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Andreas Franz

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Beschreibung

Julia Durant ist zurück! Innerhalb kurzer Zeit verschwinden mehrere Frauen spurlos. Es werden keine Leichen gefunden, die Polizei tappt im Dunkeln. Trotzdem beschließt Julia Durant, ihren lange geplanten Urlaub in Südfrankreich anzutreten. Doch kurz vorher wird sie von einem Unbekannten brutal überfallen und entführt. Er hält sie in einem dunklen und feuchten Kellergewölbe gefangen, in dem sich offenbar noch andere Frauen befinden. Verzweifelt versucht Julia herauszufinden, was der Entführer von ihr will. Inzwischen laufen die Ermittlungen der Kollegen auf Hochtouren, denn Julia hat nicht mehr viel Zeit … Ein neuer spannender Fall von Deutschlands erfolgreichstem Krimiautor.

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Seitenzahl: 628

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Andreas Franz

Mörderische Tage

Ein Julia-Durant-Krimi

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Widmung15. Juni 2007, 0.56 UhrMontag, 18. Juni, 10.00 UhrDienstag, 11.55 UhrMontag, 17.00 UhrDienstag, 0.45 UhrDienstag, 14.30 UhrDienstag, 15.10 UhrDienstag, 17.55 UhrDienstag, 19.00 UhrDienstag, 18.45 UhrMittwoch, 8.30 UhrMittwoch, 14.10 UhrMittwoch, 14.30 UhrMittwoch, 16.00 UhrMittwoch, 16.35 UhrMittwoch, 17.20 UhrMittwoch, 18.50 UhrMittwoch, 19.00 UhrMittwoch, 19.05 UhrMittwoch, 21.45 UhrMittwoch, 23.58 UhrDonnerstag, 1.10 UhrDonnerstag, 7.30 UhrDonnerstag, 8.35 UhrDonnerstag, 11.05 UhrDonnerstag, 20.30 UhrDonnerstag, 21.15 UhrFreitag, 17.45 UhrFreitag, 22.03 UhrSamstag, 10.40 UhrSamstag, 15.28 UhrSamstag, 17.10 UhrSamstag, 18.20 UhrSamstag, 21.27 UhrSamstag, 22.35 UhrSamstag, 21.50 UhrSonntag, 8.30 UhrSonntag, 10.00 UhrSonntag, 12.40 UhrSonntag, 14.10 UhrSonntag, 15.40 UhrSonntag, 20.25 UhrSonntag, 23.50 UhrMontag, 11.30 UhrEpilogNachbemerkung
[home]

Für Manuel

und all die lieben Menschen,

die ihn auf seinem

zukünftigen Lebensweg begleiten

[home]

15. Juni 2007, 0.56 Uhr

Es war eine für Mitte Juni ungewöhnlich kühle und regnerische Nacht, als sich die junge Frau, nur mit einem weißen Nachthemd bekleidet, um vier Minuten vor ein Uhr an der Autobahn auf das Eschborner Dreieck zubewegte. Sie war barfuß, die halblangen blonden Haare klebten an ihrem Gesicht. Ihre Schritte waren unsicher, als wäre sie betrunken. Die grellen Lichter der entgegenkommenden Autos schien sie nicht wahrzunehmen, ihr Blick war leer und starr. Mit einem Mal drehte sie sich um und betrat die Fahrbahn, ohne die Autos zu beachten. Nicht einmal das laute Hupen des Lkw, der auf sie zugedonnert kam, schien sie zu hören. Der Fahrer stemmte sich mit voller Kraft auf das Bremspedal und versuchte ihr auszuweichen, geriet dabei ins Schlingern, durchbrach die Leitplanke und kippte kurz darauf an der leicht ansteigenden Böschung um. Zwei Wagen rasten auf der Mittelspur ineinander, einem dritten gelang es dank eines waghalsigen Manövers gerade noch, an der Frau vorbeizufahren, bevor er etwa hundert Meter entfernt auf dem Seitenstreifen anhielt. Ein Mann sprang aus dem Porsche, am Ohr sein Handy, in das er aufgeregt hineinschrie, während er auf die Frau zurannte, die auf einem der weißen Streifen zwischen rechter und mittlerer Fahrbahn stehen geblieben war. Der Verkehr in Richtung Wiesbaden war zum Erliegen gekommen, Warnblinker zuckten durch die wolkenverhangene Nacht.

Immer mehr Menschen kamen teils schnell, teils vorsichtig auf die Frau zu, der Mann mit dem Handy packte sie an den Schultern und schüttelte sie, doch sie sah ihn nur an, ohne ein Wort zu sagen. Sie ließ sich widerstandslos von der Fahrbahn führen, der Lastwagenfahrer, der sich mühsam aus der Fahrerkabine gehievt hatte, stieß ein paar derbe Flüche aus, aber auch das schien die Frau nicht wahrzunehmen.

»Die ist vollkommen verrückt, die Alte!«, schrie er mit hochrotem Kopf und zeigte auf seinen Lastwagen. »Die ist meschugge, bekloppt, durchgeknallt! Ich hab da drin ’ne Ladung …«

»Seien Sie still«, winkte der andere unwirsch ab und legte seine Jacke um die Schultern der Frau, deren Gesicht er in der Dunkelheit trotz der vielen eingeschalteten Scheinwerfer nur schemenhaft erkennen konnte.

»Die ist doch aus der Klapse ausgebrochen, das riech ich zehn Meilen gegen den Wind«, fluchte der Trucker weiter.

»Und wenn? Polizei und Krankenwagen werden gleich hier sein. Junge Frau, hören Sie mich?«, fragte der Porschefahrer, der um die vierzig sein mochte. Er setzte sich mit ihr auf die Leitplanke, fasste sie vorsichtig am Kinn und drehte ihren Kopf zu sich. »Wie heißen Sie? Ich bin Frank.«

Sie reagierte nicht, sie zitterte nicht, ihr Blick ging durch ihn hindurch.

»Schiet, verdammter Schiet! Großer, gottverdammter Schiet! Ich hab Elektrogeräte im Wert von über zwei Millionen geladen …«

»Dafür gibt’s Versicherungen«, mischte sich ein anderer ein, der sehr besorgt und hilflos wirkte. »Was ist mit ihr?«

»Keine Ahnung«, erwiderte der Mann, der sich als Frank vorgestellt hatte. »Ich bin kein Arzt, nur Polizist. Aber eins weiß ich, kein Mensch läuft grundlos auf die Autobahn, schon gar nicht um diese Uhrzeit. Und ganz bestimmt nicht in einem Nachthemd.«

»Ich sag doch, die hat nicht mehr alle Tassen im Schrank!«

»Mag sein«, antwortete Frank kurz angebunden, der keine Lust auf einen Streit hatte, obwohl er den Lastwagenfahrer verstehen konnte. »Wir können nur froh sein, dass keinem von uns etwas passiert ist …«

»Nichts passiert?! Hey, Alter, mein Truck is im Arsch, und die Ladung kannste nich mal mehr nach Afrika verschippern! Ich komm aus Hamburg und bin seit über zehn Stunden unterwegs und …«

»Wir sind alle am Leben.« Er wandte sich wieder der jungen Frau zu: »Wollen Sie mir nicht sagen, wie Sie heißen?«

Ihr Blick blieb ausdruckslos.

»Kommen Sie, verraten Sie wenigstens Ihren Namen«, ließ Frank nicht locker. »Sie haben ein ganz schönes Chaos verursacht. Sie können von Glück reden, dass niemand getötet wurde. Nur Ihren Namen, bitte.«

Sie hob leicht den Kopf und sah Frank an, ohne etwas zu sagen, obwohl sich ihre Lippen kaum merklich bewegten, als wolle sie sprechen, doch kein Laut drang aus ihrem Mund. Ihre schlanken Arme hingen an ihrem Körper herunter, als gehörten sie nicht zu ihr, in ihrem Gesicht war keine Regung zu erkennen, weder Angst noch Furcht noch Neugier, nichts. Nur dieser regungslose Blick auf Frank, als sähe sie in ihm ein Wesen, das sie noch nie zuvor gesehen hatte.

»Vielleicht ist sie taubstumm oder Ausländerin«, bemerkte eine junge Frau vorsichtig, die sich zu ihnen gesellt hatte, doch es schien, als glaubte sie es selbst nicht.

Nur fünf Minuten nach dem Anruf trafen drei Polizei- und zwei Notarztwagen ein.

Die ersten Fahrzeuge setzten sich wieder in Bewegung, der kleine Stau begann sich aufzulösen, fünf Beamte nahmen nacheinander die Personalien der Unfallbeteiligten auf, während ein sechster zu der jungen Frau trat.

»Hauptkommissar Hellmer, K 11 Frankfurt«, sagte Frank und hielt seinen Dienstausweis hoch. »Sie wär mir fast vors Auto gelaufen.«

»Schmidt, Revier Eschborn«, stellte sich der Beamte vor. »Und weiter?«

»Nichts und weiter. Sie sehen ja selbst, was hier los ist. Sie steht entweder unter Schock, oder sie ist verwirrt. Jedenfalls spricht sie kein Wort.«

Schmidt startete ebenfalls einen vergeblichen Versuch, mit der Frau Kontakt aufzunehmen.

»Und sie ist tatsächlich einfach so auf die Autobahn gelaufen?«, fragte er Hellmer und die Umstehenden, nachdem er es aufgegeben hatte, ihr wenigstens den Namen zu entlocken.

»Einfach so«, antwortete Hellmer.

»Sonst wär der ganze Schiet doch nich passiert!«, brüllte der Lkw-Fahrer wieder los. »Ich bin voll in die Eisen gestiegen, aber sie war zu nah. Ich musste ausweichen, sonst wär sie jetzt nur noch Matsch. Sie sehen ja selbst, was draus geworden ist. Schietdeern!«

Der Beamte entgegnete: »Das war sehr mutig von Ihnen. Für den entstandenen Schaden kommt die Versicherung auf, ich werde einen entsprechenden Vermerk in meinem Bericht machen.«

»Und welche? Die hat doch bestimmt keine, so wie die aussieht.«

»Ihre Firma ist doch sicher für alle Eventualitäten gerüstet, vor allem, wenn Sie solch hochwertige Ladung transportieren«, sagte Schmidt ruhig. »Die Frau muss auf jeden Fall möglichst rasch ins Krankenhaus.«

»Besser in die Klapse«, fluchte der Lkw-Fahrer weiter.

»Vielleicht kommt sie ja dahin«, meldete sich ein anderer zu Wort.

Schließlich wurde die Unbekannte auf eine Trage gelegt, wo sie die Hände über dem Bauch faltete und die Augen schloss, und in den Notarztwagen gebracht. Schmidt und Hellmer folgten.

»Sie ist völlig weggetreten«, sagte einer der Ärzte und sah kurz Hellmer an, während er ihr den Blutdruck maß. »Neunzig zu fünfzig, Puls neununddreißig«, bemerkte er mit sorgenvoller Miene und fügte hinzu: »Ungewöhnlich niedrig. Ihre Atmung ist sehr flach und unregelmäßig. Außerdem hat sie Schweiß auf der Stirn und in den Handflächen. Ich will mich nicht festlegen, aber es ist möglich, dass sie unter der Einwirkung von starken Beruhigungsmitteln steht, bloß bei diesen Werten wäre sie normalerweise gar nicht in der Lage, draußen rumzugeistern. Das ist alles sehr merkwürdig. Wir bringen sie in die Städtischen Kliniken Höchst, hier können wir nichts für sie tun. Da ich nicht weiß, ob beziehungsweise was sie genommen hat, kann ich ihr auch nichts geben.«

»Ist sie verletzt?«, fragte Hellmer, der im hellen Licht des Krankenwagens zum ersten Mal deutlich das Gesicht der jungen Frau sah. Sein Herz schlug für einen Moment schneller.

»Äußerlich ist nichts festzustellen. Ihre Pupillen reagieren nicht auf das Licht meiner Lampe. Und wenn ich sie berühre, zuckt sie nicht zusammen. Reflexe sind ebenfalls nicht vorhanden. Hier, sehen Sie selbst.« Der Notarzt klopfte mit dem Reflexhammer gegen den Ellbogen und das leicht gebeugte Knie. »So etwas findet man normalerweise nur bei multipler Sklerose und anderen Krankheiten, die mit dem Nervensystem zusammenhängen. Mir ist auch nicht erklärlich, wie sie sich in diesem Zustand auf den Beinen hat halten können. Sie müsste wenigstens in irgendeiner Weise reagieren.«

»Und Sie haben so überhaupt keine Erklärung? Nicht mal ansatzweise?«

»Möglich, dass sie unter Schock steht. So oder so, sie muss dringendst in die Klinik. Wie gesagt, wir bringen sie nach Höchst, dort wird man sicherlich herausfinden, was mit ihr los ist. Für mich ist diese Frau ein einziges Rätsel.«

»Hm«, murmelte Hellmer, der den letzten Worten des Arztes kaum noch zugehört hatte, während er die junge Frau unentwegt anschaute. »Wie alt schätzen Sie sie? Zweiundzwanzig?«

»Ja, Anfang, Mitte zwanzig. Draußen sind kaum zehn Grad, und sie läuft im Regen nur mit einem Nachthemd bekleidet über die Autobahn und schwitzt. Ich bin schon seit vierzehn Jahren Arzt, aber so was ist mir bis jetzt nicht untergekommen. Und glauben Sie mir, ich hab schon eine Menge erlebt. Haben Sie den Geruch wahrgenommen?«, fügte er hinzu. »Sie duftet nach Rosen.«

»Ist mir schon vorhin aufgefallen«, bemerkte Hellmer, während er mit seinem Handy Fotos vom Gesicht der jungen Frau machte. »Und sie ist geschminkt, als hätte sie heute Nacht noch etwas vorgehabt.«

»Rosen?«, fragte Schmidt aus Eschborn zweifelnd nach.

»Parfum oder eine Bodylotion vielleicht. Halten Sie mal Ihre Nase an ihren Hals oder ihre Arme«, sagte der Arzt.

Schmidt ging mit seinem Gesicht dicht an den Körper der Unbekannten und meinte: »Stimmt. Das heißt, sie hat vorhin noch gebadet, sich eingecremt, geschminkt und …«

»Sieht so aus. Und sehen Sie sich ihre Hände an, sehr gepflegt, genau wie ihre Füße. Ich vermute, sie stammt aus guten Verhältnissen.«

Hellmer mischte sich ein: »Sie ist wirklich alles andere als verwahrlost. Hoffentlich kann sie uns bald erzählen, was ihr widerfahren ist. Was könnte denn die Ursache für einen solchen Blackout sein?«

»Da gibt es einige Möglichkeiten. Alkohol, Drogen, eine Schädigung des Gehirns, ein psychischer Defekt oder auch ein Schockerlebnis, das ihr von jetzt auf gleich die Erinnerung ausgelöscht hat. Es gibt zahlreiche belegte Fälle aus Kriegsgebieten, wo Menschen innerhalb weniger Minuten amnestisch wurden. Aber wie gesagt, ihre nicht vorhandenen Reflexe und die Reaktionslosigkeit würden auch das nicht erklären. Und jetzt lassen Sie uns bitte fahren, sie muss umgehend fachärztlich versorgt werden.«

Hellmer und Schmidt sahen noch eine Zeitlang dem Notarztwagen nach, bevor Schmidt sich dem Lkw-Fahrer zuwandte, der erst jetzt das ganze Ausmaß dessen zu begreifen schien, was geschehen war. Er saß auf einem der Zwillingsreifen seines umgekippten Trucks und starrte in die Dunkelheit.

Hellmer betrachtete indes die Fotos, die er gemacht hatte. Das Gesicht kam ihm bekannt vor, ihn hatte eine düstere Ahnung beschlichen, als er die junge Frau im Notarztwagen deutlich erkennen konnte. Sollte das, was er vor wenigen Minuten erlebt hatte, tatsächlich zu einem Fall gehören, der von ihm und seinen Kollegen im Präsidium bearbeitet wurde? Nur hätte er es nie für möglich gehalten, eines Nachts mit einer seit beinahe einem halben Jahr vermissten Person zusammenzutreffen. Und schon gar nicht auf eine solche Weise, mitten auf der Autobahn, während er nach einem überlangen Arbeitstag auf dem Weg nach Hause war. Bewusst hatte er weder Schmidt noch dem Arzt von seiner Vermutung erzählt. Zunächst musste er sich Gewissheit verschaffen.

Als Hellmer wieder in seinem Wagen saß, schickte er die Fotos von seinem Handy dem KDD zu, wo sie mit den Fotos von vermissten Personen verglichen werden sollten – speziell mit einem. Danach rief er Julia Durant an.

»Frank, es ist spät und …«, meldete sich Durant mit müder Stimme.

»Hör zu, ich hab eben etwas absolut Unglaubliches erlebt. Ich schätze, ich habe Jacqueline Schweigert gefunden. Sie ist mir fast vors Auto gelaufen.«

»Was?« Durant war mit einem Mal hellwach.

»Du hast richtig gehört. Ich hab Fotos von ihr gemacht und an die Kollegen geschickt, ich bin mir aber ziemlich sicher, sie ist es.«

»Und wo ist das passiert?«

»Auf der A 66. Die hat ein heilloses Chaos angerichtet, wofür sie aber wohl nichts kann. Ich hab sie erst erkannt, als sie im Krankenwagen lag. Sie war vollkommen orientierungslos und nicht ansprechbar. Sie konnte uns nicht einmal ihren Namen nennen. Und sie duftete nach Rosen.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Im Höchster Krankenhaus. Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt. Hoffen wir, dass sie überlebt.«

»Ist sie verletzt?«

»Nein, äußerlich nicht. Nicht mal eine Schramme. Wir treffen uns morgen«, dabei sah er auf die Uhr und verbesserte sich, »oder genauer gesagt heute um neun in der Klinik. Einverstanden?«

»Natürlich. Und danke, dass du mir Bescheid gegeben hast.«

»Ich muss auflegen, KDD klopft an. Ciao.«

»Volltreffer. Jacqueline Schweigert«, war der knappe Kommentar von Leitz, der Hellmers erster Partner bei der Kripo gewesen war, bevor er bei der Mordkommission anfing, während Leitz weiter beim KDD seinen Dienst versah, wo er auch die noch verbleibenden fünf Jahre bis zur Pension verbringen würde. »Wie hast du sie gefunden?«

»Lange Geschichte, zu lang für jetzt. Nur so viel – A 66, Richtung Wiesbaden, etwa dreihundert Meter vor der Tankstelle, mitten auf der Autobahn. Den Rest kannst du dir von den Kollegen berichten lassen, die vor Ort waren. Danke noch mal und gute Nacht.«

Auf der Fahrt nach Hause ließ er den gesamten Vorgang noch einmal Revue passieren. Jacqueline Schweigert, zweiundzwanzig Jahre alt, Abitur mit achtzehn, Medizinstudentin im sechsten Semester, von ihren Eltern um ein Uhr nachts am neunzehnten Dezember 2006 als vermisst gemeldet. Sie war zur Uni gefahren, hatte an einer Vorlesung teilgenommen und sich hinterher noch mit Kommilitonen getroffen. Am späten Abend hatte sie angeblich die S 1 Richtung Wiesbaden genommen und war gegen dreiundzwanzig Uhr am S-Bahnhof Eddersheim ausgestiegen. Aber bereits in Frankfurt hatte sich ihre Spur verloren.

Die Presse hatte noch vor Weihnachten mehrfach über Jacquelines Verschwinden berichtet, ein Foto von ihr war in jeder im Rhein-Main-Gebiet erscheinenden Zeitung abgedruckt worden, doch niemand konnte etwas über ihren Verbleib sagen. Sie wurde als aufgeschlossene, strebsame, aber auch etwas introvertierte junge Frau beschrieben. Keine Männerbekanntschaften, kein Freund, dafür ein sehr enges Verhältnis zu ihren Eltern, bei denen sie noch wohnte. Der Vater führte ein erfolgreiches, alteingesessenes Familienunternehmen, weshalb die Polizei zunächst von einer Entführung ausging. Doch als auch nach den entscheidenden zweiundsiebzig Stunden noch keine Lösegeldforderung eingegangen war, glaubte niemand mehr an eine normale Entführung, sondern man musste davon ausgehen, dass Jacqueline Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war. Und mit jedem weiteren Tag war die Hoffnung geschwunden, sie lebend wiederzusehen.

Aber nun war Jacqueline wieder aufgetaucht – wie aus dem Nichts. Bekleidet nur mit einem weißen Nachthemd, nach Rosen duftend, verwirrt und im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos, als hätte ihr jemand die Zunge oder die Stimmbänder herausoperiert.

 

Im Krankenhaus wurde Jacqueline gründlich untersucht, ergebnislos. Niemand hatte eine Erklärung für den immer noch sehr niedrigen Blutdruck und die flache, unregelmäßige Atmung.

Als ihre überglücklichen Eltern sie in den frühen Morgenstunden am Krankenbett besuchten, erhielten sie keine Reaktion. Kein Aufblitzen in den Augen, nur ein starrer Blick, als wären die Schweigerts wildfremde Menschen. Sie streichelten ihr wieder und wieder über Gesicht und Haare und hielten ihre Hand, doch Jacqueline reagierte nicht. Die Mutter weinte vor Glück, ihre totgeglaubte Tochter wiederzuhaben, der Vater jedoch saß schweigend am Bett.

»Warum erkennt sie uns nicht? Was ist mit ihr passiert?«, fragte Frau Schweigert später mit sorgenvoller Miene den diensthabenden Arzt.

»Sie müssen Geduld haben«, antwortete dieser mitfühlend, »wir gehen davon aus, dass sie ein schweres seelisches Trauma erlitten hat. So etwas kann zu einer vorübergehenden Amnesie und Sprachverlust führen. In der Regel gibt sich das nach ein paar Tagen, manchmal dauert es aber auch Wochen, bis die Patienten ihre Erinnerung wiedererlangen. Und Sie dürfen nicht vergessen, dass Ihre Tochter ein halbes Jahr weg war. Haben Sie bitte Geduld«, betonte er noch einmal. »Unsere bisherigen Untersuchungen haben keine gravierenden körperlichen Schädigungen angezeigt. Ein wenig Sorgen machen uns ihre Leber- und Nierenwerte, aber ich bin sicher, dass wir die Ursache dafür bald finden werden. Wir werden jedenfalls alles in unserer Macht Stehende tun, damit Ihre Tochter bald wieder nach Hause kann.«

Gegen neun Uhr erschienen Julia Durant und ein übermüdeter Frank Hellmer in der Klinik, sprachen erst kurz mit den Eltern und schließlich mit zwei Ärzten, die ihnen aber nicht viel Neues berichten konnten.

Zwei Tage lang wurde Jacqueline zahlreichen Untersuchungen unterzogen, wobei sich herausstellte, dass sowohl die Leber als auch die Bauchspeicheldrüse und die Nieren nach und nach ihre Arbeit einstellten und schon bald auch das Herz angegriffen war. Die Mediziner fanden keine Erklärung dafür und taten alles Menschenmögliche, diesen rasanten Verfall zu stoppen.

Doch alle ärztliche Kunst half nichts, Jacqueline starb am Sonntag, den siebzehnten Juni um 7.11 Uhr. Sie war eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht – nur vierundfünfzig Stunden nach ihrem plötzlichen Auftauchen aus dem Nichts.

Sie konnte nichts mehr erzählen, nicht, was am späten Abend des achtzehnten Dezember 2006 geschehen war, nicht, wo sie sich während der letzten sechs Monate aufgehalten hatte. Die Geschichte von Jacqueline Schweigert während der letzten sechs Monate ihres Lebens blieb im Dunkeln.

Ihre Eltern, die die ganze Zeit über an Jacquelines Bett ausgeharrt hatten, erlebten den Tod ihrer Tochter hautnah mit. Wie die Geräte, an die sie angeschlossen war, lautstark piepten, wie auf einmal die Nulllinie auf dem Monitor zu sehen war und alle Bemühungen der Ärzte, sie ins Leben zurückzuholen, vergebens blieben.

Die Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch und musste medizinisch versorgt werden, während der Vater sich noch am selben Tag bis fast zur Bewusstlosigkeit betrank. Ihre Tochter war zurückgekehrt und doch wieder gegangen. Diesmal für immer. Und niemand vermochte zu sagen, warum Jacquelines Organe versagt hatten. Auf dem Totenschein stand lapidar: »Multiples Organversagen, Ursache unbekannt.«

Anlässlich der dramatischen Entwicklung im Fall Jacqueline Schweigert wurde vergleichbaren Fällen der letzten Monate noch mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Am achten Januar war die sechsunddreißigjährige Apothekerin Karin Slomka von einem Barbesuch nicht nach Hause gekommen. Sie stammte wie Jacqueline Schweigert aus Hattersheim bei Frankfurt, auch hier hatte es weder ein Erpresserschreiben noch eine Geldforderung gegeben. Karin Slomka galt weiterhin als vermisst.

Ende Oktober des vergangenen Herbstes waren der geschiedene Frührentner Detlef Weiß, Mitte November Corinna Peters, Ehefrau und Mutter von vier Kindern, vermisst gemeldet worden. Auch bei diesen Fällen hatte es kein Lebenszeichen und keine Lösegeldforderung gegeben, bis man am fünfzehnten Dezember in einem Gebüsch in der Nähe der Staustufe Griesheim die Leiche von Corinna Peters und am einundzwanzigsten Dezember den toten Detlef Weiß in einem vorwiegend von Joggern und Spaziergängern genutzten Bereich des Frankfurter Stadtwalds fand. Beide Male hatten Hunde die Witterung aufgenommen.

Detlef Weiß trug nur Boxershorts, Corinna Peters war bis auf einen BH nackt. Der Mann war durch mehrere Messerstiche getötet worden, zudem war ihm die Kehle durchtrennt und die Augen herausgeschnitten worden, zahlreiche Hämatome wiesen auf massive Gewalteinwirkung mit einem stumpfen Gegenstand hin. Die Frau war, wie es Dr. Andrea Sievers von der Gerichtsmedizin ausgedrückt hatte, im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode geprügelt worden, wobei ihr Todeskampf mehrere Tage gedauert haben musste und der Täter nicht nur stumpfe Gegenstände und Schneidwerkzeuge, sondern auch die Fäuste benutzt hatte. Dazu war sie auf unvorstellbar grausame Weise im Intimbereich verstümmelt worden, es gab jedoch keinerlei verwertbare Fremd-DNA, da er, sollte er sie vergewaltigt haben, vermutlich ein Kondom benutzt hatte. Seine Folterungen waren mit mehreren abgebrochenen Flaschenhälsen ausgeführt worden, was aus Glassplittern unterschiedlicher Herkunft hervorging, die man in mehreren Körperöffnungen fand. Auch ihr waren die Augen herausgeschnitten und die Kehle durchtrennt worden.

Vor dem Ablegen seiner Opfer hatte der Täter sie gewaschen und ihre Hände und Füße mit einem höchst ungewöhnlichen Knoten zusammengebunden. Weder Andrea Sievers noch Professor Bock, beide erfahrene Rechtsmediziner, hatten je zuvor eine im Genitalbereich derart übel zugerichtete Leiche wie die von Corinna Peters auf den Tisch bekommen.

Alle Fälle wiesen Parallelen auf. Die spärliche Bekleidung, das plötzliche Verschwinden und das phantomhafte Wiederauftauchen. Aber es gab auch gravierende Unterschiede zwischen den sadistisch ausgeführten Morden und den Fällen der zuletzt aufgefundenen Frauen. Nicht nur, dass die Morde in einem Abstand von wenigen Wochen verübt worden waren, den Leichen haftete auch kein besonderer Duft an, außer der nach allmählich verwesendem Fleisch. Insgesamt hatten sich die Leichen jedoch in einem relativ guten Zustand befunden, da es der Jahreszeit entsprechend kühl gewesen war. Nach Aussage der Rechtsmediziner war Peters bei ihrem Auffinden etwa zwei und Weiß drei Tage tot gewesen.

Und so gab es widersprüchliche Theorien, die eine besagte, es handele sich um denselben Täter, die andere das Gegenteil. Julia Durant jedenfalls mochte nicht ausschließen, es mit ein und demselben Täter zu tun zu haben.

Es wurde davon ausgegangen, dass die ersten Opfer ihrem Peiniger zufällig über den Weg gelaufen waren. Er hatte eine außergewöhnliche Brutalität an den Tag gelegt, das über ihn erstellte psychologische Profil wies ihn als Sadisten mit abnormer krimineller Energie aus, der aber planvoll vorgegangen war. Keine Erklärung hatte man bislang dafür, warum er seinen Opfern die Augen herausgeschnitten und was es mit dem ungewöhnlichen Knoten auf sich hatte. Es blieb die Angst, es könne sich um einen Ritualmörder handeln, der jederzeit wieder zuschlagen könnte.

Jacqueline Schweigert hingegen waren nach äußerem Augenschein keine körperlichen Schmerzen zugefügt worden, sie schien auch nicht missbraucht worden zu sein, was durch die rechtsmedizinische Untersuchung aber erst noch belegt werden musste.

Dieses Tatmuster wies auf zwei unterschiedlich geartete Täter hin. Ersterer ließ seiner Morstlust oder was immer ihn auch antrieb freien Lauf, was der andere beabsichtigte, war noch nicht abzusehen, manche der Soko-Beamten, unter ihnen Julia Durant, bezeichneten es als Spiel. Aber um was für ein Spiel handelte es sich? Und was hatte er mit Jacqueline Schweigert gemacht? Warum war sie trotz aufwendigster medizinischer Betreuung gestorben, und warum zuckten die Ärzte nur hilflos die Schultern, wenn man sie nach der wahren Todesursache befragte? Multiples Organversagen konnte viele Ursachen haben, doch sie hatten keine der bekannten gefunden. Sie konnten auch keine Substanz nachweisen, die diese junge Frau das Leben gekostet hatte. Es war ein Rätsel: Keine ansonsten kerngesunde Zweiundzwanzigjährige starb plötzlich an multiplem Organversagen. Keine junge Frau verschwand mir nichts, dir nichts und tauchte ein halbes Jahr später vollkommen verwirrt wieder auf.

Vielleicht würden die Rechtsmediziner noch fündig, doch Julia Durant hegte wenig Hoffnung. Vielleicht hätten sie etwas finden können, wären sie sofort nach Jacquelines Einlieferung ins Krankenhaus von den dortigen Ärzten hinzugezogen worden. Möglicherweise würden sie aber doch noch etwas isolieren können, ein nur schwer nachweisbares Gift beispielsweise.

Die Sonderkommission vom K 11 in Frankfurt unter Leitung von Julia Durant stellte dieser Fall vor die größte Herausforderung, mit der sie bisher konfrontiert worden war. Ab sofort würden die Beamten mit noch größerem Einsatz an der Aufklärung des mysteriösen Verschwindens und des noch mysteriöseren Todes der drei arbeiten, obwohl man in nunmehr fast achtmonatiger Ermittlungsarbeit keine nennenswerten Erkenntnisse gewonnen hatte. Die Opfer hatten sich nicht gekannt, stammten aus gesicherten sozialen Verhältnissen, lebten relativ unauffällig, hatten weder Vorstrafen noch finanzielle Probleme und waren gut in die Gesellschaft integriert.

Corinna Peters, die mit ihrer Familie in einem Reihenhaus in Frankfurt-Berkersheim gewohnt hatte, war nach Aussage ihres Mannes, ihrer Eltern, Geschwister und Freunde glücklich verheiratet gewesen, die Recherchen erbrachten auch keinen Hinweis auf eine Affäre. Vierunddreißig Jahre alt, etwas über ein Meter sechzig groß, schlank und sehr gepflegt, das Haus in Schuss, die Kinder im Alter zwischen dreizehn und vier Jahren wohlerzogen, der Ehemann Leiter einer Sparkassenfiliale. Eine sympathische Durchschnittsfamilie mit guten Kontakten zu den Nachbarn.

Detlef Weiß hatte in einem Mehrfamilienhaus in Frankfurt-Seckbach gewohnt, das ihm gehörte. Ein Arbeitsunfall, bei dem ihm der rechte Unterarm abgetrennt worden war, hatte ihn zum Frührentner gemacht, zum Zeitpunkt des Unfalls war er achtunddreißig Jahre alt, bei seinem Verschwinden einundvierzig. Neben dem Haus, in dem er gelebt hatte, besaß er noch drei weitere Häuser im Rhein-Main-Gebiet und war finanziell abgesichert. Er wurde als freundlicher und kulanter Vermieter beschrieben, der ein ruhiges und zurückgezogenes Leben führte, das er vorwiegend in seinem zweihundert Quadratmeter großen Luxusloft verbrachte. Er war geschieden, hatte zwei unterhaltspflichtige Kinder und lebte allein. Ein Jahr nach seinem Unfall hatte ihn seine Frau mit den Kindern verlassen und lebte seitdem in Straßburg. Er überwies jeden Monat pünktlich die Alimente für seine Exfrau und die Kinder und hatte auch nach der Scheidung noch guten Kontakt zu seiner Familie. Weitere Kontakte beschränkten sich auf einen Freund, demzufolge Weiß seit seiner Scheidung keine feste Beziehung mehr eingegangen war. Er hatte weder Eltern noch Geschwister. Bei der Durchsuchung des Lofts fanden sich Belege, dass er Stammgast in einem Nobelbordell im Frankfurter Osten gewesen war, wo man ihn durchweg als großzügigen und gerngesehenen Kunden beschrieb. Aber auch die Befragung des dortigen Personals erbrachte keine verwertbaren Erkenntnisse über Detlef Weiß, obwohl er unmittelbar vor seinem Verschwinden in besagtem Bordell gewesen war. Nach Verlassen des Hauses gegen drei Uhr in der Nacht verlor sich seine Spur.

Karin Slomka hatte bis zu ihrem Verschwinden mit ihrer Mutter und ihrem siebenjährigen Sohn in einem Bungalow in Hattersheim gelebt. Neben ihrer Arbeit in einer Apotheke in Flörsheim hatte sie sich der Kunst verschrieben, malte Aquarelle, spielte in einem Kammerorchester Geige und schrieb Kurzgeschichten, für die sich bisher noch kein Verleger gefunden hatte. Sie joggte mindestens dreimal in der Woche je anderthalb Stunden und besuchte regelmäßig ein Fitnessstudio nur für Frauen in Hofheim, wo sie als zurückhaltend und kontaktscheu galt. Sie kam, absolvierte ihre Übungen und fuhr wieder nach Hause. Ihre Chefin beschrieb Karin Slomka als freundlich und strebsam, über ihr Privatleben konnte sie nichts berichten. Montags ging sie regelmäßig nach der Probe mit zwei Bekannten aus dem Orchester in eine Bar im Frankfurter Westend, wo sie sich in der Regel bis gegen dreiundzwanzig Uhr aufhielt. Von hier kehrte sie eines Nachts nicht nach Hause zurück. Die beiden Frauen, die mit ihr in der Bar gewesen waren, waren ausgiebig befragt worden, doch keine konnte etwas über ihren Verbleib sagen. Ihre Mutter und auch die Freundinnen sagten jedoch übereinstimmend aus, dass sie den Tod ihres Mannes nie verwunden hatte, zwei Jahre lang hatte sie mit ansehen müssen, wie der Krebs seinen noch jungen Körper zerstörte, förmlich auffraß, bis er kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag starb. Das war kaum drei Jahre her.

Sie wurde zuletzt gesehen, als sie am achten Januar gegen 23.15 Uhr in ihren Audi TT einstieg. Der Wagen wurde zwei Tage nach ihrem Verschwinden nur wenige hundert Meter entfernt in einer Tiefgarage gefunden. Wie er dorthin gekommen war, blieb bis heute ein Rätsel.

Karin Slomka und Jacqueline Schweigert, zwei Frauen aus Hattersheim, wobei der Wohnort die einzige Gemeinsamkeit zu sein schien. Sie hatten sich nicht gekannt, so viel glaubte man zu wissen.

Vier unbescholtene Bürger, vier Vermisstenanzeigen, drei Tote. Und nicht der geringste Hinweis auf den oder die Täter. Und über allem die Besorgnis, er oder sie könnten wieder zuschlagen.

Der Sadist, wie er von den Beamten der Soko genannt wurde, hatte seit seinem letzten Mord im Herbst stillgehalten, es gab auch im restlichen Deutschland keine vergleichbaren Taten. Hatte er mit dem Morden aufgehört? Wie die hinzugezogenen Kriminalpsychologen erklärten, hielten sie dies für nahezu ausgeschlossen, da ein psychisch und emotional derart gestörter Täter nie zur Ruhe käme. Manche dieser Täter, so behaupteten sie, nähmen sich eine Auszeit, bevor sie wieder mit dem Morden begannen. Einer verglich es mit einem erdbebengefährdeten Gebiet, bei dem der Zeitpunkt des nächsten schweren Bebens nicht vorausberechnet werden könne, man könne nur sagen, dass es irgendwann zum großen Knall kommen würde.

»Er schlägt wieder zu, nur wann und wo, das kann keiner sagen«, bemerkte einer von ihnen, und Julia Durant wusste, dass er recht hatte. Wenn ein solcher Täter den unverwechselbaren Geruch von Blut und Tod einmal eingesogen habe, wolle er diesen Geruch immer und immer wieder in sich einsaugen, das hatte ihr vor Jahren ein von ihr festgenommener Mörder gestanden. Und sie wollten die Macht über ihre Opfer weiter auskosten, bis zu dem Moment, wo sie einen Fehler machten und der Polizei ins Netz gingen. Diese Täter hörten erst auf, wenn sie gefasst und für den Rest ihres Lebens weggesperrt waren.

Täter Nummer zwei (sofern es einen zweiten gab) war hingegen noch nicht einzuschätzen, dazu gab es viel zu viele offene Fragen. Karin Slomka und Jacqueline Schweigert waren einfach von der Bildfläche verschwunden, doch Jacqueline war wieder aufgetaucht und nur kurze Zeit später gestorben, woran, das wusste man nicht und würde es vielleicht auch nie herausfinden. Es gab nur einen einzigen kleinen Hinweis – der besondere Duft, den Jacqueline Schweigert verströmt hatte. Rosen. Vor ihrem Auftauchen auf der Autobahn schien sie mit einer intensiven Körperlotion eingerieben worden zu sein. Oder sie hatte es selbst gemacht, doch angesichts des völlig weggetretenen Zustands, in dem sie aufgefunden wurde, hielt man dies für unwahrscheinlich.

Die brutalen Morde wurden einem soziopathischen Triebtäter zugeschrieben, während die vermutliche Entführung von Karin Slomka und die ebenfalls noch nicht eindeutig bewiesene von Jacqueline Schweigert eine andere Handschrift aufwiesen. Doch bereits jetzt sprach man von einem besonders perfiden Täter, der den bis jetzt perfekten Mord begangen hatte. Und er würde es wieder tun, mehr noch, er schien ein Spiel mit der Polizei begonnen zu haben. Jemand, der überzeugt war, unbesiegbar zu sein und perfekt zu morden, litt entweder unter Größenwahn – oder er war tatsächlich perfekt. Die Kriminalpsychologen stuften den Täter als weit überdurchschnittlich intelligent ein, als einen Menschen, der sich seiner Fähigkeiten bewusst war, aber auch als jemanden, der im normalen Leben keine herausragende Rolle spielte. Man ging von dem unscheinbaren, netten Nachbarn von nebenan aus, dem man niemals ein Verbrechen zutrauen würde, schon gar keinen Mord. Der sich mit den anderen in seiner Straße gut verstand, liebevoll mit seiner Frau und den Kindern umging und sich nie das Geringste hatte zuschulden kommen lassen.

Aber hatte er überhaupt gemordet? Nichts deutete bei Jacqueline Schweigert auf äußere oder innere Gewalteinwirkung hin. Und wenn er ein Gift verwendet hatte, dann eines, das schon kurz nach der Verabreichung nicht mehr nachweisbar war. Solche Gifte gab es zur Genüge, wie Bock und Sievers erklärten.

Auf keine der unzähligen Fragen der Sonderkommission gab es eine zufriedenstellende Antwort. Alles basierte seit einem guten halben Jahr auf Vermutungen. Und es gab nichts, was eine ohnehin nicht sehr geduldige Julia Durant wütender machte, als über viele Monate hinweg auf der Stelle zu treten. Vier Vermisstenfälle, drei Tote und keine Erklärungen.

Die Presse – allen voran eine Boulevardzeitung – wurde immer fordernder, sie verlangte angeblich im Auftrag der Öffentlichkeit Ergebnisse. Einige Journalisten überboten sich an Dreistigkeit, und es schien, als warteten sie nur darauf, ihre Zelte im Präsidium aufschlagen zu können, um den erlösenden Moment der Festnahme des Mannes oder der Männer live mitzuerleben und gleich davon zu berichten. Doch seitens der Staatsanwaltschaft war eine umfassende Informationssperre verhängt worden, um die Ermittlungen nicht zu behindern.

Alle Mitglieder der seit dem Wochenende auf zwanzig Mann aufgestockten Soko schoben Überstunden um Überstunden, um am Ende jedes Tages ernüchtert festzustellen, dass man wieder einmal keine verwertbaren Ergebnisse vorzuweisen hatte.

Mit wem hatte Jacqueline Schweigert Kontakt gehabt, nachdem sie in Eddersheim aus der S-Bahn gestiegen war? Man wusste ja noch nicht einmal sicher, ob sie die Bahn dort verlassen hatte. Niemand hatte sie auf dem Bahnhof gesehen, niemand auf dem Weg zum Haus. Trotz mehrfacher Aufrufe über die Medien hatte sich bis jetzt auch niemand gemeldet, der die junge Frau in der S-Bahn gesehen hatte. Nichts deutete auf heimliche Kontakte hin, nichts auf eine heimliche Liebschaft, dazu war sie zu verantwortungsbewusst gewesen. Sie war eine ganz normale junge Frau, deren Konzentration allein ihrem Studium gegolten hatte. Kein Partner, nicht einmal eine kurzfristige Affäre. Der einzige feste Freund, den sie in ihrem kurzen Leben gehabt hatte, war ein junger Mann gewesen, mit dem sie aber bereits vor Beginn ihres Studiums Schluss gemacht hatte. Er lebte längst in einer neuen Beziehung, hatte eine kleine Tochter und seit drei Jahren keinen Kontakt mehr zu Jacqueline Schweigert gehabt.

Warum hatten ihre Organe versagt? Warum war sie im Nachthemd gewesen, als sie gefunden wurde? Was hatten der oder die Täter mit ihr gemacht? Unzählige Fragen und nicht eine Antwort.

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Montag, 18. Juni, 10.00 Uhr

Am Tag nach Jacqueline Schweigerts Tod suchten Julia Durant und Frank Hellmer noch einmal die Eltern auf. Der Vater war wieder einigermaßen nüchtern, die Mutter hingegen schien kaum wahrzunehmen, was um sie herum vorging. Anfangs lief sie ziellos im Wohnzimmer herum und redete wirres Zeug, bis sie sich auf einmal in einen Sessel kauerte, keinen Laut mehr von sich gab und dumpf vor sich hin starrte. Offensichtlich stand sie unter starken Beruhigungsmitteln.

»Es tut uns leid, was mit Ihrer Tochter passiert ist. Wir hatten auch inständig gehofft, dass sie uns sagen könnte …«

Herr Schweigert schüttelte nur den Kopf und unterbrach Durant mit einer schnellen Handbewegung: »Wir haben gehofft und gehofft und gehofft. Sechs verdammte Monate lang haben wir nichts als gehofft. Und dann ist Jackie wieder da, aber sie hat uns nicht einmal erkannt. Was hat dieses verdammte Schwein mit ihr gemacht? Das kann doch nur ein krankes Hirn sein, das sich so was ausdenkt. Oder? Sie sind doch die Profis, Sie wissen doch, was sich in solchen perversen Köpfen abspielt! Sagen Sie’s mir.« Dabei sah er Durant an, als erwarte er von ihr eine befriedigende Antwort.

»Wir wissen ja nicht einmal, wo sie sich aufgehalten hat …«

»Aufgehalten!«, stieß er bitter hervor. »Das hört sich an, als hätte sie sich in den letzten Monaten rumgetrieben und vergnügt. Oder als hätte sie Urlaub gemacht.« Seine Augen wurden zu glühenden Kohlen, als er aufsprang und plötzlich losbrüllte, während seine Frau nur weiterhin stumm dasaß: »Hören Sie, unsere Tochter ist am Abend des achtzehnten Dezember um kurz nach halb elf in Frankfurt in die S-Bahn gestiegen und bis Eddersheim gefahren. Aber das steht ja alles in Ihren Akten. Sie ist immer, ich betone: immer, mit der S-Bahn zur Uni gefahren und mit der S-Bahn auch wieder nach Hause gekommen. Von der Station bis zu unserem Haus sind es zu Fuß keine fünf Minuten …«

»Niemand hat gesehen, wie Ihre Tochter in die S-Bahn gestiegen ist«, bemerkte Hellmer behutsam.

»Was, verdammt noch mal, soll sie denn sonst gemacht haben? Vielleicht ein bisschen durchs Rotlichtviertel streifen und ein paar Hurenböcke aufgabeln oder …« Unwirsch winkte er ab. »Warum sollte sie ausgerechnet am Abend ihres Verschwindens nicht mit der S-Bahn gefahren sein? Sie ist immer mit der Bahn gefahren, immer, immer, immer! Wie oft soll ich das noch wiederholen? Und sie hatte ihre festen Zeiten, und an die hat sie sich auch immer gehalten. Verstehen Sie – immer!«

»Das glauben wir Ihnen doch auch, aber Sie wissen selbst, manchmal gibt es Ausnahmen«, warf Durant ein.

»Bei andern vielleicht, aber nicht bei Jacqueline. Haben Sie sich die Überwachungsbänder der S-Bahn-Stationen wirklich genau angesehen?«

»Das haben wir, und zwar mehr als ein Mal, unsere Spezialisten haben sie mit den modernsten Methoden überprüft, ohne Ihre Tochter …«

»Gewäsch! Nichts als Gewäsch!«

»Herr Schweigert, wir haben Ihnen mehrfach gesagt, dass auf keinem dieser Bänder Ihre Tochter zu erkennen ist. Deshalb müssen wir auch, und auch das haben wir bereits versucht, Ihnen zu erklären, eine andere Möglichkeit in Betracht ziehen. Es tut mir leid, aber es ist immerhin möglich, dass Ihre Tochter ausgerechnet am achtzehnten Dezember nicht die Bahn genommen hat. Vielleicht hat sie sie ja verpasst.«

»Warum hätte sie das tun sollen?«, brüllte er noch lauter. »Dann sehen Sie sich diese verdammten Bänder eben noch mal an! Irgendwo muss sie zu sehen sein. Geben Sie mir die Bänder, ich werde schon was finden.«

»Das geht leider nicht. Aber ich versichere Ihnen, wir haben sie zigmal angesehen. Unsere Techniker haben jedes Detail überprüft, sie haben Vergrößerungen angefertigt … Ihre Tochter ist auf keinem einzigen Band zu sehen. Wir haben auch Vergleichsbänder analysiert, auf denen Ihre Tochter klar und deutlich zu erkennen ist. Aber das hatten wir Ihnen doch alles schon etliche Male zu erklären versucht.«

Schweigert hielt sich mit beiden Händen den Kopf und stieß hervor: »Ich kann das nicht glauben, egal, wie oft Sie das sagen. Sie ist mit der S-Bahn gefahren wie jeden Abend. Sie ist hier am Bahnhof ausgestiegen, und da muss sie ihrem Entführer in die Arme gelaufen sein. Es gibt doch keine andere Erklärung, oder?«

»Bis jetzt nicht, wir hoffen jedoch, eine zu finden.«

»Wissen Sie, diese Gegend galt bisher als ziemlich sicher … Obwohl sie ein eigenes Auto hatte, fand sie es bequemer, mit der Bahn zu fahren, statt ständig einen Parkplatz suchen zu müssen. Na ja, Sie wissen ja, wie das in Frankfurt ist. Sie hatte sich mit drei Kommilitonen getroffen … Ach, was rede ich, lesen Sie den ganzen Kram doch nach. Gehen Sie und suchen Sie diesen verfluchten Schweinehund, der ihr und uns das angetan hat. Und dann lassen Sie mich mit ihm für eine halbe Stunde allein.«

Er weiß nicht, was er sagt, dachte Durant und vermied den Blickkontakt mit Schweigert, sie wollte sich nicht anmerken lassen, was sie fühlte und dachte. »Sie wissen, dass das nicht zulässig ist.«

»Ja, leider«, antwortete er bitter. »Ich kann inzwischen gut verstehen, dass jemand die Sache selbst in die Hand nimmt, denn mir ist danach, dieses Dreckschwein umzubringen. Und zwar ganz langsam. Genau so, wie er es mit Jackie gemacht hat. Zum Schluss würde ich ihm seine Eier ins Maul stopfen.«

»Ich kann Sie verstehen«, sagte Hellmer mit ruhiger Stimme.

»Quatsch, nichts können Sie! Haben Sie schon mal eine Tochter verloren, die Ihnen mehr bedeutet hat als Ihr eigenes Leben? Haben Sie das?«

»Nein.«

»Also, dann hören Sie auf mit diesem Geschwätz. Sie war unser Ein und Alles. Und glauben Sie mir, wir haben uns immer um sie gesorgt. Bei all diesen verrückten Typen, die draußen rumlaufen und Kinder und Frauen umbringen. Jackie war unser Leben, und das ist uns jetzt genommen worden. Das werden Sie nie verstehen.«

Hellmer entgegnete nichts darauf, er dachte nur an seine beiden Töchter Stephanie und Marie-Therese.

»Haben Sie Kinder?«, fragte Schweigert, während er sich ein Glas Wasser einschenkte.

Durant schüttelte den Kopf, Hellmer nickte.

»Hm, dann passen Sie gut auf sie auf. In dieser Welt ist kein Kind mehr sicher, auch wenn dieses Kind schon zweiundzwanzig Jahre alt ist. Wie heißt es so schön: Das Böse ist immer und überall. Und jetzt möchte ich Sie bitten zu gehen, wir haben Ihnen nichts mehr zu sagen.«

Durant und Hellmer wurden zur Tür begleitet, verabschiedeten sich und spürten Schweigerts Blick in ihrem Rücken.

»Ich kann es einfach nicht verstehen«, sagte Durant, als sie wieder im Auto saßen. »Was, verdammt noch mal, ist bloß mit ihr passiert? Was, was, was?« Sie strich sich verzweifelt mit einer Hand durchs Haar, das sie in den letzten Monaten hatte wachsen lassen und das ihr jetzt bis über die Schultern fiel. »Wenn sie, wie Schweigert behauptet, immer die Bahn genommen hat, warum ausgerechnet am achtzehnten Dezember nicht? Wen hat sie getroffen oder wem ist sie begegnet, dass sie es nicht getan hat? Vielleicht hat sie sie einfach verpasst. So, wie sie uns geschildert wurde, war sie zurückhaltend und distanziert. Sie wäre doch zu niemandem ins Auto gestiegen, wenn sie denjenigen nicht gut kannte, oder? Und was ist dann mit ihr geschehen?«

»Ich hatte doch auch gehofft, dass die Kleine überlebt und uns irgendwann erzählen kann, was am achtzehnten Dezember passiert ist, wo sie war und was man mit ihr gemacht hat. Julia, wir sind im Augenblick machtlos …«

»Und das ist genau das, was ich so hasse! Irgendwo da draußen läuft ein Wahnsinniger rum, und wir haben nicht den leisesten Schimmer, wann er sich sein nächstes Opfer krallt. Das macht mich rasend. Ich kann Schweigert verstehen, dass er den Kerl am liebsten umbringen würde. Und wenn es das Gesetz nicht verbieten würde, ich würde ihn gerne mal mit dem Saukerl allein lassen. Ich glaub, ich brauch ’ne Zigarette. Kannst du einen kleinen Umweg fahren? Richtung Höchst, Kurmainzer Straße?«

»Warum?«

»Einfach so. Ich will eine rauchen und …«

»Du hast doch damit aufgehört«, entgegnete Hellmer.

»Ach ja, hab ich das?«

Hellmer nahm die Ausfahrt beim Main-Taunus-Zentrum, fuhr die Königsteiner Straße hinunter, bog mehrfach ab und hielt schließlich vor dem Friedhof.

»Und jetzt?«, fragte er.

»Gehen wir doch ein Stück in den Park, ich war ewig nicht hier. Wir qualmen eine und vergessen für einen Augenblick die Arbeit.«

»Du und die Arbeit vergessen?«, fragte er und zog die Stirn in Falten, sein Blick sprach Bände.

»Du hast recht, das kann ich nicht«, sagte Durant, holte die Schachtel aus ihrer Tasche und hielt sie Hellmer hin. »Die hab ich mir vor vier Tagen gekauft, und es sind immerhin noch sechs drin. Ich hab nicht so ganz aufgehört, aber die zwei oder drei pro Tag …«

»Du brauchst dich nicht vor mir zu rechtfertigen. Bei mir ist’s und bleibt’s eine ganze Schachtel. Ich hab mir abgewöhnt, damit aufhören zu wollen, es klappt eh nicht.«

Sie gingen in den Höchster Stadtpark, setzten sich auf eine Bank und rauchten für einen Moment schweigend. Jetzt am Vormittag hielten sich nur wenige Menschen hier auf. Ein paar Jogger, der eine oder andere einsame Spaziergänger. Die Sonne schien von einem beinahe wolkenlosen Himmel, und wenn die Prognosen stimmten, würde es in den kommenden Tagen deutlich wärmer werden.

»Frank«, sagte Durant nach einer Weile, ohne ihn anzusehen, »wir quälen uns seit Dezember oder genau genommen seit Oktober mit diesen Fällen herum, ohne auch nur den Ansatz einer Lösung zu sehen. Ich habe Angst, dass uns allen das Ganze über den Kopf wächst, wenn du verstehst, was ich meine …«

»Nein, erklär’s mir.«

»Wir haben noch immer nichts in den Händen, wir rackern uns ab wie die Bekloppten, wir schieben Überstunden ohne Ende und treten doch auf der Stelle. Ich hab die Schnauze voll bis oben hin. Und die Sprüche unserer Psychoheinis hängen mir allmählich auch zum Hals raus.«

»Und? Was willst du machen? Wir erledigen unsern Job, so gut es geht, mehr ist nun mal nicht drin.«

»Tun wir das wirklich?«

»Was? Meinst du vielleicht, wir machen nicht genug?«

»Nein, ich denke nur, dass wir die ganze Zeit etwas ganz Wesentliches übersehen haben, aber ich weiß nicht, was. Du weißt ja, manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich wandle das jetzt mal ab und behaupte, wir sehen das große Ganze vor lauter Details nicht. Jemand, der solche Verbrechen begeht, ringt normalerweise um Aufmerksamkeit. Warum unser Täter nicht? Er sucht nicht den Kontakt zu uns, er meldet sich nicht, er bleibt ein Phantom. Und genau das will und kann ich nicht glauben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ausgerechnet bei unserm Täter anders sein soll. Es widerspricht sämtlichen Gesetzen der Kriminalistik. So einer sucht doch den Kontakt zu uns oder den Medien. Warum er nicht? Oder tut er’s, und wir haben’s nur noch nicht gemerkt?«

»Wir hätten’s gemerkt, da kannst du aber sicher sein.«

»Also gut. Nehmen wir noch mal die Slomka und die Schweigert. Wer hat sie entführt …«

»Stopp«, wurde sie von Hellmer unterbrochen. »Lass uns diese Diskussion nicht hier führen, die anderen sollten schon dabei sein.«

»Wir haben doch schon unendliche Diskussionen geführt und uns die Köpfe heißgeredet, ohne dass etwas dabei herausgekommen wäre. Nur ganz kurz, bitte. Wenn wir beide allein Sachen durchgekaut haben, sind wir oft auf etwas gestoßen.«

»Meinetwegen. Aber gleich ein Einwand. Ich bin bis jetzt nur davon überzeugt, dass die Slomka und die Schweigert von ein und demselben Mann entführt wurden. Bei dir klingt es so, als wäre derjenige auch für die beiden Morde an Weiß und Peters verantwortlich.«

»Nein, so hab ich das nicht gemeint«, entgegnete Durant leise.

»Doch, hast du. Warum glaubst du entgegen der Meinung unserer Experten, dass er erst die beiden Morde begangen hat und dann auf eine sanftere Methode umgestiegen ist?«

»Keine Ahnung, nur ein Gefühl. Frank, du kennst mich und weißt, dass ich dieses Gefühl nie erklären kann. Es ist einfach da.« Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: »Mein Bauch sagt mir, er hat mit zwei Morden angefangen und sich dann etwas anderes einfallen lassen. Etwas, das am Ende vielleicht sogar noch grausamer ist.«

»Okay, das ist deine Meinung, und die respektiere ich. Und nun schieß los.«

»Slomka und Schweigert. Wer hat sie entführt? Wie ist es dazu gekommen? Kannte er die Frauen vorher? Oder sind sie ihm zufällig über den Weg gelaufen? Wo hat er sie gefangen gehalten beziehungsweise hält er seine Opfer gefangen? Und warum hat er die Schweigert wieder freigelassen? Oder hat sie sich befreien können, was ich allerdings für sehr unwahrscheinlich halte? Hat er gewusst, dass sie kurz darauf sterben würde? Oder hat er es gar geplant? Wenn ja, dann ist es so ziemlich das Perfideste, was mir jemals untergekommen ist. Und was ist sein Motiv? Jeder Täter hat ein Motiv, und wenn es nur ein Trieb ist, den er durch seine Tat befriedigen kann. Wenn er sich wenigstens mal melden würde. Aber nein, er kidnappt zwei Frauen und …«

»Das ist doch überhaupt nicht bewiesen«, widersprach Hellmer und drückte seine Zigarette mit der Schuhspitze aus.

»Was?«

»Dass er sie gekidnappt hat. Ich schließe mich da eher der Meinung unserer Kollegen an, nämlich dass er die Slomka und die Schweigert dazu gebracht hat, freiwillig mit ihm zu gehen. Ein Kidnapping geschieht grundsätzlich ohne Einverständnis des Opfers und meist mit Gewalt. Nehmen wir doch mal an, dass er die Slomka und die Schweigert doch kannte und ihr Vertrauen erschlichen hat. Diese Möglichkeit haben wir schon einige Male in Betracht gezogen. Du weißt, die Schweigert wies keinerlei Spuren von Misshandlung oder körperlicher Gewalt auf. Und sie hat laut ihren Eltern nur unwesentlich an Gewicht verloren. Zudem wirkte sie sehr gepflegt. Für mich bedeutet das, dass er sie gut behandelt hat. Das sollte uns zu denken geben, meinst du nicht?«

Julia Durant sah auf den hellen, von unzähligen Füßen festgetretenen Boden aus Erde, Sand und winzigen Steinchen und antwortete: »Das ist es ja, was mich so irritiert. Woran ist die Kleine gestorben? Und warum hat sie ihre Sprache und ihr Erinnerungsvermögen verloren? Die hat ihre Eltern doch angeschaut, als wären sie Aliens. Was ist bloß mit ihr passiert?«

»Auch das werden wir hoffentlich noch herausfinden. Sie hat nicht nur ihre Eltern nicht erkannt, alles und jeder schien ihr total fremd zu sein. Als wäre sie von einem andern Stern auf die Erde gekommen, ohne eine Möglichkeit zu haben, sich mit uns zu verständigen. Halt mich jetzt nicht für verrückt, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie einer Art mentalen Folter unterzogen wurde, vielleicht vergleichbar mit dem Vorgehen einer gewissen Sekte, der auch berühmte Schauspieler angehören, wo die Leute richtiggehend umgedreht werden, wenn auch nicht in einem solchen Ausmaß. Wir haben doch schon von Methoden der Gehirnwäsche gehört, wo die Betroffenen hinterher nicht mal mehr ihren eigenen Namen kannten.«

»Ich weiß, dass es so was gibt. Und trotzdem fällt es mir schwer zu glauben, dass unser Täter solche Methoden anwendet. Dann müsste er doch entsprechend ausgebildet sein. Mir wird ganz anders, wenn ich darüber nachdenke, dass die Slomka in seiner Gewalt ist. Wo ist sie? Bei dem, der die Schweigert auf die Autobahn geschickt hat? Und wenn, wo hält er sie gefangen? Du kannst ja nicht völlig unbemerkt zwei fremde Menschen einsperren, ohne dass die Nachbarn etwas davon mitbekommen. Es sei denn, er hat ein freistehendes Haus, lebt allein und hat auch sonst kaum Kontakt zur Außenwelt.«

»Das sehe ich anders. Denk doch nur mal an den Fall Kampusch. Ihr Entführer hatte sehr wohl Kontakt nach außen, und keiner dieser Kontakte wusste angeblich etwas von seinem Doppelleben, was ich im Übrigen bezweifle. Und ich möchte nicht wissen, wie viele Fälle dieser Art es noch gibt. Ich halte nichts für ausgeschlossen, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist. Und jetzt lass uns fahren, es hat in meinen Augen wenig Sinn, wenn wir hier Fragen stellen, ohne dass die anderen dabei sind.«

Sie erhoben sich von der Bank, Hellmer steckte sich noch eine Zigarette an, und Durant sagte: »Ich frage mich, wann wir ihn fassen. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich daran zweifle, ob wir ihn überhaupt fassen.«

»Jeder Verbrecher macht früher oder später einen Fehler«, erwiderte Hellmer lakonisch.

»Hm, fragt sich nur, ob schon bald oder erst, wenn ich in Pension bin.«

»Du hast noch zwanzig Jahre vor dir, also red nicht so einen Stuss.«

»Die Zeit vergeht schnell, viel zu schnell«, seufzte sie. »Ich bin wohl doch reif für die Insel.«

»Südfrankreich«, bemerkte Hellmer trocken. »Du darfst ja bald fahren. Und komm jetzt bloß nicht auf die Idee, wegen dieser Sache hierzubleiben. Sonst verfrachte ich dich persönlich ins Flugzeug.«

»Ist ja gut.«

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Dienstag, 11.55 Uhr

Es war Mittag, als sie im Büro eintrafen. Berger und die anderen Kollegen saßen hinter ihren Schreibtischen, Doris Seidel telefonierte, Kullmer tippte etwas in den Computer ein und starrte dabei angestrengt auf den Monitor.

Durant und Hellmer erstatteten einen kurzen Bericht über den Besuch bei den Schweigerts, ohne von Berger unterbrochen zu werden, er stellte auch keine Fragen. Als sie in ihre Büros gehen wollten, hielt er sie zurück.

»Nicht so hastig. Ich habe eine Neuigkeit für Sie. Wir erhalten Unterstützung vom BKA …«

»Hab ich das eben richtig verstanden?«, entfuhr es Durant. »Wir bekommen Unterstützung vom BKA?«

»Jetzt tun Sie nicht so erstaunt, oder wie soll ich Ihren Gesichtsausdruck deuten?«

»Na ja, normalerweise halten die sich doch vornehm zurück, wenn wir sie um etwas bitten. Kooperation in Mordfällen ist nicht unbedingt deren Stärke.«

»Frau Durant, ersparen Sie mir bitte Ihre Vorurteile. Zum Wesentlichen: Dr. Holzer vom BKA wird zu uns stoßen. Er hat sich nach den jüngsten Vorfällen angeboten, uns bei den Ermittlungen mit seinem umfangreichen Fachwissen zur Seite zu stehen. Aufgrund eines andern Falles ist er diese Woche noch unabkömmlich, wird uns jedoch ab kommenden Montag mit aller Kraft unterstützen.«

»Was für eine Ehre. Der große Thomas Holzer begibt sich in die Niederungen des Frankfurter PP«, bemerkte Hellmer nicht ohne einen ironischen Unterton.

»Was haben Sie gegen ihn?«, fragte Berger stirnrunzelnd. »Wir kommen seit Monaten keinen Schritt voran, und nun haben wir dieses phantastische Angebot bekommen, das wir nicht ausschlagen sollten. Sie müssen doch zugeben, dass wir jede Unterstützung gebrauchen können.«

»Schon«, gab Hellmer zu, »aber Holzer ist bekannt dafür, dass er keine Meinung außer seiner eigenen gelten lässt. Dabei hat er kaum halb so viele Dienstjahre auf dem Buckel wie unsereins.«

»Herr Hellmer, diese kleingeistige Animosität steht Ihnen nicht. Hören Sie, das BKA stellt uns seinen besten Kriminalpsychologen und Fallanalytiker zur Verfügung, und das will doch etwas heißen. Sind Sie ihm überhaupt jemals persönlich begegnet?«

Hellmer blickte als Antwort nur zu Boden und runzelte die Stirn.

»Na also, wie können Sie sich dann ein Urteil erlauben? Ich kann Sie auch gerne von dem Fall abziehen und einen anderen Kollegen an Ihre Stelle setzen, wenn Ihnen das lieber ist. Es gibt noch genug andere Arbeit zu erledigen, zum Beispiel stapeln sich eine Menge unerledigter Akten auf den Tischen.«

»Nein danke, Chef, ich werde mit Holzer schon zurechtkommen. Und keine Sorge, ich werde mich zurückhalten.«

»Nichts anderes erwarte ich von Ihnen. Außerdem haben wir noch eine knappe Woche Zeit, den Fall selbst zu lösen. Aber da ich nicht an Wunder glaube …«

»Ich auch nicht. Bin gespannt, ob der uns helfen kann«, sagte Hellmer.

»Er wird uns auf jeden Fall all sein Wissen zur Verfügung stellen, und zwar vorläufig auf unbegrenzte Zeit. Er ist der mit Abstand beste und erfolgreichste Profiler, den wir in Deutschland haben, er war zwei Jahre in den Staaten und ist bei den Besten in die Lehre gegangen. Wenn das keine Referenz ist«, sagte Berger im Brustton der Überzeugung.

»Mal sehen«, bemerkte Durant nur.

»Höre ich da etwa auch bei Ihnen Zweifel in der Stimme?«

»Manchmal stoßen auch die Besten an ihre Grenzen. Wie will er uns helfen, wenn unsere Abteilung nach beinahe acht Monaten nicht mal den Hauch einer Ahnung hat, wo bei der Suche nach diesem … Monster! … anzusetzen ist? Können Sie mir das verraten?«

»Warum dieser Pessimismus?«, wollte Berger wissen. »Das passt nicht zu Ihnen, wo Sie sonst doch immer so voller Elan und Zuversicht stecken.«

Mit einem resignierten Gesichtsausdruck antwortete sie: »Tja, sonst immer. Aber ich kann mich an keinen einzigen Fall erinnern, wo wir so lange im Dunkeln getappt sind wie jetzt. Es stimmt schon, ich bin normalerweise eher optimistisch, aber allmählich …«

Berger hob die Hand. »Liebe Kollegin, ich stimme Ihnen zu, wir haben noch keine Ergebnisse vorzuweisen, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir diesen Fall dennoch lösen. Geben Sie Holzer eine faire Chance, als ausgebildeter Profiler und Fallanalytiker sieht er womöglich Details, die uns bisher entgangen sind. Darauf setze ich im Moment meine ganze Hoffnung. Und bitte, tun Sie mir den Gefallen und seien Sie nett zu ihm, auch wenn er kein sehr umgänglicher Mensch ist, wie mir auch von anderer Seite bereits berichtet wurde.«

»Ich bin immer nett«, erwiderte sie, machte auf dem Absatz kehrt und wollte bereits in ihrem Büro verschwinden, als sie sich noch einmal umdrehte. Charmant lächelnd, auch wenn ihr nicht danach zumute war, fügte sie hinzu: »Warum soll ich eigentlich nett zu ihm sein? Wenn er kommt, habe ich doch schon längst meine ersten Fußspuren im Sand der französischen Riviera hinterlassen.«

Danach schloss sie die Tür hinter sich, nahm auf ihrem Stuhl Platz, legte die Füße auf den Tisch und dachte nach. Jacqueline Schweigert. Sie versuchte sich in die Lage der Eltern zu versetzen, die ein halbes Jahr in tiefer Verzweiflung gepaart mit Hoffnung und Beten verbracht hatten, bis die erlösende Nachricht kam, dass ihre Tochter lebte. Doch es war eine trügerische Erlösung, eine Fata Morgana, die Durant keinem Menschen wünschte. Die Schweigerts waren seit dem Verschwinden ihrer Tochter jeden Tag in die Kirche gegangen, hatten Kerzen aufgestellt und gebetet, das hatten sie ihr erst am Freitagvormittag noch einmal bestätigt und hinzugefügt, dass ihre Gebete endlich erhört worden waren. Und sie würde nie die Freudentränen vergessen, die sie am Bett ihrer Tochter vergossen hatten. Und dann war alle Hoffnung mit einem Schlag zunichte gemacht worden. Sie konnte ihnen nicht verdenken, wenn sie der Kirche und dem Glauben an Gott für immer den Rücken kehrten. Nein, sie konnte es ihnen nicht verdenken.

Und sie dachte an Karin Slomka. Sie hatte ihre Mutter und ihren siebenjährigen Sohn kennengelernt. Die Mutter vermisste ihre Tochter, der Sohn seine Mutter. Ein aufgeweckter Junge, voller Neugier und doch unendlich traurig. Erst hatte er seinen Vater sterben sehen, und nun war auch noch seine Mutter verschwunden. Durant fragte sich, wie der Junge sich nach diesen traumatischen Erlebnissen entwickeln würde. Auch das überstieg ihre Vorstellungskraft, sie hoffte nur, er würde all die Trauer und den Schmerz überwinden, denn sie glaubte nicht, dass Karin Slomka noch am Leben war, und wenn, dann wahrscheinlich nur noch für eine kurze Zeit, wie Jacqueline Schweigert.

Einmal mehr wurde ihr bewusst, wie frustrierend ihr Beruf war. In den vergangenen mehr als zwölf Jahren bei der Mordkommission hatte sie viele Fälle zu bearbeiten gehabt, doch diese zählten zu den mysteriösesten und unheimlichsten. Und ihre innere Stimme flüsterte, nein, sie schrie, dass der Täter erst begonnen hatte. Mit Jacqueline Schweigert hatte er ein erstes Zeichen gesetzt, auch wenn sie überzeugt war, dass die beiden Morde an Detlef Weiß und Corinna Peters ebenfalls auf sein Konto gingen, eine Auffassung, mit der sie allerdings noch ziemlich alleine stand.

Sie schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank in langsamen Schlucken. Sie fühlte sich ausgebrannt und leer. Die vergangenen Monate hatten an ihren Kräften gezehrt, sie war physisch und vor allem psychisch längst nicht mehr auf der Höhe. Der letzte Urlaub, den sie im August in Südfrankreich hatte verbringen wollen, war eigentlich keiner gewesen, da sie mitten in der Jagd nach einem Kindsmörder gefahren war. Ständig hatte sie daran denken müssen, wie ihre Kollegen sich die Tage und Nächte um die Ohren schlugen, während sie versuchte, es sich gutgehen zu lassen. Nach nur zehn Tagen bei ihrer Freundin Susanne Tomlin war sie wieder abgereist. Den Mörder, einen bereits vorbestraften Sexualstraftäter, hatten sie im Oktober bei einer Razzia in einem Stundenhotel geschnappt. Ein Zufallstreffer, wie er nicht allzu häufig vorkam.

Seitdem hatte sie keinen einzigen Tag Urlaub gehabt, dafür Überstunden um Überstunden geschoben, bis ihre Kräfte aufgebraucht waren. Aber am kommenden Samstag würde sie wieder nach Südfrankreich fliegen. Susanne würde sie in Nizza abholen, danach eine gute halbe Stunde Fahrt im Jaguar Cabrio, bis sie die Villa direkt am Meer erreichten.

Vier Wochen und keinen Tag weniger, darauf hatte Berger bestanden, was auch immer passierte, selbst wenn das Präsidium in ihrer Abwesenheit niederbrannte oder ein Meteor in Frankfurt einschlug. Sie würden auch ohne sie zurechtkommen, und sie solle es bloß nicht wagen, früher als geplant im Präsidium zu erscheinen. Ich möchte eine fitte Kommissarin haben, hatte er gesagt und sie dabei mahnend angesehen.

Diesmal würde sie versuchen abzuschalten und Körper und Seele die dringend benötigte Ruhe verschaffen. Im warmen Meer baden, am Strand spazieren gehen, die Abende mit Susanne auf der Terrasse mit dem herrlichen Meerblick verbringen und unendlich viel reden. Wenn sie zusammen waren, gab es immer viel zu erzählen, über früher, wie sie sich kennenlernten, wie sie Freundinnen wurden, wie die Jahre ins Land gegangen und sie trotz der großen Entfernung Freundinnen geblieben waren. Und sie würde viel schlafen, aber auch wie sonst einiges unternehmen, unter anderem wollte sie endlich einmal der berühmten Parfum-Stadt Grasse einen längeren Besuch abstatten.

Hin und wieder, das heißt maximal einmal im Jahr, kam Susanne auch nach Frankfurt, um nach ihrer Wohnung im Holzhausenviertel zu sehen und ein paar wenige alte Bekannte zu treffen. Natürlich sahen sie sich dann auch, meist aber zog es sie schon nach zwei, drei Tagen wieder zurück in ihre neue Heimat, denn es gab zu viel Negatives, das sie mit Frankfurt verband. Erinnerungen, die nie verblassen würden, ganz gleich, wie viele Jahre vergingen. Ihre Kinder waren mittlerweile erwachsen, Laura, die Älteste, arbeitete mit ihren gerade mal siebenundzwanzig Jahren als Rechtsanwältin in einer renommierten Kanzlei in Nizza, Julian absolvierte sein Medizinstudium in Paris, während Sheila, das Küken, gerade die Schule abgeschlossen hatte. Das Verhältnis zwischen Susanne und ihren Kindern war bestens, Laura und Sheila wohnten noch zu Hause, nur Julian hatte in Paris eine kleine, aber schmucke Wohnung. Er kam jedoch regelmäßig nach Hause, weil er sich dort am wohlsten fühlte, wie er selbst stets betonte. Und wenn man sah, wie Susanne und ihr Ältester miteinander umgingen, konnte Julia verstehen, warum er so gerne zu Hause war. Susanne war die beste Mutter, die Julia sich vorstellen konnte, eine Mutter, die alles für ihre Kinder getan hatte und auch in Zukunft tun würde.

Ein Blick auf die Uhr, Viertel nach eins. Sie hatte Hunger, aber keinen Appetit. Allein seit März hatte sie wieder drei Kilo an Gewicht verloren, in den vergangenen anderthalb Jahren fast acht Kilo. Sie wog jetzt wieder genauso viel wie vor zwanzig Jahren, zu wenig für eine Frau ihres Alters. Sie trieb viel Sport, ernährte sich gesund und war sich dennoch darüber im Klaren, dass ihre Lebensweise zu wünschen übrigließ. Zu viel Arbeit, zu wenig Schlaf, zu viel Grübeln über ihre private Situation. Zu sich selbst sagte sie, dass sie sich mit ihrem Leben arrangiert hatte, in ihrem Innern war sie jedoch höchst unzufrieden. Ihr Leben war eintöniger als das einer hundertjährigen Schildkröte, und außer Susanne Tomlin hatte sie keine echte Freundin, nur ein paar wenige Bekannte. Selbst mit Hellmer verband sie kaum noch mehr als der Beruf, auch der Kontakt zu Nadine hatte sich auf ein Minimum reduziert, ohne dass Julia eine Erklärung dafür hatte. Zuletzt hatten er, Nadine und sie sich privat im November bei den Hellmers getroffen, ein belangloser, langweiliger Abend, bestehend aus ödem Smalltalk, der schon nach zwei Stunden vorbei war. Seit Hellmers großer Krise, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte, war nichts mehr wie früher. Er und Nadine hatten wieder zueinandergefunden, aber Julia spielte kaum noch eine Rolle, obwohl sie nicht unwesentlich dazu beigetragen hatte, dass Hellmer wieder auf die Beine gekommen war.