Nee, wegen deiner sexy Figur hätt ich nie Ja gesagt, nicht gleich und nicht später. Aber das weißt du doch. Ist dir nicht neu. Überrascht dich nicht. Ich geb dir was, und du gibst mir was. Win-win. Eine Hand wäscht die andere ... Ich schweife ab. Liegt wohl am Nase-Pudern, am Koks, am Schnee. Meine Gedanken wandern, das Zeug macht glücklich. Aber du, Dickerchen, du musst dir schon mehr Mühe geben, mich glücklich zu machen. Streng dich an, sonst bin ich nicht bei der Sache. Nächsten Mittwoch, bei deinem Verlegerstammtisch, da willst du doch nicht verlegen rumsitzen, du Verleger, da brennst du doch drauf, deinen Kumpels zu erzählen, wie du als bockstarker Kerl mich geile Tussi in Ekstase gebracht hast, oder? Also: Mehr Schwung! Mehr Rhythmus! Aber zärtlich, mit Gefühl! Ich zeig’s dir.

»Sooo! … Siehst du? … Sooo!«

Manno! Bist du ein schwieriger Fall, bisschen steif in den Hüften. Aber okay. Sollst auf deine Kosten kommen. Und deshalb mach ich ein verzücktes Gesicht, verdreh die Augen, seufze, hechle, japse, quietsche, wie die anderen Chicas hier auch. Die wissen es, und ich weiß es: Wir haben einen Deal. Ja, du alter Sack. Wir haben einen Deal. Du und ich. Ich bin nett zu dir, und du, du bringst mich groß raus. Hast du versprochen. Großes Verleger-Ehrenwort. Mein Roman – Hardcover, erste Auflage zehntausend Stück, mindestens. Spitzentitel im Katalog, Präsentation auf der Buchmesse, Interview mit dem Kulturfuzzi vom TV, dann hymnische Rezi im Feuilleton der Qualitätspresse. Das besorgst du mir, hast du versprochen, Ehrenwort …

»Uhh … jaa … hahaha!«

Gut so? Ich merk schon: Du bist leicht zu befriedigen, Dickerchen. Ich nicht. Nicht mit deinem Popel-Verlag. Aber für den Anfang, als erste Sprosse auf der Himmelsleiter, geht’s grad so. Irre komisch, wie du hier den großen Maxe spielst. Doch mir machst du nichts vor. Für meinen Geschmack bist du zu bieder, du Provinz-Heini. So bieder wie deine Hintergrundmusik hier: Helene mit Atemlos-durch-die-Nacht. Nicht mein Stil. Das soll uns Mädels in Schwung bringen? Naja, wenigstens das Wasser im Pool ist schön warm und blubbert und sprudelt und schäumt so anregend.

»Hoppla!«

Täusche ich mich, oder hat mich da gerade ein kalter Luftzug gestreift? Hast du das Fenster offen gelassen? War da ein Geräusch? Schritte? Die Musik ist so laut. Ach was, wird nichts gewesen sein. Die anderen haben auch nichts gehört. Ich darf mich nicht ablenken lassen. Weitermachen! Tja, Dickerchen, ich bin eben gut, ich kenne mein erotisches Kapital. Und das setz ich ein, gnadenlos, atemlos durch die Nacht, wenn’s sein muss. Machen andere doch auch. Ich bin noch jung, habe Ziele: Literaturpreis – nicht Longlist, nicht Shortlist – Spitzenplatz, den Sieg will ich. Dann Stipendien, Inselschreiberin von Sylt, Strand-Lesungen in Marbella und Miami. Immer höher hinaus, so lang es geht. Vielleicht der Nobelpreis, warum nicht? Schleimen kann ich auch literarisch. Ich find schon den richtigen Ton und die angesagten Themen.

Na so was, Dickerchen, ein Luder würdest du mich nennen, wenn du meine Gedanken lesen könntest? Ein berechnendes, durchtriebenes, karrieregeiles Luder? Na und? Ich bin eben nicht so, wie ihr Männer euch Frauen wünscht: bescheiden, gehorsam, unterwürfig. Du weißt doch: Brave Mädchen kommen in den Himmel, böse Mädchen kommen überallhin. Und ich bin sehr böse, merkst du bloß nicht, du notgeiler Bock. Ich will ganz nach oben. Dafür gebe ich alles! Na, lass uns noch einen Schluck Schampus trinken. Prost, wir trinken auf mich, auf meine Zukunft! Auf meine rosige … goldene … Oh my god! Was ist denn das? Wo kommt diese traurige Type plötzlich her? Wie kann diese Vogelscheuche denn herein zu uns, hast du nicht abgeschlossen, Dickerchen? Gehört das etwa zu deinem Programm? Na warte!

»Hört auf mit dem Gekreische, Mädels! Das gehört zum Programm! Wir ziehen eine Show ab. Das erwarten die von uns! Da kommt uns die Vogelscheuche doch grade recht. Schaut nur, was diese taube Nuss für ein verlegenes Gesicht macht! Puterrot angelaufen, Stielaugen, sabbert sich den Latz voll. Kommt, Mädels! Atemlos!«

Wie sie schaut, wie sie glotzt, diese eingetrocknete Spaßbremse! Wir haben’s drauf. Wenn’s drauf ankommt, können wir nicht nur literarische Wunderwerke schaffen.

»Glotz nur her, geil dich auf! Heute sind wir großzügig, Zuckerschnütchen. Pass bloß auf, dir fallen ja gleich die Augen raus, Hasimausi! Mund zu, Knuddelchen, es zieht. Ich lach mich weg. Schaut nur, wie die Schlumpfmütze sich ärgert! Weiter, Mädels! Wir zeigen noch mehr, los, stehen wir auf. Dickerchen, mach Platz! Da, schau nur genau her, Hummelchen, hier ist der Honigtopf, du Schlumpfmützchen.«

Oh my god! Wie peinlich mir das ist. Aber was haben wir schon im Lateinunterricht gelernt? Per aspera ad astra – der Weg hinauf zu den Sternen ist hart und steinig.

»Na, schon genug geglotzt? Hat’s dir nicht gefallen? Schaust ja so griesgrämig. Oh my god! Was machst du? Was tust du mit dem Stromkabel? Bist du irre? Leg das weg! Tu das Kabel weg! Willst du uns …«

Dickerchen, unternimm doch was! Rette uns! Oh my …

1Freitagnachmittag

Eigentlich wollte ich einen Kriminalroman schreiben. Schreiben, wohlgemerkt, nur schreiben, nicht erleben … Ach, Verzeihung! Wie unhöflich. Ich vergaß, mich vorzustellen.

Mein Name ist Pauspertl. August Pauspertl. 48 Jahre alt, Nichtraucher, gelegentlich auch Nichttrinker, katholisch, verheiratet, zwei Kinder, die auswärts studieren. Meine Nachbarn und Kollegen halten mich für einen Spießer. Vielleicht stimmt es ja, was soll‘s. Meinen Migrationshintergrund stelle ich mal nicht in den Vordergrund; nur nebenbei gesagt, ich komme aus Bayern. So einen wie mich duldet jeder in einer Reihenhaussiedlung gern als Nachbarn, sogar hier nördlich des Weißwurstäquators, im flachen, kargen Land der Sturmfesten und Erdverwachsenen, wohin der Beruf mich verschlagen hat.

Beruflich bin ich nämlich Mitarbeiter eines bayerischen Kreditinstituts, dessen Manager einst beschlossen haben, das Geschäftsgebiet nordwärts auszudehnen. Den Namen unterschlage ich, ich will hier keine Schleichwerbung machen. Jedenfalls hielt mein Chef mich für würdig, die drögen Nordlichter in unserer neuen Filiale mit meiner segensreichen Anwesenheit zu beglücken, um ihnen zu zeigen, wie Gewinne generiert werden, mit Laptop und Lederhose. Kurz, mein Chef machte mir ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte, und so übersiedelte ich samt familiärem Anhang vom südlichen Alpenvorland in die norddeutsche Tiefebene.

Mein Arbeitsplatz ist im Backoffice, also quasi unsichtbar für die Kunden. Unsichtbar für jedermann, sollte ich sagen. Das war immer schon so. Natürlich bin ich nicht wirklich unsichtbar, aber ich werde meist übersehen. Es kommt mir oft so vor, als wäre ich mit einer Tarnkappe auf dem Kopf zur Welt gekommen. Bereits als Knirps, im Turnunterricht, wenn wir in Reihe Aufstellung nahmen, damit die beiden sportlichen Alphatiere unserer Klasse – Alois und Franz – ihre Fußballmannschaften zusammenstellen konnten, haben die beiden mich nie freiwillig ausgewählt. Die forschenden Blicke der Mannschaftsführer dribbelten um mich herum, ohne mich wahrzunehmen, umzirkelten mich leichtfüßig, um schließlich doch ins Abseits zu rennen. Am Ende wurde ich nämlich jener Mannschaft zugeteilt, in deren Reihe noch ein Spieler fehlte. Ich, der Unsichtbare, der stets Übersehene, das Füllsel. Dabei kam mir diese Eigenschaft sehr zupass, denn sobald ich mir einmal den Ball vom Fuß eines unaufmerksamen Gegners gespitzelt hatte, hielt mich nichts mehr auf. Auf mich achtete ja keiner. Spielend trickste ich die komplette gegnerische Abwehr aus und schob den Ball am Goalie vorbei ins Tor. Mein Treffer wurde dann regelmäßig unserem Mittelstürmer zugesprochen, einem lauffaulen elefantösen Einfaltspinsel, der so lange regungslos im gegnerischen Strafraum herumlümmelte, bis ich das Tor erzielte. Dann riss er die Arme hoch, stieß einen affenartigen Urschrei aus, rannte drei Schritte in Richtung Eckfahne, schmiss sich auf die Knie und rutschte ein paar Meter über den Rasen, während sich die übrigen Mannschaftskameraden über ihn warfen und seinen Astralleib mit Küssen bedeckten.

Die Jahre vergingen, die Pubertät ließ Pickel, Bartstoppeln und Schamhaare sprießen, mein Körper erreichte Normalmaß, in der Länge ebenso wie in der Breite. Dennoch blieb ich so ziemlich unsichtbar. Besonders für die Damenwelt. Und wenn ich der einzige Mann auf Erden gewesen wäre, die Ladys blickten durch mich hindurch. In der Tanzschule, bei der Damenwahl, schlug das Schicksal dann aber doch völlig unvorhersehbar zu: Wie ein Hornissenschwarm im Angriffsmodus waren die hippen Girlies auf Kommando hin über die coolen Typen im Tanzsaal hergefallen. So stand ich am Ende noch solo da. Plötzlich bemerkte ich eine junge Dame, die abseits des Pulkes der hippen Girlies stehen geblieben war. Sie fixierte mich mit einem Blick, dem nichts und niemand zu entkommen vermochte. Sie steuerte zielstrebig auf mich zu, ergriff meine Hand – und hat sie bis heute nicht losgelassen.

Nun sollte ich auch erklären, wie ein Mensch wie ich in eine Literaturwerkstatt gelangte. Während meine Gattin – sie ist Grundschullehrerin in der nahen Kreisstadt Hoppstede – auch nach dem Unterricht stets zu tun hat, in Haus und Garten, bin ich nach Feierabend eher der beschauliche Typ. Ich habe kein Hobby. So kommt es, dass ich den emsigen Bemühungen meiner Gattin, Fußböden, Fensterscheiben, Gardinen, Regale, Lampenschirme, Bettvorleger und dergleichen mehr zu säubern, einfach nur im Wege bin. Ich stehe herum, sitze herum, schlurfe von einem Zimmer ins andere, ziellos, beschäftigungslos, nutzlos.

Die im Grunde genommen eher eigennützige Aufforderung meiner besseren Hälfte, mir doch eine Beschäftigung zu suchen, blieb bis vor Kurzem völlig erfolglos. Eines Tages jedoch meldete sich eine ehemalige Schulfreundin meiner Gattin. Ein gütiges Schicksal in Person ihres Ehemannes, eines toskanischen Winzers, hatte sie in sonnige Gefilde verschlagen. Nun wollte sie auf ihrer Urlaubsfahrt an die Nordsee – Sylt natürlich – übers Wochenende bei uns Station machen. Sie reiste ohne ihren Ehegespons. Ein Mädels-Weekend schwebte ihr vor. Erinnerungen auffrischen und – hier sollte man sich keine Illusionen machen – über die angetrauten Mannsbilder kräftig ablästern.

Klar, dass meine Anwesenheit bei diesem trauten Kränzchen nur stören konnte. Ich musste entsorgt werden, irgendwie. Mein Vorschlag, die Kinder an ihrem Studienort zu besuchen, prallte ab an deren ehernem Widerwillen, den sie verlegen mit äußerst durchschaubaren Gegenargumenten zu camouflieren versuchten – kein Schlafplatz in der Bude, dringende Lerngruppensession, da entscheidende Examensarbeiten in der kommenden Woche anstanden, und dergleichen.

»Gut, dass ich schon vor Jahren die Lokalzeitung abonniert habe, den Neuen Blusterwaldboten«, freute sich meine Gattin und fand auch bald die Lösung für ihr Problem. Unter der Rubrik »Veranstaltungshinweise« wurde da geworben für ein Wochenendseminar mit Vollpension, eine Schreibwerkstatt für literarisch Interessierte. Wer sonst keine Interessen hat, so dachte meine Gattin, sollte wenigstens der Literatur aufgeschlossen gegenüberstehen, sofern er des Lesens und Schreibens mächtig ist. Da sie fand, dass dies auf mich zutraf, meldete sie mich kurzerhand an, ungeachtet der stolzen Teilnahmegebühr in dreistelliger Höhe. Ihr Mädels-Weekend war es ihr wert.

»Was soll ich denn in einer Schreibwerkstatt?«, wagte ich noch einzuwerfen.

»Du brauchst dringend ein Hobby«, beschied mich meine Gattin. »Und schreiben kann jeder.«

»Ich bin Banker, ich schreibe Zahlenkolonnen und Geschäftsbriefe, keine Literatur.«

»Dann schreibst du jetzt eben einen Krimi. Bei deiner Bank sitzt du doch an der Quelle, da müssten die Einfälle nur so sprudeln. Denk doch einfach an deinen Chef Zumbichl, diesen Psycho, der den ganzen Tag Organigramme zeichnet. Oder an den Kollegen mit der Liebstöckelallergie. Der Liebstöckel-Mord – das wäre doch ein guter Titel?«

Ich hatte keine Lust, mich auf eine Diskussion einzulassen, die ich ohnehin schon verloren hatte, und fügte mich. Ein kleiner Koffer war schnell gepackt, und an einem von der milden Herbstsonne vergoldeten Freitagnachmittag im September machte ich mich auf den Weg. Natürlich nicht, ohne mich vorher mit einem innigen Kuss von meiner geliebten Gattin verabschiedet zu haben. Ehrensache.

So – ich habe mich höflich vorgestellt, jetzt fange ich noch einmal von vorne an mit meinem Bericht:

Eigentlich wollte ich einen Kriminalroman schreiben. Schreiben, wohlgemerkt, nur schreiben, nicht erleben. Das Rüstzeug zu dieser mir aufgezwungenen Freizeitbeschäftigung sollte ich auf der Wilhelmspfalz erwerben.

Die Wilhelmspfalz ist – durchaus nicht nur nach eigenen Aussagen – das renommierteste Kulturzentrum unserer Region. Das Anwesen liegt oberhalb der Ortschaft Volkersrode auf dem Gipfel einer Anhöhe, dem Nissenkogel. Dieser ist der östlichste Ausläufer einer mittelgebirgigen Hügelkette, die den Namen Blusterwald trägt. »Hinter dem Bluster wird es duster«, sagt man hierzulande. Ich möchte hinzufügen, dass es auch vor dem Bluster nicht wesentlich heller ist, aber das nur nebenbei. Ringsum erstreckt sich Flachland, so weit das Auge reicht. Rübenäcker, Maisfelder, Rinder-, Pferde- und Schafweiden.

Von Volkersrode aus – einem etwas aus den Nähten geplatzten Dorf mit Bahnanschluss, Kirche, Grundschule, Apotheke, Supermarkt und zwei Ärzten – kann man die Wilhelmspfalz nicht sehen. Sie versteckt sich hinter einem Buchenwald, durch den sich eine schmale geteerte Straße in engen, aber mäßig steilen Serpentinen den Hang emporschlängelt. Oben mündet die Fahrstraße gegenüber vom Eingang der Wilhelmspfalz in einen Wanderparkplatz. Von hier aus brechen zünftig in Kniebundhosen und Lodenjanker gewandete Gruppen von Naturfreunden gerne zur sonntäglichen Blusterwald-Kammwanderung auf, nachdem sie ihren chromblitzenden Geländewagen die unvermeidlichen Nordic-Walking-Stöcke und die Feldflasche mit der Bionade entnommen haben.

An diesem Freitagnachmittag aber, als ich den Gipfel des Nissenkogels erreichte, war der Parkplatz leer. Ich sah auf die Uhr. Natürlich, ich war zu früh dran, wie immer. Noch über dreißig Minuten bis zum Einchecken am Empfangstresen der Literaturwerkstatt. Im Auto sitzen zu bleiben, dazu hatte ich keine Lust. Warum sollte ich nicht ein halbes Stündlein früher erscheinen? Hier auf der Wilhelmspfalz wimmelt es von feingeistigen Menschen, durchdrungen von Kunstsinn, Bildung und Humanität, dachte ich, da wird die Lappalie meiner verfrühten Ankunft kein Problem darstellen. Ich schnappte also meinen kleinen Koffer, schloss den Wagen ab und begab mich an die Pforte dieses Tempels der Hochkultur.

Die Wilhelmspfalz ist umgeben von einer übermannshohen Mauer aus solidem Kalksandstein, der hier am Blusterwald in früheren Zeiten in zahlreichen Steinbrüchen gewonnen wurde. Ein ebenso hohes, zweiflügliges Eichenholztor, gitterartig belegt mit vergoldeten Jugendstil-Ranken aus meisterlich geschmiedetem Metall, lässt den Besucher darauf schließen, dass die Gründer dieses Anwesens nicht nur über erlesenen Geschmack, sondern auch über ein erlesenes Bankkonto verfügt haben.

In einen massiven Torpfeiler aus Sandstein war eine Gegensprechanlage samt dem Auge einer Überwachungskamera eingelassen. Ich drückte den Klingelknopf und blickte mit freundlicher Miene in die Kamera. Es dauerte eine Weile, ehe im Kameraauge das Licht anging, der Lautsprecher knackte und die Stimme einer älteren Dame mit »Ja, bitte?« nach meinem Begehr fragte. Ich stellte mich höflich als Teilnehmer der Literaturwerkstatt vor. »Einlass um siebzehn Uhr!«, krächzte es aus dem Lautsprecher, der zum Abschluss noch einmal boshaft knackte, dann erlosch das Licht der Kamera, und ich stand wie der sprichwörtliche Ochs vor dem Tor.

»Lässt sie dich nicht rein?«

Erschrocken fuhr ich herum. Lautlos hatte sich ein alter Mann herangeschlichen. Er schob ein E-Bike, wie ich, ich gebe es zu, neidvoll feststellte. Der Alte war von drahtiger Statur. In seiner Jugend war er wohl an die zwei Meter groß gewesen. Jetzt ging er gebückt. Sein hellgraues Haar umflatterte ein schmales bartloses Gesicht, aus dem eine Raubvogelnase hervorsprang. Er war bekleidet mit einer grüngrauen Arbeitskluft aus strapazierfähigem Leinen, dazu trug er klobige schwarze Halbstiefel.

»Ich bin hier der Werner«, setzte er seine Ansprache fort, nachdem ich ihn nur stumm gemustert hatte.

Ich gehöre nicht zu den Menschen, die jedermann gleich duzen. Aber aus der Information, dass er der Werner sei, schloss ich, dass hier im Tempel der Hochkultur das trauliche »Du« üblich ist. Ich fragte also: »Gehörst du auch zur Wilhelmspfalz?«

Werners graue Augen begannen zu leuchten. Er fletschte sein Gebiss, an dem jeder Zahnarzt ein kleines Vermögen verdienen hätte können. Es geschah wohl nicht oft, dass sich jemand für seine Person interessierte. Dabei – dies war nicht zu übersehen – brannte er darauf, ein paar Worte loszuwerden. Vielleicht auch ein paar mehr.

»Komm mit, hast ja noch Zeit«, sagte er, wandte sich um und schob sein Rad entlang der Parkmauer ein Stück hangabwärts. »Um die Ecke ist mein privater Eingang. Bist mein Gast. Die Hexe wird sich fuchsen; soll sie!«, rief er mir über die Schulter zu.

Ich folgte ihm. Die Parkmauer bog rechtwinklig ab von der Fahrstraße. Wir sprangen über einen schmalen Graben und stapften einen ausgetretenen Pfad zwischen Mauer und Waldsaum entlang, bis Werner an einer unscheinbaren hölzernen Pforte hielt. Er holte einen Schlüssel aus der Hosentasche und schloss auf. »Der Eingang für das Personal«, erklärte er mit leicht ironischem Unterton, ließ mich eintreten und versperrte die Tür von innen.

Vor mir erstreckte sich ein gepflegter Park im englischen Stil. Der leicht ansteigende Hang des Anwesens war bedeckt von einem akkurat geschnittenen Rasen. Raffiniert angeordnete, von blühenden Blumenreihen umsäumte Büsche von Rhododendren, Buchs und Eiben schufen Sichtachsen auf uralte Bäume, heimisches Gehölz ebenso wie wertvolle Exoten. Es war das Meisterstück eines Landschaftsarchitekten, vor mehr als hundert Jahren erschaffen.

Am Ende einer Sichtachse, oben auf der Kuppe, erspähte ich den schmalen Ausschnitt einer herrschaftlichen Villa. Die Wilhelmspfalz. Das imperiale Gelb der verputzten Fassade leuchtete in der nachmittäglichen Herbstsonne. Niemand war zu sehen.

Werner ließ mir keine Zeit, mich länger am Anblick des Parkes zu erfreuen. Er führte mich durch einen Laubengang auf ein kleineres Gebäude zu. »Das Gärtnerhaus«, sagte er, stellte sein Rad ab und deutete auf eine gusseiserne Bank, die neben dem Eingang stand. »Setz dich!«

Auch wenn es nur ein Gärtnerhaus war, so machte es dem herrschaftlichen Anwesen durchaus Ehre – ein ebenerdiger Fachwerkbau, überwölbt von einem hohen, weit vorspringenden Walmdach mit zwei breiten Gauben. Die strenge Symmetrie der Fassade – das in der Mitte gelegene Tor war eingerahmt von je drei Fenstern – wurde aufgelockert durch verspielte Details, farblich hervorgehobene Schnitzereien an den Eichenbalken, florale Verzierungen am Türblatt und dezente Ornamente an den Kanten und Ecken der blütenweiß verputzten Fächer. Über dem Türstock war die Jahreszahl 1910 in den Balken eingeschnitten, flankiert von zwei gelb lackierten sechszackigen Sternen.

Ich nahm Platz neben Werner. »Hast du was zu rauchen für mich?«, fragte er, und nachdem ich mich unter Bedauern als Nichtraucher zu erkennen gegeben hatte, zog er seufzend eine zerdrückte Packung aus seiner Jackentasche, nestelte ein Feuerzeug hervor und steckte sich einen Glimmstängel an.

»Ob ich auch zur Wilhelmspfalz gehöre?«, begann er, nahm einen Zug, sog ihn tief in seine Lunge ein und blies den Rauch genüsslich in die Luft. »Schätz mal, wie alt ich bin!«

Ich musterte Werner von der Seite. »Anfang achtzig?«

Er schnaubte lachend. »Tu noch mal zehn Jahre drauf, dann kommt’s hin. Da staunst du, was?« Er hüstelte und inhalierte den nächsten Zug.

Und danach war der Strom seiner Erzählung nur noch zu unterbrechen, wenn er sich eine neue Zigarette anzündete. Werner, mit Nachnamen Schmidtke, war der neunte und letzte Sohn einer Familie von Kleinbauern. Sein Vater, ein Säufer, verstarb, als Werner fünf Jahre alt war. »Im Jahr ’33 war das, als sie hier in der Gegend alle den Adolf feierten.« Werner vollführte zu diesen Worten mit seiner Hand, in der er die brennende Zigarette hielt, einen schwungvollen Bogen durch die Luft. Ein Lächeln huschte über sein Antlitz. Ein paar Sekunden schmeckte er seiner Bemerkung nach und betrachtete die verwehende Rauchfahne, ehe er mit seiner Lebensgeschichte fortfuhr.

»Nach Vadders Tod kriegte Mutter uns neun Blagen nicht mehr satt. Die fünf ältesten schickte sie weg in die Stadt, in die Möbelfabriken, selber was verdienen. Blieben noch vier Burschen. Sie ging putzen, auch hier oben auf der Wilhelmspfalz. Wie sie’s anstellte, weiß ich nicht, aber irgendwie schaffte sie es, dass sie alle verbliebenen Bengel bei ihren Putzstellen in Kost geben konnte. So kam ich Ende ’34 mit sechs Jahren hierher auf den Nissenkogel zum Wilhelm. Müller hieß er, der Wilhelm, er war Tischler. Und ein richtiger Mann! Stark, energisch, streng, aber gerecht. Der konnte zupacken. Jede Gelegenheit beim Schopf packen, das konnte er. Hat sich von ganz unten hochgeboxt, als einfacher Tischler! Die Wilhelmspfalz hier, also damals hieß sie noch nicht so, also das ganze Gelände hier mit Park und Villa und Gärtnerhaus, das hat der Wilhelm im Sommer ’34 gekauft. Den Steinbruch dort hinten im Park und die Stuhlfabrik in der Stadt auch. Ein Unternehmer von echtem Schrot und Korn.«

»Und du?«, nutzte ich die Gelegenheit, während Werner sich eine neue Zigarette ansteckte. »Hat dieser Wilhelm dich in seine Fabrik gesteckt?«

Werner lehnte sich zurück und blies den Rauch in Kringeln in die Luft. »Mich Hungerhaken? Mit sechs Jahren? Hätte mir wohl Spaß gemacht. Ging aber nicht. Ich war zu schwach. Aber der Wilhelm hatte ein großes, gutes Herz. Hat drauf geschaut, dass ich in die Schule ging. Ganze fünf Jahre lang! Musste sein, Schulpflicht eben, da kannte der Wilhelm kein Pardon. Ordnung, Recht und Gesetz, das war ihm heilig. Nach der Schule, am Nachmittag, war mein Platz im Haus, in der Herrschaftsvilla. Unterm Dach hat der Wilhelm mir eine Kammer zugeteilt. Da war es warm und trocken. Und es gab ordentlich was zu futtern, auch später noch, im Krieg. Bin der Köchin zur Hand gegangen und bald schon dem Gärtner. Siehst ja selbst …« Er unterbrach seinen Monolog und sah mir direkt ins Gesicht. »Wie heißt du überhaupt?«

»Pauspertl. August Pauspertl.«

»Komischer Name. Na, kannst ja nichts dafür. Also, wo war ich? Ach ja, beim Gärtner. Feuerhake hieß er, Otto Feuerhake. Der hat mir alles beigebracht, was so im Park an Arbeit anfällt übers Jahr. Als der Otto später zur Wehrmacht musste, war ich schon zwölf. Von da an war ich allein zuständig für den Park. Bin auch gleich hier im Gärtnerhaus eingezogen, zwei Zimmer mit eigenem Bad! Klar, stand mir auch zu, ich war ja ab jetzt der Gärtner auf der Wilhelmspfalz. Der Rasen war mein ganzer Stolz. Mit der Sense konnte ich umgehen, kannst du glauben, August. Ich hab keinen stinkenden und lärmenden Rasentrecker gebraucht wie der Emanuel.«

»Der neue Gärtner?«

Werner lachte verächtlich auf. »Gärtner? Ein Hanswurst ist er, der jetzige Herr auf der Wilhelmspfalz. Mein Gott, wenn der Wilhelm wüsste, was aus seinem Enkelsohn geworden ist!«

Ich erinnerte mich, den Namen Emanuel hatte ich auf dem Flyer der Literaturwerkstatt gelesen. »Du sprichst von Emanuel Müller, der hier das Kulturzentrum leitet?«

»Genau von dem. Wirst ihn ja kennenlernen, den Clown. Na ja, dem Emanuel sein Vater war ja auch schon kein richtiger Mann mehr, so wie der Wilhelm einer war, der Großvater. Dabei hat der Wilhelm seinen Sohn und Stammhalter großspurig Siegfried getauft. Siegfried, wie der germanische Held – 1935, da standen Helden noch hoch im Kurs. Aber ein Held ist aus dem Siegfried nicht geworden, nur ein Stubenhocker, ein Sesselfurzer, ein Bürohengst.« Werner lachte hustend und zertrat den abgerauchten Stumpen seiner Zigarette am Boden. »Bürohengst, von wegen Hengst! Ich erzähl dir was, das muss aber unter uns bleiben.«

Ich nickte und sah verstohlen auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde bis zu der uns Teilnehmern an der Literaturwerkstatt zugewiesenen Ankunftszeit, auf deren Einhaltung hier offenbar größter Wert gelegt wurde.

»Schiet!«, schnaufte Werner. Seine Zigarettenpackung war leer. Resignierend steckte er sie wieder weg, lehnte sich weit zurück und fuhr fort: »Also der Siegfried, der Stammhalter vom Wilhelm, das war vielleicht ein Weichei! Kein Mumm. Ein Simulant. Hat sich sogar vor der HJ gedrückt, Hitlerjugend, musste jeder rein, ich auch. Schöne Zeit. Na ja, dann kam der Krieg und dann kamen die Tommys, die Sieger. Drei Jahre drauf – in dem Jahr, als sie die D-Mark eingeführt haben –, da ist dem Wilhelm seine Frau gestorben. Den Siegfried hat der Wilhelm dann irgendwo in ein Internat gesteckt, wollte ihn aus dem Haus haben. Das hatte seinen Grund. Pass auf, August Pauspertl, jetzt kommt’s: Kaum ist der Alte allein in der Villa, Frau und Sohn fort, da taucht hier ein Mädel auf, schlank und rank, blonde Zöpfe, blaue Augen und auch sonst alles dran. Sechzehn Jahre jung. Agnes hieß die Hexe, Agnes Runkel. Eine Kriegswaise. Als Sekretärin hat der Wilhelm sie eingestellt, offiziell jedenfalls. Na ja, oben in der Villa konnte sie nicht wohnen, wäre zu auffällig gewesen. Also bringt der Wilhelm sie hier im Gärtnerhaus unter, oben in der Mansarde unter dem Dach. Unten war meine Wohnung. Klar, dass die Agnes und ich uns schon mal über den Weg gelaufen sind. Gibt ja nur ein Badezimmer im Gärtnerhaus. Die Agnes war kein Kind von Traurigkeit, und ich stand ja auch voll im Saft, wie eine Eiche im Frühling.«

»Und dein Chef, der Wilhelm?«, fragte ich.

»Falls er was gemerkt hatte, dann hat er’s sich nicht anmerken lassen. Hat ihm ja an nichts gefehlt. Und die Agnes war großzügig, die Hexe. So ging das ein paar Jahre – und von Jahr zu Jahr besser. Die Stuhlfabrik vom Wilhelm und der Steinbruch brachten was ein, die Gewinne explodierten. Wirtschaftswunder. Dann kam Söhnchen Siegfried zurück vom Internat. Trat natürlich gleich ein in die väterliche Firma, als Juniorchef. Der Wilhelm hatte es plötzlich eilig mit der Nachfolge. War nicht mehr ganz gesund, zu fett, zu viel gesoffen und gespachtelt.«

»Jaja, die Wirtschaftswunder-Fresswelle«, warf ich ein.

»Richtig, August. Oben in der Villa stieg eine Party nach der anderen, das gehörte zum Geschäft. Und dann war da ja noch die Agnes.« Werner lachte auf, machte eine eindeutige Handbewegung, hüstelte und klopfte noch einmal alle Taschen seiner Arbeitskleidung ab auf der Suche nach Zigaretten. Vergeblich. »Bleib hocken, ich hol mir Nachschub«, sagte er und verschwand im Gärtnerhaus.

Noch acht Minuten bis zum Einchecken oben in der Villa. Ich wollte pünktlich sein und überlegte, wie ich mich rasch von Werner verabschieden könnte, ohne den Alten zu beleidigen.

Nach wenigen Augenblicken kam er zurück, eine neue Zigarette zwischen den Lippen. »Hör zu, August«, begann er. »Jetzt kommt das Beste. Mit dem Wilhelm gings bergab. Sechs Jahre hat er noch gemacht, zum Schluss nur noch im Rollstuhl. Um die Firma hat er sich nicht mehr kümmern können, aber die Nachfolge war geregelt, der Siegfried hat den Job ganz gut gemacht. Blieb noch die Agnes, die Hexe. Was wurde aus ihr? Ob es der Wilhelm war, der das eingefädelt hat, oder die Agnes selbst, ich weiß es nicht: Eines Tages war oben in der Villa ein großes Fest. Ich musste mich anständig anziehen, kriegte eine Schürze umgebunden und musste servieren. Und dann – ich hätt beinahe die Schüssel mit dem Braten auf den Tisch geschüttet – verkündet der Wilhelm die Verlobung seines Sohnes mit seiner Chefsekretärin, der Agnes.«

»Das hat dich ziemlich deprimiert, was?«, fragte ich, um meine Ungeduld hinter verständnisvollem Mitgefühl zu verbergen.

»Wie man’s nimmt. Klar, die Agnes, jetzt die gnädige Frau auf der Wilhelmspfalz, die konnte nicht mehr im Gärtnerhaus wohnen bleiben. Sie zog triumphierend oben ein in die Villa. Ab sofort übernahm sie das Kommando, Köchin und Dienstmädchen hatten nach ihrer Pfeife zu tanzen.«

»Und du als Gärtner natürlich auch«, stichelte ich.

Werner warf die halb gerauchte Zigarette auf den Boden, wo sie weiterglomm. Er sah mich schelmisch an. »Der Siegfried hat ganze vier Jahre üben müssen, bis er die Agnes schwanger gekriegt hat. Dann kam er endlich auf die Welt, der sehnsüchtig erwartete Wonneproppen. Emanuel haben sie ihn genannt. Ein Hänfling. Zart wie ein Mädchen. Den Wilhelm, als der seinen Enkel sah, traf der Schlag. Zwei Tage später war er tot. Keine sechzig Jahre alt geworden. Die Enttäuschung war zu groß. Wenn er noch ein Jahr durchgehalten hätte, also dann wäre er sicher wieder froh gewesen. Die Agnes nämlich, die kriegte ein zweites Kind, ein Mädchen diesmal. Die Frauke. Ein prächtiges, starkes Mädel. Sie hatte nur einen Nachteil: Dem Siegfried sah sie so gar nicht ähnlich.«

»Aber dir?«

Werner steckte sich grinsend eine neue Zigarette an. »Der Siegfried hat bald gemerkt, dass die Agnes ihm da ein Kuckucksei ins Nest gelegt hat. Blöd war er nicht. Aber er hat so getan, als wäre nichts passiert. Und die Agnes, diese Hexe, hat mich von diesem Augenblick an nicht mehr gekannt. Als ob nie was gewesen wäre zwischen uns. Die Weiber können das. Eiskalt. Von da an war sie nur noch die treue Fabrikantengattin, Siegfried vorne und Siegfried hinten. Hat ihr aber nichts genützt. Der Siegfried hat nichts vergessen. Und er war zäh. Mit siebzig, da war er noch fit wie ein Turnschuh, da war die Stunde seiner Rache: Er hat seinen ganzen Besitz dem Sohn überschrieben, dem Emanuel. Den Steinbruch hat er aufgegeben, aber die Stuhlfabrik hat der Siegfried noch bis zu seinem Tod vor fünf Jahren geleitet. Dann war sie pleite, und Emanuel hat sie verscherbelt. Das Fabrikgebäude drüben in Hoppstede hat er an die Stadt verkauft, da wohnen jetzt Flüchtlinge.«

»Und was geschah mit der Ehefrau und der Tochter?«

»Für die untreue Agnes hat der Siegfried im Testament nur eine kleine Rente ausgesetzt und das Wohnrecht in der Villa. Die Frauke aber, das ungeliebte Kuckuckskind, die ging leer aus. Da wurde lange prozessiert, aber das Testament war wasserdicht. Na, zu guter Letzt hat der Emanuel seiner Halbschwester dann ein Zimmer mit Erker in der Villa als Wohnung überlassen. Aber zufrieden ist die Frauke damit nicht. Sie kennt alle Leichen im Keller ihres Bruders. Irgendwann einmal schlägt sie zu.«

In diesem Augenblick ertönte im oberen Teil des Parkes das quäkende Geräusch eines Dudelsacks. Werner sprang auf und deutete auf eine von Rhododendren gesäumte Sichtachse, an deren Ende die Villa lag. »Der Hanswurst«, flüsterte er mir zu.

Ich sah eine bunt gekleidete Gestalt, die über den Rasen herunter auf uns zu stolzierte und dabei dem Instrument schreckliche Töne entlockte. Zuerst konnte ich nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, denn die Gestalt war bekleidet mit einem kurzen rosafarbenen Tutu, wie ihn Balletttänzerinnen tragen. Darunter zierte eine lange braune Strumpfhose ihre schlanken Beine. Die Füße steckten in kanariengelben Schnabelschuhen, an deren aufgebogenen Spitzen kleine Glöckchen bimmelten. Auf dem Kopf trug die seltsame Erscheinung eine grüne Narrenkappe mit drei langen Hörnern, die beim Gehen in rhythmischen Schwingungen wippten.

Das also ist Emanuel Müller, dachte ich staunend, der Hausherr auf der Wilhelmspfalz, der Leiter des renommiertesten Kulturinstituts weit und breit. Auf halbem Weg herunter zum Gärtnerhaus bog er nach rechts ab und entschwand meinen Blicken.

»Der geht jetzt zum Eingangstor vom Park und lässt die Besucher herein«, sagte Werner.

Es war genau siebzehn Uhr. Da ich nicht quer durch den Park über den Rasen zur Villa laufen wollte, bat ich Werner, mich wieder bei der kleinen Gartenpforte hinauszulassen, durch die wir vorhin hereingekommen waren. Wir nickten uns zum Abschied freundlich zu, und ich eilte draußen entlang der Parkmauer hoch zum Tor. Hier warteten bereits die Teilnehmer der Literaturwerkstatt mit ihren Rollkoffern: drei junge Damen und zwei Jünglinge. Ich war mit Abstand der Älteste in der Runde. Die Youngster beachteten mich nicht, obwohl ich ein freundliches »Grüß Gott!« verlauten ließ. Vielleicht hatten sie mich auch nicht gehört, der Dudelsack, der immer näher kam, hatte mich wahrscheinlich übertönt.

Plötzlich verstummte das markdurchdringende Quäken. Das zweiflügelige Parktor schwang auf, und mitten in der Einfahrt stand Emanuel Müller, unser Gastgeber. Er breitete beide Arme aus und rief: »Ihr, die ihr hier eintreten wollt, lasst alle Hoffnung fahren. Denn ernst ist das Leben.« Er quetschte noch einen Ton aus dem Dudelsack heraus und fuhr fort: »Ernst ist das Leben, aber heiter ist die Kunst!«

Die jungen Damen kicherten, einer der beiden Jünglinge spendete klatschend Beifall. Emanuel Müller verzog keine Miene. »Ich bitte, mir zu folgen!«, rief er, machte kehrt, setzte seinen Dudelsack an und marschierte zu Klängen, die geeignet waren, jeden Feind in die Flucht zu schlagen, in einem Wechsel aus militärischem Stechschritt und ballettartigem Springtanz vor uns her.

Die Villa war vom Eingang des Parkes aus noch nicht zu sehen. Die breite Zufahrt mit dem sorgfältig geharkten Kies schlängelte sich in zwei Serpentinen zwischen Rhododendronbüschen und weit ausladenden Magnolien hindurch, ehe eine nur von kurz gehaltenem Buchs gesäumte Rasenfläche den Blick freigab auf das herrschaftliche Anwesen.

Ich gebe zu: Hätte ich mich vorher nicht schlaugemacht über den Internetauftritt der Wilhelmspfalz, ich hätte nicht gewusst, dass diese Fabrikantenvilla die typischen Merkmale des Jugendstils aufwies. Breit und massiv war sie auf die Kuppe des Hügels hingesetzt, ohne protzig oder gar monströs zu wirken.

Die in kaiserlichem Gelb gestrichene Fassade wies drei reichlich gegliederte, völlig unterschiedliche Flügel auf. Der rechte Seitenflügel, der schlichteste, umfasste drei Etagen, wovon das Erdgeschoss mit zwei schmalen vergitterten Fenstern sichtlich den Verrichtungen der Haushaltung diente. Ein unscheinbarer Dienstboteneingang lugte halb hinter einem Wacholderstrauch hervor. Darüber befand sich im ersten Stock das breite, oben gerundete dreiteilige Fenster eines herrschaftlichen Raumes, vermutlich das Herrenzimmer. Der Bogen über diesem Fenster war geschmückt mit einer Reihe bunter sternförmiger Rosetten. Das zweite Obergeschoss wies lediglich zwei schmale ovale Fensteröffnungen auf, dort war vielleicht die Bibliothek oder das Billardzimmer. Das weit überstehende Flachdach darüber wurde gestützt von fratzenschneidenden Neidköpfen.

Das Erdgeschoss des schmaler gehaltenen linken, des westlichen, Seitenflügels war verdeckt von einem dicht belaubten Magnolienbusch. Darüber erhoben sich zwei Etagen mit spitz vorspringenden Erkern, deren hohe Fenster ebenfalls ovale Form hatten und von floralem Zierwerk umgeben waren. Obenauf aber, als vierte Etage, thronte ein Altan mit einer zierlichen Brüstung aus vergoldetem Schmiedeeisen.

Geradezu majestätisch wirkte der mittlere Flügel der Villa, deren prächtiger Eingang sich im ersten Stock befand. Die nach oben hin sich verjüngende Sandsteintreppe wurde zu beiden Seiten gesäumt von einem Geländer aus weißem Marmor, getragen von bauchigen, gedrungenen Säulen. Zum Sprung bereite Löwen, kunstvoll aus rötlichem Granit geschlagen, lauerten vor dem Geländer. Etwa zwanzig bequeme Stufen führten hinauf auf eine Terrasse, die dem Entree vorgelagert war. Hier hielt eine riesige, Achtung einflößende Dogge aus grauem Granit Wache. Hinter dem Entree vermutete ich einen repräsentativen Empfangsbereich. Über dieser Etage erhoben sich noch zwei Stockwerke, vor deren kunstvoll umrandeten Fenstern sich breite Balkone wölbten. Über Balkontür und Fenstern des letzten Stockwerkes war in einer weißen bogenförmigen Kartusche ein schwarzer Schriftzug in fremdartigen, orientalisch anmutenden Lettern aufgemalt.

Tief beeindruckt vom Anblick dieses Gebäudes war ich ein gutes Stück davor stehen geblieben. Die übrigen Teilnehmer der Literaturwerkstatt achteten nicht auf mich, sie folgten dem Dudelsackspieler die Treppe hinauf auf die Terrasse vor dem Eingang. Oben angelangt, endete die Musik.

Als Mitarbeiter einer Bank bin ich gewohnt, in Zahlen zu denken. Im Geist überschlug ich den Wert dieser Villa. Ich dachte an die Geschichte, die der alte Gärtner Werner mir erzählt hatte, und fragte mich, wie ein einfacher Tischler wie Wilhelm Müller dieses Anwesen wohl hatte kaufen können. Den heutigen Wert schätzte ich auf mindestens fünf bis sechs Millionen Euro. Im Sommer des Jahres 1934, da war ich sicher, konnte der Wert in Reichsmark nicht wesentlich darunter gelegen haben. Es gab nur eine Erklärung: Offensichtlich war dem Wilhelm Müller eine großzügige und risikobereite Bank zur Seite gestanden.

»Sie brauchen wohl eine Extraeinladung, junger Mann!« Dieser Ruf riss mich aus meinen Gedanken. Eine alte Frau, nein, eine ältere Dame schritt hoheitsvoll die Treppe herab und kam auf mich zu. Ich erkannte die Stimme, es war dieselbe, die mir bei meiner verfrühten Ankunft über die Gegensprechanlage am Parktor die penibel einzuhaltende Ankunftszeit mitgeteilt hatte.

Das also war sie, die Hexe, wie Werner sie genannt hatte, die Königinmutter auf der Wilhelmspfalz, Agnes Müller, geborene Runkel. Nach Werners Angaben musste sie etwa 85 Jahre alt sein, was man ihr jedoch nicht ansah. An Körpergröße überragte sie ihren schmächtigen Sohn Emanuel um Haupteslänge. Auf ihrem stolz erhobenen Haupt thronte ein Kranz aus übernatürlich blondem, zu Zöpfen geflochtenem Haar. Bekleidet war sie mit einem Trachtenkostüm in Bordeauxrot und Königsblau, wie man es gewöhnlich auf Festivitäten des Landadels sieht.

Nachdem ich mich gehorsam in Bewegung gesetzt hatte, beachtete Agnes Müller mich nicht weiter und begann, an mir vorbei durch den Park zu lustwandeln. Ich aber trabte im Eilschritt die Treppenstufen empor zum Entree, vor dem die jungen Leute schon ungeduldig im Halbkreis vor dem Hausherrn Aufstellung genommen hatten.

»Nun sind wir ja vollzählig, meine Herrschaften«, begann Emanuel Müller. »Der Tag neigt sich dem Ende zu. Solange wir noch Licht haben, will ich Ihnen den Park zeigen. Ihre Koffer können Sie hier stehen lassen, das Personal wird sich darum kümmern.« Er begann, die Treppe hinabzusteigen, drehte sich aber auf der obersten Stufe noch einmal um. »Ach ja, hier auf der Wilhelmspfalz, im Kreise der Liebhaber von kreativer Kunst, avantgardistischer Musik und postmoderner Literatur, pflegen wir uns zu duzen. Mein Name ist Emanuel. Ihr dürft mich auch Manuela nennen oder schlicht Manu. Bio- und Human-Diversität sind die Leitlinien unseres Kulturinstituts. Den altmütterlichen Namen Emma hingegen verabscheue ich. Da könnte ich mich in einen wilden Stier verwandeln, obwohl mein Sternzeichen die Jungfrau ist.«

Ich fand das Gehabe des Emanuel Müller geradezu affig und beschloss, diesen Hanswurst bei mir im Stillen nur noch Emilie zu nennen. Meine jungen Mitstreiter aber, besonders die Damen, konnten sich nicht einkriegen, ihr Entzücken zu zeigen. Einer der beiden Burschen schmunzelte höflich. Der andere jedoch drängte sich ganz nah an eine der Damen heran und wurde zum Spiegelbild ihrer mimischen und akustischen Äußerungen. Seine pechschwarz gefärbte Elvis-Tolle und sein überaus gepflegter wallender Vollbart sowie die übergroße Brille fielen mir auf, ebenso seine altmodische, über die Hüften hochgezogene altrosa Karottenhose in Sieben-Achtel-Länge, die von breiten schwarzen Hosenträgern gehalten wurde. Darunter ragten giftgrün gemusterte Socken aus Seide hervor. Sein groß kariertes Holzfällerhemd und die azurblauen spitzen Schlangenlederschuhe standen in unpassendem Kontrast dazu. Der Bursche machte mich neugierig. Er schien irgendeiner der zahlreichen skurrilen Sekten aus dem Dunstkreis urbaner Subkulturen anzugehören. Ein bunter Vogel. Ich taufte ihn »Elvis der Hosenträger«.

Emilie also, jetzt ohne Dudelsack, führte uns in weitem Bogen durch den Park. Wir schlängelten uns zunächst den Hang abwärts zwischen Baum- und Buschgruppen hindurch und erreichten das Gärtnerhaus. Der alte Werner hatte uns wohl kommen sehen und sich rechtzeitig nach drinnen zurückgezogen.

»Dies war der Teil des Parkes, der im englischen Stil angelegt wurde, sozusagen die künstliche Natur«, sagte Emilie. »Nun aber besichtigen wir die ursprüngliche, die ungezähmte Wildnis der Wilhelmspfalz.«

Wir stapften wieder hügelan und umrundeten die Villa. Jetzt erst sah ich, dass das Haus in den Hang hineingebaut worden war. Was auf der Vorderseite Erdgeschoss war, lag auf der Rückseite als Keller unter der Erde. So gelangte man hier vom ersten Stock über eine große, dem Haus vorgelagerte und teilweise überdachte Terrasse direkt auf eine Streuobstwiese. Nach ungezähmter Wildnis sah es hier eigentlich nicht aus, einmal abgesehen von den üppig wuchernden Wildkräutern, auch Unkraut genannt, die sich rund um die Obstbäume herum sichtlich wohlfühlten.

»Hier gedeihen die rein biologischen Sauerkirschen vom Nissenkogel«, erklärte Emilie. »Diese Gottesgabe veredle ich seit Jahren zu unserem legendären Säuerling. Später am Abend, wenn wir uns vor dem Kamin versammeln, werde ich euch ein Gläschen davon kredenzen.«

»Ich hoffe, dieser Trank ist nicht nur bio, sondern auch vegan!«, rief eine der jungen Damen. Und als unser Gastgeber sie irritiert ansah, weil er nicht wusste, wie er sie ansprechen sollte, nannte sie ihren Namen: »Ich heiße übrigens Anna-Lena Schlotfeger.«

»Dafür kann ich leider keine Garantie übernehmen, liebste Anna-Lena«, antwortete Emilie und wiegte nachdenklich sein Haupt. »Wer weiß, ob sich nicht doch ein unschuldiges zartes Würmchen in einer Kirsche eingenistet hat. Im Säuerling könnten also Spuren von Insektenhaschee enthalten sein.«

Der Hausherr kam einem Protest im Ansatz zuvor: »Das war nur Spaß, Anna-Lena. Keine Sorge, die Kirschbäume werden jedes Jahr vor, während und nach der Blüte ausgiebig mit Insektenvertilgungsmittel besprüht.« Er hielt erschrocken inne, räusperte sich und fügte hinzu: »Natürlich nur mit einem Naturprodukt, biologisch und unschädlich für die Bienen und Schmetterlinge.«

Um nachfolgenden Einwänden zu entgehen, führte Emilie uns rasch weiter. Ich begann, ihn amüsant und sympathisch zu finden, und beschloss, ihn ab sofort wieder bei seinem richtigen Namen Emanuel zu nennen.