Mörderisches La Rochelle - Jean-Claude Vinet - E-Book

Mörderisches La Rochelle E-Book

Jean-Claude Vinet

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Beschreibung

Es ist August, und Commissaire Chevalier genießt den Sommer an den Stränden von La Rochelle, wo er sich im Kite-Surfen versucht. Doch die Ferienstimmung endet jäh, als sich an der Pointe Saint Clément ein brutaler Dreifachmord ereignet. Ein Urlauberpaar wurde mit je zwei Kopfschüssen ebenso getötet wie ein Fahrradfahrer, der wie zufällig getroffen im Straßengraben liegt. Eine unfassbare Tat, die Chevalier und sein Team schon bald in ein undurchsichtiges Netz aus Motiven und Verdächtigen verstrickt. Als sie endlich glauben, den Täter gefunden zu haben, wird auch er ermordet. Was hat die Polizei übersehen? Die Spur führt Chevalier tief in die Vergangenheit - zu einem Täter, der Vergeltung sucht.
...

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Zitat

Sonntag

Montag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Epilog

Über das Buch

Ein mörderischer Sommer an der französischen Atlantikküste

Es ist August, und Commissaire Chevalier genießt den Sommer an den Stränden von La Rochelle, wo er sich im Kite-Surfen versucht. Doch die Ferienstimmung endet jäh, als sich an der Pointe Saint Clément ein brutaler Dreifachmord ereignet. Ein Urlauberpaar wurde mit je zwei Kopfschüssen ebenso getötet wie ein Fahrradfahrer, der wie zufällig getroffen im Straßengraben liegt. Eine unfassbare Tat, die Chevalier und sein Team schon bald in ein undurchsichtiges Netz aus Motiven und Verdächtigen verstrickt. Als sie endlich glauben, den Täter gefunden zu haben, wird auch er ermordet. Was hat die Polizei übersehen? Die Spur führt Chevalier tief in die Vergangenheit – zu einem Täter, der Vergeltung sucht …

Raffinierte Morde vor atemberaubender Urlaubskulisse – der 2. Fall für Commissaire Chevalier und sein sympathisches Ermittlerteam

Über den Autor

Jean-Claude Vinet ist das Pseudonym eines deutschen Autors von Kriminalromanen, den seine Liebe zu der wundervollen Region um La Rochelle am Atlantik dazu inspiriert hat, diese zum Schauplatz seiner neue Krimi-Reihe zu machen. Der Autor, der von sich behauptet, kein Land besser zu kennen als Frankreich, lebt mit seiner Familie in Trier.

COMMISSAIRE CHEVALIERERMITTELT AN DER ATLANTIKKÜSTE

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, BonnUmschlaggestaltung: www.buerosued.de unter der Verwendung von Motiven von © GettyImages: Sebastien GABORIT und © www.buerosued.deeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-4817-9

luebbe.delesejury.de

Si vous partez avec tous vos bagages – vos certitudes – si vous savez où vous allez, vous n’arriverez nulle part. Ce n’est pas l’idée que vous avez en tête qui compte, ce sont les pierres que vous posez une à une, l’une qui mène à l’autre, qui est indispensable.

CÉCILE WAJSBROT

(Wenn ihr mit dem ganzen Gepäck – euren Gewissheiten – losgeht, wenn ihr wisst, wohin ihr geht, dann werdet ihr auch nirgendwo ankommen. Nicht auf den Gedanken in eurem Kopf kommt es an, sondern die Steine, die ihr, einen nach dem anderen, legt, wobei jeder Stein zum anderen hinführt – die sind unverzichtbar.)

Sonntag

Chevalier trieb in der Dünung des Atlantiks und hielt sein Gesicht in die Sonne. Er hatte die Beine angezogen und bewegte leicht die Füße in den Schlaufen des Surfbretts. Heute war er froh um den Neoprenanzug, da das Wasser kälter war als an den Tagen zuvor. Der Kite stand über ihm an einem blauen Himmel und driftete im Wind sanft hin und her. Nur eine kleine Wolke hatte sich wie fehlgeleitet hierhin verirrt. Dunkelgrau und undurchdringlich schien sie all die Menschen an den Stränden der Charente-Maritime mahnen zu wollen, dass auf Sonne Regen folgt.

»Allez, Clément.« Die Stimme von Anaïs Roussel übertönte Wind und Wellen und riss ihn aus seinen Gedanken. »Jetzt den Druckpunkt suchen.«

Chevalier zog an der mittleren Leine, bis er die Spannung des Kites spürte, und hob den Daumen.

»Die Bar langsam zur Brust ziehen und den Schirm vorsichtig auf zwei Uhr stellen. Nicht zu fest, sonst landest du mit dem Gesicht im Wasser. Die Fersen gegen das Brett!«

Sie war wie ein Feldwebel. Er zog die Steuerstange, die mit einer Schlaufe an seinem Brustgurt befestigt war, vorsichtig zu seiner Brust und neigte sie gleichzeitig langsam nach rechts. Der Schirm über ihm kam verzögert unter Wind, oder, wie Anaïs sagte, ins Windfenster, und zog ihn aus dem Wasser. Chevalier stemmte die Fersen gegen das Surfbrett, und schon zog der Kite ihn quer zur Windrichtung davon.

Anaïs rief weitere Befehle, doch er verstand sie nicht, und es war ihm auch egal. Er schoss über die niedrigen Wellen und genoss die Fahrt. Rechts von ihm lag die geschwungene Brücke, die die Île de Ré mit dem Festland verbindet, in der Sonne. Er konnte die Autos erkennen. Ein Stück weiter draußen zog ein Schiff glitzernd an der Küste vorbei durch das tiefblaue Wasser. Ein Ausflugsboot, das mit den Touristen von La Rochelle aus die Inseln Oléron, Ré und Aix umrundete, am Fort Boyard vorbeifuhr oder die Passagiere nach Les Sables-d’Olonne brachte. Bei diesem Wetter ein wundervoller Ausflug.

Eine Welle war etwas höher, und als er darüberzischte, verlor sein Brett für eine kurze Strecke den Kontakt zum Wasser. Er landete, ohne hineinzufallen. Es war herrlich. Nie wieder wollte er von hier weg.

Nach einer Weile stellte er das Brett steiler und belastete die Kante. Dann lenkte er den Kite nach oben und verlor Fahrt. Die Steuerstange an der Brust drehte er den Körper in die entgegengesetzte Richtung und surfte den Weg zurück, den er gekommen war.

Chevalier jubelte laut auf, denn das Manöver war ihm bislang nur selten geglückt, und wenn nicht, hatte er nur mit Hilfe von Anaïs den Schirm wieder aus dem Wasser bekommen.

Diese rauschte an ihm vorbei, machte eine halsbrecherische Kehre und fuhr parallel neben ihm zum Strand.

»Super!«, schrie sie, steuerte frontal auf eine Welle zu und flog meterweit durch die Luft, wobei sie einen Looping schlug.

Brich dir nicht die Knochen, schoss es Chevalier durch den Kopf, in der Gerichtsmedizin wirst du gebraucht.

Kurz darauf zog er das Brett auf den Strand und landete den Kite. Sandrine war aufgesprungen und kam zu dem herabsinkenden Schirm getrabt, griff den aufgepumpten Schlauch und legte das Segel sanft zu Boden.

Chevalier schnallte den Brustgurt ab und ging zu seiner Frau.

»Du bist nass und kalt«, wehrte sie lachend ab, als er sie küsste. Ihre roten Haare wehten im Wind. »Du bist schon vermisst worden.«

Manon kam durch den Sand auf sie zugestolpert.

»Papan, Papan.«

Louna folgte ihr mit bedauerndem Gesichtsausdruck. »Ich konnte sie nicht halten, ohne ein großes Geschrei zu riskieren.«

Chevalier ging in die Hocke, griff seiner Tochter unter die Arme und warf sie leicht in die Luft, um sie sogleich wieder aufzufangen. Sie schrie vor Vergnügen.

Kurz darauf lag er ohne den Anzug auf seinem Handtuch und spielte mit Manon. Sie glich ihrer Mutter. Zierlich, mit heller Haut und roten Haaren.

Sandrine hatte den Sonnenschirm aufgespannt.

»Wie lange hast du noch Urlaub?« Anaïs Roussel zog an ihrer Gauloise und streichelte Louna, die neben ihr lag, sanft über den Rücken. Die beiden waren seit Jahren ein Paar.

»Noch eine Woche.« Chevalier drückte ein Förmchen in den feuchten Sand und zog es ab. Ein perfekter Seestern erschien, den Manon erst interessiert betrachtete und dann zerdrückte. »Hast du die Wettervorhersage gesehen? Nur Sonne.« Er grinste. »Jedem, wie er es verdient.«

Anaïs zog eine Grimasse. »Im Augenblick ist es wenigstens ruhig.«

Chevalier lachte. »Gott sei Dank. Wenn ihr in der Gerichtsmedizin zu tun habt, sind wir in der Mordkommission meistens auch beschäftigt.« Er ließ sich auf sein Handtuch fallen. »Außerdem: Es ist August und Frankreich in Urlaub.«

Sie lachte so laut, dass ihre Partnerin zusammenzuckte. »Die Verbrecher demnach auch?«

Chevalier breitete lächelnd die Hände aus.

Anaïs legte sich zurück und schloss die Augen. Wer sie hier am Strand sah, hätte nicht im Traum daran gedacht, dass die schmale, drahtige Frau, die mit ihren kurzen dunklen Haaren und der braungebrannten Haut an einen Hippie am Praia do Barranco erinnerte, eine fähige Gerichtsmedizinerin war. Chevalier hatte jedenfalls bislang keine bessere kennengelernt.

Eine Weile später lag Manon in ihrem Kinderwagen und schlief. Sie war über ein Jahr alt und hielt ihn auch hier am Strand auf Trab. War er nicht beim Kitesurfen, wich sie ihm nicht von der Seite. Hier vor Rivedoux-Plage waren die Gezeiten ausgeprägt, und das zurückweichende Meer ließ allerlei Dinge zurück, die es für eine Einjährige zu erkunden galt. Einsiedlerkrebse, die ihre schützende Muschel über sich gestülpt durch die Brandung liefen, schwertförmige Scheidenmuscheln, Tang, vom Wasser glatt geriebene Steine, alles wurde begutachtet.

Chevalier hatte sich auf seiner Matte ausgestreckt und döste vor sich hin. Sandrine wühlte in der Strandtasche und kramte eine Packung Madeleines und eine kleine Thermoskanne hervor.

»Maman war enttäuscht, dass wir nicht zum Essen gekommen sind«, sagte sie.

Chevalier setzte sich auf und nahm den Becher Kaffee, den sie ihm hinhielt. Er hob bedauernd die Schultern. »Anaïs kann nur sonntags.«

Sandrine sah hinüber, wo die Gerichtsmedizinerin Hand in Hand mit ihrer Partnerin zwischen den Menschen spazierte. Sie waren so unterschiedlich. Louna war größer und trug die Haare schulterlang. Ihr Körper hatte auch mehr weiche Formen.

Der Strand hatte sich gefüllt. Neben den vielen Touristen strömten die Wochenendausflügler und Einheimischen nach dem langen sonntäglichen Mittagessen ans Meer.

»Seit Papas Herzinfarkt lebt sie in der ständigen Angst, dass es auf Dauer nicht so weitergeht.«

Chevalier leerte den Becher und legte sich auf den Rücken. Entspannt schloss er die Augen, während ihn die Sonnenstrahlen langsam aufwärmten. »Lass uns morgen nach Les-Portes-en-Ré fahren. Dein Bruder wollte sowieso mit mir reden.«

Sandrine sah ihn groß an. »Mit dir?«

Chevalier zuckte wieder mit den Schultern. »Ja, mit mir. Ich kann dir nicht sagen, worum es geht. Vermutlich ein Strafzettel oder so.«

Er spürte, wie er eindöste. Allein die Eindrücke eines Sommerstrandes drangen zu ihm durch. Der Geruch nach Sonnenmilch, das Rauschen der auflaufenden Wellen auf dem Sand und das ewige Jauchzen der Kinder im Wasser.

Kurz darauf waren Sandrine und Anaïs unterwegs und surften. Sandrine flog hoch über eine Welle. Plötzlich drehte sie das Brett unter dem Körper um hundertachtzig Grad und fuhr eine Wende.

»Ein Switch! Sie ist ein Naturtalent.« Louna lächelte. Sie hatte strahlende dunkelbraune Augen. Sie stand auf und sah in den Kinderwagen, während Chevalier seine Frau auf dem Brett beobachtete. Louna war in Manon vernarrt und immer bereit, auf die Kleine aufzupassen.

Chevaliers Smartphone läutete. Es war Sébastien Simon, sein Chef.

»Was will der denn? Ich habe doch frei.« Er stellte die Verbindung her. »Oui, mon Commandant?«

Simons Stimme klang gepresst. »Chevalier, Sie müssen sofort kommen.«

»Ich habe …«

Simon unterbrach ihn unwirsch. »Der Urlaub ist zu Ende. Drei Tote an der Pointe Saint-Clément. Erschossen! Es ist ein Blutbad. Ich brauche Sie hier.«

Simon legte auf, und Chevalier schaute irritiert zum Himmel. Die kleine Wolke war verschwunden. Was hatte er gedacht? Auf Sonne folgte Regen. Er lachte trocken auf und winkte seiner Frau.

Es dauerte ein wenig, bis sie ihn wahrnahm, dann schoss sie mit fragendem Blick zum Strand, wo Chevalier ihr half, den Kite auf dem Sand zu landen.

»Ist was mit Manon?« Sie warf einen Blick an ihm vorbei zum Kinderwagen.

»Nein. Ich muss weg zu einem Einsatz.«

Er sah all die Fragen, die sie stellen wollte, doch sie hatte nur eine:

»Schlimm?«

Chevalier nickte und sah ihr in die Augen. »Drei Opfer. Alle erschossen.«

Er winkte Anaïs Roussel.

Sandrine und Manon waren traurig mit Louna am Strand zurückgeblieben, und auch Chevalier war nur schweren Herzens gegangen. Die letzte Woche war wie im Flug vergangen, und er hatte sich so darauf gefreut, weitere Tage mit seiner kleinen Familie zu verbringen.

Er blickte hinaus auf den Atlantik, während sie über die Brücke fuhren. Segelboote und Motorjachten kreuzten wie weiße Punkte unter ihnen durch das Wasser.

»Das hat man von Urlaub zu Hause.«

»Was?« Anaïs hatte sich nur ein leichtes Baumwollkleid übergezogen und wirkte mit der dunkelbraunen Haut und den wilden Locken einmal mehr wie ein Hippie.

»Nichts.« Chevalier winkte ab. Er hatte Sand an den Füßen, der trocknete und in den Fußraum fiel.

Auf der Rue de l’Océan zwischen Esnandes und der Pointe Saint-Clément wurden sie von zwei Streifenpolizisten gestoppt, deren Wagen halb im Graben geparkt war.

Anaïs Roussel bremste ihren verbeulten Citroën Berlingo und ließ das Fenster herunter.

»Sie können hier nicht weiterfahren. Polizeilicher Einsatz, die Straße ist gesperrt.« Der Mann trug eine Sonnenbrille und wirkte mit seinem kantigen Kinn wie ein Filmpolizist.

»Mein Name ist Dr. Roussel, ich bin Gerichtsmedizinern und soll genau dort hin.« Sie zeigte in Richtung der Pointe Saint-Clément. »Mein Begleiter ist Commissaire Chevalier von der Mordkommission.«

Der Polizist betrachtete das dünne Batikkleid und äugte zweifelnd in den Wagen, wo nasse Kites und Surfbretter lagen.

»Können Sie sich ausweisen?«

Chevalier wusste, wie sie wirkten. Die Haare vom Wind zerzaust und er unrasiert in zerknautschtem T-Shirt und Shorts.

»Meine Marke liegt zu Hause, wir wurden direkt vom Strand hierherbeordert.«

Die Zweifel des Mannes wuchsen. »Also …«

»Ich rufe den Commandant an«, sagte Chevalier.

Er wählte die Nummer, erklärte Simon kurz das Problem und hielt dem Polizisten dann das Telefon hin. Was sein Chef dem Polizisten sagte, verstand er nicht, doch die Lautstärke der Ansage war noch im Berlingo zu hören. Anaïs grinste verstohlen zu Chevalier herüber.

Der Beamte nahm unbewusst Haltung an, rief mehrfach »zu Befehl« in den Apparat, dann reichte er das Telefon zurück.

»Tut mir leid, mon Commissaire.«

Chevalier winkte ab. »Sie haben nur Ihren Job gemacht.«

Sie fuhren weiter. Zu ihrer Linken tauchte eine niedrige ockerfarbene Felswand auf, der die schmale Landstraße folgte, während vor ihnen das Meer in Sicht kam. Die Baie de l’Aiguillon. Eine Bucht, die so flach war, dass bei Ebbe weite Wattflächen trockenfielen, in denen Tiere nach Nahrung suchten. Mit den dahinter liegenden Salzwiesen war sie eine Oase für viele Vögel. Zurzeit herrschte Flut, und das blaue Wasser reflektierte die hochstehende Sonne.

Chevalier erblickte hinter einer Kehre den Tross der Polizeifahrzeuge, die aufgereiht am Straßenrand standen.

»Große Parade«, murmelte er.

Anaïs Roussel stellte den Wagen hinter einem der Einsatzfahrzeuge ab.

»Auf in den Kampf.« Sie sah Chevalier angespannt an. »Drei Tote, das gab es hier noch nie.«

Er nickte abwesend. Seine Gedanken waren bereits oben auf der Höhe und dem, was sich ihnen dort bieten würde.

Sie stiegen aus und folgten der Straße, die in einer Kurve hinauf zum Aussichtspunkt führte. Hinter der Mauer, neben der sie parkten, lag unmittelbar das Meer. Mehrere Carrelets ragten vor dem Kap auf Stelzen in die See. Chevalier erinnerte sich, wie er während eines Ausflugs mit dem Motorrad hier entlanggekommen war und sich eine dieser Fischerhütten angesehen hatte. Sie waren auf das Ende eines Stegs hoch über dem Watt montiert, von wo die Pächter bei Flut quadratische Netze ins Wasser herabließen, um Aale, Äschen, Krabben oder Schollen zu fangen.

Auf halber Höhe begegneten sie dem ersten Beamten. Der Mann in Uniform sprach leise in sein Funkgerät und beäugte sie fragend, ließ sie aber passieren.

Als Tatort stellte sich ein Parkplatz heraus, der neben der Straße auf dem Scheitelpunkt der Anhöhe lag und durch einen mit Büschen und Kiefern bewachsenen Grünstreifen von der Fahrbahn getrennt war. Der Parkbereich war recht groß, und ein Schild wies darauf hin, dass auch Wohnmobile hier abgestellt werden durften. Gleich daneben standen auf einer Wiese Picknickbänke, von denen aus ein weiter Blick über das Wasser bis zur Pointe Aiguillon in der Vendée möglich sein musste. Chevalier drehte sich um und erkannte die Halbinsel, die am gegenüberliegenden Ufer ins Meer ragte.

Der Tatortbus war vor Ort, und Beamte in weißen Overalls nahmen auf dem ganzen Gelände Spuren. Von Weitem mussten sie wirken wie Käfer, die umherflitzten. Er blieb stehen und sah sich das Geschehen aus der Distanz an.

Ein skurriles Szenario. Wind, Sonne, blaues Meer und Segelboote auf der einen Seite und Leichensäcke, Tote und Blaulicht gleich daneben. Links auf der Wiese neben den Picknicktischen beugten sich Kollegen der Kriminaltechnik über einen Körper, den sie verdeckten. Ein Fahrrad war an einen der Tische gelehnt. Weiter hinten auf dem eigentlichen Parkplatz stand ein PKW, Chevalier glaubte, einen dunkelblauen Citroën C 5 zu erkennen. Der Wagen schien rückwärts von der geteerten Fläche gefahren und gegen eine der vom Wind schiefgedrückten Kiefern geprallt zu sein. Eine ganze Schar von Einsatzkräften untersuchte das Auto.

»Die weiteren Opfer sind wahrscheinlich in dem PKW.« Er deutete in die Richtung.

Anaïs nickte nur leicht. Auch ihre Augen huschten über die Szenerie.

Einer der beiden Männer, die sich über die abseits liegende Leiche beugten, erhob sich und sah zu ihnen herüber. Unter der Kapuze war das verschwitzte Gesicht von Michel Douanier, dem Leiter der Kriminaltechnik, zu sehen. Er wirkte wie versteinert und in sich gekehrt. Erst als er sie erkannte, hob er die Hand zum Gruß.

»Ein Glück, dass alle wissen, wie sehr ich auf Mädchen stehe, sonst hätte der Flurfunk was zu senden«, murmelte Anaïs.

Sie gingen Richtung des PKWs. Simon konnten sie leicht ausmachen. Er war hochgewachsen, und das wie immer tadellos gebügelte weiße Hemd schien die Sonne geradezu zu reflektieren. Gestikulierend redete er auf Chevaliers Kollegen Adrien Moreau ein.

Als sie sich näherten, bemerkte der Commandant Chevalier und Anaïs und kam auf sie zu.

»Direkt vom Strand, wie ich sehe.« Seine Augen huschten über die Neuankömmlinge.

Chevalier nickte zur Begrüßung. »Docteur Roussel bringt mir das Surfen bei. Was ist vorgefallen?«

»Lieutenant Moreau wird Sie in Kenntnis setzen. Ich hätte später etwas mit Ihnen zu besprechen.«

Moreau und Chevalier wechselten einen fragenden Blick, während Simon mit Anaïs davonging.

»Was kannst du mir sagen, Adrien?«

Moreau trug ein hellblaues Hemd und eine dunkelblaue Chino-Hose. Von dem ungepflegten Alkoholiker, den er vor etwas mehr als einem Jahr kennengelernt hatte, war nichts mehr zu erkennen. Der Kollege schüttelte leicht den Kopf, auf dem sich das verbliebene Haar langsam grau färbte. »Eine solche Tat habe ich in all der Zeit noch nicht gesehen. Wir haben drei Tote. Ein Paar dahinten im Auto und einen einzelnen Mann, der drüben auf der Wiese gefunden wurde.«

»Von wem?«

»Der Zeuge heißt Cédric Martin. Ihm gehört eines der Carrelets da unten. Er betreibt das Restaurant ein Stück weiter die Straße hinunter. Martin gibt an, er habe zur Flut seine Netze ausbringen wollen. Er läuft immer hier entlang. Als er ankam, fand er die Szene so vor, wie wir sie sehen. Allerdings lief der Motor des Wagens. Er wartet in seinem Carrelet darauf, dass du ihn befragst.«

»Hast du ihm einen Maulkorb verpasst?«

Moreau nickte zufrieden. »Ich würde ihn festnehmen, wenn er jemandem von der Sache hier erzählt.«

Chevalier fiel auf, dass der Kollege schlank geworden war.

»Verdächtig?«

Adrien zuckte mit den Schultern. »Nein, ich glaube nicht. Ein gutmütiger Kerl mit langem Haar und Vollbart. Er war total geschockt.«

Sie gingen hinüber zum Citroën.

»Haben wir Namen?«

»Ja, die Opfer hatten ihre Papiere bei sich. Laut Ausweis handelt es sich bei den Toten im Auto um das Ehepaar Audrey und Gilbran Haidar. Die Cartes d’Identité wurden in Paris ausgestellt. Vermutlich Touristen.«

»Der Präfekt wird begeistert sein. Mitten in der Saison ein solches Blutbad.«

Moreau wandte sich um. »Der dritte Tote ist mit dem Fahrrad hergekommen. Sein Name ist Yves Pontier. Er lebte in La Rochelle.«

»Wo sind Sirac und Sophie?«

»Sirac wird gleich hier sein. Er war in Rochefort bei seiner Mutter. Sophie ist ins Präsidium und wartet auf die Fakten, um im System loszulegen. Die Namen hat sie bereits.«

»Sehr gut. Ich schau mir die Opfer an, um ein Bild zu bekommen.«

Chevalier ignorierte die Blicke der Kollegen, die an seinem Äußeren herabglitten, und betrachtete den Wagen. Das Auto war gepflegt und erweckte den Anschein, vor Kurzem erst gewaschen worden zu sein. Der C 5 hatte eine Sonderausstattung mit teuren Felgen, abgedunkelten Scheiben und Spezialauspuff, zudem erkannte er im Inneren helle Ledersitze. Das Heck des schwarzen Wagens war wegen des Aufpralls am Baum verbeult, ansonsten sah er keine Kratzer oder Schäden. Die Räder schienen noch eine Zeit nach dem Zusammenstoß mit der Kiefer auf der Stelle gedreht zu haben, denn unter den Vorderrädern hatten sich Kuhlen im Boden gebildet.

Chevalier trat vorsichtig neben die Fahrertür des Wagens, um keine Spuren zu zerstören.

Was er sah, ließ ihn kurz die Augen schließen. Gilbran Haidar war zur Seite gesunken und auf den Beinen seiner Frau zum Liegen gekommen. In seinem Kopf erkannte Chevalier links oberhalb des Jochbeins und des Ohrs zwei Einschusslöcher. Überall war Blut. Die Rücklehne und Kopfstütze waren tiefdunkel verfärbt, selbst die Rücksitzbank und die Scheiben im Fonds hatten einiges abbekommen. Aus dem heruntergelassenen Fenster roch es unangenehm metallisch. Dem Teint und Namen nach zu schätzen handelte es sich bei dem Toten um einen Araber oder Maghrebiner. In den nicht verklebten Haaren waren erste graue Strähnen zu erkennen. Der Mann war ebenso leger gekleidet wie Chevalier selbst. Shorts und ein T-Shirt mit dem großen Aufdruck: Je suis génial. Wenn man jedoch genauer hinschaute, ergänzten kleinere Worte den Satz zu: Je suis presque aussi génial que ma femme.

Fast genauso genial wie seine Frau. Unwillkürlich huschte ein Lächeln über Chevaliers Gesicht. Er besaß T-Shirts mit ähnlichen Sprüchen. Ein Tourist, dem Anschein nach. Am rechten Handgelenk sah er ein goldenes Armband, am linken eine protzige Uhr. Einen Raubüberfall konnte man ausschließen.

»Was liegt da zwischen seinen Füßen?«

Einer der Kriminaltechniker beugte sich ins Innere. »Ein Handy.«

»Wir brauchen schnellstmöglich die Daten.«

Chevalier ging um das Auto herum zu der offen stehenden Beifahrertür.

Audrey Haidars Körper hing verdreht aus der Fahrgastzelle. Ihre entblößten Beine und das Gesäß befanden sich weiterhin auf dem Sitz, während die Arme draußen auf der Erde lagen. Die offenen blauen Augen starrten in den Himmel. Ihre eine Hand hatte sich um den Türöffner gekrampft. Auch sie war zweifach getroffen worden. Eine Kugel hatte die Stirn durchbohrt, die zweite war kurz daneben eingedrungen. So verrenkt, wie sie dalag und ihr geblümtes Sommerkleid verrutscht war, vermutete Chevalier, dass sie ein Stück von dem rückwärtsstoßenden Auto mitgeschleift worden war.

Bei ihr handelte es sich zweifellos um eine Europäerin. Die blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihre Augen waren blau. Eine Sonnenbrille hing verbogen mit einem Bügel an ihrem Kopf.

Chevalier richtete sich auf und sah zu Moreau, der hinter ihn getreten war. »Was denkst du, Adrien?«

Moreau deutete zu einer Parktasche auf der gegenüberliegenden Seite. »Sie werden dort gestanden haben, der Täter vor oder neben dem Auto. Haidar hat den Rückwärtsgang eingelegt und ist rückwärtsgefahren. Die Einschusslöcher in der linken Kopfhälfte sehen so aus, als hätte er über die Schulter geschaut, als er getroffen wurde. Er war der Erste. Der Wagen rollte weiter. Audrey Haidar versuchte zu fliehen. Sie hatte die Tür schon auf, als die beiden Kugeln sie trafen.«

Chevalier nickte. »Das könnte passen.«

Er bat einen der Männer, den Kofferraum zu öffnen – bis auf den üblichen Regenschirm war er leer.

»Lass uns zu dem dritten Opfer gehen.«

Die kriminaltechnische Untersuchung hier schien abgeschlossen zu sein. Michel Douanier hatte die Kapuze vom Kopf gezogen und lehnte an einem der Picknicktische, eine Flasche Wasser in der Hand. Er blickte abwesend hinaus über die See zur Pointe d’Aiguillon.

»Alles in Ordnung?«

Douanier schrak zusammen. »Natürlich, Monsieur le Commissaire.«

»Wie ist Ihre Einschätzung?«

»Der Kleidung nach jemand, der oft mit dem Fahrrad unterwegs ist.« Er deutete auf das gelbe Sportshirt des Toten. »Das Rad ist eine BMC-Teammachine. Kostet locker fünftausend Euro.«

Anaïs Roussel kniete neben dem Opfer. »Seine Beinmuskulatur ist ebenfalls gut differenziert. Da stecken einige Trainingseinheiten pro Woche drin.«

»Was noch?«

Douanier sah auf seine Füße und fuhr leise fort. »Zwei Schüsse in den Hinterkopf. Äußerst gezielt. Ich vermute, er versuchte zu fliehen. Das Rad lag laut dem Zeugen an der Straße. Vielleicht ist er abgesprungen und wollte zu Fuß weg.«

Chevalier ging neben Anaïs in die Hocke.

Sie deutete auf zwei eng nebeneinanderliegende Löcher im Hinterkopf. »Aus nächster Nähe. Die Haare sind verschmort. Kleine Austrittswunden, die Projektile müsst ihr suchen.« Sie sah ihn an. »Das muss man erst einmal bringen, jemanden mit zwei aufgesetzten Schüssen zu töten.«

Sirac kam gehetzt die Straße herauf. Er musterte Chevalier. »Direkt aus dem Urlaub?«

Er musste zu Chevalier aufschauen, da er relativ klein gewachsen war, aber das enganliegende T-Shirt zeigte deutlich, dass er durchtrainiert war, was schon mancher Kriminelle zu spüren bekommen hatte.

»Kitesurfschule mit Anaïs.«

Chevalier dachte zurück an den Morgen am Strand und spürte wieder das berauschende Gefühl des dahinsausenden Surfbretts unter seinen Füßen. Er sah Manon auf ihren kurzen Beinchen zum Wasser stapfen, sah Sandrine zufrieden und entspannt in der Sonne sitzen, fühlte der Atmosphäre nach, die ihn und die tausenden Menschen beglückt hatte, während hier brutal gemordet worden war.

Sirac wartete. »Alles klar, Chef?«

Er setzte die Sonnenbrille ab und sah Chevalier mit seinen fast schwarzen Augen fragend an.

Chevalier schob die Gedanken beiseite und nickte leicht. »Manchmal ist das Leben so voller Gegensätze, dass man es kaum verarbeiten kann. Vor nicht einmal zwei Stunden war ich im Urlaub, und alles war wundervoll.« Er winkte ab. »Sieh dir den Tatort an, und mach dir ein Bild. Sophie stellt im Kommissariat gerade die verfügbaren Daten zu den Opfern zusammen. Wir müssen dringend wissen, wo das Ehepaar hier in der Region gewohnt hat. Besorgt die Kontounterlagen der letzten Tage, da werden Buchungen zu finden sein.«

Er sah zu Douanier, der sich kaum bewegt hatte und wieder aufs Meer starrte. »Wann sind Sie hier fertig, und wann kann ich mit den Ergebnissen rechnen?«

»Wie bitte?« Der Kriminaltechniker sah ihn an.

»Was ist denn mit Ihnen los? Ich benötige den Bericht schnellstmöglich.«

»Morgen früh ein erstes Resümee. Wir sind hier noch eine Weile beschäftigt.«

Chevalier nickte. »Spätestens morgen brauche ich die Fotos. Insbesondere die vom Smartphone des Opfers. Das scheint dem Toten aus der Hand gerutscht zu sein. Möglicherweise ist da was drauf.«

»Geht in Ordnung.« Douanier sah zu dem Toten und schüttelte den Kopf. »Wer das hier verbrochen hat, war jemand mit Schießausbildung.«

»Ein Profi, das denke ich auch. Jedem zwei Kopfschüsse.«

Der Kriminaltechniker nahm seine Brille ab und begann umständlich, die Gläser zu polieren. Er schwitzte. »Außerdem, wenn man durch eine Windschutzscheibe schießt, verzieht sich die Flugbahn des Geschosses, und es kommt oft ins Trudeln.«

»Stimmt.« Chevalier erinnerte sich an sein Schießtraining bei den Spezialeinsatzkräften der Polizei.

Douanier setzte die Brille wieder auf. »Der Schuss geht daneben, wenn der Schütze das nicht einkalkuliert. Hier nicht. Ein Profi eben. Zudem tippe ich auf Vollmantelgeschosse, die sind unempfindlicher, und die Ablenkung ist kleiner. Außerdem verlieren sie nicht so viel Energie. Das Ziel wird trotzdem so hart getroffen, dass die Kugel einen Kopf durchschlägt. Schlimm ist dann nur, dass das Projektil sich verformt und entsprechende Austrittswunden hinterlässt. Sie haben die Sauerei im Auto ja gesehen. Bei ihm hier ist das nicht so. Sie sind sauber durchgegangen.« Douanier sah zu dem Toten.

»Polizeimunition?«, fragte Chevalier.

»Kann ich nicht sagen, aber eher nein – wir verwenden Deformationsmunition«, erwiderte Douanier.

Sirac kam zurück und sah schweigend zu, wie Anaïs Roussel den Männern vom Bestattungsinstitut ein Zeichen gab, woraufhin diese mit einem Leichensack herbeiliefen und den Toten davontrugen.

Commandant Simon saß in seinem Dienstwagen und telefonierte bei geöffneter Tür. Er hatte die Dienstmütze von seinem kastanienbraunen, kurz geschnittenen Haar gezogen und neben sich gelegt.

»Oui, Monsieur le Préfet. Wir werden die Sache kleinhalten.« Er sah zu Chevalier und verdrehte die Augen. »Commissaire Chevalier leitet die Ermittlungen. Er ist sofort aus dem Urlaub herbeigeeilt. Sie kennen seine Kompetenz und sein Einfühlungsvermögen. Er wird mit Bedacht vorgehen.«

Kurz darauf legte er auf und sah in Chevaliers fragendes Gesicht.

»De Daillon ist außer sich. Er sieht den Ausklang der Saison gefährdet und fürchtet massive Schäden für das Image der Region.«

»Was kann die denn dafür?«

Simon winkte ab. »Nichts. Das Problem ist, dass ich ab morgen für zwei Wochen zu einem Lehrgang nach Paris bin und Commandant Charles Vignaud für die Kripo mitverantwortlich ist.«

Chevalier traute seinen Ohren nicht. »Der hat doch seit Jahren nichts mehr mit der operativen Arbeit der Kriminalpolizei zu tun gehabt?« Vignaud war für die interne Organisation des Kommissariats zuständig und galt als Kleingeist. Chevalier fragte sich, wie der Behördenhengst einen solchen Fall im Griff behalten könnte, sollte etwas schieflaufen.

Simon warf die Hände in die Luft. »Was glauben Sie denn, warum ich Sie aus dem Urlaub gerufen habe? Moreau und Vignaud, das passt nicht zusammen. Die beiden sind laut Ihrer Sekretärin Marie Szenec vor einigen Jahren aneinandergeraten.«

Chevalier konnte es sich vorstellen.

»Da wollen wir mal hoffen, dass die Lösung des Falles so abläuft, dass er mir nicht in die Quere kommt.«

»Wenn es Probleme gibt, rufen Sie mich an, ich sehe dann zu, was ich machen kann.«

»Wer berichtet an den Präfekten?«

»Commandant Vignaud.«

Chevalier grinste breit, enthielt sich aber eines Kommentars.

Chevalier, Sirac und Adrien Moreau hatten sich an den Picknicktisch gesetzt, um ein erstes Resümee zu ziehen. Anaïs Roussel war zu ihnen gestoßen. In der Mitte lag ein Handy, über das Sophie Lambert im Kommissariat mithörte.

Chevalier sah die Kollegen an. »Fassen wir zusammen. Drei Tote, die mit jeweils zwei Kopfschüssen ermordet wurden. Ein Ehepaar aus Paris und ein Mann aus La Rochelle.«

Anaïs rauchte und beschattete das Gesicht mit der anderen gegen die Sonne. »Die Kugeln haben den Kopf der Opfer durchschlagen und massive Traumata im Gehirn verursacht. Alle waren auf der Stelle tot. Die Schüsse bei Yves Pontier waren aufgesetzt. Wann genau der Tod eintrat, kann ich nicht sagen, aber die Aussagen des Zeugen Cédric Martin geben einen Anhaltspunkt. Fünfzehn Uhr. Weitere Verletzungen konnte ich auf die Schnelle nicht feststellen.«

Sirac nickte. »Der Angriff kam vermutlich überraschend. Gilbran Haidar hat noch versucht wegzufahren, und auch Yves Pontier, der Radfahrer, wurde von hinten, also auf der Flucht erschossen.«

»Wegen der Treffer tippe ich auf einen erfahrenen Schützen. Einen Raubmord schließe ich aus, sonst hätte der Täter Uhr und Armband von Gilbran Haidar mitgenommen«, gab Chevalier zu bedenken. »Ansonsten müssten wir die Ergebnisse der Technik abwarten. Ein Motiv ist nicht zu erkennen. Die nächsten Schritte: Wir müssen alles über die Opfer erfahren. Sophie?«

Sie lauschten der Stimme aus dem Smartphone. »Yves Pontier wohnte in Lagord, einem Vorort von La Rochelle in der Rue des Abricotiers. Dem System konnte ich bisher entlocken, dass er als Lehrer am Lycée Gustave Drouineau gearbeitet hat. Den Kommentaren der Schüler im Netz nach, hat er Sport und Geografie unterrichtet. Scheint beliebt gewesen zu sein, die Mädchen haben für ihn geschwärmt.« Sie sahen sich schmunzelnd an. »Verheiratet war er seit 2009 mit Françoise. Nur wenige Monate später wurde die Tochter Julie geboren. Sie ist das einzige Kind der Eheleute.«

»Was macht die Frau?«

»Ist ebenfalls Lehrerin. Am Collège Duperré. Ich konnte Fotos der beiden finden. In meinen Augen passen sie nicht zusammen. Er der smarte Sportler, sie eher unscheinbar.«

»Einträge in den Registern?«

»Nein.«

»Was ist mit den Haidars?«

»Wohnen in Paris am Quai de Valmy im Quartier de La Porte Saint-Martin.«

Alle sahen zu Chevalier.

»Kennst du die Ecke?«, fragte Sirac.

»Das ist im 10. Arrondissement, nicht weit von der Gare de l’Est. Teures Pflaster. Sind die Kollegen aus Paris informiert?«

»Das habe ich veranlasst. Gilbran Haidar war dreiundvierzig. Er arbeitete als IT-Spezialist bei einer kleinen Firma als Geschäftsführer. Audrey Haidar war achtunddreißig. So richtig schlau bin ich nicht aus dem geworden, was ich herausfinden konnte. Ihre Arbeitgeberin war eine Innenarchitektin, welche Funktion sie dort innehatte, muss ich klären.«

»Vorstrafen oder sonstige Besonderheiten«

»Nein, nur, dass Gilbran Haidar 2008 im Zusammenhang mit den Unruhen im Libanon nach Frankreich gekommen ist. Er hat mittlerweile einen französischen Pass. Audrey Haidar war eine geborene Boucher. Sie waren seit drei Jahren verheiratet. Kinder gibt es keine. Mehr hab ich im Augenblick nicht.«

Chevalier nickte, obwohl sie ihn nicht sehen konnte. »Zuerst müssen wir wissen, was die Opfer in den vergangenen Tagen gemacht haben. Wo waren sie, mit wem hatten sie Kontakt und so weiter. Wichtig ist außerdem, ob es eine Verbindung zwischen den Toten gibt. Wir brauchen alles. Beruf, familiäres Umfeld, Herkunft, finanzielle Situation, Konflikte. Bitte bleib da dran.«

Moreau sah zu Chevalier. »Was, wenn Pontier mit seinem Fahrrad einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war?«

»Dann müssen wir das herausfinden. Der Täter hat den Tatort auf irgendeine Weise verlassen. Eventuell wurde er gesehen, oder jemand hat die Schüsse gehört. Sirac, du organisierst eine Befragung der Nachbarn und Anwohner, die an der Durchgangsstraße in Esnandes oder an den anderen Straßen wohnen, die der Täter genommen haben kann. Alles Ungewöhnliche soll aufgenommen werden. Adrien und ich kümmern uns jetzt um den Zeugen.«

»Was ist mit den Mitarbeitern des Restaurants von Cédric Martin da unten?«, wollte Moreau wissen.

Chevalier verstand nicht.

»Commandant Simon hat sie alle festgesetzt, bis wir sie befragt haben.«

»Dann übernimm du das, ich komme nach.«

Das Carrelet von Cédric Martin befand sich unmittelbar gegenüber dem Tatort.

Chevalier lief vom Parkplatz über die Straße und war froh, dem Schauplatz des Verbrechens zu entkommen. Durch eine offen stehende Holztür betrat er einen Steg, der auf seiner Schätzung nach vier Meter hohen Stelzen ins Wattenmeer hineinragte. Im Augenblick standen diese tief im Wasser der abebbenden Flut. Am Ende, nach ungefähr zehn Metern, verbreiterte sich der Steg, sodass eine Plattform entstand, auf der eine würfelförmige Hütte mit Flachdach montiert war, die ihn entfernt an die Aufbauten eines Schiffs erinnerte. Sie war hübsch renoviert. Die Fenster waren rund wie Bullaugen mit weißem Rahmen. Die Wände selbst waren hellblau in der Farbe des Himmels gestrichen. Ein kleines Ofenrohr zeigte, dass man im Winter heizen konnte. Eine Oase zwischen Land und Meer.

Chevalier ging über den Steg und sah zwei Uferschnepfen zu, die im Watt wateten. Die schlanken Vögel mit ihrer braunen Brust steckten die Köpfe ins Wasser und bohrten auf Nahrungssuche die langen Schnäbel in den Schlick.

Chevalier wusste, dass er erwartet wurde. Bevor er klopfen konnte, wurde die Tür aufgerissen. Der Mann, der ihm gegenüberstand, war nur mittelgroß, aber die Arme, die aus dem T-Shirt ragten, waren muskulös. Er trug eine karierte Kochhose und feste Schuhe. Strähnen seiner fast schwarzen schulterlangen Haare wehten im Wind. In das Ende des langen Barts hatte Martin bunte Perlen eingeflochten. Braune Augen musterten Chevalier durch eine Brille.

»Sind Sie der Commissaire?« Martin checkte mit schnellen Blicken jede Einzelheit an Chevaliers Erscheinung ab. Ein aufmerksamer Mann.

Zu fragen ist sonst mein Part, ging es Chevalier durch den Kopf. Er nickte und lächelte. »Ich sehe zwar nicht so aus, aber man hat mich direkt vom Strand hierherbeordert. Ich hatte nicht mal Zeit zum Umziehen.«

»Haben Sie einen Ausweis?«

»Nein. Mein Kollege Moreau sagte, ich würde erwartet.«

Unschlüssig verharrte der Mann in der Tür. »Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich darf keine Aussage machen, sonst sperrt mich der Lieutenant ein.«

»Wie sollen wir verbleiben? Sie kommen morgen um zehn zu uns ins Kommissariat, oder Sie warten hier, bis ich Lieutenant Moreau herbeigerufen habe. Er befragt im Augenblick die Mitarbeiter in Ihrem Restaurant.«

Martin wurde ungeduldig. »Ich bin nur hergekommen, weil bei dem Wetter die Großkopfäschen ins flache Wasser schwimmen. Die würden sich gut auf der Speisekarte machen.« Er zögerte und trat dann in die Hütte. »Kommen Sie schon rein. Ich muss zurück, das Restaurant ist heute Abend ausgebucht.«

Im Inneren war es sauber und gemütlich. Chevalier verstand, warum in den letzten Jahren immer mehr junge Leute Carrelets erwarben und sie als Ferienhäuser nutzten.

Ein Tisch mit zwei Stühlen stand neben einer kleinen Küchenzeile, die zwar betagt, aber blitzsauber war. An der Wand war eine Bank.

Die Fensterflügel zum Watt standen weit offen. Ein Stahlrohr mit Winde ragte ähnlich einem leichten Ladebaum einige Meter über das Wasser.

»Einen Augenblick bitte.«

Martin trat an das Fenster und begann, an der Winde zu drehen.

Als Chevalier hinausschaute, sah er eine Stahltrense, die im Wasser verschwand und nun von Martin langsam eingekurbelt wurde.

»Die Carrelets waren früher für Fischer gedacht, die sich kein eigenes Boot leisten konnten«, erklärte er.

Ein quadratisches Netz von mehreren Metern Durchmesser, das waagerecht in die Tiefe hinabgelassen worden war, tauchte aus dem trüben Wasser auf.

»Ja!« Martin sah sich strahlend zu Chevalier um. »Fünf Äschen.«

Wie schnell die Menschen vergessen konnten, wenn sie abgelenkt wurden, ging es Chevalier durch den Kopf. Vor einer Stunde hatte der Mann drei Mordopfer gefunden, und nun konnte er sich über ein paar Fische freuen wie ein kleiner Junge.

Cédric Martin nahm einen Kescher, fing die erstaunlich großen Äschen ab und warf sie in einen breiten Eimer, in dem schon mehrere Fische schwammen. Sofort ließ er das Netz wieder hinab ins Wasser.

Er sah Chevaliers Blick. »Entschuldigung. Sie haben Fragen.«

»Fassen Sie bitte zusammen, wie Sie die Toten gefunden haben und was davor und danach geschah.«

»Das habe ich Ihrem Kollegen schon erzählt.«

»Dann wiederholen Sie es bitte noch einmal. Wir erleben oft, dass Details erst später in der Erinnerung der Zeugen auftauchen.«

Martin trat an die Küchenzeile und goss sich ein Wasser ein. »Auch eins?«

»Gerne.«

Sie setzten sich an den Tisch, und Chevalier aktivierte die Aufnahmefunktion des Smartphones.

»Kurz zu Ihrer Person.«

»Geboren wurde ich am 12. Februar 1979 in Montélimar.«

»Die Stadt des weißen Nugats.« Chevalier erinnerte sich an eine Motorradtour mit Sandrine.

»Zufall. Meine Eltern waren Schausteller. Wir hatten eine Schießbude und sind von einem Jahrmarkt zum nächsten gezogen. Ich bin im Wohnwagen zur Welt gekommen. Im Winter wohnten wir in der Nähe von Montpellier. Ich habe nach der Schule eine Ausbildung als Koch gemacht und war dann viele Jahre auf Schiffen der Handelsmarine unterwegs. Vor fünf Jahren hatte ich genug vom Umherziehen und habe mir das Restaurant hier gepachtet.«

»Sesshaft geworden?«

Martin wiegte den Kopf hin und her. »Das kann ich noch nicht sagen.«

»Was war heute?«

»Normalerweise bin ich den Tag über im Restaurant. Wissen Sie, morgens geht es auf den Markt, ich koche nämlich nur mit frischen Zutaten. Danach wird alles vorbereitet. Wir haben eine kleine Karte, bieten aber immer ein Tagesmenü an.«

»Wir?«

»Meine Mitarbeiter und ich. Im Service habe ich am Wochenende zwei Leute, in der Woche nur eine Person. In der Küche hilft mir eine Frau aus Esnandes. Mehr wirft der Laden nicht ab. Nach dem Markt wird vorbereitet, und ab zwölf Uhr kommen die Gäste. Von drei bis sechs ist Pause. Für uns natürlich nicht. Bis alles vorbereitet ist, dauert es bis deutlich nach drei, und um spätestens halb sechs geht es wieder los. Dazwischen gehe ich oft ins Fitnessstudio, sonst macht der Rücken Probleme. Um zehn am Abend knipse ich normalerweise die Lichter aus.«

Eine Frau gab es im Leben von Cédric Martin offensichtlich nicht. »Was war heute anders?«

»Die Fische.« Er sprang auf und holte das Netz wieder ein. Es war leer. »Ich habe von dem vorherigen Pächter gelernt, dass an Tagen, an denen die Gezeiten hoch sind, die Äschen oft ins Netz gehen. Heute gibt es gebackene Meeräsche mit Knoblauch und Zitrone. Dazu einen Salat und wahlweise Brot oder Kartoffeln.«

Chevalier merkte, dass er Hunger hatte. »Sie sind also los.«

»Genau. Neben dem Parkplatz, wo ich die …«, er zögerte, »die Toten gefunden habe, kommt ein leeres Grundstück, dann ein Haus, und gleich daneben liegt das Restaurant. Ich bin mit dem Eimer über den Hof zur Straße.«

»Wie spät war es da?«

»Ziemlich genau um drei. Die anderen waren beim Aufräumen.«

»Haben Sie jemanden gesehen?«

»Keine Menschenseele. Die letzten Gäste sind da gerade weggefahren. Danach herrschte Ruhe.«

»Was war nebenan?«

»Niemand. Das ist ein Steinmetzbetrieb. Am Wochenende sind Manu und seine Angestellten nicht da.«

»Wie lange brauchen Sie bis hierher?«

»Drei Minuten höchstens. Heute allerdings länger, weil ich noch mal zurück bin, ich hatte die Zigaretten vergessen. Vielleicht fünf.«

Als hätte ihn das an etwas erinnert, steckte er sich eine an und blies den Rauch in die Luft.

»Wie spät war es demnach?«

Martin scrollte auf seinem Handy. »Die Polizei habe ich um sieben Minuten nach drei angerufen.«

»Wie sind sie auf die Situation aufmerksam geworden?«

»Vom Eingang zu meinem Carrelet sieht man wegen der Bäume nicht direkt auf den Parkplatz, aber der Motor eines Wagens lief. Das ist oft so, nur als ich dann zu den Picknicktischen geschaut habe, sah ich den Mann da liegen. Ich habe den Eimer abgestellt und bin hingelaufen, um zu helfen.« Martin musste schlucken und zog wie zum Trost an der Zigarette.

Chevalier ließ ihm Zeit, die Erinnerung zu verarbeiten.

»Oh, la vache! Er war tot und die zwei Löcher im Kopf … er war erschossen worden. Ich zieh das Handy raus, um die Polizei zu rufen, als ich den Citroën vor dem Baum kleben sehe und …«

Chevalier unterbrach ihn. »Zurück zu dem Radfahrer. Haben Sie ihn bewegt?«

»Um Gottes willen, nein. Nur das Rad habe ich aus dem Weg geräumt.«

Chevalier merkte auf. »Wo lag es?«

»Neben der Straße auf der Wiese.«

»Weiter.«

»Ich bin zum Auto gerannt.« Wieder machte er eine Pause. »Ich musste schreien, als ich das gesehen habe.« Martin knetete seine kräftigen Hände. »Dann habe ich den Notruf abgesetzt.«

»Was haben Sie in der Zwischenzeit getan?«

»Meinen Eimer hierhergebracht und mich beruhigt.« Seine Augen wanderten zu einer Schnapsflasche, die auf einem Küchenbord stand. »Dann hab ich auf Ihre Leute gewartet. Zu den Toten bin ich nicht mehr.« Er schüttelte sich leicht.

Chevalier stellte weitere Fragen, aber mehr wusste der Mann nicht zu berichten. Kurz darauf, Martin hatte einen weiteren Fisch aus dem Netz geholt, gingen sie zu dem Restaurant, den Eimer mit dem Fang zwischen sich.

Das Trois Poissons lag an der Straße, die der Küste von der Pointe Saint-Clément bis zum Queue de Vache folgte, einem winzigen Küstenvorsprung, den schon Georges Simenon in seiner Erzählung Les Demoiselles de Queue de Vache beschrieben hatte.

Das einstöckige Haus mit Pultdach war relativ klein und ortsüblich in Hellbeige gestrichen. An der Außenwand waren der Name des Restaurants und die Silhouetten einer Fischerhütte in dunklem Blau aufgemalt, während Paneele mit Fotos von Fischmahlzeiten den Vorbeifahrenden zur Einkehr ermuntern sollten.

Chevalier kannte ähnliche Restaurants. Sie lagen im Schatten der Touristenströme und bekamen hiervon nur ab und an etwas ab. Sie konnten überleben, wenn die Einheimischen regelmäßig mittags ihre Plat du Jour aßen und Familienfeiern buchten. Hier bekam man üblicherweise gutes Essen zu einem moderaten Preis. Als sie zur Tür liefen, erkannte Chevalier hinter dem Haus einen unbefestigten Parkplatz.

Im Inneren des schmalen Gebäudes war nur Platz für wenige Gäste, was Martin oder den vorherigen Pächter dazu veranlasst hatte, eine überdachte Terrasse anzubauen, die fast das ganze Jahr über benutzt werden konnte. Mit Glaselementen ließ sie sich in einen Wintergarten umfunktionieren. Das Restaurant bot das, was man sich wünschen konnte: preisgünstige Mahlzeiten mit Meeresblick.

Der Gastraum war einfach, aber nett eingerichtet. Auf graumelierten Fliesen standen acht Tische für je sechs Personen. Auch hier hatte Martin die Farbe Blau in Szene gesetzt, indem er eine Welle an die Stirnwand hatte malen lassen. Hinter einer schmalen Theke türmten sich Gläser und Flaschen auf Regalböden, gleich daneben stand ein Weinkühlschrank. Durch eine offen stehende Tür konnte Chevalier die Küche sehen. Sie wirkte beengt, war aber blitzsauber.

Eine Kellnerin saß an einem der Tische Moreau gegenüber und trank ihren Kaffee in einem Zug aus.

»Der blaue Citroën ist mir aufgefallen, weil die Frau auf dem Beifahrersitz offenbar Streit mit dem Fahrer hatte. Jedenfalls hab ich sie so deutlich gehört, dass ich aufgesehen habe.«

»Was haben Sie in dem Moment gemacht?« Moreau machte sich Notizen auf einen Block.

»Ich stand am Tresen und habe gewartet, bis der letzte Gast endlich seine Visa-Karte gefunden hatte und sich an seine Geheimzahl erinnern konnte.«

»Ah, Monsieur le Commissaire«, sagte Moreau. »Das ist Madame Camille Roux. Sie kellnert hier.«

Chevalier setzte sich neben den Kollegen und beobachtete, wie wenig die Anwesenheit der Polizei die kleine rundliche Frau mit den kurzen schwarzgefärbten Haaren verunsicherte. Sie fläzte sich auf einem der Stühle und gähnte unverhohlen.

»Konnten Sie etwas verstehen, Madame Roux?«, fragte Chevalier.

»Nein. Keine Minute später ist der Radfahrer vorbeigeflitzt.«

Moreau sah auf. »Wieso ist er Ihnen aufgefallen?«

»Die haben in ihren Hosen immer so einen knackigen Hintern.« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Das hätte ich jetzt nicht sagen sollen, oder?«

Chevalier zuckte mit den Schultern. »Aber direkt nach dem Citroën, daran erinnern Sie sich?«

»Gleich danach. Der Typ hier war immer noch mit seiner Karte zugange. Die sind dann weg, und ich bin rein zum Aufräumen.«

»Welche Richtung haben die Gäste genommen?«

»Sie sind am Haus gleich rechts gefahren. Das machen außer den Touristen alle, die nach Esnandes wollen, ist der schnellste Weg.«

»Ich brauche die Namen der Besucher. Suchen Sie bitte den Beleg heraus. Gab es weitere Fahrzeuge um diese Zeit?«

Camille Roux stand auf und zuckte mit den Schultern. »Nein, ich glaube nicht. Es war ein unglaublich ruhiger Mittag. Später dann kamen die Polizeiautos.« Sie lief quer durch den Gastraum und machte sich hinter der Theke zu schaffen, wo sie mit Cédric Martin flüsterte.

»Was sagen die anderen Angestellten, Adrien?«, fragte Chevalier.

»Der Küchenhelfer war allein, weil Martin zum Fischen gegangen war. Die Musik in der Küche hatte er voll aufgedreht«, erklärte Moreau. »Also nichts. Die zweite Kellnerin ist schon um halb drei gegangen, da nur zwei Tische besetzt waren.«

Chevalier studierte die Speisekarte, als Martin zu ihnen trat und ihm den Abrechnungsbeleg reichte. Moreau fotografierte ihn ab.

»Etwas zu trinken für die Herren von der Polizei?«

Sie lehnten ab und erhoben sich, als Martin die Speisekarte in Chevaliers Händen sah.

»Ich würde Sie gerne mal zum Essen begrüßen, Monsieur le Commissaire. Wenn Sie mich vorher anrufen, kann ich schon sagen, was es gibt.« Er lächelte. »Und falls Sie oder Ihre Frau Lust auf einen Kochkurs haben – den biete ich regelmäßig an. Der nächste ist am Freitag, und zwei Plätze sind noch frei.«

Chevalier dankte für das Angebot, dann verließ er mit Moreau das Restaurant.

»Woher weiß er, dass du verheiratet bist?«

Chevalier hielt die linke Hand mit dem Ring in die Höhe. »Er ist ein aufmerksamer Beobachter.«

Sie gingen zurück zum Tatort und klingelten auf dem Weg am Nachbarhaus des Restaurants, doch in dem Steinmetzbetrieb war niemand.

Douanier und die Kriminaltechnik waren mit dem Parkplatz fertig und zum Teil abgefahren. Zwei Streifenpolizisten rollten die Flatterbänder auf, während der Citroën auf einen Abschleppwagen verladen wurde, damit er weiter untersucht werden konnte.

Chevalier betrachtete das Gelände und versuchte, sich Szenarien vorzustellen, wie die Tat abgelaufen sein könnte. »Ein Touristenpaar und ein Mann, der seine sonntägliche Runde mit dem Rad dreht. Wie passt das zusammen?«

Moreau schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht, es sei denn, es handelt sich um einen Irren, der wahllos tötet. Ein traumatisierter Soldat oder etwas in der Art. Das würde die Präzision der Schüsse erklären.«

»Möglich, aber wir sollten erst mal davon ausgehen, dass der Täter nicht zufällig hier war, also die Haidars oder Pontier gekannt hat. Eine Partei ist Opfer, die andere Zufallsopfer. Er tötet beispielsweise Yves Pontier auf seinem Rad, als die Haidars auf den Parkplatz auffahren, und muss sich der lästigen Zeugen entledigen, oder es war genau andersherum. Möglich ist natürlich auch, dass alle sich kannten und die Morde zusammenhängen.«

»Jedenfalls ein eiskalter Killer.«

»Der dann spurlos verschwindet. Wir müssen klären, wie er das gemacht hat.«

Moreau nickte. »Solche Leute finden wir in den Archiven.«

Chevalier war müde. »Und jetzt fahr mich nach Hause, das Salz auf der Haut fängt an zu jucken.«

Als Chevalier in der Rue Louis Blanc ankam, reichte es gerade noch, um Manon ins Bett zu bringen. Im Normalfall tat er das jeden Abend, und wenn er einmal nicht zu Hause war, schlief sie schlecht ein und quengelte. Er duschte ausgiebig und ging dann nach unten.

Sandrine hatte ihm eine Galette complète vorbereitet. Chevalier liebte das einfache Gericht. Während sie ins Atelier ging, um zu arbeiten, schmolz er gesalzene Butter in einer breiten Pfanne und goss den Teig hinein. Als dieser ein wenig gestockt hatte, pinselte er weitere Butter auf die oben liegende Seite. Ein Ei in die Mitte geschlagen, ein paar Streifen Kochschinken und Emmentaler dazu und alles warm werden lassen, fertig war sein Abendessen. Mit einer Flasche Rosé und zwei Gläsern ging er über den Hof ins Atelier, wo er Sandrine bei ihrer Arbeit zusah, während er aß.

Er entspannte sich ein wenig. Vor allem nach Tagen wie heute, die ihn emotional aufgewühlt hatten, half ihm die konzentrierte Gelassenheit ihres künstlerischen Schaffens, um zur Ruhe zu kommen. Sandrine kannte diese Stimmung und ließ ihm Zeit, in der niemand sprach. Draußen zirpten die Grillen, und ein wenig entfernt fuhr ab und an ein Auto auf der Uferpromenade.

Als sie von Lyon hierhergezogen waren, hatten sie das Haus wegen des Ateliers gekauft. Der Vorbesitzer hatte in einem Hinterhaus eine kleine Werkstatt betrieben, die sie nach Sandrines Bedürfnissen renoviert und umgestaltet hatten. Ihr Heim lag unweit der Innenstadt in einer ruhigen Seitenstraße, von der es nur wenige Schritte bis ans Wasser waren, und Chevalier, der in Metz groß geworden war, liebte die Nähe zum Meer.

Sandrine schnitt auf dem Tisch mit dem Cutter eine Schablone und durchbrach die Stille. »Du bist wieder voll im Einsatz.«

Er nickte und biss in seine Galette. »Leider ja. Simon geht auf Lehrgang, und Vignaud übernimmt die Leitung.«

»Vignaud? Der ist doch gar nicht in der Verbrechensaufklärung?« Sie hörte auf zu schneiden und sah überrascht auf.

»Deswegen soll ich ja zurückkommen.«

»Na toll! Du unterbrichst deinen Urlaub, damit Simon wegkann.« Sie war ärgerlich, das sah er in ihrem Gesicht, doch sie wusste, dass er keine andere Wahl hatte. »Du denkst an meine Vernissage?«

Von wenig war in den letzten Tagen mehr die Rede gewesen. Sandrine würde ihre erste Ausstellung in La Rochelle haben und war dementsprechend nervös.

»Auf jeden Fall werde ich mir den Abend freihalten, komme, was wolle. Welche Bilder hast du ausgesucht?«

»Die sieben zum Thema Meer, die vier zu den Grundfarben, dann das, was von der Serie übrig ist, die ich im vorletzten Jahr zum Thema Einsamkeit gemalt habe. Außerdem die Skulpturen aus der letzten Serie.«

Sie war sich ihrer Sache nicht sicher und sah ihn fragend an.

»Ich würde mehr mitnehmen. Dann kannst du gemeinsam mit dem Galeristen entscheiden, welche für den Raum am besten geeignet sind. Wie wäre es mit den Installationen aus Lyon?«

»Die, die ich noch habe, sind eingelagert.« Sie dachte nach. »Ich sehe morgen mein Lager noch mal durch.«

Chevalier betrachtete seine Frau und musste lächeln. Sie hatte einen mit Farbe bekleckerten Kittel über die Shorts gezogen, sodass ihre Beine unten herausstaken.

»Was ist mit dem Bühnenbild?« Er nippte an seinem Wein und goss ihr nach.

Sie verdrehte die Augen. »Kostet viel zu viel Zeit. Ich habe mich für einfachen Textildruck entschieden. Ich schneide Schablonen und drucke die Bilder auf Leinentücher. Die kann ich Stück für Stück einspannen und zu einem großen Gesamtbild zusammensetzen.«

Auf Vermittlung eines befreundeten Lehrerehepaars unterrichtete sie in Saint-Martin-en-Ré zweimal die Woche künstlerisches Gestalten und hatte sich breitschlagen lassen, für die Aufführung des Stücks La manifestation von Grégoire Kocjan das Bühnenbild zu schaffen.

Sie hielt den ausgeschnittenen Karton in die Luft, und Chevalier erkannte die Silhouette eines Turms. »Zusammengesetzt ergibt das ein Schulgebäude. Ich male Passanten, Autos und Bäume drauf, dann sollte es reichen. Was war heute?«

Er erzählte ihr immer von seinem Tag, denn er wusste, sie war verschwiegen. Als er geendet hatte, sah sie ihn an, ohne mit ihrer Arbeit fortzufahren.

»Wirkt auf mich, als wären hier Menschen zufällig Opfer eines Verbrechens geworden.« Sie versank in ihren Gedanken, während sie an einer neuen Schablone arbeitete. »Stell dir das mal vor! Du fährst in Urlaub, machst auf einem Parkplatz Pause, und plötzlich steht da jemand und erschießt dich.«

Chevalier wollte einwenden, dass das noch nicht klar sei, doch er sah, wie sich in ihrem Kopf die Dinge fügten. Sandrine verarbeitete solche Ereignisse manchmal künstlerisch. Vor ein paar Jahren, als er noch bei der Mordkommission in Lyon gearbeitet hatte, waren sie zu einer Wohnung gerufen worden, in der ein mumifizierter Mann lag. Niemand hatte den Mann vermisst, niemand war da gewesen, als er starb. Diese Vorstellung hatte sie so gefesselt, dass sie einen Zyklus von acht Bildern zu den Themen Alter und Einsamkeit malte.

Außerdem hatte sie nicht ganz unrecht. Es war möglich, dass die drei Toten allesamt Zeugen eines Verbrechens waren und dafür sterben mussten. Nur, wenn dem so war, hatten sie kaum eine Chance, den Fall aufzuklären, es sei denn, der Zufall käme ihnen zu Hilfe. Ohne eine nachweisbare Verbindung zwischen dem Täter und seinen Opfern gab es auch kaum etwas zu ermitteln.

Später saßen Sandrine und er im Hof unter der Platane und ließen den Tag ausklingen, als sein Handy klingelte.

Chevalier sah auf die Uhr. Es ging auf zehn zu. Sie blickten sich fragend an, als er die Verbindung herstellte.

»Hier spricht Commandant Vignaud. Ich denke, Sie sind darüber informiert, dass ich ab sofort bis zur Rückkehr des Kollegen Simon für die Ermittlungen des SRPJ, des Service Régional de Police Judiciaire, zuständig bin?«

»Commandant Simon hat mich in Kenntnis gesetzt. Morgen um neun Uhr habe ich ein Treffen der Mordkommission angesetzt. Dann werden alle bisher bekannten Daten zusammengetragen.«

»Warum weiß ich nichts davon?« Vignauds Stimme hatte eine hohe unangenehme Tonlage.

»Ich wusste nicht, dass Sie zugegen sein wollen. Simon war nie dabei, wenn wir uns besprochen haben. Über die relevanten Punkte habe ich ihn gesondert informiert.«

»Und was relevant ist, entscheiden dann Sie?«

Chevalier sah hilfesuchend zu Sandrine. »Das ist die gängige Praxis.«

»Bei mir nicht.« Die Stimme des Commandant wurde penetrant. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ausnahmslos alle Aktionen mit mir abgestimmt werden müssen.«

»Das wird nicht gehen. Ich brauche Flexibilität, sonst kommen wir nie vom Fleck.«

»Das kann ich nicht zulassen.«

»Zweifeln Sie an meiner Kompetenz?«

Vignaud ruderte zurück. »Das habe ich nicht gesagt. Aber ich arbeite anders als der Kollege. Mir ist Kontrolle wichtig.«

Chevalier bremste sich. »Wie Sie wollen, dann sehen wir uns morgen früh um neun Uhr.«

Sie legten auf.

»Idiot«, entfuhr es Chevalier.

Mit Vignaud würde es Probleme geben.

Montag

Am Quai Duperré herrschte nur träger Verkehr. Einzelne Lieferanten stellten Steigen mit Gemüse und Obst vor die Bars und Restaurants, die sich am gesamten alten Hafenbecken entlangzogen, ansonsten schlief die Stadt noch.

Chevalier saß im Schatten eines verblichenen Sonnenschirms mit der Aufschrift Pastis51 vor Claudes Bar und trank, wie so oft, seinen Café noir, bevor er mit dem Rad zur Arbeit weiterfuhr. Zum ersten Mal seit zwei Wochen trug er wieder Hemd und lange Hose, dazu feste Schuhe. Er hasste es.

Die Stühle der Bar waren dünn besetzt. Selbst die Anwälte, die hier vor den Verhandlungen im nahen Justizpalast häufig etwas tranken, schienen Pause zu haben. Wie immer waren viele der Bewohner im August in Ferien, da die Schulen und zahlreiche Betriebe geschlossen waren. Die einen entspannten im familieneigenen Chalet, die anderen in Ferienwohnungen oder auf Campingplätzen verteilt über das ganze Land. Nur diejenigen, die mit dem Tourismus ihr Geld verdienten, waren geblieben und um diese Uhrzeit auf den Beinen, um für den Ansturm gewappnet zu sein. Erst die Rentrée zu Beginn September würde Schulen und das Land wieder in Fahrt bringen. Er und Sandrine hatten vor ihrem Umzug nach La Rochelle oft die Ferien bei ihren Eltern auf der Île de Ré verbracht. Der mittlerweile erfolgte Rollenwechsel vom Touristen zum arbeitenden Einheimischen hatte Chevalier gelehrt, die manchmal genervten Anwohner zu verstehen. Wer es eilig hatte, war ohne Chance. Alle Straßen waren mit Menschen oder Autos verstopft, die Zeit hatten. Man musste sich erst einmal daran gewöhnen und Ausweichstrategien entwickeln.

Es herrschte Flut. Ein kleines Motorboot machte von einem der Piere los und zockelte zur Hafeneinfahrt zwischen der Tour de la Chaîne und der Tour Saint-Nicolas.

Wie an meinem ersten Arbeitstag, ging es Chevalier durch den Kopf, und er dachte an den komplizierten Fall, der ihn praktisch von Beginn an in Atem gehalten hatte. Es war ein schwerer Start gewesen. Konflikte bei der Arbeit, großer Ärger mit seinem Bruder – aber mittlerweile war er in der Charente-Maritime angekommen, und er liebte die Region von Woche zu Woche ein bisschen mehr.

Chevalier kratzte mit dem Löffel den Rest des Zuckers am Boden der Tasse zusammen. Vom Atlantik wehte eine schwache Brise herüber.

Der neue Fall war da nicht besser. Die Presse lief heiß. Und eine E-Mail von Ségolène Meunier, einer ihm bekannten Fernsehjournalistin, zeigte, dass der Fall auch überregional zur Kenntnis genommen wurde.

»Noch einen Café, Monsieur le Commissaire?«

Claude war an den Tisch getreten, eine Zeitung unter dem Arm. Er war ein kleiner Mann mit Halbglatze und Schnurrbart, der wie sein Café immer sehr gepflegt wirkte. Dieses war kaum gestylt, doch viele seiner Gäste schienen die traditionelle Atmosphäre der einfachen Stahlrohrstühle und der runden, teils abgenutzten Tische zu mögen.

»Nein, danke«, erwiderte Chevalier und sah erstaunt auf, als Claude nicht davonging, sondern den Sud Ouest aufschlug.

»Ihr Fall?« Er deutete auf den Aufmacher des Tages: Dreifacher Mord an der Pointe Saint-Clément.

Chevalier nickte und wollte eben sagen, dass er sich nicht zu laufenden Verfahren äußern konnte, als Claude schon weitersprach.

»Mein Bruder lebt in Esnandes. Er hat an der Kreuzung Rue de l’Océan und Rue de la République ein Restaurant. Da ist schon mal eingebrochen worden, deshalb überwacht er den Eingang mit einer Kamera. Ich dachte nur, falls das etwas hilft.«

Eine viertel Stunde später machte Chevalier sein Fahrrad fest und lief hinauf in sein Büro. Seine Sekretärin Marie Szenec saß hinter ihrem Schreibtisch und sprang erstaunt auf, als er eintrat.

»Sie haben doch Urlaub, Monsieur le Commissaire!«

»Seit gestern nicht mehr. Die Morde.«

Sie machte hinter ihrer Brille mit der roten Fassung große Augen. »Verstehe. Einen Kaffee?«

»Nein, danke. Wir gehen zur Besprechung in den Konferenzraum.«

»Aber …«

»Commandant Vignaud wird teilnehmen.«

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schwieg dann aber.

»Ich weiß.« Chevalier nickte ergeben.

Marie Szenec kannte das Kommissariat in- und auswendig. Sie schmunzelte. »Wenn Sie sich von ihm beeindrucken lassen, versucht er, Sie unter seine Fuchtel zu bringen. Das ist einem Kollegen so gegangen, und der hat sich versetzen lassen. Zeigen Sie ihm klare Kante, dann wird er es nicht wagen, diese Grenze zu überschreiten.«

Er sparte sich die Frage, woher sie das wusste. In dem Jahr hier in La Rochelle hatte er gelernt, dass seine Sekretärin überall ihre Quellen hatte.

»Ich werd’s mir merken.« Er grinste, ging in sein Büro und fing an, eine Skizze des Falls anzufertigen.

Oben schrieb er die Namen der Opfer auf ein Blatt und verband diese mit einem Strich, dann kam er nicht mehr weiter. Chevalier zerknüllte das Papier und warf es in den Eimer. Hierfür war es eindeutig zu früh.

Sein Blick fiel auf das Bild von Sandrine, das er seinem Schreibtisch gegenüber aufgehängt hatte. Es stammte aus der Serie zum Thema Alter und Einsamkeit. Sie hatte es La Femme en Deuil genannt. Ein abstrahiertes Gesicht, das tiefe Trauer ausdrückte. Ihn hatte das Bild sofort angesprochen. Es war die Aufforderung an ihn, den Menschen eine Antwort zu geben, deren Verwandte oder Freunde gewaltsam zu Tode gekommen waren.

Chevalier griff nach dem Telefon. Michel Douanier war sofort am Apparat.

»Wie weit sind Sie?«

Der Chef der Kriminaltechnik antwortete nicht sofort. »Wir sind noch nicht durch.«

»Es eilt.«

»Na gut«, kam es zögerlich. »Einen ersten Abriss traue ich mir zu.«

»Um neun im kleinen Konferenzraum.«

Er legte auf.

Anaïs Roussel war auch schon bei der Arbeit, ließ ihn aber abblitzen.

»Du erwartest zu viel, Clément. Komm gegen Mittag, dann kann ich dir mehr sagen.«

Im Büro der anderen traf er auf die Lieutenants Adrien Moreau und Sirac Essaid.

»Wo ist Sophie?« Die beiden hoben die Schultern. »Vignaud wird teilnehmen.«

Moreau verdrehte die Augen. »Oh nein.«

»Was hast du mit ihm? Commandant Simon meinte, ihr wärt aneinandergeraten.«

»Das ist lange her, da war er noch in der Fahndung. Er wollte mir zu einem Einsatz nur einen statt der zwei angeforderten Streifenwagen mitgeben. Bei der Lage würde einer ausreichen, fand er.«

»Was hast du gesagt?«

»Ich meinte, jemand, dessen riskanteste Einsätze sich auf das Zerlegen eines Steaks beschränken, wäre wohl kaum in der Lage, diese Entscheidung zu treffen.«

Chevalier musste lachen. »Und weiter?«

»Er hat sofort offiziell Beschwerde eingelegt. Die Kollegen haben ihm eine Abfuhr erteilt, seitdem grüßen wir uns nicht mehr. Er ist ein Stinker und wird querschießen, verlass dich drauf.«

»Er ist unser Chef, bis Simon zurück ist.«

Moreau machte eine wegwerfende Handbewegung.