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Dennis A. Nowak

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Beschreibung

Spätsommer, Ferienzeit und ein Volksfest in der Stadt. Das Leben im beschaulichen Eichstätt könnte nicht schöner sein. Doch die Idylle ist trügerisch, ein junger Student aus Montreal, der an der Katholischen Universität ein Gastsemester verbringt, wird ermordet in seiner Wohnung aufgefunden. Hauptkommissar Dieter Pallasch von der Ingolstädter Mordkommission wird mit seinem Kollegen Lachmann auf den Fall angesetzt. Während die Beiden potenzielle Täter ins Visier nehmen, stolpern sie über die grauenvoll verstümmelten Leichen der Verdächtigen. Und irgendjemand ist ihnen immer einen verhängnisvollen Schritt voraus …

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Dennis A. Nowak ist Chefarzt einer großen Neurologischen Fachklinik im Altmühltal. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Eichstätt.

Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de

Dank an Johanna fürs bewährte Mundartlektorat

November 2016 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2016 Buch&media GmbH, München Herstellung und Umschlaggestaltung: Johanna Conrad, Augsburg Printed in Europe . E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH ISBN Buch 978-3-86906-886-2 ISBN epub 978-3-86906-966-1 ISBN PDF 978-3-86906-967-8

Der Inhalt dieses Buches ist reine Fantasie. Namen von Personen, Institutionen, Kliniken, Unternehmen, Kirchen und Orten, die tatsächlich existiert haben oder noch existieren, beziehen sich nicht auf reale Begebenheiten. Sämtliche Ereignisse und Zusammenhänge sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist reiner Zufall. Aufgrund der Anforderungen der Handlung sind einige Teile der Geografie der Stadt Eichstätt und einige Innenansichten verändert worden, der ortskundige Leser möge es dem Autor großzügig nachsehen.

»Jetzt sage ich Ihnen mal was: Noch bevor man überhaupt weiß, was die Amerikaner da genau machen, regen sich alle auf, beschimpfen die Amerikaner. Und diese Mischung aus Anti-Amerikanismus und Naivität geht mir gewaltig auf den Senkel.«

Innenminister Hans-Peter Friedrich zur NSA-Affäre am 17. Juni 2014 vor Journalisten in München.

Quelle: www.spiegel.de/fotostrecke/prism-und-tempora-zitate-zur-spaehaffaere-fotostrecke-99669-9.html

Prolog

Jerusalem, Conrad Schick Street, Gartengrab, Freitag, 29. August 2014, 11:57 Uhr

Ignatz nahm den Strohhut vom Kopf und ließ sich erschöpft auf eine der Holzbänke in den Schatten unter eine Pinie sinken. Er schwitzte. Die Hitze war drückend. Mit der Hutkrempe fächelte er sich Luft ins Gesicht. Es half kaum. Von seinem Platz aus konnte er über die etwas tiefer gelegene Steinterrasse auf den roh behauenen Felsen gegenüber sehen. Wenn er die Lider zusammenkniff, sah der Fels tatsächlich aus wie ein Schädel. Die Einbuchtungen im Stein wirkten wie zwei dunkle Augenhöhlen in einem knöchernen Gesicht. Ein Pärchen trottete heran. Beide trugen knallbunte T-Shirts, Shorts und Turnschuhe. Gemeinsam begafften sie den rechteckigen Eingang zur Grabkammer. Irgendwo in der Ferne läutete eine Kirchenglocke.

»That’s the tomb, eh?«, fragte der Mann, ein grobschlächtiger Kerl. Er hob den Fotoapparat, der an einem Riemen um seinen Hals baumelte und begann Fotos zu schießen. Seine Begleiterin zuckte die Schultern. Unsicher nahm sie die Sonnenbrille aus dem schweißnassen Gesicht und blickte sich hilfesuchend um.

»No idea, darling.« Sie watschelte am Rand der Terrasse entlang. Suchte nach einem Hinweis, dass es sich tatsächlich um das Gartengrab handelte, das in römischer Zeit in den Fels geschlagen worden war.

»Not very impressive, eh?«, urteilte der Mann nach einer Weile und ließ den Fotoapparat sinken. Nach ein paar weiteren Minuten, die es damit verbrachte mit allerlei »Greats« und »Yeahs« die Qualität der Digitalfotos zu begutachten, zog das Pärchen wieder ab. Ignatz musste lächeln. Das Gartengrab hatte bei den beiden Amerikanern kaum Eindruck gemacht. Dabei waren einige Archäologen fest davon überzeugt, dass es das Grab Jesu Christi war. Tatsächlich hatte man bei der Ausgrabung im Jahr Achtzehnhunderteinundneunzig im Grabinneren christliche Symbole entdeckt. Und dann war da noch das Aussehen des Felsens.

In den Evangelien hieß es, man habe Jesus zur Kreuzigung an den Ort Golgota getrieben. »Gûlgoltâ« war das aramäische Wort für »Schädel«. Dennoch vertrat die überwiegende Mehrheit der Bibelgelehrten die Meinung, dass die Grabeskirche in der Altstadt von Jerusalem der wahre Ort der Kreuzigung und Auferstehung Jesu war.

Ein plötzliches Geräusch riss Ignatz aus seinen Gedanken. Ein schlanker, dunkelhaariger Mann war neben ihn in den Schatten getreten.

»Shalom, Ignatz!«, grüßte er mit einem warmen Lächeln. Ignatz erhob sich und reichte dem Freund die Hand.

»Shalom, Amit! Wie geht es dir?« Amit nickte freundlich. Wie immer strahlten seine Augen. Amit war, wie Ignatz, Theologe. Er leitete eine eigene Forschergruppe für Bibelarchäologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Ignatz war im April mit einem Stipendium nach Israel gereist, um zusammen mit Amit seine in Eichstätt begonnenen Studien vor Ort fortzusetzen.

»Wie wär’s, wollen wir uns den Schädel einmal ansehen?«, fragte Amit in gebrochenem Deutsch. Ignatz setzte den Strohhut zurück auf den Kopf.

»Klar, deshalb sind wir ja hier, oder?« Gemeinsam stiegen sie die steinernen Stufen zur Terrasse hinab. Als sie in schwirrender Hitze auf die Graböffnung zugingen, bemerkte Ignatz, wie sich das Gesicht des Freundes veränderte. Sie erreichten den Grabeingang. Amit setzte den Fuß auf einen schmalen Felsvorsprung. Ernst blickte er über die Schulter zurück.

»Wir sehen uns auf der anderen Seite, mein Freund!« Mit einem Satz verschwand er in der Kammer. Ignatz fühlte, wie sich sein Puls beschleunigte. Er setzte den Fuß auf den Fels und tastete in der düsteren Öffnung nach Halt. Eine Hand streckte sich ihm entgegen. Ignatz ergriff sie zögernd. Kräftige Finger umschlangen sein Handgelenk und zogen ihn hinauf in die Dunkelheit.

Kapitel 1

Montreal, Canada, Rue Saint Antoine, Dienstag, 2. September 2014, 5:37 pm

Ich hab nichts damit zu tun … Das müsst ihr mir glauben … Bitte …« Das namenlose Objekt winselte so leise, dass man es kaum verstehen konnte. Der Mann kniete auf den Dielen und jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, spuckte er eine Wolke aus feinen Bluttropfen. Seine Handgelenke und Knöchel waren mit Kabelbindern gefesselt. Im Schritt seiner Hose war ein großer Fleck. Er hatte sich schon eingenässt, als sie ihn vom Gehsteig in den Lieferwagen gezerrt hatten. François richtete sich auf und zog den Schlagring von den Fingern.

»Wie lang wird er noch durchhalten, Doc?« Claude schob ihn zur Seite und ging neben dem Objekt in die Hocke. Er blickte dem Mann ins Gesicht. Die Lider waren golfballgroß angeschwollen. François hatte die Schläge präzise auf die Augen platziert. Claude hatte ihm erklärt, dass man damit die Netzhäute schädigte. Sollte das Objekt überleben, würde es den Rest seines Lebens in Dunkelheit verbringen. Die Lippen waren aufgeplatzt und von den ehemals wohlgeformten Schneidezähnen war nichts mehr übrig. Ein paar hatte das Objekt geschluckt, die anderen lagen ringsum auf den Dielen. Schläge aufs Gebiss waren eine reine Demütigung. Sie sollten das Objekt entstellen und erniedrigen. Es in seiner Ehre kränken. Claude fühlte am Hals des Mannes nach dem Puls. Er schätzte, dass bisher ein halber Liter Blut den Kreislauf verlassen hatte. Gequetschte Leber. Zerfetzte Nieren. Milzriss. Ein geplatzter Magen. All das tat nicht nur höllisch weh, sondern verursachte auch innere Blutungen. Waren die Blutungen aber zu stark, gab das Objekt den Löffel ab, bevor François erfahren hatte, was er erfahren wollte. Und aus diesem Grund nahm er Claude, den Doc, mit zu den Verhören.

»Der Puls ist noch kräftig. Etwas schnell, aber kräftig.« Claude erhob sich. »Du kannst weitermachen. Er wird schon noch ’ne Weile durchhalten.« Er schlenderte zu einem der Fenster, durch das er gelangweilt auf die Straße hinabblickte. In seinem Rücken setzte François das Verhör fort. Während der bekannte Rhythmus aus dumpfen Schlägen, Aufstöhnen und kurzen Schmerzensschreien wieder den Raum erfüllte, beobachtete Claude, wie unten eine hübsche Rothaarige aus einem Cabriolet stieg. Er presste die Nase gegen die schmutzige Scheibe. Sie verschwand in einer Weinbar. Claude seufzte. Ach, wie gern säße er jetzt mit dieser Schönheit bei einem Glas Rotwein zusammen.

***

Seichte Konversation. Blicke aus himmelblauen Augen. Tiefe Einblicke in ein üppiges Dekolleté. Straffe Schenkel. Wohlgeformte Hüften. Etwas später dann ein gutes Abendessen bei Normand. Mehr Wein. Die Stimmung zunehmend gelockert. Man kommt sich näher. Ein leichtes Dessert. Ein Augenaufschlag, garniert mit weiteren tiefen Einblicken. Noch ein Gläschen in der Stadtwohnung? Etwas gespielte Empörung ihrerseits. Vertrauliches Insistieren seinerseits. Alles ganz unverbindlich. Natürlich. Und schließlich ihr »Warum nicht?«. Ein lasziver Augenaufschlag. Ein Taxi. Erster Körperkontakt. Seine Hand auf ihrem weißen Schenkel. Ihre Hand in seinem verschwitzten Nacken. Der erste zaghafte Kuss. Der salzige Geschmack ihrer Lippen. Das Taxi stoppt. Im Treppenhaus ein weiterer Kuss. Seine lüsterne Zunge zwischen ihren spitzen Zähnen. Vor der Tür ihre Hand zwischen seinen Schenkeln. Erst beim zweiten Anlauf trifft der Schlüssel ins Schloss. Die Tür schwingt auf. Ihre eng umschlungen Körper tauchen in die Dunkelheit der Wohnung.

***

»Alors, Doc!« Claude zuckte zusammen. François’ Stimme klang empört. »›Er wird schon noch ’ne Weile durchhalten‹? C’est de la merde, Doc. Der Typ ist hinüber.« Fluchend deutete François auf den Mann, der in Embryostellung vor ihm auf den Dielen lag. Claude erschrak. Hastig eilte er zu François und ließ sich neben dem Namenlosen auf die Knie fallen. Er tastete nach dem Puls. Kein Herzschlag. Eilig zog Claude das Messer vom Gürtel und klappte es auf. Er beugte sich über das Gesicht und rammte die Klinge in ein Nasenloch. Der Kerl machte keinen Mucks. Verflucht! Das Objekt war tot.

»Excuse-moi, François.« Claude hob entschuldigend die Handflächen. »Ich hoffe du hast noch erfahren, was du erfahren musstest?« François funkelte ihn böse an. Claude wurde unruhig. Sein Kopf lief rot an. Er wusste, was hier auf dem Spiel stand. Er hatte einen Ruf zu verlieren. Sein Versagen würde sich in der Szene herumsprechen. Verdammt, wie hatte das nur passieren können? Plötzlich hellte sich François’ Miene auf. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

»Das habe ich, Doc, keine Sorge.« François klopfte Claude jovial auf die Schulter. »Sieh mal hier!« Er bückte sich über die Leiche und griff in die dichte Haarpracht. Erst jetzt bemerkte Claude, dass die Halswirbelsäule des Mannes gebrochen sein musste. François drehte den Kopf um die eigene Achse. Die Nackenhaut warf Falten wie eine Ziehharmonika. Knochen knirschten. François lachte laut. Claude sah beleidigt zu Boden. François hatte ihn reingelegt. »Na komm schon, Doc. Nimm’s mir nicht krumm. Das nächste Mal darfst du wieder, versprochen!«

Doch Claude wollte François das so einfach nicht durchgehen lassen. Schließlich war er dafür zuständig, das Objekt ins Jenseits zu befördern. Darauf war er spezialisiert. Er war der Seelenmacher. François war nur der Ausquetscher. Mit einer blitzschnellen Bewegung schoss er auf ihn zu, setzte ihm die Klinge an die Kehle und verpasste ihm einen haarfeinen Schnitt in die glattrasierte Haut. Erschrocken betastete François seinen Hals. Als er das Blut an den Fingerkuppen sah, verschwand das blöde Grinsen aus seinem Gesicht.

»Mach das nicht noch einmal!« Claude trocknete die Klinge an François’ Hemdkragen. »Du weißt, zu was ich fähig bin.« Er klappte das Messer zu und ließ es in der Hosentasche verschwinden. Dann verließ er ohne ein weiteres Wort den Raum. Während er die Treppe ins Erdgeschoss hinuntersprang, entschied sich Claude in die Bar gegenüber zu gehen. Er wollte die kleine Rothaarige aus der Nähe in Augenschein nehmen. Vielleicht lohnte sie sich. Und etwas Abwechslung hatte er sich jetzt wirklich verdient.

Kapitel 2

Ingolstadt, Esplanade, Mittwoch, 3. September 2014,12:14 Uhr

Ein Schlagzeug hämmerte in dem leerstehenden Gebäude. Pallasch lugte durch die eingeschlagenen Scheiben. Drinnen sah es aus wie auf einer Müllkippe. Unmengen von mit Hausrat vollgestopften Plastiktüten, zerfledderten Zeitungen und Flaschen füllten den Raum. Es schien, als habe die gesamte Nachbarschaft über Monate hier den Müll entsorgt und wahrscheinlich war es auch so.

»Sollen wir mal nachsehen, Chef?« Lachmann war neben Pallasch ans Fenster getreten. Seine Augen funkelten vor Aufregung wie die eines Kindes unter dem Weihnachtsbaum. Pallasch zuckte die Achseln.

»Ist nicht unsere Aufgabe, Lachmann«, brummte er mürrisch. »Das ist Sache der Kollegen von der Streife.« Doch Lachmann hatte das Fenster bereits aufgestoßen und einen Fuß aufs Fensterbrett gesetzt.

»Nur ein kurzer Blick, Chef!« Gut gelaunt sprang er mit einer eleganten Bewegung ins Haus. Pallasch seufzte. Der verdammte Eifer der Jugend. Gemeinsam hatten Lachmann und er sich auf den Weg in die Innenstadt gemacht. Sie wollten zu dem neuen Italiener, die hausgemachte Pasta genießen. Da hatte der Kommissar plötzlich ungewöhnliche Geräusche in dem heruntergekommenen Bau bemerkt.

»Warten Sie, Lachmann, ich komme mit!« Pallasch ignorierte das grimmige Knurren in der Magengegend und stemmte sich entschlossen aufs Fensterbrett. Mit schmerzenden Knien kletterte er in den muffigen Raum. Lachmann hatte das Zimmer bereits durchquert. Er stand an der gegenüberliegenden Tür und lauschte ins Treppenhaus. Das grelle Kreischen einer E-Gitarre gesellte sich zu dem wüsten Donnern des Schlagzeugs.

»Das kommt aus dem Keller …« Lachmann verschwand durch die Tür. Pallasch stöhnte auf. Behutsam begann er den Parcours durch die Abfallberge. Im Slalom wich er Müllsäcken, Zeitungsstapeln und leeren Bierflaschen aus. Immer wieder knirschten Glasscherben unter seinen Sohlen. Als er die Tür erreichte, war Lachmann bereits auf der Treppe nach unten.

»Lachmann, warten Sie! Verdammt noch mal …« Pallasch stieg die Holzstufen hinab. Die Musik wurde lauter. Zum Hämmern des Schlagzeugs und dem Kreischen der E-Gitarre erklang jetzt wildes Gebrüll. Eine Melodie war in dem Radau nicht auszumachen. Als Pallasch den Treppenabsatz erreichte, sah er Lachmann vor einer verschlossenen Stahltür. Jemand hatte in roter Farbe einen mannsgroßen Phallus darauf gepinselt. Pallasch streckte die Hand aus und drückte die Klinke. Die Tür schwang auf. Das Getöse war so ohrenbetäubend, dass er sich die Handballen auf die Ohren pressen musste.

Ein junger Mann sprang vor einem Mikrofon auf und ab. Malträtierte ekstatisch eine Stromgitarre. Bei jedem Griff zuckte er zusammen, als habe er selbst einen Stromschlag abbekommen. Ein Zweiter war fast komplett hinter dem Schlagzeug abgetaucht. Nur ab und an sah man seine Hände mit den Drumsticks durch die Luft wirbeln. Er trieb einen teuflisch rasanten Rhythmus durch den Raum. Keiner der beiden bemerkte sie.

»Aufhören! Polizei!« Lachmann versuchte gegen den Lärm anzuschreien. Es war sinnlos. Die Jungs konnten ihn nicht hören. Völlig versunken schleuderten sie die Köpfe umher, traktierten ihre Instrumente. Auch als der Kommissar die Marke aus der Gesäßtasche zog und sie über dem Kopf schwenkte, reagierten sie nicht.

Pallasch blickte sich um in dem Kellerraum. Neben der Tür entdeckte er eine Steckdose. Ein signalrot leuchtender Schalter darüber. Ein langes Kabel schlängelte sich von dort zu einem großen Verstärker. Beherzt drückte er den Schalter. Das Licht erlosch und mit ihm erstarb der furchtbare Krawall.

Kapitel 3

Kollegiengebäude A der Katholischen Universität Eichstätt, Ostenstraße, Mittwoch, 3. September 2014, 14:11 Uhr

Professor Klaus-Dieter Hahn saß mit aufgestützten Ellenbogen und unter dem Kinn gefalteten Händen in der ersten Reihe des modernen Hörsaals. Zu seinen Füßen döste Bonifatius, sein schwarzer Pudel. Hinter dem Professor hockten weitere Professoren. Alle lauschten sie aufmerksam dem Vortrag der jungen Frau, die vor der Leinwand stand und sich redlich mühte, ihnen die Vorzüge einer »Ökonomie des guten Lebens« näherzubringen.

»Noch vor einhundert Jahren waren sich Philosophen und Wirtschaftswissenschaftler einig darüber, dass der technische Fortschritt zu einer Befreiung des Menschen vom Joch der Arbeit führen müsse«, dozierte sie gerade und strich sich eine dunkle Haarsträhne hinter ein vor Aufregung rot glühendes Ohr. »John Maynard Keynes prophezeite Neunzehnhundertachtundzwanzig, dass in einhundert Jahren die Menschheit nur noch drei Stunden täglich arbeiten werde. Er glaubte fest daran, dass eine gerechte Einkommensverteilung zu mehr Muße und Glück für alle führen würde. Doch wie wir wissen, ging seine Prophezeiung nicht in Erfüllung. Während Neunzehnhundertdreißig die Menschen in den Industrienationen fünfzig Stunden pro Woche arbeiteten, arbeiten sie heute vierzig Stunden pro Woche. Obwohl sich das Pro-Kopf-Einkommen seit Neunzehnhundertdreissig verfünffacht hat. Keynes war überzeugt, dass Menschen, wenn sie immer wohlhabender werden, irgendwann mehr Freizeit zusätzlichem Geld vorziehen würden. Doch das war weit gefehlt.«

Sie drückte eine Taste auf dem Notebook, ein großformatiges Bild von Uli Hoeneß erschien an der Wand. Einige der Zuhörer lachten laut auf. Hahn lächelte zufrieden.

»Keynes hatte nicht mit der menschlichen Gier gerechnet.« Die Referentin deutete mit dem Laserpointer auf das Gesicht von Hoeneß. »Der ehemalige Präsident des FC Bayern München ist im März dieses Jahres zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Er hatte insgesamt achtundzwanzigkommafünf Millionen Euro Steuern hinterzogen. Hoeneß selbst sagte dazu, dass er ›börsensüchtig‹ gewesen sei. Er habe Tag und Nacht an der Börse gezockt mit Geldsummen, die - auch für ihn - extrem gewesen seien. Jetzt sitzt er in der Justizvollzugsanstalt Landsberg in Haft.« Die Frau stemmte die Hände in die schmalen Hüften und bedachte ihr Publikum mit einem strengen Blick. »Begierden, meine Damen und Herren, existieren nur in unseren Köpfen. Und dort können sie unendlich wachsen. Der Mensch ist seiner Natur nach niemals zufrieden mit dem, was er hat. Die Befriedigung aller Bedürfnisse erzeugt in ihm nicht etwa einen Zustand der zufriedenen Ruhe und Ausgeglichenheit, sondern eine Unzufriedenheit, die durch etwas Neues behoben werden muss. So wie ein Juckreiz durch Kratzen gelindert werden will.«

Hahn blickte durch die hohen Fenster auf den Hof hinaus. Die dichte Wolkendecke war aufgerissen. Die Sonne warf ein paar kräftige Strahlen auf den kreisrunden Springbrunnen, der eine magere Wasserfontäne in die Luft spuckte. Seine Gedanken schweiften ab. Die Stimme der Referentin verdämmerte aus seinem Bewusstsein. Er dachte an den Streit, den sie heute Morgen gehabt hatten. Wieder einmal war es eine winzige Kleinigkeit gewesen, die das Fass zum Überlaufen brachte. Er hatte in der Küche vor seinem Kaffee gesessen und müde in der Zeitung geblättert, als sie in den Raum gekommen war. Irgendetwas Belangloses zum Ablauf des Berufungsverfahrens hatte sie ihn gefragt. Als er nicht gleich Antwort gegeben hatte, war sie explodiert. Einfach so. Einen »ignoranten Egozentriker« hatte sie ihn genannt. Völlig baff hatte er sie über den Rand der Zeitung angestarrt und kein Wort herausgebracht. So war es immer. Wenn sie einen ihrer Ausbrüche hatte, wusste er nicht, wie er reagieren sollte. Das schaffte sonst niemand in seinem Leben. Die plötzlich aufkommende Unruhe holte Hahn aus der heimischen Küche zurück in den Hörsaal.

»Denn Wirtschaftswachstum hört erst dann auf, wenn wir Menschen wollen, dass es aufhört. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.« Der Beifall setzte ein und Hahn sah in die Gesichter der Kollegen ringsum. Alle waren sie Mitglieder der Berufungskommission. Manche von ihnen applaudierten aus purer Höflichkeit, die meisten aber schienen aufrichtig begeistert. Bonifatius sprang auf und begann bellend im Hörsaal umherzulaufen. Hahn rutschte hinter der Bankreihe hervor und trat neben die Frau ans Rednerpult.

»Hab ich nicht gesagt, sie ist gut?«, fragte er in die Runde. Einige nickten anerkennend, die hatte Hahn bereits im Sack. Doch ein paar wenige hockten mit versteinerter Miene da. Die Kollegin von der Pädagogik schüttelte sogar demonstrativ den Kopf.

»Mensch, Papa, lass das.« Die junge Frau stupste ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. Hahn legte ihr den Arm um die Schultern. Er wusste, dass noch ein hartes Stück Arbeit vor ihnen lag. Um alle Kommissionsmitglieder zu überzeugen, dass sie die Richtige für die Stelle war, musste er noch ein paar Trumpfkarten ausspielen. Von außen betrachtet war das komplexe Geflecht aus gegenseitigen Abhängigkeiten an der Katholischen Universität kaum zu durchblicken. Doch Hahn kannte sich aus in diesem Dickicht wie kein anderer. Über Jahrzehnte hatte er sein Netzwerk liebevoll aufgebaut und achtsam gepflegt. Er wusste, welche Strippen er ziehen musste und wer ihm noch einen Gefallen schuldig war. Hahn war sich ganz sicher, dass er auch aus dieser Schlacht als Sieger hervorgehen würde. So war es immer schon gewesen. So würde es immer sein. Er war ein Siegertyp. Das Verlieren überließ er den anderen.

Kapitel 4

Ingolstadt, Esplanade, Kriminalpolizeiinspektion, Mordkommission, Mittwoch, 3. September 2014, 16:38 Uhr

Na, mein Dickerchen.« Inge lehnte mit einem Stapel Akten unter dem Arm im Türrahmen und grinste breit. »Hast du in der Mittagspause wieder einen großen Fall gelöst?« Pallasch ärgerte sich. Mit einem mürrischen Grunzen zog er die Füße von der Tischplatte und setzte sich in dem alten Drehstuhl auf.

»Mensch, Inge, ich hab dir doch schon tausend Mal gesagt, du sollst mich an der Esplanade nicht so nennen.« Verstohlen blickte er durch die halbgeöffneten Sichtlamellen ins Großraumbüro. Dort ging es heute verhältnismäßig ruhig zu. Die Mordkommission hatte im Moment kein Kapitalverbrechen zu bearbeiten und so hatten sich die Kollegen dem Schlendrian ergeben. Entspannt lümmelten sie an ihren Schreibtischen. Inge legte mit theatralischer Geste die freie Hand an die Stirn.

»Ach, komm schon, Dieterle. Weiß doch mittlerweile eh jeder, dass wir zwei ein Paar sind.« Sie warf ihm einen knallroten Kussmund zu. Franz Aigner, Pallaschs langjähriger Stellvertreter, erschien hinter ihr in der Tür.

»Da hat sie allerdings recht, Dieter«, kommentierte er ungefragt. »Das ist wirklich schon lange kein Geheimnis mehr. Entspann dich. Jeder an der Esplanade ist über euch zwei im Bilde.« Unter Franz’ grauem Schnauzbart blitzten die schiefen Schneidezähne auf.

»Sag ich doch.« Inge stolzierte davon. Franz sah ihr nach, dann trat er ins Büro.

»Was ist eigentlich dein Problem, Dieter?« Er blickte über die Ränder seiner Nickelbrille. Pallasch hatte sich im Stuhl zurückgelehnt und beleidigt die Arme vor der Brust verschränkt.

»Verdammt noch mal, Franz. Verstehst du das denn nicht? Ich bin schließlich der Chef hier. Wie denkst du kommt es bei den Kollegen an, wenn ich von meiner Sekretärin ›Dickerchen‹ gerufen werde?« Unsicher schielte er zu Franz, der es sich auf dem Besucherstuhl gemütlich gemacht hatte.

»Wie bitte, Dieter? Du glaubst wirklich die Kommissare verlieren den Respekt, nur weil du jetzt eine Partnerin hast?« Franz lachte laut. »Du spinnst doch, echt wahr!« Pallasch wurde rot. Es war ihm unangenehm mit Franz über seine Gefühle zu sprechen. Solche Dinge behielt man besser für sich. Man schloss sie fort, damit niemand darauf herumtrampeln konnte.

»Was hast du da?«, versuchte er abzulenken und zeigte mit dem nikotingelben Zeigefinger auf den Papierstapel, den Franz im Schoß liegen hatte. Franz schüttelte resigniert den Kopf. Er griff nach den Papieren und warf sie vor ihm auf die Tischplatte.

»Das ist Lachmanns Protokoll zu eurer Mittagsermittlung.« Franz erhob sich aus dem Stuhl. »Wenn du einverstanden bist, geb ich es an die Kollegen von der Schutzpolizei weiter. Die können dann mit dem Eigentümer des Gebäudes klären, ob er gegen die zwei Jungs Strafanzeige stellen will.« Pallasch nickte stumm.

Die beiden Hobbymusiker hatten Lachmann und ihm berichtet, dass sie in das leer stehende Haus eingestiegen waren, weil sie von einem Freund gehört hatten, dass sich im Keller ein Proberaum befand. Über Jahre hinweg hatte eine Rockband dort geübt. Dann hatte das Gebäude den Besitzer gewechselt und war langsam verfallen. Pallasch streckte die Beine unter den Tisch. Er bemerkte, dass Franz noch immer vor dem Schreibtisch stand.

»Is noch was?«, fragte er vorsichtig. Franz faltete die Hände vor der Brust und musterte ihn schweigend. Er sah aus wie ein Pastor, der sich über ein widerspenstiges Schäfchen wundert. Pallasch erwiderte den Blick. Nach ein paar Sekunden wurde ihm mulmig.

»Inge tut dir gut, Dieter.« Franz sagte es und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Verdutzt sah Pallasch ihm nach.

Kapitel 5

Eichstätt, Volksfestplatz, Mittwoch, 3. September 2014,22:59 Uhr

Die Männer von der Städtischen Blaskapelle waren sichtlich bedient. Dröge hockten sie auf den Klappstühlen und blickten von der Bühne herab ins Festzelt. Der Wirt hatte sich das Mikrofon geschnappt. Mit dröhnender Stimme forderte er zur letzten Runde. Ringsum erhoben sich einige Besucher von den Bierbänken und taumelten über die Holzbohlen zum Ausgang. Als die Kapelle zum letzten Stück ansetzte, hob Max den Krug.

»Ned lang schnackn, Kopf in’ Nackn!« Er trank in langen Zügen. Dabei lugte er aus glasigen Augen zu Paul und Serge, die ebenfalls die Krüge angesetzt hatten. Mehrfach musste er würgen, doch Max schaffte es den Krug zu leeren, ohne dass der Liter Hofmühl seinen Körper auf demselben Weg verließ, wie er in ihn hineingelangt war. Mit einem Krachen setzte er das Glas zurück auf die Tischplatte. Paul und Serge kämpften noch mit den ihren. Max zog den Schnupftabak aus der Hirschledernen. Im Hintergrund schepperte die Blasmusik. Während er das Pulver aus der Dose klopfte, setzten auch Paul und Serge die Krüge ab.

»Isch glaub es ischt Schluss für ’eute.« Der Alkohol verstärkte Serges Akzent. Er hatte bereits einen Tunnelblick.

»Da scho, Sersch.« Paul wischte sich mit dem Handrücken die Lippen. »Aba im Irish Pub, da geht’s no weita!«

»Ja freilich!« Max schniefte sich den Tabak in die Nase. »Des war doch erst da Ofang.« Er registrierte, wie Serge das Gesicht verzog. Serge war Frankokanadier. Trank lieber Wein als Bier. »Und für di gibt’s da sicha a an guadn Rotn«, ergänzte er deshalb und stemmte sich von der Bank.

Die anderen taten es ihm gleich. Hintereinander torkelten sie aus dem Zelt ins Freie. Trotz der vorgerückten Stunde war der Festplatz noch stark bevölkert. Als Max einem Hund ausweichen musste, den sein Besitzer an der Leine hinter sich herzerrte, stolperte er. Der Länge nach landete er auf dem Boden. Er fluchte. Paul reichte ihm die Hand. Dabei verlor er das Gleichgewicht und stürzte ebenfalls. Nebeneinander hockten sie ihm Kies. Max lachte. Umstehende drehten sich verwundert zu ihnen um. Einige Männer in Tracht schüttelten verständnislos die Köpfe. Eine Mutter zog eilig ihren kleinen Buben fort, der sie mit großen Augen anstarrte. Max lachte lauter. Immer lauter. Konnte nicht anders. Bekam sich gar nicht mehr ein. Und auch Paul stimmte mit ein. Gröhlend lagen sie sich in den Armen.

»Jetzt ist der Spaß vorbei, Burschn.« Ein Ordner war auf sie aufmerksam geworden. Breitschultrig baute er sich vor ihnen auf. »Jetzt heißt’s aufstehn und heimgehn.« Max musterte den Mann genauer. Zwei gewaltige Oberame ragten unter dem knallengen T-Shirt hervor. Ein Schlagstock baumelte am Gürtel der Tarnfarbenhose.

»Jaja, scho guad.« Max hievte sich auf die Beine. Auch Paul war nicht mehr zum Lachen zumute. Er ließ sich von Max aufhelfen. Der Ordner packte sie unsanft am Arm. Mit dem Strom der Besucher schob er sie vor sich her über den Platz. Erst hinter der Schranke zur Straße löste er den Griff und tauchte wortlos zurück in die Menge. Max rieb sich den schmerzenden Arm. Ihm fiel auf, dass Serge verschwunden war.

»Wo is’n da Sersch?«, fragte er an Paul gewandt. Der zuckte die Schultern.

»Wos woaß i.« Er wankte Richtung Altstadt davon. Max sah zurück, konnte Serge unter den Passanten aber nirgendwo entdecken. Nach einer Weile gab er auf und trabte Paul hinterher.

Kapitel 6

Eichstätt, Domplatz, Mittwoch, 3. September 2014, 23:49 Uhr

Die Tür ging auf. Da stand er. Sie stolzierte an ihm vorbei in die Wohnung. Nach einem unsicheren Blick ins Treppenhaus zog er die Tür hinter ihr zu. Mit wippenden Hüften schritt sie durch den Flur. Selbstbewusst. Ungezwungen. Die Absätze ihrer Stiefel klapperten auf den Dielenbrettern. Im Wohnzimmer blieb sie stehen. Streifte mit einer eleganten Bewegung den Mantel von den Schultern. Brachte sich in Pose. Splitterfasernackt stand sie und wartete, dass er endlich im Türrahmen erschien. Dass seine Blicke über ihren Körper wanderten. Sehnte sich nach dem lüsternen Glühen in seinen Augen. Sie fragte sich, was er in ihr auslöste, welchen Einfluss er auf sie hatte. Für niemanden sonst würde sie das tun. Es passte nicht zu ihr. Und dennoch hatte sie nicht eine Sekunde gezögert, als er sie darum gebeten hatte.

Mit ausgestreckten Armen kam er auf sie zu. Fasste sie an den Hüften, zog sie an sich. Ganz nah. Wie Feuer brannten seine Finger auf ihrer Haut. Sie schlang die Arme um seinen Hals, presste ihren Körper an den seinen. Ihre Lippen fanden sich. Sie schmeckte Bier. Es störte sie nicht. Auch sie hatte etwas Wein getrunken. Der Alkohol sollte sie wild und hemmungslos machen. Genau so, wie er es mochte. Sie ließ den Kopf in den Nacken fallen, als er sie auf die Arme hob. Er trug sie zur Couch. Legte ihren Körper sanft auf die kühlen Lederpolster. Beugte sich über sie, ließ die Zunge über ihren Hals gleiten. Lustvoll stöhnte sie auf.

***

Paul stand in der Dunkelheit. Am Kriegerdenkmal unter der nach Westen blickenden Löwenfigur. Rauchend stand er da, starrte hinauf zur Dachterrassenwohnung, wo hinter den Fenstern das Licht brannte. Sie war bei ihm. Paul hatte sie vom Kanonikerhaus bis hierher verfolgt. Jetzt sah er die Silhouetten ihrer verschlungenen Körper durch den Raum tanzen. Mit unsicherer Hand führte er die Zigarette zum Mund, inhalierte tief. Für einen kurzen Augenblick erhellte die Glut sein Gesicht, dann tauchte er wieder ein in die Finsternis. Er ließ sich auf die steinerne Stufe unter den Sockel sinken. Das Atmen fiel ihm schwer. Er bekam keine Luft mehr. Sein Brustkorb engte sich ein, wie in einem Korsett, das jemand enger und enger schnürte. Noch immer starrte er zu den beleuchteten Fenstern hinauf. Konnte den Blick nicht abwenden. Nicht einmal blinzeln konnte er. Paul starrte weiter, bis ihm die Augen brannten und Tränen seine Wangen hinunterliefen. Zunächst glaubte er, er sei traurig. Traurig über den Verlust, den er nicht hatte verhindern können. Doch dann, nach einer Weile, erkannte er, dass es nicht Trauer war, sondern Wut, die ihm die Tränen in die Augen trieb. Er schleuderte die Kippe fort. Funkenschlagend hüpfte sie über das Plaster. Paul vergrub das Gesicht in den Händen. So saß er, bis er eine leichte Berührung spürte. Ein Pudel, so tiefschwarz, dass er in der Nacht kaum zu sehen war. Nur seine Augen glänzten im spärlichen Licht der Laterne. Als der Hund ihn neugierig beschnupperte, streckte Paul die Hand nach ihm aus. Kraulte das dichte Fell. Die Domglocke schlug. Der Pudel schreckte zusammen. Winselnd jagte er über den menschenleeren Platz davon. Paul hob den Blick. Das Licht hinter den Fenstern war erloschen.

Kapitel 7

Eichstätt, Gabrielistraße, Donnerstag, 4. September 2014, 00:43 Uhr

Max streifte sich die Haferlschuhe von den Füßen und stieß die Tür zum Schlafzimmer auf. Er erschrak. Eine nackte Schönheit hockte auf der Bettkante. Eine Schönheit aus purem Gold. Verdattert verharrte er im Türrahmen.

»Servus, Maxl.« Sie lächelte verheißungsvoll.

»Jesas! Ja … Ja, wia … Ja, wia kummst’n du da rei?«, stotterte Max verblüfft. Sie schüttelte die Mähne aus goldenem Lametta.

»Des is doch jetzt total wurscht, oda?« Mit einem glänzenden Zeigefinger deutete sie auf ihre Vorzüge. »Magst a bisserl was runterknabbern?« Max wurde bleich. Er kam sich vor wie Sean Connery in diesem uralten James-Bond-Streifen. Eine Nackte aus purem Gold. In seinem Schlafzimmer. Das war perfekt! Mit feuchten Handflächen stapfte er auf sie zu. Sie zog schwungvoll die Beine an und ließ sich mit ausgestreckten Armen rücklings auf die Matratze fallen.

»Obacht!«, rief Max noch. »Der Ramma is nemma der Beste. Der hebt nemma gscheid.« Zu spät. Mit einem lauten Krachen gab das Gestänge nach und die goldene Schöne verschwand samt Matratze im Bettkasten.

***

»Hey, du! Aufwachen!« Max öffnete die Lider. Sein Kopf schmerzte furchtbar. Er lag auf etwas Hartem. Ganz langsam materialisierte sich ein leeres Bierglas vor seinen Augen. Es stand auf poliertem Holz. Eine Faust schlug neben das Glas. Ein schreckliches Donnern. Das Glas kippelte, drehte sich und fiel schließlich um. Das Klirren war ohrenbetäubend. Max biss sich vor Schmerz auf die Unterlippe. Ganz vorsichtig hob er den Kopf. Er saß auf einem Hocker. Am Tresen des Irish Pub. Irritiert blinzelte er in den spärlich beleuchteten Raum. Das Pub war menschenleer. Laute Gitarrenklänge dröhnten aus den Lautsprechern über der Bar. Als das Schlagzeug einsetzte, begann der Raum sich zu drehen. Schneller. Immer schneller. Max krallte sich am Tresen fest, um nicht vom Hocker geschleudert zu werden. Die Musik wurde leiser und Werners gerötetes Gesicht erschien. Mit den hellgrünen Augen und roten Haaren sah Werner tatsächlich aus wie ein Ire. Doch in Wirklichkeit kam er aus Bochum. Niemand wusste, was ihn ausgerechnet nach Eichstätt verschlagen hatte.

»Na? Ausgeschlafen?« Werner nahm das Glas von der Theke. Max umklammerte noch immer den Tresen. »Jetzt wird gezahlt und dann nix wie raus hier.« Werner knallte einen Kassenbeleg aufs Holz. Das Karussel stoppte abrupt.

»Ähm … Wos? Wos bin i da schuldig?«, fragte Max heiser. Er leckte sich über die trockenen Lippen. Werner fixierte ihn skeptisch.

»Dreiundfünfzigdreißig«, nuschelte er. »Dein Kumpel Paul hat mir versichert, dass du seine Rechnung mit übernimmst.« Werner hielt Max die offene Hand unter die Nase. Ganz vorsichtig stieg Max vom Hocker und klopfte die Taschen der Lederhosen ab.

»I glab … I glab, i hob mei Göid verlorn«, log er wenig überzeugend. »Schreibst ma’s o, wie imma?« Werner rümpfte die Nase.

»Wenn’s sein muss.« Unter dem Tresen zog er ein Buch hervor. »Ist aber das letzte Mal.« Während Werner den Schuldbetrag notierte, steuerte Max zum Ausgang.

»Oiso, servus!« Er drückte die Tür auf. Draußen warfen die Straßenlaternen ihr schummriges Licht an die barocken Hausfassaden. Kein Mensch war zu sehen. Auf wackeligen Beinen taumelte Max die Straße hinunter. Vor dem Buchladen wurde ihm schlecht. Er stützte sich ans Schaufenster und erbrach sich aufs Plaster. Als er sich mit dem Hemdsärmel über den Mund fuhr, fiel sein Blick auf die Auslage. Ein Kriminalroman. Mord im Altmühltal. Eine blutige Hand mit einem Skalpell leuchtete auf dem Umschlag. Wieder musste er würgen.

Kapitel 8

Eichstätt, Sankt Gundekarweg, Donnerstag, 4. September 2014, 02:03 Uhr

Alexej ärgerte sich. Der Scheißkerl hatte ihn schon wieder versetzt. Er schnippte die Kippe aufs Pflaster und grüßte einen Stammgast, der seiner aufgetakelten Begleiterin aus der teuren Edelkarosse half. Alexej öffnete die Sicherheitstür und ließ die beiden ein. Die bekannte Mischung aus billigem Alkohol und ebenso billigem Parfum wehte ihm in die Nase. Als die Tür ins Schloss gefallen war, zog Alexej das Mobiltelefon aus der Tasche. Er drückte die Kurzwahltaste. Nach dem dritten Läuten nahm er ab.

»Wo bleibst’n, du kleiner Scheißer?«, grunzte Alexej ins Mikro. Natürlich setzte der Kleine zu einer dieser weitschweifigen Ausreden an, die er ihm schon seit Wochen auftischte. Alexej rümpfte die Nase.

»Halt’s Maul!«, schnauzte er. »Ich will den Scheiß nicht mehr hören, okay. Mich interessiert nur, wann du mit der Kohle rüberkommst.« Wieder versuchte er ihm mit einem zusammenhanglosen Text das Ohr abzukauen. »Hör zu du Arschloch …«, fiel Alexej ihm ins Wort. »Das ist der allerletzte Aufschub. Heute um zweiundzwanzig Uhr will ich die Kohle sehen. Und zwar alles, bis auf den letzten Cent. Kommst du ohne Geld, schneid ich dir die Nase ab, verstanden?« Ohne eine Antwort abzuwarten legte er auf.

Das mit der Nase hatte Alexej in einem amerikanischen Spielfilm gesehen. Vor vielen Jahren. Daraufhin hatte er es selbst an einem Wichser ausprobiert, der seine Spielschulden nicht zahlen wollte. Die Geschichte hatte sich in Windeseile herumgesprochen. Seither wussten die Leute, dass er es ernst meinte, wenn er ihnen drohte. Er schob das Telefon zurück in die Tasche und schlenderte gemächlich über den Parkplatz zur Waschanlage. »Mein Vater ist steinreich«, hatte der Junge gesagt. »Er wird meine Schulden zahlen.« Alexej fingerte Zigaretten und Feuerzeug aus der Jacke.

»Nun, das wollen wir für dich hoffen, mein Kleiner«, murmelte er leise vor sich hin. »Denn sonst kommst du ohne Nase zu Daddy nach Hause.« Er zündete sich eine an. Während er den Rauch aus den Lungen entweichen ließ, fiel sein Blick auf die Kreuzspinne. Sie hatte ihr Netz über einem Scheinwerfer unter dem Dachvorsprung aufgespannt. Unbewegt hockte sie da, lauerte darauf, dass eine Motte sich in ihr Netz verirrte. Ich bin eine Spinne, dachte Alexej. Ich warte darauf, dass sich jemand in meinem Netz verfängt und dann schlage ich unbarmherzig zu.

»Alexej!« Alexej sah zum Kasino. Ein hochgewachsener Mann stand im Lichtkegel unter dem Eingang. Er winkte aufgeregt. Der Mann war Russe, so wie er. Er war in Leningrad geboren, das heute Sankt Petersburg hieß. Genauso wie er. Seit der Kindheit war der Mann an seiner Seite. Er war sein Privatsekretär. Sein Leibwächter. Sein Bruder. Auch wenn sie nicht dieselben Eltern hatten. Mit einem missmutigen Grunzen stieß sich Alexej von der Wand ab und stiefelte über den düsteren Parkplatz.

»Drinnen hat sich schon wieder einer verzockt, Alexej.« Der Mann überragte ihn um fast zwei Kopflängen. Dennoch beugte er sich ehrfürchtig zu ihm hinab. »Der Kerl will einen Kredit von der Hausbank.« Alexej nickte stumm. Ich bin eine Spinne, dachte er. Eine Spinne mit einem riesigen Netz.

Kapitel 9

Eichstätt, Domplatz, Donnerstag, 4. September 2014, 2:12 Uhr

Wer hat denn da angerufen?« Ihre Augen sahen besorgt aus. Sie stand in der Wohnzimmertür. Ein rotes Handtuch, wie einen Turban auf dem Kopf. Den Körper in ein großes Badetuch gewickelt.

»Ach, niemand wischtiges.« Serge lehnte sich zurück ins Polster. Sie glitt in den Raum, postierte sich direkt vor ihm. Ganz langsam drehte sie sich im Kreis. Als sie mit dem Rücken zu ihm stand und aufreizend mit dem Po wackelte, erkannte Serge die dreifache Krone mit den gekreuzten Schwertern. Er musste lachen.

»Das gibt es doch nischt«, prustete er. »Er ’at wirklisch ein Badetuch mit Papstwappen? Das ’ab isch ja noch gar nischt entdeckt.« Sie ließ sich neben ihn aufs Sofa fallen.

»Sieht ganz so aus.« Sie legte den Kopf an seine Schulter. »Er steht halt auf den Vatikan, schließlich ist er Priester, nicht?«

»Mais oui, chérie.« Serge grinste gehässig. »Er ist Priester … Und wenn er wüsste, was wir in seiner Wohnung treiben. Oh là là. Er wäre gar nischt amüsiert.«

»Hör auf. Du weißt, das ist nicht fair.« Sie streichelte seine Brust. »Er ist ein echt netter Kerl. Er hat dir die Wohnung gegeben, obwohl er dich überhaupt nicht gekannt hat. Er hat sich allein auf Papas Empfehlung verlassen.« Liebevoll küsste sie seinen Hals. »Und stell dir vor, er hätte dir die Wohnung nicht zur Verfügung gestellt. Wer weiß, womöglich wären wir uns nie begegnet.«

Er mühte sich um ein ernsthaftes Gesicht, als er antwortete. »Oui, chérie, du ’ast recht.« Er sah ihr tief in die Augen. »Wir sollten ihm dankbar sein und uns nischt über ihn lustig machen. Was genau macht er eigentlisch in Israel?«

»Er arbeitet mit einem Team für Bibelarchäologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem.« Sie zog sich das rote Handtuch vom Kopf und begann sich das Haar trocken zu rubbeln.

»Sie wollen den Ort finden, an dem Jesus Christus begraben wurde.« Serge legte erstaunt die Stirn in Falten.

»Isch dachte Jesus ist in der Grabeskirsche von Jerusalem bestattet. Gibt es Zweifel daran?« Er stand auf, nahm die leere Weinflasche und die beiden Gläser vom Couchtisch.

»Offenbar schon.« Sie legte sich das Handtuch um den Hals. »Aber das musst du Ignatz schon selbst fragen, wenn er nächsten Monat zurückkommt.« Sie erhob sich. »Bis dahin musst du dich mit mir begnügen.«

Serge rollte schelmisch die Augen. »Muss es nischt eher ›vergnügen‹ statt ›begnügen‹ heißen?« Er tätschelte ihren Hintern.

»Ich sehe dein Deutsch macht Fortschritte, du Lüstling«, lachte sie. »Aber ich muss jetzt wirklich los, wenn ich noch ein paar Stunden Schlaf bekommen möchte. Du weißt, ich hab einen anstrengenden Tag vor mir.« Sie stieß ihn von sich und ging aus dem Raum. Serge sah ihr nach. Erst als er hörte, wie sie den Reißverschluss ihrer Stiefel zuzog, schaltete er die Standleuchte aus und folgte ihr.

Kapitel 10

Ottawa, Sir Leonard Tilley Building, Centre de la sécurité des télécommunications Canada, Mittwoch, 3. September 2014, 8:38 pm

Müde trommelte Michel Piccoli mit dem abgenagten Bleistiftstummel an die Kaffeetasse. Auf dem Monitor vor ihm strahlte eine Satellitenkarte. Darauf zwei Positionssignale. Michel hieß natürlich nicht wirklich Michel. Und sein Nachname war auch nicht Piccoli. Er war bloß ein fanatischer Cineast mit einem Faible für das französische Kino der fünfziger und sechziger Jahre. Deshalb hatte er diesen Decknamen gewählt, als er vor einigen Jahren in die Fahndungsabteilung des CSEC gewechselt war.