Mörderisches Menü - Christof A. Niedermeier - E-Book

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Christof A. Niedermeier

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Beschreibung

Küchenchef Jo Weidinger braucht für sein Restaurant hoch über der Loreley frischen Fisch. Als Jo beim Fischhändler seines Vertrauens Erich Sattler eintrifft, findet er ihn tot in einem seiner Teiche treibend. Sattler war ein jähzorniger Eigenbrötler, der bei seinen Fischweihern hauste. Die Polizei geht von einem Unfall aus, denn das Wetter war schlecht und die Stege rutschig. Doch Jo glaubt nicht an diese Theorie und beginnt selbst zu ermitteln. Dabei stößt er auf Dinge, die er vielleicht besser unberührt gelassen hätte. Denn seine Gegner aus der Fischindustrie sind mächtig und skrupellos ...

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Das Buch

Der junge Küchenchef Jo Weidinger braucht für sein Restaurant »Waidhaus« hoch über der Loreley frischen Fisch. Als er beim Fischhändler seines Vertrauens Erich Sattler eintrifft, findet er ihn tot in einem seiner Teiche treibend. Die Polizei geht von einem Unfall aus, denn das Wetter war schlecht und die Stege rutschig. Außerdem war Sattler ein jähzorniger Eigenbrötler, der bei seinen Fischweihern hauste. Besonders beliebt war er nicht – aber interessiert hat sich auch niemand für ihn. Warum sollte so jemand schon ermordet werden?

Jo glaubt nicht an diese Theorie und beginnt auf eigene Faust nachzuforschen. Der Polizei passt es natürlich überhaupt nicht, dass Jo sich schon wieder in deren Ermittlungen einmischt. Und auch so mancher Fischzüchter sieht es gar nicht gerne, dass der junge Koch in seinen Angelegenheiten herumschnüffelt. Bei seinen Recherchen gerät Jo immer tiefer in die Kreise ungeahnter illegaler Machenschaften, die sich rund um die Loreley tummeln, und stößt dabei auf Dinge, die er besser unberührt gelassen hätte. Denn seine Gegner sind mächtig und gehen über Leichen …

Der Autor

Christof A. Niedermeier, geboren 1969, stammt aus der Nähe von Regensburg. Seit knapp zwanzig Jahren lebt und arbeitet er in Frankfurt am Main. Mit dem Helden seiner Bücher teilt er die Liebe zum Rheintal, den malerischen Burgen, gutem Essen und leckeren Weinen. Er ist vielseitig interessiert, liest gern und hat ein ausgesprochenes Faible für Italien.

Von Christof A. Niedermeier sind in unserem Hause erschienen:

Waidmanns Grab · Mörderisches Menü

Christof A. Niedermeier

Mörderisches Menü

Ein kulinarischer Krimi

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1407-5

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Februar 2017

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Titelabbildung: © Hans Scherhaufer (Front); © FinePic®, München (Composing-Element (Schrabbel)); © Getty Images/Walter G. Allgower (umlaufend)

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Prolog

Es hatte am Morgen ausgiebig geregnet, und die Nebelschwaden hingen düster über dem Rheintal. Der Mann, der etwas oberhalb des Restaurants »Waidhaus« einen Beobachtungsposten bezogen hatte, ließ das Gebäude nicht aus den Augen. Hinter einer der Fensterscheiben nahm er eine Bewegung wahr. Ein grimmiges Lächeln umspielte seine Lippen. Obwohl es angenehm mild war, trug er einen langen dunkelbraunen Mantel, der ihn noch hagerer erscheinen ließ. Für einen Moment verharrte er regungslos. Dann straffte er seine Schultern, griff nach dem schwarzen Lederkoffer, der neben ihm auf dem Boden stand, und ging mit entschlossenen Schritten auf das Waidhaus zu. Kurz vor dem Eingang bog er scharf rechts ab und umrundete das Gebäude.

Vor der schmalen Seitentür, die in die Küche führte, zögerte er. Schnell warf er einen Blick nach rechts und links. Niemand schien ihn bemerkt zu haben. Er drückte die Klinke herunter und stand im nächsten Augenblick in der Küche des Restaurants. Alle Augen wandten sich ihm zu. Es herrschte atemlose Stille. Niemand machte auch nur eine Bewegung.

»Sie haben sich in der Tür geirrt«, erklärte Jo Weidinger. »Der Haupteingang ist vorn.«

Er blickte auf die Uhr.

»Wenn Sie in zwei Stunden wiederkommen, haben wir auch geöffnet.« Der junge Küchenchef lächelte den Fremden freundlich an.

»Sind Sie Josef Weidinger?«, fragte dieser.

Etwas in der Stimme des Mannes ließ Jo zögern. Es kam ihm seltsam vor, dass er ihn mit seinem vollen Namen ansprach. Der hagere Mann ließ ihn nicht aus den Augen.

»Ja. Aber noch mal – Sie sind hier nicht richtig, wir …«

»Ich glaube schon. Können wir unter vier Augen sprechen?«

Jo starrte ihn fassungslos an. Hatte er sich nicht klar genug ausgedrückt? Das hier war eine Küche – darin hatten Fremde nichts zu suchen.

»Wer sind Sie überhaupt?«

»Das besprechen wir besser in Ihrem Büro.«

Die selbstherrliche Art des Mannes ging Jo zunehmend auf die Nerven.

»Ich hab vor meinen Mitarbeitern keine Geheimnisse.«

»Also schön.«

Der Unbekannte griff in seine Tasche und zog einen Ausweis hervor, den er Jo vor die Nase hielt.

»Mein Name ist Robert Theis. Ich bin Gerichtsvollzieher im Amtsgerichtsbezirk Sankt Goar und habe eine Forderung der Firma Küchentechnik Zeil beizutreiben.«

»Was?« Jo sah ihn ungläubig an. »Und warum schicken die nicht einfach eine Rechnung?«

Theis schüttelte den Kopf. »Wollen Sie das vor Ihrer Mannschaft diskutieren?«

»Gehen wir in mein Büro«, erwiderte der junge Küchenchef. Er war ein wenig rot geworden.

Jo schloss die Tür hinter sich.

»Nehmen Sie Platz«, sagte er kleinlaut. »Wollen Sie etwas trinken?«

»Sehr freundlich, aber ich hab gerade gefrühstückt. Sie sind heute mein erster Fall.«

Theis öffnete seinen Lederkoffer, zog ein Dokument heraus und reichte es Jo. Dieser warf einen kurzen Blick darauf.

»Sind ja nur dreihundertsechsundfünfzig Euro fünfzig.«

»Für viele meiner Kunden ist das eine gehörige Stange Geld.«

Jo öffnete die Schublade, nahm seine Geldbörse heraus und zählte vier Hundert-Euro-Scheine ab. Der Gerichtsvollzieher nahm das Geld in Empfang.

»Da fehlt noch was.«

»Wie bitte?«

»Insgesamt ist die Forderung vierhundertzwei Euro vierzig, einschließlich Mahngebühren und die Kosten für die Vollstreckung.«

Der junge Küchenchef schüttelte den Kopf und zählte auch noch das Kleingeld ab.

»Ich versteh nicht, wieso die mir den Gerichtsvollzieher schicken. Warum rufen die nicht einfach an?«

»Sie müssen nur Ihre Rechnungen bezahlen. Dann haben Sie so ein Problem nicht. Flüssig sind Sie ja offensichtlich.«

»Muss mir durchgerutscht sein.«

»Und die Mahnung? Außerdem haben Sie den Vollstreckungsbescheid erhalten.«

Jo blickte auf die Stapel an ungeöffneten Briefen, die sich auf seinem Schreibtisch türmten.

»Ich hatte die letzten Wochen ziemlich viel um die Ohren.«

»Tja, junger Mann, es steht mir zwar nicht an, Ihnen gute Ratschläge zu geben, aber Ihre Post sollten Sie schon jeden Tag öffnen.«

»Was soll ich machen? Die Arbeit in der Küche erledigt sich nicht von selber.«

»Dann holen Sie sich jemand für die Buchhaltung. Wenn Sie schon nicht an Ihre Gläubiger denken, sollten Sie wenigstens auf Ihren guten Ruf achten. Wenn sich rumspricht, dass ein Restaurant seine Rechnungen nicht zahlt, werden die Lieferanten schnell nervös.«

»Arbeiten Sie immer am Sonntag?«, wollte Jo wissen.

»Bei Restaurants ist das der beste Tag. Da weiß ich, dass der Chef im Haus ist.«

Nachdem der Gerichtsvollzieher gegangen war, saß Jo noch einige Minuten an seinem Schreibtisch. Theis hatte recht – so konnte es nicht weitergehen.

»Müssen wir uns jetzt Sorgen um unser Gehalt machen?«, fragte Pedro, als Jo in die Küche zurückkam.

»Unsinn, wir verdienen mehr als genug Geld. Die blöde Rechnung ist mir durchgerutscht.«

»Aber ist es nicht …«

»Mein Gott! Jeder macht mal einen Fehler, okay?«, rief Jo verärgert. »Ich soll mich um die Lieferanten kümmern, den Weinkeller überwachen und das Restaurant leiten. Ich kann ja nicht alles machen, oder?«

Nach seinem heftigen Ausbruch herrschte betretenes Schweigen. Dann machten sich alle wieder an die Arbeit.

Nach einer Weile räusperte sich Pedro. »Du, Jo?«

»Ja?«

»Wenn wir wirklich so viel Geld verdienen, meinst du, es wäre eine Gehaltserhöhung für mich drin?«

»Idiot.«

Der junge Spanier duckte sich, als sein Chef mit einem Handtuch nach ihm warf.

Nach dem Mittagsservice setzte Jo sich pflichtschuldig an seinen Schreibtisch und begann, den Papierkram zu erledigen. Es klopfte.

»Ja?«

Ute steckte den Kopf herein.

»Hast du eine Sekunde für mich?«

»Für dich immer.«

Die Sechzigjährige setzte sich.

»Alles gut?«

»Ja, wieso?«

Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu.

»Wenn du Hilfe brauchst, sag doch was. Wir wissen alle, wie viel du um die Ohren hast. Ich würd mich ja um die Buchhaltung kümmern, aber Zahlen sind nicht mein Ding. Wenn du willst, kann ich dir einen Teil der Lieferanten abnehmen, und Pedro hat angeboten, dich bei der Menüplanung zu unterstützen.«

»Lieb von euch, aber ihr beide verbringt schon jetzt viel zu viel Zeit hier. Ich wollte die ganze Zeit schon jemanden einstellen, der sich ums Restaurant, den Weinkeller und die Buchhaltung kümmert. Dann kann ich mich auf die Küche konzentrieren.«

»Geht das denn?«

»Das Waidhaus wirft genug ab. Ich bin nur noch nicht dazu gekommen. Aber jetzt werde ich es definitiv angehen – versprochen.«

»Bei den Lieferanten werd ich dir trotzdem helfen.«

Bevor er noch etwas sagen konnte, hatte sie sich schon aus dem Sessel geschwungen und sich davongemacht. Trotz des unangenehmen Starts in den Tag konnte Jo sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ute war wirklich ein Goldschatz!

Kapitel 1

Am nächsten Morgen hatten sich die dunklen Wolken verzogen und die Sonne strahlte über dem Rheintal. Was für ein herrlicher Frühlingstag, dachte Jo, als er in seinen Wagen stieg. Er fuhr hinunter nach Oberwesel. Als er am Günderodehaus vorbeikam, blickte er kurz hinüber zur Schönburg und dann zur Burg Pfalzgrafenstein, die sich in der Ferne malerisch aus dem Rhein erhob.

Einige Kilometer hinter der Stadt bog er auf einen unbefestigten Waldweg ab. Kurze Zeit später tauchten zwei große Fischteiche am Wegesrand auf. Er hielt an und stieg aus. Vor ihm lag ein weißgetünchtes Haus, das an eine Jagdhütte erinnerte. Über dem Eingang war ein imposantes Hirschgeweih festgenagelt. Suchend blickte Jo sich um. Er hatte sich am Freitag bei Erich Sattler angemeldet. Zu seiner Überraschung war von dem Mann jedoch nichts zu sehen.

»Herr Sattler?«, rief er laut in Richtung Haus. Nichts rührte sich. Er klopfte an der Tür und lauschte. Es war immer noch nichts zu hören. Hinter dem Haus gab es weitere Teiche – es mussten zehn oder zwölf sein. Aber auch hier fehlte von Sattler jede Spur. Eigenartig, dachte Jo. Sonst war der Fischzüchter immer sehr zuverlässig. Der junge Küchenchef ging zurück zum Haus und rief erneut nach ihm. Da hörte er etwas. Es klang wie der unterdrückte Schrei eines Kindes und kam aus dem Inneren des Gebäudes. Jo klopfte erneut. Niemand antwortete. Nach kurzer Überlegung drückte er die Klinke herunter. Vor ihm lag ein enger, dunkler Flur. Zwei alte, abgeschabte Regenjacken hingen an einem Haken. Darunter stand ein Paar Gummistiefel. Unschlüssig blieb Jo stehen. Sattler hatte ihn bisher immer draußen empfangen.

Er schüttelte den Kopf. Wo steckte der Mann bloß? Auch der seltsame Schrei ging Jo nicht aus dem Kopf. Kurzentschlossen trat er ein. Der alte Dielenboden knarzte unter seinen Schritten. Er zuckte zusammen, als er ein Geräusch hinter sich vernahm – aber es war nur die Haustür, die ins Schloss gefallen war. Er stieß auf eine Holztür mit gelbem Butzenglas, die nur angelehnt war. Sachte öffnete er sie und spähte in den Raum. An der Wand hingen ein paar Töpfe und Tiegel, in der Spüle lag ein schmutziger Teller, und ein weißer alter Kühlschrank brummte leise vor sich hin. Schnell betrat er den nächsten Raum – das Wohnzimmer. Neben einer hellbraunen Ledercouch, die schon bessere Zeiten gesehen hatte, thronte ein schwerer Ohrensessel mit auffälligem Blumenmuster, das nicht so recht zur restlichen Einrichtung passen wollte. Auf dem Glastisch vor der Couch lagen einige Anglermagazine. Durch eine weitere Tür gelangte er zurück in den Flur. Eine Holzstiege führte hinauf in den ersten Stock. Sollte er oder sollte er nicht?

Der Fischzüchter war als jähzornig bekannt. Was, wenn er Jo in seinem eigenen Haus überraschte?

»Herr Sattler?«, rief er nach oben. Es blieb still. Nach kurzem Zögern machte Jo sich auf den Weg nach oben. Die alten Holzstufen quietschten und knarrten. Oben gab es drei Türen. Alle waren geschlossen. Da hörte er einen Laut. Es klang wie ein Stöhnen. Jo lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Er drückte die Klinke nach unten und öffnete die Tür. Plötzlich ging alles ganz schnell. Mit einem bösen Fauchen sprang etwas Großes, Fellartiges auf ihn zu. Jo duckte sich zur Seite und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren. Entgeistert blickte er dem schwarzen Kater hinterher, der mit wenigen Sprüngen die Treppe hinunter verschwunden war. Er brauchte einen Augenblick, um sich von dem Schreck zu erholen. Vor ihm lag das Schlafzimmer. Das Bett machte einen unordentlichen Eindruck – das Laken war nicht glatt gezogen und das Bettzeug achtlos hingeworfen. Die beiden anderen Räume – das Bad und ein kleines Arbeitszimmer – waren ebenfalls leer. Wo steckte Sattler nur?

Jo machte sich auf die Suche nach dem Kater. Besser, wenn er ihn wieder ins Schlafzimmer sperrte. Es wäre ihm unangenehm gewesen, Sattler zu erklären, wieso er das Haus betreten hatte. In der Küche wurde er fündig. Der Kater saß vor einem leeren Fressnapf und warf ihm einen feindseligen Blick zu. Würde nicht einfach werden, ihn zurück ins Schlafzimmer zu bugsieren. Als er einen Schritt auf das Tier zu machte, drehte es sich um, sprang behände zur Hintertür und verschwand durch eine Klappe nach draußen.

»Super. Das hat mir noch gefehlt«, sagte Jo halblaut zu sich selbst. Die Tür war abgeschlossen. Der junge Küchenchef fluchte. Hastig nahm er die Verfolgung auf. Als er draußen in der Sonne stand, sog er begierig die frische Luft ein. Erst jetzt fiel ihm auf, wie muffig es in dem alten Haus gerochen hatte. Schnell umrundete er das Gebäude. Zu seiner Überraschung saß der Kater nur wenige Meter vom Haus entfernt in der Sonne und putzte sein Fell.

»Wie heißt du denn?«, fragte Jo und bückte sich. »Komm, ich hab ein paar Leckerli für dich«, schmeichelte er. Behutsam näherte er sich dem Tier. Als er den Kater fast erreicht hatte, sprang dieser unvermittelt auf und verschwand in Richtung der Teiche. Jo seufzte. Das konnte ja heiter werden, dachte er und folgte ihm. Beim dritten Teich hatte er ihn fast eingeholt. Vorsichtig, um das Tier nicht weiter zu verschrecken, trat er auf es zu. Kaum war er bis auf zwei Meter herangekommen, sprang der Kater einige Sätze weiter.

»Jetzt bleib doch endlich sitzen, du blödes Vieh«, rief Jo verärgert und blieb wie angewurzelt stehen. In einem der Teiche schwamm etwas … es sah fast aus wie …

»Mein Gott!«, entfuhr es ihm. Ohne nachzudenken, sprang er in den Teich. Das Wasser reichte ihm bis über die Knie und war schrecklich kalt. Aber das spürte er kaum. Er watete in die Mitte des Teiches, fasste beherzt ins Wasser und zog den Mann nach oben. Mit seiner Last im Schlepptau versuchte er aus dem Teich zu klettern, rutschte aber ab. Schließlich gelang es ihm doch. Er bückte sich und versuchte den Mann herauszuziehen. Das erwies sich als schwerer als gedacht. Seine Kleidung war mit Wasser vollgesogen und zog ihn nach unten. Nach mehreren Anläufen schaffte er es endlich. Jo drehte ihn um und zuckte zusammen. Das Gesicht war aufgequollen und hatte eine grünliche Färbung angenommen. An einigen Stellen begann sich bereits die Haut vom Kopf zu lösen. Ein süßlich-fauliger Geruch nach verwesendem Fleisch hing in der Luft. Ein Blick in die glasigen Augen des Mannes bestätigte ihm, was er ohnehin schon wusste – hier kam jede Hilfe zu spät. Jo war geschockt. Regungslos verharrte er neben dem Toten und starrte ihn an. Dann griff er mit zitternden Fingern nach seinem Handy und wählte den Notruf. Er hätte nicht sagen können, wie lange es dauerte, aber auf einmal war der Krankenwagen da. Jemand führte ihn weg vom Teich und gab ihm eine Decke, die er sich um die Beine wickelte. Einer der Sanitäter redete beruhigend auf ihn ein, aber erst als er ihm eine heiße Tasse Tee in die Hand drückte, kam Jo wieder vollständig zu sich.

»Er ist tot, nicht wahr?«

Der Rettungsassistent nickte. »Wie geht es Ihnen?«, fragte er. »Sie sehen blass aus.«

»Alles gut«, antwortete der junge Küchenchef geistesabwesend.

Die Polizei traf ein. Die Beamten hasteten an ihnen vorbei. Nach einigen Minuten kehrte der Notarzt zum Krankenwagen zurück.

»Und?«, fragte der Sanitäter.

Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Vom Aussehen her würde ich sagen, dass er schon zwei bis drei Tage dringelegen hat.«

»Wissen wir, wer es ist?«

»Keine Ahnung. Da soll sich die Polizei drum kümmern.«

»Sein Name ist Sattler. Ihm gehört das alles hier«, erklärte Jo.

Der Notarzt warf ihm einen prüfenden Blick zu.

»Alles gut?«

Jo nickte.

»Sie sehen sehr blass um die Nase aus. Soll ich Ihnen eine Spritze geben?«

»Nee, danke. Geht schon.«

»So ein Erlebnis kann einem einen Schock versetzen. Wenn Sie wollen, nehmen wir Sie zur Beobachtung mit. Sie legen sich zwei Stunden bei uns aufs Ohr, dann geht’s Ihnen bestimmt besser.« Er nickte dem jungen Küchenchef aufmunternd zu.

»Ich bin okay«, beharrte Jo.

»Sie sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Legen Sie sich zu Hause auf jeden Fall hin.«

Ein Polizeibeamter trat auf die kleine Gruppe zu.

»Haben Sie den Toten gefunden?«, fragte er Jo. Dieser nickte.

»Ich muss Ihre Personalien aufnehmen.«

Jo gab sie ihm.

»Brauchen Sie uns noch?«, wollte der Notarzt wissen.

Der Polizeibeamte schüttelte den Kopf.

»Dann rücken wir ab. Totenschein habe ich ausgestellt. Um die Details kümmern sich ja bestimmt die Kollegen von der Rechtsmedizin.«

»Die Kripo ist alarmiert. Der Rechtsmediziner ist auf dem Weg.«

Eine halbe Stunde später traf Oberkommissar Wieland ein.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte er überrascht, als er Jo bemerkte.

»Hab den Toten gefunden«, nuschelte dieser.

»Bei Ihnen pflastern aber auch Leichen den Weg«, meinte der Beamte trocken. Jo, der inzwischen wieder etwas Farbe im Gesicht hatte, wurde erneut blass.

Wieland hielt inne.

»So habe ich es nicht gemeint«, sagte er schnell. »Warten Sie noch auf mich?«

Jo nickte. Ein uniformierter Beamter führte Wieland zum Fundort der Leiche. Dort wartete Dr. Walter, der Rechtsmediziner, mittlerweile auf ihn.

»Und?«

»Allem Anschein nach ist er ertrunken. Genau kann ich es natürlich erst sagen, wenn ich ihn obduziert habe.«

»Dann sind wir ja zügig fertig.«

»Vielleicht auch nicht. Es gibt ein Trauma am Hinterkopf.«

»Jemand hat ihm eins übergezogen und ihn ins Wasser geworfen?« Wieland klang auf einmal sehr interessiert.

»Möglicherweise. Er könnte aber auch selber reingefallen sein. Sehen Sie die Kante von dem gemauerten Wassereinlass?«

»Ja.«

»Und jetzt sehen Sie sich die Wunde am Hinterkopf an.«

Wieland blickte schnell zwischen beidem hin und her.

»Sie haben recht. Könnte von der Kante stammen.«

Die Männer von der Spurensicherung trafen ein.

»Auch schon da?«, stichelte Wieland. »Habt ihr unterwegs noch Kaffee getrunken?«

»Sehr witzig«, knurrte Konrad Bohrmann, der Leiter der Spurensicherung, und stellte seinen Koffer ab. »Ist das der Tote?«

»Siehst du noch einen anderen?«

»Kollege Wieland hat heute anscheinend einen Clown gefrühstückt«, brummte Bohrmann und bückte sich zu der Leiche hinunter.

»Dr. Walter meint, die Wunde am Hinterkopf könnte von dem Wassereinlass da drüben stammen.«

Der Leiter der Spurensicherung sah sich den Toten genau von allen Seiten an. Dann ging er hinüber zum Wassereinlass und musterte diesen.

»Könnte passen. Müssen wir uns ansehen.«

»Aber nicht reinfallen«, rief Wieland.

»Peter, ziehst du dich um und guckst dir den Einlass aus der Nähe an?«, sagte Bohrmann zu einem seiner Mitarbeiter. Dieser nickte. Ein paar Minuten später tauchte er wieder mit einer Anglerhose auf und stieg vorsichtig in den Teich.

»Jetzt versteh ich, warum ihr so spät dran wart. Ihr habt euren jährlichen Angelausflug gemacht.« Wieland lachte.

Der Leiter der Spurensicherung ließ die Bemerkung unkommentiert. »Wo ist der Mann reingesprungen, der ihn rausgezogen hat?«, wollte er wissen.

»Keine Ahnung. Hab ihn noch nicht befragt.«

»Solltest du vielleicht, statt hier Sprüche zu klopfen.«

»Jetzt mach mal halblang. Ich wollte erst sehen, wie ihr die Lage einschätzt.«

»Siehst du die ausgerissenen Grashalme?« Bohrmann deutete auf das Rasenstück in der Nähe des Wassereinlasses. »Möglicherweise ist er ausgerutscht, rittlings reingefallen und hat sich an der Kante den Kopf angeschlagen. Hat ihn vermutlich ausgeknockt, und er ist ertrunken.«

Er rief einen seiner Mitarbeiter zu sich: »Mach da mal Fotos.«

Der Mann nickte, markierte die Stelle mit einer Plastiknummer, die er in den Boden steckte, und fotografierte sie von allen Seiten.

»Hat der Kescher schon da gelegen, als ihr gekommen seid?«

»Wir haben nichts verändert«, erwiderte Wieland.

»Dann wollte er wahrscheinlich einen Fisch rausholen, hat nicht aufgepasst und ist ausgerutscht.«

»Wenn es so war, müssten an der Kante Blutspuren sein.«

»Nicht unbedingt. Es hat gestern ziemlich viel geregnet.«

»Schon was gefunden, Peter?«, fragte der Oberkommissar den Beamten, der im Wasser stand und den gemauerten Einlass inspizierte.

»Hab ja grad erst angefangen«, gab dieser zurück.

»Warum lässt du uns nicht in Ruhe unsere Arbeit machen und befragst in der Zwischenzeit den Zeugen?«, schlug Bohrmann vor.

»Brauchen Sie mich noch?«, wollte Dr. Walter wissen.

»Nee«, antwortete Wieland. »Die Leiche schicke ich Ihnen.«

Der Rechtsmediziner nickte und machte sich auf den Weg.

»Wie geht es Ihnen?«, wollte Wieland von Jo wissen, der sich auf die Stufen vor dem Haus gesetzt hatte und seine nassen Hosenbeine in die Sonne hielt.

»Schon okay.«

»War kein schöner Anblick, was?«, sagte der Beamte verständnisvoll.

Jo zuckte mit den Schultern.

»Was haben Sie überhaupt hier gemacht?«

»Ich wollte Fische einkaufen. Erich Sattler ist einer meiner Lieferanten. Ich meine, war …«

Wieland schlug seinen Notizblock auf. »Waren Sie mit ihm verabredet?«

»Hab ihn am Freitag angerufen, dass ich heute komme.«

»Wann genau war das?«

»Keine Ahnung, irgendwann am Vormittag.«

»Danach haben Sie nicht noch mal mit ihm gesprochen?«

»Nein.«

»Kannten Sie ihn schon lange?«

»Gut drei Jahre.«

»Wann sind Sie hier eingetroffen?«

Jo blickte auf die Uhr. »Vor knapp zwei Stunden.«

»Und weil Sie ihn nicht gesehen haben, sind Sie ums Haus herum und haben ihn entdeckt?«

Für einen kurzen Moment schwankte Jo, ob er der Polizei von seiner »Hausdurchsuchung« erzählen sollte. Nicht, dass sie ihn am Ende wegen Hausfriedensbruch belangten. Aber schließlich rückte er doch damit heraus.

»Sie haben das Haus durchsucht?«, fragte der Beamte ungläubig.

»Was hätte ich denn machen sollen? Hätte ja sein können, dass er mit einem Herzinfarkt im Bett liegt, oder?«

»Und wenn er sich nur verspätet hätte?«

Jo schüttelte den Kopf. »Sattler kam nie zu spät. Außerdem hat er praktisch hier draußen gewohnt. Aber was sollen die ganzen Fragen? Meinen Sie, ich hab was mit seinem Tod zu tun?«

Wieland lachte. »Ist ’ne Berufskrankheit. Deutet alles auf einen Unfall hin. Anscheinend wollte er einen Fisch aus dem Teich holen, ist ausgerutscht und hat sich den Hinterkopf am Wassereinlass angeschlagen. Wurde vermutlich bewusstlos und ist ertrunken.«

»Glaub ich nicht.« Der junge Küchenchef schüttelte nachdrücklich den Kopf.

»Wieso?«

»Ich hab Sattler oft dabei zugesehen, wie er Fische rausgeholt hat. Er war immer sehr vorsichtig. Ist nie ganz nah an den Teich rangegangen. Ich hatte sogar manchmal das Gefühl, er hatte Angst vor Wasser.«

»Als Fischzüchter?« Wieland lachte ungläubig. »Und selbst wenn, jeder macht mal einen Fehler.«

»Nicht Sattler. Der hat sich immer Zeit gelassen und alles sehr sorgfältig gemacht.«

»Jetzt warten wir mal die Ergebnisse der Spurensicherung und der Autopsie ab. Dann sehen wir weiter.«

»Wo ist eigentlich Hauptkommissar Wenger?«, wollte Jo wissen.

»Wieso, haben Sie Sehnsucht nach ihm?« Der Oberkommissar lächelte verschmitzt. »Sie müssen keine Angst haben. Er ist weit weg. Macht eine Fortbildung bei Interpol in Paris.«

Zu Hause angekommen, nahm Jo eine heiße Dusche und zog sich um. Seine nassen Sachen steckte er in die Waschmaschine. Er war sich absolut sicher, dass Sattler nicht in seinen Teich gefallen war. Der Mann war ein ausgesprochener Pedant gewesen. Jo hatte einmal einen ähnlichen Kollegen gehabt, einen Koch. Der hatte zwar immer länger als alle anderen gebraucht, hatte sich dafür aber nie in die Finger geschnitten – nicht ein einziges Mal. Aber vielleicht machte er sich auch zu viele Gedanken darüber. Die Polizei würde der Sache sicherlich gründlich nachgehen, und möglicherweise ergab sich dann ein anderes Bild.

Etwas ratlos blickte Jo aus dem Fenster. Unten schob sich ein großer Tanker durch das enge Nadelöhr der Loreley. Eigentlich hatte er vorgehabt, nach dem Fischeinkauf eine Radtour zu machen. Schließlich schien die Sonne, und es war sein freier Tag. Aber wenn er bei seinem Plan bleiben wollte, eine Fischwoche im Waidhaus anzusetzen, brauchte er noch frische Fische. Jo hatte sein Restaurant vor gut drei Jahren eröffnet. Es war in einem ehemaligen Forsthaus auf Maria Ruh untergebracht, direkt gegenüber dem Loreleyfelsen. Die Aussicht von Jos Terrasse aus war absolut atemberaubend. Das Haus war im 19. Jahrhundert von einem Förster errichtet worden, der sich bei seiner Standortwahl mehr von der damals schon grassierenden Rheinromantik hatte leiten lassen als von forstwirtschaftlichen Erwägungen. Die Forstverwaltung hatte später an anderer Stelle ein neues Forsthaus errichten lassen. Das Gebäude war nur noch für Lagerzwecke genutzt worden und im Laufe der Zeit immer weiter heruntergekommen. Trotz seiner einzigartigen Lage hatten der bauliche Zustand und die hohen Auflagen des Denkmalschutzes potentielle Interessenten immer wieder abgeschreckt. Als Jo damals auf der Suche nach einem Haus für sein Restaurant gewesen war, hatte er sich spontan in die einzigartige Lage verliebt. Er hatte alle Bedenken in den Wind geschlagen und das Haus aufwendig und in liebevoller Kleinarbeit restaurieren lassen. Im Erdgeschoss befand sich das Restaurant, im ersten Stock hatte Jo seine Wohnung eingerichtet.

Als er vor drei Jahren begonnen hatte, sich ein Netzwerk aus Lieferanten aufzubauen, hatte er mehrere Fischzüchter ausprobiert. Sattlers Fische waren mit Abstand die besten gewesen. Irgendwo musste er noch die Nummern der anderen haben. Jo ging hinunter in sein Büro und suchte nach dem Telefonverzeichnis. Schon eigenartig, dachte er, Sattler war noch nicht einmal unter der Erde, und er machte sich schon auf die Suche nach einem Ersatz für ihn.

Er rief bei einem der Züchter an und vereinbarte einen Termin.

Danach blieb er an seinem Schreibtisch sitzen und dachte nach. Das bleiche, aufgedunsene Gesicht von Sattler wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Er griff zum Hörer.

»Sandner.«

»Hallo, Klaus, hier spricht Jo.«

»Nett, dass du anrufst. Wie geht’s?«

»Alles gut. Und bei dir?«

»Könnte nicht besser sein. Womit kann ich helfen?«

»Wie kommst du drauf, dass ich deine Hilfe brauche?«

Der Journalist lachte. »Wenn du unter der Woche anrufst, steckt meist mehr dahinter als eine Einladung zum Mittagessen.«

Jo fühlte sich ertappt. »Ich möchte eine Anzeige aufgeben.«

»Bei uns im Blatt?«

»Wieso nicht?«

»Bisher hast du noch nie Werbung bei uns geschaltet. Läuft es nicht mehr so gut bei euch?«

»Im Gegenteil. Es geht um eine Stellenausschreibung. Ich suche einen Restaurantleiter.«

»Da redest du doch schon mindestens ein Jahr drüber.«

»Tja, und jetzt mache ich Nägel mit Köpfen.«

»Ich kann dir gern die Nummer unserer Anzeigenabteilung geben.«

Jo hörte den Journalisten blättern.

»Was kostet so was?«

»Musst du die Kollegen fragen. Am besten gehst du in den Stellenteil am Samstag. Da gucken die meisten rein.«

Sandner gab ihm die Nummer durch.

»Krieg ich Rabatt?«

»Von mir?«

»Immerhin bist du stellvertretender Chefredakteur.«

»Aber nicht mehr lange, wenn ich anfange, Rabatte rauszugeben. Wir sind eine arme Regionalzeitung. Außerdem hab ich mit dem Anzeigengeschäft nichts zu tun. Das läuft bei uns strikt getrennt.«

»Schade.«

Sandner lachte wieder.

»Ich hab noch was anderes.«

»Ja?«

»Erinnerst du dich an Erich Sattler?«

»Den alten Raufbold, bei dem du deine Fische kaufst?«

»Genau den. Er ist tot.«

»Echt?«

Der Journalist schwieg betroffen.

»Hab ihn heute früh in einem seiner Teiche gefunden.«

»Was ist passiert?«

»Keine Ahnung. Die Polizei denkt, es war ein Unfall.«

»Du hörst dich nicht überzeugt an.«

»Bin ich auch nicht. Es fällt mir schwer zu glauben, dass er in seinen Teich fällt und ertrinkt. Das wär so, als würde ich in meinem Kühlhaus erfrieren.«

»Wir hatten letzte Woche eine Geschichte über einen pensionierten Elektriker in der Zeitung. Der wollte den neuen Herd seiner Frau anschließen und hat versehentlich die falsche Sicherung rausgeschraubt. Hat einen Starkstromschlag abbekommen und war mausetot.«

»Ich hab Sattler oft beobachtet. Der kannte bei seinen Teichen jeden Millimeter …«

»Überlass die Sache der Polizei. Wenn da was faul ist, finden sie es bestimmt raus.«

Kapitel 2

Nachdem Jo sich gestärkt hatte, fuhr er mit dem Wagen hinunter nach Sankt Goar und setzte mit der Fähre über nach Sankt Goarshausen. Über die Bundesstraße ging es bis Wellmich und von dort weiter nach Dahlheim. Im Ort bog er in einen Wirtschaftsweg ein. Nach gut einem Kilometer gelangte er zu einem Hof, der idyllisch von Birken umgeben war. Über der Einfahrt prangte in großen Buchstaben: »Fischzucht Guido Weber – die frischesten Fische weit und breit.«

Jo parkte seinen Volvo vor einem alten Backsteingebäude, das einen frisch renovierten Eindruck machte. Kaum war er ausgestiegen, kam ein Mann in einer grünen Latzhose auf ihn zu.

»Herr Weidinger, welche Freude, Sie zu sehen!«, rief er überschwänglich.

Guido Weber hatte seit ihrer letzten Begegnung deutlich zugelegt, und seine strubbeligen Haare waren grauer geworden. Er schüttelte Jo kräftig die Hand.

»Schön, dass Sie vorbeischauen. Wann waren Sie das letzte Mal da, vor zwei Jahren?«

»So in etwa.«

»Was führt Sie zu uns?«

»Ich bin auf der Suche nach einem neuen Lieferanten für die heimischen Speisefische.«

»Freut mich, dass Sie dabei an mich gedacht haben. Was brauchen Sie denn?«

»Ich wollte Ihr gesamtes Angebot testen.«

»Sehr schön. Dann stellen wir Ihnen ein entsprechendes Paket zusammen.«

Der Teichwirt gab einem Mitarbeiter eine Anweisung.

»Bei uns hat sich in der Zwischenzeit übrigens einiges getan: Wir haben unseren Betrieb erweitert und züchten jetzt auch Saiblinge, Aale und Zander. Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles.«

Weber schien in der Tat ordentlich investiert zu haben. Während sie an den Teichen entlanggingen, gab er weitere Erläuterungen: »Im Sommer, wenn es besonders heiß ist, belüften wir mit Sauerstoff. Die Karpfen werden ja in stehenden Gewässern aufgezogen und brauchen einen Mindestsauerstoffgehalt von vier Milligramm pro Liter.«

»Wie lange dauert die Aufzucht?«

»Karpfen erleben in der Regel drei Sommer.«

»Und Forellen?«

»Achtzehn bis vierundzwanzig Monate – je nachdem wie groß sie werden sollen. Spitzenrestaurants wie Ihres wollen möglichst kleine Fische, da geht es schneller.«

»Mit was füttern Sie die?«

»Die Karpfen bekommen Kohlehydrate, also vor allem Getreide, aber natürlich als Fertigfutter. Forellen und Saiblinge werden heutzutage ausschließlich mit Pellets gefüttert, die einen hohen Eiweißgehalt haben.«

»Sind Sie beim Abfischen schon mal in einen Ihrer Teiche gefallen?«, fragte Jo.

»Ich? Nur einmal als Kind. Damals konnte ich noch nicht schwimmen und wäre fast ertrunken. Würde mir heute nicht mehr passieren. Fett schwimmt immer oben«, lachte Weber dröhnend und klopfte sich auf seinen runden Bauch.

»Und von Ihren Leuten?«

»Sie stellen Fragen! Wenn’s richtig heiß ist, würde der eine oder andere schon gern mal reinspringen! Durch die laufende Frischwasserzufuhr bleiben die Teiche ja auch im Sommer relativ kühl. Aber so was geht natürlich nicht. Da passe ich schon auf.«

»Kennen Sie Erich Sattler?«

»Der Name sagt mir nichts.«

»Ist ein Kollege von Ihnen. Er hat seine Fischzucht auf der anderen Rheinseite.«

»Ach, der Sattler. Ja, den kenn ich. Aber nur flüchtig. Hab vielleicht ein oder zwei Worte mit ihm bei einer Sitzung unseres Verbands gewechselt.«

»Und wie war Ihr Eindruck von ihm?«

»Kerniger Bursche. Aber fachlich ein Ass.«

»Er soll öfter Streit gehabt haben.«

»Davon weiß ich nichts«, erwiderte Weber schnell. »Ich komme mit allen gut aus. Außer mit den Fischreihern – mit denen steh ich auf Kriegsfuß.« Er lachte erneut.

»Ah, da kommt der Kollege mit Ihrer Lieferung. Helmut, bringst du die zwei Kisten zu Herrn Weidingers Auto?«

Als die Fische verladen waren, verabschiedeten sie sich.

»Ich hoffe, Sie beehren uns bald wieder!«, rief Weber ihm zu. »Hab über Ihr Restaurant nur das Beste gehört. Wir würden uns freuen, wenn wir Sie dauerhaft beliefern dürften.«

Auf der Rückfahrt fragte sich Jo, wie er mehr über Sattler in Erfahrung bringen konnte. Wenn schon Kollegen aus der unmittelbaren Nachbarschaft nicht sehr viel Kontakt mit ihm gehabt hatten, würde es nicht einfach werden. Zurück im Waidhaus, verstaute er die Fische im Kühlhaus und setzte sich an seinen Schreibtisch, um die Stellenausschreibung für die Position des Restaurantleiters zu formulieren. Er textete etwas, war aber mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Nach drei weiteren Versuchen gab er auf. Irgendwie fehlte ihm heute der Sinn dafür. Jo griff zum Telefonhörer.

»Höller?«

»Hallo, Ute, hier spricht Jo.«

»Wie geht es dir, mein Lieber?«

»Bestens.«

»Tatsächlich? Ich hab gehört, du hast heute eine Leiche aus dem Wasser gezogen.«

»Woher weißt du das denn schon wieder?«, fragte Jo verblüfft.

»Du kennst doch Oberwesel – Neuigkeiten dieser Art sprechen sich schnell herum.«

Der junge Küchenchef vergaß immer wieder, dass Ute in dieser Stadt aufgewachsen war und so ziemlich jeden kannte.

»Kann ich vorbeikommen?«

»Klar.«

Als er bei Ute eintraf, duftete es im ganzen Haus nach Zimtschnecken.

»Willst du eine?«, fragte sie und deutete auf einen Teller, auf dem sich die leckeren Gebäckteilchen stapelten. Der Zuckerguss glitzerte verführerisch.

»Sind das nicht richtige Kalorienbomben?«

»Du dürrer Hering wirst es dir leisten können. Was soll ich als alte Frau da sagen?« Die Sechzigjährige backte für ihr Leben gern und hatte noch nie einen Gedanken an das Thema Kalorien verschwendet. Sie gehörte zu den ersten Mitarbeitern des Waidhauses und war schon vor der Eröffnung des Restaurants an Bord gewesen. Sie hatte mit ihrem Mann eine Pension betrieben, in der Jo eine Zeitlang gewohnt hatte, als er ins Rheintal gekommen war. Schon damals war Ute ihm mit ihrer fröhlichen Art ans Herz gewachsen. Kurz vor der Eröffnung des Waidhauses war überraschend ihr Mann verstorben. Da sie sich die Führung der Pension alleine nicht zutraute, hatte sie diese schweren Herzens geschlossen. Sie war eine hervorragende Köchin mit fast dreißig Jahren Berufserfahrung, und Jo hatte sie spontan gefragt, ob sie nicht für ihn arbeiten wolle. Nach kurzer Überlegung hatte sie zugesagt. Jo hatte den Schritt nie bereut. Ute war in jeder Hinsicht mustergültig: präzise, belastbar und immer gut gelaunt. Jo hätte sie nicht für zwei gelernte Gesellen eingetauscht.

»War bestimmt kein schöner Anblick«, meinte sie mitfühlend. »Willst du darüber sprechen?«

»Da gibt’s nicht viel zu sagen. Ich hab gesehen, dass jemand im Wasser treibt. Ich bin rein und habe ihn rausgeholt. Danach hab ich den Rettungswagen gerufen.«

Die Sechzigjährige seufzte.

»Es tut nicht gut, wenn man immer alles in sich reinfrisst. Wieso fällt es dir so schwer, über deine Gefühle zu sprechen? Als mein Mann gestorben ist, hätte ich mich auch am liebsten in meinem Schneckenhaus verkrochen. Aber ich bin rausgegangen, hab mich mit meinen Freundinnen getroffen und darüber geredet.«

»Kanntest du Sattler?«, fragte Jo, ohne auf ihre Worte einzugehen.

Sie lächelte nachsichtig. »Nicht sehr gut. Er war in der Schule einige Jahre hinter mir, und ich hab mich damals nur für ältere Jungs interessiert.«

»Und später?«

»Auch nicht. Erich war schon immer ein Eigenbrötler. War in keinem Verein und hat sich auch sonst wenig in der Stadt blicken lassen. Außer in den Kneipen – da war er ein gerngesehener Gast.«

»Wie kam er zur Fischzucht?«

»Familiengeschäft. Sein Großvater hat damit angefangen. Er hat einige Teiche von seiner Mutter geerbt und die Anlage Stück für Stück ausgebaut. Ich erinnere mich noch gut an ihn. Wir hatten damals einen Kolonialwarenladen in der Unterstadt. Er war ein strenger, wortkarger Mann. Ich hab mich als kleines Mädchen immer versteckt, wenn er zu uns in den Laden gekommen ist.« Sie lachte. »Seine Frau ist früh verstorben, und er hat seine Tochter allein aufgezogen.«

»Kanntest du sie?«

»Klar, sie kam ja meistens mit in den Laden. Sie muss damals Anfang zwanzig gewesen sein. Eine blasse, stille Person. Deswegen waren alle sehr erstaunt, dass sie kurz danach mit Erich schwanger geworden ist.«

»Sie war nicht verheiratet?«

Ute schüttelte den Kopf. »War damals ein ziemlicher Skandal. Ein uneheliches Kind und kein Vater in Sicht. Der alte Sattler muss unheimlich wütend gewesen sein. Danach hat man die Tochter kaum noch in der Stadt gesehen. Erst als Erich erwachsen war und der alte Sattler verstorben ist, musste sie zwangsläufig mehr raus. Aber so richtig warm ist sie mit niemandem geworden. Die Sache mit dem unehelichen Sohn hat sie zeitlebens verfolgt.«

»War Erich Sattler verheiratet?«

»Nein. Hatte auch nie eine Freundin, soweit ich weiß. Seine Mutter hat ihm den Haushalt geführt. Jedenfalls solange sie lebte. Seit ihrem Tod hab ich ihn kaum noch in der Stadt gesehen. Die Leute sagen, dass er praktisch bei seinen Weihern gehaust hat. Ich bin aber schon ewig nicht mehr dort draußen gewesen.«

»Weißt du, ob er Feinde hatte?«

»Feinde? Das hört sich so archaisch an. Beliebt war er jedenfalls nicht sehr, wenn du das meinst. Schon als Junge hat er sich oft geprügelt, und als Erwachsener wurde es nicht viel besser. Jedenfalls war er in ein paar Schlägereien verwickelt, soweit ich weiß. Vor einiger Zeit soll er heftig mit einem Gastwirt in Bacharach aneinandergeraten sein.«

»Weswegen?«

Ute zuckte mit den Schultern. »Er konnte ziemlich aufbrausend sein. Deswegen sind ihm viele aus dem Weg gegangen. Mein Mann und ich haben unsere Fische auch lieber woanders gekauft, obwohl seine sehr schmackhaft sind.«

»Weißt du, mit wem er sonst noch Streit hatte?«

»Das Kneipenmilieu, in dem er verkehrte, ist nicht meine Welt. Vielleicht solltest du mit Paul Eckert sprechen.«

»Kenne ich nicht. Wer ist das?«

»Ein ehemaliger Skatbruder meines Mannes. Er ist mit Erich Sattler zur Schule gegangen.«

»Kannst du da was für mich arrangieren?«

»Schon, aber warum interessiert dich das?«

»Nur so.«

Sie lachte. »Hast du nicht mit dem Restaurant genug am Hals?«

»Ich will mich nur ein wenig umhören. Kommt ja nicht jeden Tag vor, dass man einen Toten aus dem Wasser zieht.«

Kapitel 3

Am nächsten Morgen fuhr Jo zum zweiten Fischbetrieb, den er herausgesucht hatte. Er lag in der Nähe von Bad Kreuznach, so dass er eine knappe Dreiviertelstunde benötigte, bis er auf den Hof einbog. Vor einem langgezogenen Wirtschaftsgebäude stellte er seinen Wagen ab. Er ging hinüber zum Haus und klingelte.

»Ja?«, krächzte es aus der Sprechanlage.

»Hier ist Jo Weidinger. Wir haben telefoniert.«

»Ich komme.«

Kurz darauf öffnete sich die Haustür, und ein Mann mittleren Alters trat heraus. Er trug Jeans und einen dunklen Sweater.

»Ich bin Holger Kraus und leite den Betrieb«, sagte er und gab Jo zur Begrüßung die Hand. »Sie sind auf der Suche nach einem neuen Fischlieferanten?«

»Ja.«

»Was brauchen Sie denn – Forellen, Bachforellen, Karpfen?«

»Ich wollte alles ausprobieren. Haben Sie auch Aal und Hecht?«

»Wir bieten unseren Kunden das volle Programm. Wenn Sie öfter kommen und größere Mengen abnehmen, können wir Ihnen preislich entgegenkommen.«

Na, der ging ja ganz schön ran.

»Wir haben viele Gastronomen unter unseren Kunden. Sind alle sehr zufrieden mit uns.«

»Ich würde mir gern Ihren Betrieb ansehen. Geht das?«

»Sicher.«

Während der Fischzüchter Jo herumführte, redete er fast ununterbrochen. »Der Markt ist gegenwärtig ziemlich in Bewegung. Viele kleinere Betriebe müssen aufgeben. Wir haben dagegen ausgebaut und unser Sortiment erweitert.«

»Schade, dass es weniger Betriebe gibt.«

»Als Kunde können Sie davon nur profitieren. Wir haben nicht nur ein größeres Angebot, wir sind auch schneller und flexibler. Das ist gerade für Sie als Gastronom wichtig.«

Jo war das Gespräch unangenehm. Er hatte zwar Verständnis, dass jemand seine Ware anpries, aber der Betriebsleiter schien unter einem regelrechten Verkaufsdruck zu stehen.

»Kennen Sie Erich Sattler?«

»Den aus Oberwesel?«

»Ja.«

»Nur flüchtig. Tragische Sache.«

»Sie haben davon gehört?«

»Es stand ja heute Morgen im Rheinischen Tagblatt.«

»Hab ich noch gar nicht gesehen. Er war mein bisheriger Lieferant.«

»Tut mir leid. Aber ich kann Ihnen versichern, dass wir Sie mindestens so gut wie er beliefern werden.«

Jo blieb der Mund offen stehen. Hatte Kraus das tatsächlich gesagt?

»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch«, fügte der Betriebsleiter schnell hinzu. »Der Tod eines Kollegen macht mich natürlich genauso betroffen wie Sie. Ich wollte damit nur sagen, dass Sie sich um die Qualität Ihrer Fische keine Sorgen machen müssen.«

»Wie ich gehört habe, soll er in einen seiner Teiche gefallen und ertrunken sein.« Jo wollte nicht unbedingt durchblicken lassen, dass er es war, der Sattler gefunden hatte.

»Was für ein Unglück!« Besonders nahe schien es Kraus nicht zu gehen, denn während er es sagte, blickte er auf die Uhr.

»Kommt so etwas öfter vor?«

»Was?«

»Dass einer in seinen Teich fällt.«

»Bei uns nicht. Wir achten sehr auf die Sicherheit. Als ich meine Ausbildung in Norddeutschland gemacht habe, gab es einen ähnlich gelagerten Fall. Ein Hilfsarbeiter kam spätnachts aus der Kneipe nach Hause, ist gestolpert und in einen der Teiche gefallen. Er war so betrunken, dass er es nicht geschafft hat, wieder ans Ufer zu kommen.«

Es entstand eine kurze Gesprächspause.

»Wie viele Fische brauchen Sie?«

»Ich wollte von jeder Sorte zwei, drei mitnehmen. Wenn sie meinen Gästen schmecken, komme ich regelmäßig.«

»Das werden sie bestimmt«, meinte Kraus und lächelte dünn. Offensichtlich hatte er sich ein größeres Geschäft ausgerechnet.

Zu Hause angekommen, holte Jo die Zeitung aus dem Briefkasten und setzte sich damit ins Büro. Er schlug den Regionalteil auf und suchte nach der Meldung. Der Tod von Erich Sattler war dem Rheinischen Tagblatt nur ein paar Zeilen wert:

»Am frühen Montagmorgen wurde in einem Teich in der Nähe von Oberwesel eine Leiche entdeckt. Dem Vernehmen nach handelt es sich um Erich S., den Besitzer des Teichs. Die näheren Umstände des Todes werden noch untersucht. Die zuständigen Behörden gehen zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht von einer Fremdeinwirkung aus.«

Jo schüttelte den Kopf. Hatte Oberkommissar Wieland nicht gesagt, sie würden erst die Autopsie und die Ergebnisse der Spurensicherung abwarten, bevor sie endgültige Schlüsse zogen?

Pedro steckte den Kopf zur Tür herein. »Was wird jetzt aus der Fischwoche? Sagen wir sie ab?«, wollte der junge Spanier wissen. »Ich könnte die Karte umschreiben, wenn du willst.«

»Nicht nötig. Ich hab Fische besorgt.«

»Echt? Ich hab gar nichts gesehen.«

»Sie sind noch im Kühlhaus.«

»Meinst du nicht, es ist pietätlos, wenn wir trotzdem Fisch anbieten?«

Jo musste wieder an das fahle, aufgedunsene Gesicht von Erich Sattler denken. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter.

»Alles klar bei dir?«, fragte Pedro.

»Absolut«, antwortete der junge Küchenchef. »Du hast schon recht. Andererseits – die meisten unserer Gäste kannten Sattler nicht. Wenn wir die Fischwoche verschieben, gibt es vielleicht Unmut beim ein oder anderen. Einige Gäste kommen extra deswegen aus Düsseldorf.«

»Okay, dann hol ich die Fische aus dem Kühlhaus.«

»Ich komme gleich«, sagte Jo und schob die Zeitung beiseite.

Für die Fischwoche hatte der junge Küchenchef einige neue Gerichte kreiert. Unter anderem gab es pochierte Filets von der heimischen Bachforelle in Wein-Austern-Sauce und Rosmarin-Kartoffeln, Aal mit Walnusssauce und Frühlingsrisotto sowie Hecht mit Flusskrebsen in einer pikanten Weißwein-Sahne-Sauce. Besonders stolz war er auf eine der Vorspeisen: Variationen vom frischen Bachsaibling. Sie bestand aus einem Saiblingscarpaccio, bei dem die Filets mit Limettensaft und etwas Olivenöl beträufelt wurden, Saiblingstatar, der mit Apfel, Fenchel und frischen Kräutern zubereitet wurde, und einem Saiblings-Spiegel mit Wasabi-Creme.

Den Nachmittag nutzte Jo für einen Abstecher zum dritten Fischzüchter auf seiner Liste. Er fuhr Richtung Koblenz. Auf dem Rhein herrschte reger Schiffsverkehr. Die Ausflugsboote und Flusskreuzfahrtschiffe wechselten sich munter mit Frachtschiffen und großen Schubverbänden ab, die mit den unterschiedlichsten Waren beladen waren. Jo liebte es, am Rhein entlangzufahren, auch wenn er dafür mehr Zeit benötigte. Bei Rhens bog er ab. Die enge, kurvenreiche Straße schlängelte sich durch den Wald den Berg hinauf. Kurz vor Waldesch wechselte er auf die Hunsrückhöhenstraße. Nach einigen Kilometern bog er nach Hünenfeld ab. Gleich hinter dem Ortsausgang tauchte ein landwirtschaftlicher Betrieb auf. Auf dem Schild über der Einfahrt stand: »Fischzucht Kramer GmbH«. Jo erinnerte sich von seinem Besuch vor drei Jahren an einen liebevoll angelegten Blumen- und Gemüsegarten vor dem Haus. Zu seiner Überraschung war dieser einem geteerten Vorplatz gewichen. Er stieg aus und sah sich um. Aus dem Wirtschaftsgebäude tauchte ein großer, breitschultriger Mann auf, der einen Blaumann trug. Er war etwa in Jos Alter. Seine hünenhafte Gestalt stand in augenfälligem Kontrast zu seinem naiv-kindlichen Gesichtsausdruck.

»Hallo, ich bin Tobi«, sagte er und lächelte Jo freundlich an.

»Ich weiß«, antwortete dieser und lächelte ebenfalls. »Wir haben uns vor knapp drei Jahren kennengelernt, als ich schon mal hier war.«

»Sie sind Herr Weidinger und kochen ganz doll, stimmt’s?«

»Ich geb mir jedenfalls Mühe.« Der junge Küchenchef lachte. »Hast du dir gut gemerkt. Du kannst mich Jo nennen.«

Tobi Kramer strahlte.

»Ist deine Mutter da?«

Tobi schüttelte den Kopf. »Mama ist jetzt im Himmel«, erklärte er mit ernster Miene.

»Das tut mir leid«, sagte Jo betroffen. Frau Kramer war ihm durch ihre herzliche Art in Erinnerung geblieben. Sie hatte Jo unbefangen erklärt, dass Tobi bei seiner Geburt für einige Zeit von der Sauerstoffversorgung im Gehirn abgeschnitten gewesen und deswegen geistig auf dem Niveau eines Kindes geblieben war. Die beiden hatten ein lustiges Duo abgegeben – die zierliche Frau und der hünenhafte Sohn, der mit großem Eifer bei der Sache war.

»Wie lange ist sie schon tot?«

Der große Mann dachte nach. »Zwei Jahre.«

»Bestimmt vermisst du sie sehr.«

Tobi zuckte mit den Schultern. »Mein Bruder Freddi sagt, sie passt mit den Engeln auf mich auf.«

»Das ist schön.«

Es entstand eine Pause.

»Hilfst du bei den Fischen mit?«, fragte Jo.

Tobi schüttelte den Kopf. »Freddi lässt mich nicht, seit ich mal ins Wasser gefallen bin. Normalerweise arbeite ich in der Werkstatt.«

»In welcher Werkstatt?«

»In Koblenz. Da sind viele wie ich. Ich meine, die nicht so schnell sind. Aber wir stellen dolle Sachen her. Da bin ich von Montag bis Freitag. Am Wochenende bin ich zu Hause, und Freddi passt auf mich auf.«

»Und wieso bist du heute nicht in der Werkstatt?«

»Weil ich Urlaub habe«, antwortete der Hüne mit kindlicher Freude.

»Tobi, lass den Mann in Ruhe«, herrschte ihn ein schlanker junger Mann an, der aus dem Haus getreten war. Die Ähnlichkeit mit seiner Mutter war unübersehbar – er hatte ihre zierliche Figur geerbt und reichte seinem Bruder kaum bis zu den Schultern.

»Wir unterhalten uns nur ein wenig«, meinte Jo.

»Tobi, geh ins Haus.«

»Ich will mitkommen. Herr Weidinger ist nett. Ich darf Jo zu ihm sagen.«

»Du weißt, was wir besprochen haben, wenn Kunden da sind«, zischte sein Bruder in scharfem Ton.

»Ich geh ja schon«, brummte Tobi und trottete widerwillig zum Haus.

»Sie hätten ihn wegen mir nicht wegschicken müssen.«

»Wie ich mit meinem Bruder umgehe, müssen Sie schon mir überlassen«, erwiderte Frederic Kramer unwirsch.

»Er wollte doch nur …«

»Tobi ist manchmal ziemlich tollpatschig. Deswegen habe ich es nicht so gern, wenn er im Kundengeschäft mit dabei ist«, erklärte der junge Fischzüchter eine Spur freundlicher.

»Er hat mir erzählt, dass Ihre Mutter verstorben ist.«

»Sie hatte Krebs.«

»Ich wollte Ihnen mein Beileid ausdrücken«, sagte Jo etwas unbeholfen.

»Danke«, antwortete Kramer kurz angebunden.

»Ist für Sie und Ihren Vater bestimmt nicht einfach.«

»Mein Vater ist auch tot.«

Jo blieb stehen.

»Ich wollte nicht …«

»Schon gut. Welche Fische brauchen Sie?«

»Was haben Sie denn?«

»Bei uns bekommen Sie sehr schöne Regenbogenforellen und Bachforellen. Dazu Karpfen, Aale und Zander.«

»Wie sieht es mit Saiblingen aus?«

»Aktuell nicht im Angebot. Aber wir sind dran. Ich bin gerade auf der Suche nach zusätzlichen Teichen, um den Betrieb zu erweitern. Spätestens in einem halben Jahr können wir Ihnen die gesamte Palette der heimischen Speisefische anbieten.«

Erstaunlich. Irgendwie schienen alle Betriebe, die Jo besuchte, auf Wachstumskurs zu sein.

»Kennen Sie Erich Sattler?«

»Nein. Sollte ich?«

»Ist mein bisheriger Fischlieferant. Kam bei einem bedauerlichen Unfall ums Leben. Ist in seinen Teich gefallen und hat sich den Kopf angeschlagen.«

Kramer machte einen betroffenen Eindruck.

»Komisch, oder? Man würde doch denken, so jemand kennt seine Weiher«, hakte Jo nach.

»Vielleicht hat er nicht aufgepasst oder ihm ist schlecht geworden«, mutmaßte der junge Fischzüchter. »Tobi ist auch schon in einen unserer Teiche gefallen. Aber dem passieren öfter solche Sachen. Ich muss immer auf ihn aufpassen.«

»Herr Sattler war im Fischzüchterverband aktiv, vielleicht kannten Sie ihn ja doch?«

»Nee. Ich bin aus dem Verband ausgetreten. Dafür habe ich keine Zeit.«

Jo nickte verständnisvoll. Anscheinend war er nicht der Einzige, dem die Arbeit über den Kopf wuchs. Da er hier offensichtlich nichts weiter über Sattler in Erfahrung bringen konnte, ließ er sich die Fische einpacken und machte sich auf den Rückweg.

Kapitel 4

Am folgenden Tag setzte Jo im Waidhaus eine Fischverkostung an. Zuerst wurden die Fische von allen Seiten begutachtet.

»Sehen alle gut aus«, meinte Pedro. »Sind auch alle gleich groß. Man könnte fast denken, die kommen alle aus demselben Laden.«

Jo nickte. Bei Sattler hatte es mehr Unterschiede gegeben, was Größe und Form anging.

»Duften tun sie auch frisch«, sagte Philipp. Der Jungkoch war der erste Lehrling, den sie im Waidhaus ausgebildet hatten.

»Gut, dann schauen wir mal, wie sie schmecken«, entschied Jo. Sie bereiteten als Erstes Zander vom Grill mit Mozzarella und Basilikumgemüse zu. Der Mozzarella wurde mit Olivenöl, Salz, Knoblauch, Kerbel, Estragon, Petersilie sowie Basilikum gewürzt und anschließend im Mixer zerkleinert. Die Zanderfilets wurden damit bestrichen und vor dem Servieren in einem Salamander glaciert. Dazu gab es ein buntes Gemüse aus Karotten, Blumenkohl, weißen Rüben, Erbsen, Zucchini, Champignons und Kartoffeln. Es wurde kurz in Butter geschwenkt, mit Fischfonds übergossen und dreißig Minuten »al dente« gegart. Als zweites Gericht dünsteten sie Bachforelle mit Muscadet. Auf seine dritte Kreation war Jo besonders stolz – Karpfenrücken in dunklem Bier mit Hopfenspargel. Der Hopfenspargel war eine bayerische Spezialität. Dabei handelte es sich um Triebe, die im Hopfengarten nicht benötigt und im Frühjahr entfernt wurden. Bereits im 19. Jahrhundert waren sie wegen des darin enthaltenen Zuckers beliebt und wurden wie Spargel genutzt. Jo garte sie in Fischfond. Anschließend wurde das Garwasser mit dem Bier auf die Hälfte eingekocht und durch ein Spitzsieb passiert. Das Ganze wurde mit Brotkrumen und Butter gemischt. Der Karpfen wurde mit der Brotlage bestrichen und im Ofen überbacken.

»Und?«, fragte Jo in die Runde, als alle gekostet hatten. Sie hatten für jeden Züchter einen eigenen Teller angerichtet.

»Reißen mich alle nicht vom Hocker«, sagte Pedro. »Irgendwie fehlt mir der Pfiff. Das schmeckt alles so neutral.«

Jo nickte zustimmend. Deswegen hatte er sich damals für Sattler entschieden. Bei ihm hatte jeder Fisch eine eigene Note. Das Fleisch seiner Fische war saftig und fest, roch gut und brachte den Geschmack jeder einzelnen Art hervorragend zur Geltung. Zumindest bei den vorliegenden Proben hatte man jedoch das Gefühl, dass es sich um Massenware aus einer der großen Fischfarmen handelte. Vielleicht lag es daran, dass Sattlers Betrieb deutlich kleiner war als die gestern und heute besuchten. Wahrscheinlich fütterten alle das Gleiche. Jo seufzte. Natürlich hätte er noch andere Fischzüchter ausprobieren können, aber da der Trend allgemein hin zu größeren Betrieben zu gehen schien, hatte er keine große Hoffnung, noch etwas Besseres zu finden. Außerdem wollte er einen Lieferanten aus der Region haben. Nun ja, in Zukunft würden sie stärker mit Kräutern und Gewürzen arbeiten müssen, um den Geschmack der Fische zu heben.

»Welchen Anbieter findet ihr am besten?«

»Wenn wir sonst keine Auswahl haben, würde ich zu Nummer eins tendieren«, sagte Pedro und deutete auf den ersten Teller. Das war auch Jos Favorit. Die anderen nickten zustimmend.

»Gut, dann ist unser neuer Fischlieferant Guido Weber aus Dahlheim.«

»Wie, auch noch von der anderen Rheinseite?«, rief Pedro mit gespielter Verzweiflung. »Das kann ja heiter werden.«

Am Nachmittag telefonierte Jo mit Oberkommissar Wieland.

»Hoffentlich wollen Sie nicht noch eine Leiche melden«, sagte der Kriminalbeamte in launigem Ton.

»Nee. Ich wollte hören, ob Sie schon etwas Näheres wissen.«

»Der Bericht des Rechtsmediziners ist gerade gekommen.«

»Und?«

»Hauptkommissar Wenger wäre es bestimmt nicht recht, wenn ich Ihnen alles brühwarm erzähle.«

»Sie sagten doch, er ist in Paris.«

»Auch wahr.«

Er überflog den Bericht. »Die Wunde am Kopf stimmt genau mit der Kante des gemauerten Wassereinlasses überein. Zudem hat die Rechtsmedizin kleine Spuren von Zement in der Wunde gefunden. Der Aufschlag dürfte heftig genug gewesen sein, dass Sattler bewusstlos war, als er ins Wasser fiel. Die Todesursache ist Ertrinken.«

»Vielleicht wurde er geschubst.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Ich hab mit ein paar Fischzüchtern geredet. Da fällt nie einer in seinen Teich. Außer er ist betrunken.«

»Es wurde kein Alkohol im Blut gefunden.«

»Sehen Sie!«, rief Jo triumphierend. »Ich wusste gleich, dass mehr dahintersteckt.«

»Unsinn«, antwortete Wieland verärgert. »Es gibt keinerlei Anzeichen für Fremdeinwirkung.«

»Jemand, der sich so gut bei seinen Teichen auskennt, fällt nicht einfach ins Wasser«, insistierte Jo.

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