Mörderisches Blut - Kathinka Wantula - E-Book

Mörderisches Blut E-Book

Kathinka Wantula

0,0

Beschreibung

Nach einem Handballspiel in der Champions League zwischen der SG Flensburg-Handewitt und dem THW Kiel wird ein dänischer Nationalspieler im Bereich der VIP-Lounge tot aufgefunden. War es der Racheakt eines Zuschauers? Oder waren Machtkämpfe innerhalb der Mannschaft die Ursache? Erste Ermittlungsversuche führen zu einem Flensburger Juwelier und nach Kopenhagen, wo ein Jahr zuvor ein Bankdirektor ermordet wurde. In beiden Fällen hinterlässt der Mörder eine Spitzkugel. Kommissar Hinrichsen und der Kopenhagener Kriminalpolizist Lundgaard folgen den Spuren und machen Zusammenhänge mit anderen Mordserien ausfindig. Schließlich findet sich Hinrichsen, der vom Serienmörder Briefe mit Fontane-Zitaten und Spitzkugeln erhält, selbst auf der Todesliste des skrupellosen Mörders wieder.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 280

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Kathinka Wantula

MÖRDERISCHES BLUT

Flensburg-Krimi

ISBN 978-3-89876-698-2 (Vollständige E-Book-Version des 2011 im Husum Verlag erschienenen Originalwerkes)

Umschlagabbildung: Fotos von Günter Pump © 2013 by Husum Druck- und Verlagsgesellschaft mbH u. Co. KG, Husum

Gesamtherstellung: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft

Vorwort

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

als ich nach Flensburg reiste, um für drei Monate in der Gästewohnung des SBVs in der Schultze-Delitzsch-Straße auf dem Sandberg zu wohnen, ahnte ich bereits, dass diese Stadt vieles parat haben würde, was ich bisher noch nicht kannte.

Es wurden drei wunderbare Monate mit vielen positiven Erfahrungen, die ich nicht mehr missen möchte. Ich habe tolle, jederzeit hilfsbereite Menschen erlebt und interessante Gespräche geführt, für die ich Gott dankbar bin. Habe Neues entdeckt und vielleicht auch Details herausgefunden, die so manchem Flensburger bisher noch nicht bekannt oder (nicht mehr) bewusst waren.

Wie Udo Wachtveitl, der bekannte bayerische Schauspieler und „Tatort“-Kommissar, als Flensburger Stadtdenker u. a. in einem seiner Vorträge in der Alten Post sinngemäß sagte: „Flensburg ist reich: Reich an Hardware und an Software.“ Er meinte damit die schönen, alten, architektonischen Gebäude der Stadt und die wunderbaren Menschen, die darin wohnen und leben.

Ich kann ihm von ganzem Herzen nur zustimmen.

Die Handlung meines Flensburg-Krimis ist fiktiv. Sämtliche Namen sind erfunden, auch wenn mancher Leser eventuell einige Ähnlichkeiten mit bestimmten Menschen, Häusern oder Plätzen zu erkennen glaubt. Selbstverständlich gibt es im Roman Orte, Straßen, Kirchen, Kneipen, Restaurants und Lokale, die den Flensburgern real bekannt sind, jedoch haben die Szenen nie in dieser Form dort stattgefunden.

Die Darstellung des Champions-League-Spiels ist frei erfunden. Natürlich habe ich versucht, so nah wie möglich an der Realität zu bleiben, habe auch selbst in der Campushalle recherchiert und mit Unterstützung der SG Flensburg-Handewitt mehrere Bundesliga- und Champions-League-Spiele der SG Flensburg-Handewitt (darunter auch gegen den THW Kiel) in der „Hölle Nord“ live miterleben dürfen. Aber Sie, liebe Leserinnen und Leser, werden schnell feststellen, dass ich in diesem Kriminalroman von meinem Recht auf freie, künstlerische Gestaltung und auf Verfremdung der Realität oft Gebrauch gemacht habe.

Man möge mir verzeihen, dass in dem Interview des dänischen Handballers einige „Rechtschreibfehler“ zu finden sind, da ich versuchte, den dänischen Akzent in einer nahezu lautsprachlichen Schriftweise und dem entsprechenden dänischen Satzbau darzustellen.

Die Fans der SG Flensburg-Handewitt mögen mir außerdem verzeihen, dass ich in diesem Kriminalroman so oft das „verbotene Wort“ benutzt habe.

Und nun wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Lesen!

1

Es herrschte eine mörderische Stimmung in der „Hölle Nord“. Die Campushalle in Flensburg war schon seit Wochen bis zum letzten Platz ausverkauft, denn die Handball-Fans der SG Flensburg-Handewitt wussten, dass heute eines der wichtigsten Spiele des Jahres stattfinden würde: das erste Finalspiel der Champions-League-Meisterschaft!

Ihre Mannschaft hatte bisher alle internationalen Gegner geschlagen: Ciudad Real in ihrer Don-Quijote-Halle, die Franzosen aus Montpellier … niemand hatte die Flensburger stoppen können. Doch ihr norddeutscher Erzrivale aus Kiel war auch erfolgreich in Barcelona, Valladolid und Zagreb gewesen, und so kam es heute in der Campushalle zwischen der SG Flensburg-Handewitt und den Kieler „Zebras“ zum innerdeutschen Kampf um den Thron in der Königsklasse des europäischen Handballs.

Doch das interessierte einen Mann im braunen Jackett nicht, der auf dem Weg in die Halle in seine linke Hosentasche griff und das kalte Blei einer Spitzkugel zwischen seinen verkrampften Fingern fühlte. Ein unbarmherziges Lächeln überflog sein Gesicht, als er daran dachte, wie er heute seinem Ziel, seiner Rache, wieder einen Schritt näher kommen würde. Die Kälte der Kugel tat ihm gut. Sie beruhigte ihn und gab ihm die Kraft, das zu tun, was er tun musste: Er würde Jesper Rasmussen heute töten.

Die Handballfans strömten schon seit Stunden in die Halle, um die besten Plätze auf der Nordtribüne oder entlang der Galerie zu erobern, während die Sitzplatzkartenbesitzer erst kurz vor Spielanpfiff eintrafen. Auch die „Club 100“-Mitglieder, Unternehmer und Selbstständige aus der Region, kamen erst kurz vor Spielbeginn mit ihren Gästen in den Logen und auf den Logenplätzen oberhalb der Westtribüne an, während die meisten SG-Fans in ihren Northside-T-Shirts oder 15er- und 14er-Trikots auf der Zuschauer-Galerie entlangmarschierten, wo sie auf Freunde trafen und sich am Getränkestand ein frisch gezapftes Bier abholten. Die Kieler „Zebrasprotten“ hingegen bevölkerten mit ihren schwarz-weiß gestreiften Trikots, Bommelmützen und Schals draußen den Bier- und Wurststand und brachten sich für spätere Fan-Gesänge in Stimmung.

Heiser johlten sie dem Mann im braunen Jackett etwas zu, der, ohne sie zu beachten, die Treppenstufen zum Haupteingang erklomm, sein Ticket aus der Jackett-Innentasche zog und es einem Türsteher zeigte. Der entwertete es und gab es dem Besucher mit einem freundlichen Grinsen zurück. Dann trat der Mann im braunen Jackett in den Eingangsbereich der Campushalle und sah die Informationsstände der Fanclubs und den Restaurant-Bereich. Doch der Mann hatte keinen Durst auf Cocktails oder Bier. Sein Durst konnte nur anders gestillt werden, und heute würde er diesem Ziel wieder einen Schritt näher kommen. Das spürte er.

In der Umkleidekabine der SG Flensburg-Handewitt saßen die Handballspieler auf der harten Holzbank wie auf glühenden Kohlen. Sie versuchten sich auf den Kampf gegen ihren Erzrivalen von der Kieler Förde vorzubereiten: Einige zogen sich wie in einem Ritual zuerst den rechten Schuh, dann den linken an und knoteten geradezu meditativ die Schnürsenkel zu, während sie mit ihren Gedanken bereits in der Halle waren.

Es würde heute wieder eine „Hölle Nord“ werden, wie man sie in Handballer-Kreisen schon seit Jahrzehnten fürchtete. Über 6000 Menschen würden wie ein Mann hinter den SG-Kämpfern stehen und sie anfeuern.

Leif Kristensen streifte sich das blau-weiß-rote SG-Trikot über und setzte sich zu Rasmussen, der sich gerade die Gelenke der Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand mit Leukotape verband. Er stieß seinem Landsmann den linken Ellenbogen in die Seite und parlierte mit schönem dänischen Akzent.

„Hej, Jesper. Das schaff’n wir heute. Du wirst sehn. Wir haben die Tore aufgeteilt: Tommy un’ Jens machen beide fünf, Carsten acht, Jan sechs, ich mach sieben un’ du den Rest, den wir brauchen zum Gewinnen, okay?“ Er hielt seinem Kollegen eine Mineralwasserflasche hin, die Rasmussen mit einem schmallippigen Lächeln entgegennahm. Er hatte in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen und seit heute Morgen ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Aber das lag sicher nur an dem wichtigen Spiel, das ihn in wenigen Minuten erwarten würde.

„Doping?“, fragte er kurz, da er Kristensen vorher eine Brausetablette in die Flasche hatte werfen sehen.

„Ja glarr“, antwortete der grinsend. „Doping mit Traubenzucker, Magnesium un’ Citron.“ Dann stand er auf und ging zu Janusz, dem er auch noch schnell einige aufmunternde Worte sagen wollte.

Links neben Rasmussen saßen Tommy Larsen und Jan Mikkelsen, die einige Spielzüge durchgingen, während Niels Lauridsen in Badelatschen aus dem Nebenraum kam. Hallgrimsson nutzte sofort seine Chance und legte sich als Nächster auf die blaue Massagebank des Physiotherapeuten, um sich seinen verhärteten linken Oberschenkelmuskel lockern zu lassen.

Trainer Per-Kjell Larsson hatte nur noch eine Rumpfmannschaft zur Verfügung, in der fast jeder Spieler blaue oder rote Kinesio-Tapes an den Knöcheln, Knien oder im Schulter- und Nackenbereich trug, um die Schmerzen der langen Saison in Grenzen zu halten. Doch war er sich sicher, dass sie heute sowieso kaum Schmerzen spüren würden. Larssons Jungs waren bereit, sich die Seele aus dem Leib zu spielen. Das wusste er.

Gegen Kiel immer.

Und die Zuschauer würden sie unterstützen. Die „Hölle Nord“ würde heute wieder brennen!

Die Nordtribüne hinter dem Flensburger Heimattor war als Stehtribüne das Hauptziel jedes jungen SG-Fans und Hauptstammplatz der SG-Fan-Vereine „Die Wikinger“, „Hölle Nord“ und „Die Nordlichter“, die alle zusammen ihre Mannschaft lautstark anfeuerten. Viele von ihnen hatten bereits die Zeit in der Wikinghalle in Handewitt erlebt, der ursprünglichen Keimzelle der „Hölle Nord“, wo sie damals auf mitgebrachten leeren Bier- und Flaschenkästen in der dritten Reihe gestanden hatten, um überhaupt etwas vom Spielfeld sehen zu können. Selbstverständlich waren sie „ihrer SG“ treu geblieben und hatten aus Tradition jedes Jahr ihre alten Sitzplätze in der Fördehalle und in der Campushalle übernommen.

Weiße „Bangersticks“ straften sie mit äußerster Missachtung und legten sie unbenutzt unter ihre Sitze. Sie brauchten diese dünnen Kunststoffröhren nicht, mit denen man handschonend Beifall klatschen konnte. Nein, die waren ihnen viel zu leise. Ein echter Fan würde sich lieber sechzig Minuten lang die Hände wund klatschen. Das gehörte zu einem Spiel gegen Kiel dazu. Genauso wie der Tinnitus, den man danach tagelang in den Ohren hatte. Einige kluge Mütter, die mit ihrem Nachwuchs in der Halle waren, hatten bereits vorgesorgt und Watte und Ohropax für ihre Kinder mitgenommen, um sie vor dem Lärm zu schützen. Eine Vorsichtsmaßnahme, die merkwürdigerweise bei Spielen gegen Ciudad Real, San Antonio oder den HSV nie nötig war. Aber wenn der THW kam, war alles anders.

Ja, die Fans der SG Flensburg-Handewitt hatten ihre eigenen Regeln, wie auch Heinzi, einer der Hallenmoderatoren, erst herausfinden musste. Auf seinen Befehl hin eine „La Ola“ in Gang setzen? Die Fans dachten im Traum nicht daran. Sie waren es gewohnt, selbst zu entscheiden, wann sie eine „La Ola“ durch die Halle jagten. Sie spürten, wann ihre Mannschaft ihre Unterstützung brauchte, und handelten entsprechend. Trommeln, Klatschen, anfeuernde Gesänge … so waren sie es seit vielen Jahren gewohnt. Sie brauchten keinen Einpeitscher, der die Halle zum Kochen brachte. Die Halle kochte von ganz allein!

Die Menschen der „Hölle Nord“ waren hier die treibende Kraft. Die Spieler wussten, dass der „8. Mann“ oben auf den Tribünen für sie überlebenswichtig war. Es gab nichts Schöneres, als begeisterte Rufe aus 6000 Kehlen zu hören. In so einem Augenblick lebten sie allein für diese Menschen … und diese Menschen lebten für sie. Dann ein eigenes, kurzes Jubeln und das Hören des Torliedes, tosender Applaus von den Rängen … die Euphorie des Moments genießen … das ist Handball!

Es ertönte Vi er røde, vi er hvide, ein Lied, das auf die rot-weißen Farben des „Danebrog“, der dänischen Nationalflagge, anspielt. Wenig später folgte die erste Strophe des traditionellen Schleswig-Holstein-Liedes Schleswig-Holstein meerumschlungen von Bellmann und Chemnitz.

Niemeier, der zweite Hallenmoderator, berichtete nun über das letzte Spiel der SG in Hamburg vor vier Tagen, an dem über sechshundert Fans mit dem ORION-Express in die Hansestadt gereist waren, um ihrer Mannschaft mit Sprechchören tatkräftig zum Auswärtssieg zu verhelfen.

Doch der THW Kiel war in den vergangenen Wochen auch erfolgreich gewesen. Nordhorn hatte man zuletzt mit 33:32 niedergekämpft, ebenso den SC Magdeburg, während man vom Jadebusen mit zwölf Toren Unterschied nach Hause fuhr. Auch in der Champions League waren schwere Spiele gegen Celje und Zagreb gewonnen worden, leider auf Kosten zweier Spieler. Ein Kreuzbandriss und ein Haarriss im rechten Schultergelenk machten sie heute nur zu Zuschauern, aber sie waren dennoch nach Flensburg mitgereist, da sie wussten, dass ihre Kameraden von den Tribünen nicht viel Unterstützung bekommen würden. Einige Hundert schwarz-weiß bekleidete Kieler mussten sich gegen 6000 Flensburger Fans wehren. Ein ungleicher Kampf. Aber das wusste jeder THW-Fan, der die Campushalle betrat. Sie würden es den Flensburgern in der nächsten Woche in Kiel heimzahlen. So viel stand fest. Trotzdem waren sie die achtzig Kilometer an die nördliche Förde gefahren, um ihre Spieler zu unterstützen.

Es war ein Champions-League-Finalspiel in einer Traumzusammenstellung, wie sie sich viele deutsche Handballfans und Sportjournalisten im Januar nach der Vorrunde gewünscht, aber niemals vorzustellen gewagt hätten. Niemand hatte geglaubt, dass das Finale ohne eine der hochklassigen spanischen Mannschaften stattfinden würde, deren millionenschwere Mäzene die teuersten Spieler aus ganz Europa einkauften. Doch es hatte ihnen dieses Mal nichts genutzt. Die Flensburger und Kieler hatten sie eines Besseren belehrt und sich dieses innerdeutsche Finale hart erkämpft.

Ein Kampf, der jetzt mit aller Konsequenz weitergeführt wurde. Flensburger … Kieler …, jeder war bereit, sein letztes Blut, seine letzten Reserven für diesen Champions-League-Titel zu geben. Viele der Spieler spürten, dass sie ihm noch nie so nah gewesen waren und vielleicht nie wieder sein würden.

Jeder von ihnen war bis auf die letzte Fiber gespannt. Hoch konzentriert.

Genau wie die Fans, deren Gesänge nun verstummten, als die Champions-League-Hymne erscholl und Cheerleader die Banner der EHF, der Europäischen Handballföderation, in die Mitte des Spielfeldes trugen. In der Halle wurde es dunkel, und ein breiter Lichtspot traf die Mitte des Spielfeldes. Eric Claptons Anfangsriff von Layla rollte durch die Lautsprecher, als Niemeier „die heißesten Wischerinnen der Champions League“ begrüßte. Die jungen Frauen winkten kurz in die dunkle Menschenmenge, ehe sie schnell zu den Spielfeldecken rannten und dort Stellung bezogen. Dann erscholl die Star-Wars-Fanfare und einige Mädchen kamen mit einem überdimensionalen Trikot der Flensburg-Handewitt in die Halle.

„Jetzt ist es wieder so weit: Die Cheerleader tragen das Trikot mit der Nummer 8 in die Campushalle! Die Rückennummer 8 trägt hier kein SG-Spieler. Die 8 ist reserviert für das Publikum. Wir alle streifen uns jetzt symbolisch dieses Trikot über! Gemeinsam sind wir stark!“, rief Niemeier beschwörend ins Mikrofon, während das große Trikot langsam zum Hallendach hochgezogen wurde. Gleichzeitig standen alle Zuschauer auf und klatschten mit den Händen. Bizets Auf in den Kampf wurde auf einer Trompete geschmettert. In diese aufgeheizte Stimmung liefen nun beide Mannschaften in die hell erleuchtete Halle, winkten den Zuschauern kurz zu und gingen dann zur gegnerischen Mannschaft, um mit ihnen ein faires, aber nicht allzu herzliches Shakehands auszuführen, während die Zuschauer auf der Nordtribüne bereits mit den ersten Fan-Gesängen Stimmung machten.

„Die Mutter aller Spiele“ konnte beginnen!

Beide Mannschaften starteten unerwartet nervös. Der erste Anlauf der Flensburger wurde vom französischen Nationaltorhüter reflexartig mit dem rechten Knie abgewehrt, und auch der erste Wurf der „Zebras“ prallte von Dennis Bergers Schulter gegen die Latte des SG-Torgehäuses und landete danach im Aus.

Wencke Myhres Lied „Er steht im Tor, im Tor, im Tor und nicht dahinter!“ hallte launig über die Ränge, während Berger seine Fäuste triumphierend emporstreckte.

Nach sechs Minuten stand es immer noch 0:0.

Keine der Mannschaften hatte bisher zu ihrem normalen Spiel gefunden, aber dann gelangte der Ball zu Jesper Rasmussen, der, vom rhythmischen Klatschen der Zuschauer unterstützt, die rechte Seite ins Spiel brachte, und Jens Hallgrimsson erzielte mit einer „Fackel“ aus dem Rückraum endlich das erlösende erste Tor für die SG! Ein tausendfacher Jubel erscholl und U Can’t Touch This dröhnte durch die Halle.

Der Bann war endlich gebrochen!

Die Kieler versuchten sofort eine schnelle Mitte und wollten den Spielerwechsel der Flensburger nutzen, aber Niels Lauridsen klammerte den Ballführenden und stoppte so den Angriff der „Zebras“. Es folgte ein Freiwurf und ein langes Hin und Her der Kieler Zuspiele, ehe Luka Kovac sich ein Herz nahm, seine hundert Kilogramm Kampfgewicht vor dem Flensburger Mittelblock in die Höhe schraubte und machtvoll aufs Tor hämmerte. Doch Dennis Berger parierte erneut! Jubelnd stieß er seine Fäuste in die Höhe, was seinen Fans einen einzigen Begeisterungsschrei entlockte. Berger zeigte mit seiner Leistung, wo die Flensburg-Handewitt heute hinwollte und dass um jeden Ball hart gekämpft werden würde.

Schnell spielte er nach diesem Erfolgserlebnis Carsten Madsen an, von dem der Ball seinen Weg zu den Außenpositionen fand. Die liefen im Wechsel in die Mitte ein und warfen sich das verharzte Leder blind zu. Zuletzt machte Jesper Rasmussen ein riskantes Tipppassanspiel auf Madsen am Kreis, der sich den Ball gegen zwei Kieler erkämpfte und Henri Orieux mit einem Wurf durch die Beine zum 2:0 überwand.

Es folgten mehrere Angriffe auf beiden Seiten, die die Kieler mit schönen Hebern und wuchtigen Rückraumwürfen durch Kovac und Zimmermann ins Tor vollendeten, während die Flensburger mit einigen Kreiswürfen und einem sehenswerten Kampa-Tor wieder in Führung gingen. Jubelnd sprangen die Menschen von ihren Sitzplätzen hoch und klatschten frenetisch ihrem Publikumsliebling zu, der ihnen mit einem entschlossenen Lachen triumphierend die rechte Faust entgegenstreckte und schnell in die eigene Spielhälfte zurücklief.

„Da ist sie: Unsere Nummer 15“, rief Niemeier begeistert ins Mikrofon. „Leeeeif …“

„Kristensen!“, scholl es ihm tausendfach entgegen.

„Leeeeif!“

„Kristensen!“

„Leeeeif!“

„Kris-ten-sen!“

Leider kam es bei der SG nun zu ersten technischen Fehlern. Rasmussen verlor den Ball in der gegnerischen Hälfte, wo das Leder sofort von einem Kieler aufgenommen wurde und durch einen schnellen Diagonalpass bei Ahland landete. Der Schwede verwandelte gnadenlos durch einen harten Wurf ins lange Toreck, gegen den Berger diesmal machtlos war.

Die schwarz-weiß gestreiften Fahnen oberhalb der Südtribüne wurden heftig geschwenkt und so mancher Hein-Daddel, das THW-Zebra-Maskottchen, das liebevoll nach dem Spitznamen des unvergessenen Heinrich „Hein“ Dahlinger benannt wurde, selbstbewusst in die Luft der Campushalle gestreckt.

Dann erklang die Halbzeitsirene und alle Spieler marschierten erschöpft, aber relativ zufrieden in ihre Kabinen. 15:15 unentschieden. Jetzt kam es darauf an, die letzten Kräfte zu sammeln und sich in der Pause zu erholen.

Viele Zuschauer verließen ihre Sitzplätze, um sich schnell eine Bockwurst, eine Laugenbrezel oder ein Bier zu holen, während die Raucher sich eine lang ersehnte Zigarette außerhalb der Halle gönnten. Doch nach wenigen Minuten hallten bereits wieder die schweren Glockenschläge der Hells Bells von AC/DC über die Ränge und riefen die Zuschauer auf ihre Plätze zurück.

Die wichtigsten dreißig Minuten dieses Tages, dieser Saison konnten beginnen!

Tatsächlich kamen die „Zebras“ nach der Pause mit mehr Aggressivität aus der Kabine zurück und gingen in den ersten Minuten mit zwei unhaltbaren Toren in Führung. Allerdings holte die SG mit einem Sieben-Meter-Strafwurf von Kristensen und einem Hüftwurf von Hallgrimsson wieder auf. Die Fans stimmten ein lang gezogenes „Fleeennnsburg“ an, das von den Zuschauern der gegenüberliegenden Südtribüne mit einem „Haaaaandewitt!“ laut und stolz beantwortet wurde. Selbst die Kieler Fans konnten sich mit Pfiffen und Buhen nicht gegen diesen Wechselgesang durchsetzen. Der Name der Flensburger Mannschaft echote von einer Seite der Campushalle zur anderen und ließ jedes SG-Herz höher schlagen. Ja, hier war man mittendrin im wogenden Meer der SG Flensburg-Handewitt! Einer Mannschaft mit grenzenloser Leidenschaft!

Nur einem Mann im braunen Jackett auf der Westtribüne war das alles völlig egal. Er stand nicht auf, wenn die Menschen um ihn herum aufsprangen und die Hände jubelnd in die Luft reckten, weil Leif Kristensen wieder ein Tor geworfen hatte, und er versteckte sein Gesicht auch nicht in den Händen, wenn die Flensburger eine hundertprozentige Chance vergaben. Ihn interessierte nur ein einziger Spieler: Jesper Rasmussen. Eiskalt beobachtete er ihn und sah, wie der Kreisläufer sich so manches Mal durch den Abwehrblock der „Zebras“ bohrte und nach einem gewagten Anspiel den Ball ins THW-Tor versenkte. Aber im Gesicht des Mannes auf der Tribüne zeigte sich keine Bewunderung. Er würde Rasmussen töten, denn dieser Kerl hatte den Tod verdient! Doch noch war es nicht so weit.

Seine Zeit würde kommen.

Einer der Schiedsrichter unterbrach nun einen Angriff der Kieler mit dem Time-out-Zeichen, da Tommy Larsen Zimmermann gefoult hatte. Der Kieler, den alle wegen seines Namens und seines harten Wurfes immer nur „Zimmi“ nannten, blieb mit verkrampftem Körper auf dem Boden liegen. Er hielt sich die Hände vors Gesicht, während der Schiedsrichter den Mannschaftsarzt vom THW zu sich winkte. Die zwei Wischerinnen eilten auch aus den Hallenecken herbei und stellten sich neben Zimmermann, um den Schweiß vom Boden aufzuwischen, sobald der Spieler aufgestanden war.

Die Schiedsrichter beratschlagten sich mit gestikulierenden Handbewegungen über das Strafmaß des Foulspiels. Sie waren sich anscheinend nicht ganz einig.

„Oh Mann, jetzt spielen sie wieder Tsching, Tschang, Tschong“, stöhnte jemand neben dem Mann im braunen Jackett, ehe der Zuschauer aufstand und, wie mehrere Tausend andere, lang gezogene Pfiffe gegen die Unparteiischen ausstieß. Doch es half nichts. Die internationalen Schiedsrichter ließen sich von der „Hölle Nord“ nicht beeindrucken, sodass Larsen eine Zwei-Minuten-Zeitstrafe bekam, die der Spieler selber mit einem verständnislosen Kopfschütteln kommentierte. Auch die Zuschauer waren mit dieser Strafe, die in ihren Augen völlig ungerechtfertigt war, nicht einverstanden und quittierten die Entscheidung des Schiedsrichters mit einem minutenlangen Pfeifkonzert. So mancher silberhaarige Rentner stand wutentbrannt, mit hochrotem Kopf auf, hielt dem Mann in seinem signalgelben Trikot die Faust entgegen und machte seinem Unmut lautstark Luft. In der Campushalle schonte niemand seine Nerven, und wer ein schwaches Herz hatte, durfte sowieso nicht zu den Spielen gegen Kiel kommen.

Das freundschaftliche Abklatschen mit seinem Trainer und die von Hallgrimsson gereichte Wasserflasche hielten Larsen nicht davon ab, ungnädig nach den beiden Unparteiischen zu gestikulieren und einige norwegische Flüche auszustoßen.

Die Nummer 8 der SG Flensburg-Handewitt war wieder lautstark vorhanden und pfiff Zimmermann nun bei jedem Ballbesitz gnadenlos aus, aber das hatten die „Zebras“ auch nicht anders erwartet. Sie kannten die heimische Kulisse ihres Erzrivalen aus dem Norden und die Leidenschaft seiner Anhänger.

Die Kieler spürten, wie die Abwehrreihe der Flensburger zu schwanken begann. Schnell gingen sie mit zwei Toren in Führung.

Das Spiel begann zu kippen!

Das erkannten auch die Zuschauer und so peitschten sie ihre Spieler mit rhythmischem Klatschen erneut nach vorn. Die letzten zwanzig Minuten hatte niemand mehr auf den teuer bezahlten Sitzplätzen gesessen. Alle Fans standen. Die Halle schien nur noch aus einer lebendigen Masse zu bestehen.

Jetzt übernahm Rasmussen wieder den Ball und rannte direkt auf den THW-Abwehrblock zu. Kurz davor bediente er Jonas Held mit einem blinden Pass. Held, ein Flensburger Nachwuchstalent, sollte Rasmussen am gegnerischen Kreis unterstützen und brachte sich in diesem Derby ohne die geringsten Anlaufschwierigkeiten sofort mit seinem ersten verwandelten Torwurf ins Spiel ein.

36:37! Die Halle tobte! Die SG hatte noch lange nicht aufgegeben. Madsen und Lauridsen stellten sich den THW-Angreifern entgegen und blockten den ersten Wurf ab, aber der Abpraller landete bei einem Kieler Spieler! Es folgte ein wütender Schmetterball, den Dennis Berger diesmal nicht aufhalten konnte. Doch das Tornetz zeigte keine Bewegung! Der Ball war links hinter Berger gegen den Pfosten und dann ins Toraus geprallt!

Drei Minuten vor Schluss!

12 000 Fäuste reckten sich in die Höhe, während bereits der nächste schnelle Angriff der SG gegen den „Zebrastall“ rollte und Rasmussen den Ball verwandelte.

37:37! Ausgleich! Nur noch zwei Minuten!

Jetzt unterbrach der THW-Trainer die Drangphase der SG und warf die grüne Karte auf den Richtertisch. Time-out.

Nach der Auszeit ließen die Kieler es ein wenig ruhiger angehen, damit die SG danach nur wenige Sekunden für einen Gegenangriff haben würde. Luka Kovac prellte den Ball langsam bis zur Neun-Meter-Linie, wo er von Larsen abgefangen wurde, der inzwischen wieder spielen durfte. Gerade noch zur rechten Zeit, um seiner Mannschaft in den letzten Sekunden des Spiels helfen zu können.

Kovac drehte sich schnell und spielte Benedict Groß an. Der Ball lief lange durch die Reihe der THW-Spieler, bis er bei Ahland landete, der einen Rückhandwurf versuchte, doch dabei unsanft von Madsen behindert wurde. Der Angriff geriet ins Stocken. Die „Zebras“ fanden keine Lücke im SG-Bollwerk. Unruhig wanderte der Ball von einem zum anderen Spieler. Wer sollte die Verantwortung für den letzten Wurf übernehmen? Wer hatte nach der langen Saison und diesem harten Derbyspiel noch die Kraft und die Nerven, um den Sieg mit einem alles entscheidenden Tor zu erzwingen?

Der Schiedsrichter hob nun den Arm und deutete Zeitspiel an. Die Kieler mussten sich beeilen. Der Ball landete erneut bei Kovac, der ihn entschlossen in die linke Hand nahm und ihn kraftvoll aufs Tor warf. Der Ball fegte an Bergers Kopf vorbei. Der Schwede war geschlagen. Doch dann prallte das Leder gegen die Latte, gegen den Pfosten, gegen Bergers rechte Schulter und sprang ins Feld zurück! Jonas Held packte den Ball und warf ihn im Rückwärtsfallen Rasmussen zu! Der wirbelte herum und gab ihn an den frei stehenden Leif Kristensen weiter, der das Leder auffing und es mit einem harten Wurf über Orieux’ Kopf hinweg ins THW-Gehäuse versenkte!

38:37! Die Schlusssirene ertönte! Das Spiel war vorbei! Flensburg hatte das erste Finalspiel der Champions League gewonnen!

Die Campushalle war am Beben! Jubelnd lagen sich wildfremde Menschen auf den Tribünen in den Armen. Es gab kein Halten mehr. Während sich die Kieler Spieler dem Tunnelgang ihrer Kabine näherten, stürmten die Fans der SG das Spielfeld und umringten ihre Helden. Leif Kristensen wurde sofort von zwei Fans in Beschlag genommen und grinste in das hochgehaltene Handy eines Freundes, der es wieder herunternahm und ziemlich ratlos auf die moderne Technik schaute, die anscheinend nicht funktionieren wollte.

„Is’ sicher ein Motorola“, flachste der dänische Spieler, der ein herzhaftes Lachen der Menschen um sich herum erhielt, da man in Flensburg seit der Produktionsverlagerung des amerikanischen Handyherstellers nicht gut auf die Firma zu sprechen war. „Kauf dir lieber ein anderes“, meinte Kristensen und lächelte dann in eine Ersatzkamera, die dem Fan schnell von einem Freund in die Hand gedrückt worden war, ehe der Spieler von anderen aufgefordert wurde, sich mit Unterschriften auf T-Shirts, Caps, Programmheften und sogar Turnschuhen zu verewigen.

Währenddessen beantwortete Rasmussen die Fragen eines Fernsehmoderators, der ihm sein Mikrofon entgegenhielt. „Jesper, was sagen Sie zu diesem Herzschlag-Finale?“

Rasmussen strich sich mit einem gequälten, aber glücklichen Lächeln den Schweiß von der Stirn und antwortete mit seinem unverwechselbaren dänischen Akzent. „Irgendwann wird es swierig für die Handball mit so viele Spiele: Bundesliga, Final Four, Champions League un’ WM. Unnse Mannschaft is’ ein bissjen angeschlagen. Ich glaube, wir haben so ein Gefühl bekommen, wir hätten schon das Schbiel gewonn’, aber das is’ gefährlich. Diese Einstellung kann man sich gegen Kiel nich’ erlauben, un’ das wurde auch von Kiel kurz vor Schluss bestraft.“

Der Reporter versuchte, gegen die laute Musik im Hintergrund anzureden. „Sie sprechen auf die Schwächeperiode der SG zwischen der fünfzigsten und der achtundfünfzigsten Minute an, als man das Gefühl hatte, dass der THW das Spiel noch kippen würde?“

Der Däne nickte. „Ja, genau, aber wir haben uns zusammengerissen. Dass is’ eine unglaubliche Gefühl, un’ dass is’ sensassionell. Wir sin’ superglücklich über diese Sieg. Es is’ auf jeden Fall, dass wir haben Moral gezeigt.“

„Vielen Dank, Jesper Rasmussen, dass Sie sich für unser Interview zur Verfügung gestellt haben. Ich sehe gerade, dass Jonas Held jetzt für uns bereit ist. Vielen Dank, und erholen Sie sich gut.“

Rasmussen nickte kurz und drehte sich zu seinem Kollegen um, der die Fragen des Moderators wenig später mit einem Credo beendete: „Hier in Flensburg wird nicht nur Handball gespielt, hier wird Handball gelebt. In der Stadt und in der gesamten Region! Und darauf sind wir stolz!“

Selbst nach einer Stunde hatten noch nicht alle Fans die Halle verlassen. Sie hatten keine Lust, in der Autoschlange zwischen den Parkplätzen und der Ost-Tangente zu stehen, und blieben noch etwas länger, bis sich die Lage auf den Ausfahrtwegen beruhigt hatte.

Auch der Mann im braunen Jackett war noch in der Halle. Er hatte aufmerksam beobachtet, welche Spieler wann in die Kabine gingen. Sein Opfer war vor etwa einer Viertelstunde in den Katakomben verschwunden, sodass er genug Zeit haben würde, um alles vorzubereiten. Gelangweilt beobachtete er, wie einige Spieler frisch geduscht und im Trainingsanzug ihre Frauen in der Halle abholten und mit ihnen zusammen in den VIP-Bereich der „Club 100“-Lounge, einem Gebäude neben der Campushalle, gingen, der von Sicherheitsleuten abgeschirmt wurde.

Der Mann im braunen Jackett beobachtete sie unauffällig, ging dann mit verbissener Miene zu den Haupteingängen der Halle zurück, schritt die Treppe zur Campusallee hinunter und ging langsam zu seinem Wagen.

In der „Club 100“-Lounge herrschte nach diesem Sieg gegen den Erzrivalen aus Kiel eine zufriedene und ausgelassene Stimmung. Die exklusiven Gäste saßen auf den dunklen Lederstühlen und Bänken der Lounge, redeten ausgiebig über das Spiel, tranken ihren Havana-Club-Drink und bedienten sich gut gelaunt am Büfett, das unterhalb der marmorgetäfelten Wand mit den Sponsorennamen neben dem Eingang für sie aufgebaut war. In aller Ruhe genossen sie an der Theke Bier oder Wein und plauschten mit Bekannten oder Geschäftsfreunden, während neben ihnen große silberne und goldene Pokale von früheren Titelsiegen der SG zeugten.

Man kannte sich. Man war unter Freunden. Jedenfalls die meisten Gäste der „Club 100“-Lounge, denn man traf sich regelmäßig zu den Heimspielen und viele waren sich bereits seit Langem privat vertraut. Einige Mitglieder waren früher zusammen zur Schule gegangen. Andere hatten dieselben Studiengänge belegt oder waren im selben Segelverein. Wieder andere hatten jahrelang auf beruflicher Ebene zusammengearbeitet … So wurden hier in der Lounge nicht nur sportliche Gesprächsthemen diskutiert, sondern auch manch Geschäftliches besprochen und unter Dach und Fach gebracht.

Nach und nach trafen einige Handballer der SG ein, die an diesem siegreichen Tag mit lautem Applaus empfangen wurden. So auch Jesper Rasmussen, der sich an einen Tisch mit Carsten Madsen und dem Isländer Jens Hallgrimsson unterhalb der breiten Fotogalerie setzte, die von unsterblichen Augenblicken der SG berichtete. Er nahm sein Handy und überlegte, ob er Tina, seine Frau, anrufen und Bescheid sagen sollte, dass er später kommen würde, doch dann entschied er sich dagegen, da sie ihn wegen der Lautstärke der feiernden Menschen sowieso nicht verstehen würde. Schnell überprüfte er noch die Kurzmitteilungen und fand eine Nachricht seines Managers, der ihn an den Termin eines Sponsors erinnerte. Rasmussen seufzte und griff nach seiner Zigarettenschachtel. In der Lounge durfte nicht geraucht werden, sodass er dafür nach draußen zu den Bistrotischen zwischen der Campushalle und der Lounge gehen musste. Da es sich um ungemütliche, windige Standplätze handelte, gab es nicht mehr viele Lounge-Gäste, die noch Spaß an ihren Zigaretten hatten, doch Rasmussen ließ sich sein Laster nicht nehmen. Er rauchte seit über zwanzig Jahren und brachte trotzdem immer seine Leistung im Spiel. Warum sollte er damit aufhören?

„Kommt ihr mit nach draußen?“, fragte er und warf die Schachtel auf den Tisch, doch die beiden Freunde winkten ab.

„Nein, danke. Ich hab’s mir abgewöhnt. Und du solltest es auch, dann würdest du beim Dauerlauf in der Marienhölzung nicht immer so laut schnaufen und zwei Minuten hinter uns her rennen“, neckte der Isländer ihn, wofür er von Rasmussen einen leichten Schlag gegen die linke Schulter einstecken musste.

„Dich häng’ ich immer noch ab, Jens. Mit zehn Kippen im Mund. Also, was is’? Ihr kommt nich’ mit?“

Da spürte er, wie eine Hand ihn leicht am rechten Ärmel zog. „Lass sie, Jesper. Ich geh mit dir nach draußen“, sagte eine ruhige Stimme neben ihm, die zu einem Mann Mitte fünfzig, mit dunklem Anzug und blauer Krawatte, gehörte, der schon oft zusammen mit Rasmussen an den Bistrotischen gestanden hatte.

„Klasse, Schultz“, sagte der Däne dankbar und verschwand mit ihm zusammen vor die Tür, wo sie sich neben einen anderen Gast der Lounge an den ersten Tisch stellten, Rasmussen sich eine Zigarette anzündete und mit seinen Gesprächspartnern über den Sieg des heutigen Tages sprach.

Gegenüber der Campushalle federte sich eine schmale Person, die bereits seit Langem auf diesen Moment gewartet hatte, von der Hauswand eines Universitätsgebäudes ab, zog sich die Kapuze der Jacke tief ins Gesicht und marschierte langsam, aber zielsicher über die Straße zum Behindertenaufgang der Campushalle, der serpentinenartig neben der Lounge verlief. Niemand beachtete ihn, da es nichts Besonderes war, wenn sich nach den Spielen Fans auf dem Campusgelände befanden, doch dieser Mann wollte keine Autogrammkarte. Er wollte mehr.

Seine rechte Hand verkrampfte sich um den Griff einer alten Pistole, die er versteckt in der breiten Jackentasche trug. Er bog um die Ecke der Lounge und ging mit langen Schritten die Hälfte der Rampe hinauf. Sein Opfer drehte ihm den Rücken zu. Zwar hatte er keine Skrupel, ihm in den Rücken zu schießen, aber er wollte ihm in die Augen schauen.

„Jesper Rasmussen!“, rief er mit rauer Stimme zu den Bistrotischen hoch, an denen drei Männer sich mit leicht verärgerten Gesichtern zu ihm umdrehten.

„Ich gebe jetzt keine Autogramme mehr. Es is’ schon spät“, erklärte Rasmussen und deutete auf seine Armbanduhr, doch im nächsten Augenblick schleuderte er von einer Kugel getroffen gegen den Bistrotisch und fiel unter den entsetzten Augen seiner Gesprächspartner zu Boden. Beide waren zu schockiert, um zu kapieren, was gerade geschehen war. Schultz sah auf die Behindertenrampe, von wo der Schuss hergekommen war, aber der Täter hatte sich bereits umgedreht und bog gerade um die Ecke der Lounge, gefolgt von einem schwarz gekleideten Sicherheitsmann, der auf ihn anlegte und zwei Schüsse abfeuerte. Die Kugeln schlugen in die Backsteinmauer der Lounge und in einen Lieferwagen, der auf der Straße parkte.

Der Täter sprang über das Metallgeländer der Rampe und rannte von drei Sicherheitsleuten verfolgt über den Wendekreis hinüber zu den Gebäuden der Fachhochschule.

„Halt! Stehen bleiben!“

Zwei von ihnen zielten auf den Flüchtenden, doch genau in dem Augenblick rannte einer ihrer Kollegen in die Schusslinie.

„Scheiße! Verdammt, Axel! Hau ab da!“

Der Mann stoppte, aber nur, um selber auf den Täter anzulegen. Er schickte ihm fünf Kugeln hinterher, und beim dritten Schuss schien er ihn wirklich getroffen zu haben, denn der Täter taumelte kurz im Laufen und hielt sich den linken Arm.

„Stehen bleiben!“, versuchte er den Flüchtenden nochmals zum Aufgeben zu bewegen, da sich der Vorsprung des Mannes trotz des Treffers eher vergrößerte als verringerte. Auf ihn zu schießen, war äußerst riskant, da sich immer noch mehrere Menschen auf dem Campusgelände aufhielten. Der Sicherheitsmann mochte nicht daran denken, was geschehen könnte, wenn eine seiner Kugeln einen unschuldigen Passanten treffen würde.

Die drei Männer erreichten die Wegkreuzung vor dem FH-Verwaltungsgebäude und schauten sich um. Der Täter war nirgends mehr zu sehen. Von hier aus konnte er in mehrere Richtungen geflüchtet sein. Sie teilten sich schnell auf: Einer rannte in Richtung Munketoft, während die anderen beiden sich den Parkplätzen näherten.

Plötzlich hörten sie das Aufheulen eines Motors! Ein Auto raste die Straße entlang! Sie richteten ihre Pistolen auf den Wagen, aber sie konnten nicht schießen, da ein anderer PKW ihm entgegenkam und in die Schusslinie geriet. Wenige Sekunden später war der Wagen neben dem Wohnheim in die Kanzleistraße abgebogen und verschwand in Richtung Innenstadt.

2