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Ruhestand auf dem Campingplatz? Von wegen.
Tinka Lorenz wollte nach ihrer Scheidung einfach nur Ruhe. Stattdessen erbt sie von ihrem Onkel Franz den heruntergekommenen Campingplatz Wiesenglück im Hunsrück – inklusive tropfender Wasserhähne, kaputter Waschmaschinen und einer Handvoll skurriler Dauercamper.
Als sie an einem Morgen den Gast Klaus Berger regungslos in seinem Campingstuhl findet, eine angebissene Bratwurst im Mund, denkt sie zunächst an einen Herzinfarkt. Doch die Polizei sieht das anders: Berger wurde vergiftet.
Plötzlich steht Tinka mitten in einem Mordfall. Der Verdacht fällt schnell auf die verschworene Campingplatz-Gemeinschaft – und auf sie selbst. Gemeinsam mit dem schroffen Platzwart Leo, der chaotischen Dauercamperin Helga und dem trägen Dackel Napoleon macht sich Tinka daran, die Wahrheit herauszufinden.
Denn wer mordet schon auf einem Campingplatz? Und warum?
Ein humorvoller Cozy Crime mit skurrilen Charakteren, ländlichem Charme und einem Mord, der alles andere als gemütlich ist.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Mordscamping am Wiesenglück
Sophia Lindemann
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33 – Ausklang
Bonus-Kapitel: Napoleon auf Abwegen
Wenn Tinka Lorenz sich ihr neues Leben hätte ausmalen sollen, dann hätte sie wahrscheinlich an einen kleinen Blumenladen gedacht. Oder an ein Häuschen irgendwo im Hunsrück, mit Kamin und einem Labrador namens Max. Aber auf keinen Fall hätte sie sich im Traum vorgestellt, an einem Freitagmorgen Anfang Mai in Gummistiefeln auf einem Campingplatz zu stehen, die Hände voller Laub, während der Nebel noch feucht über der Wiese hing.
„Das ist der Fuchswinkel“, hatte ihr Onkel Franz am Telefon gesagt. „Ein ruhiger Eckplatz, abgelegen, etwas verwildert. Ideal für Leute, die ihre Ruhe wollen. Oder für dich.“
Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, was er wirklich meinte.
Jetzt stand sie hier, allein auf dem Platz Wiesenglück, einer dieser altmodischen Campingplätze, bei denen selbst das Ortsschild an der Einfahrt aussieht, als stamme es aus den Achtzigern: orange Schrift auf braunem Hintergrund, daneben ein gezeichneter Igel mit einem Sonnenhut. Idyllisch. Wenn man es mochte.
Der Fuchswinkel lag am Rand des Platzes, ein halbmondförmiger Abschnitt, durchsetzt mit Büschen, Bäumen und Vogelgezwitscher. Nur drei Stellplätze, alle etwas uneben, mit viel zu viel Natur drum herum. Perfekt für Einsiedler, dachte Tinka. Oder Serienmörder. Sie war sich noch nicht sicher.
„Da hinten is a Wasserhahn, aber der tropft. Und der Stromkasten braucht manchmal einen liebevollen Tritt. Aber sonst – top Lage“, hatte Franz gemeint.
Das war drei Tage her gewesen. Seither hatte Tinka mehr über Abwasseranschlüsse, Stromsicherungskästen und Rasenmähermodelle gelernt als in den letzten zwanzig Jahren zusammen. Ihre Scheidung war gerade mal vier Wochen durch, der Mietvertrag ihrer alten Wohnung gekündigt, ihr Konto am Limit. Der Anruf von Franz kam also genau zur rechten Zeit: „Ich bin im Krankenhaus, Bandscheibe, muss operiert werden. Magst du den Platz für den Mai übernehmen? Nur übergangsweise. Ist kein großer Aufwand.“
„Kein großer Aufwand“ bedeutete offenbar: jeden Tag um sechs Uhr raus, Mülltonnen sortieren, Anrufe von verirrten Urlaubern beantworten, zehnmal am Tag sagen, dass die Waschmaschine eben wirklich schon wieder streikt – und gestern hatte ein Kind in den Spülraum gekotzt.
Tinka atmete tief durch. Aufgeben war keine Option. Noch nicht.
Sie trat einen Schritt zur Seite, als ihr Blick auf den alten Wohnwagen fiel, der auf Stellplatz 31 stand – ganz hinten, im Fuchswinkel, leicht schräg, wie absichtlich versteckt hinter einem wilden Haselnussbusch. Der Wagen war alt, verbeult, mit bräunlichen Gardinen vor den kleinen Fenstern. Vor dem Eingang stand ein weißer Plastikstuhl, auf dem jemand saß.
Oder besser gesagt: immer noch saß.
Tinka runzelte die Stirn.
Der Mann war gestern Abend gekommen. Allein, wortlos, hatte seine Anmeldung mit einem fast leeren Formular abgegeben. Name: Klaus Berger. Herkunft: unbekannt. Fahrzeug: VW Bus, aber der stand schief, ohne Kennzeichen. Sonderlich gesprächig war er nicht gewesen. Sie hatte ihm den Platz zugewiesen, aus Mangel an Alternativen – alle anderen wollten lieber näher an den See.
Seitdem hatte sie ihn nicht wieder gesehen.
Jetzt saß er dort. Bewegte sich nicht. Nicht, seit sie vor zehn Minuten zum Fuchswinkel runtergelaufen war, um den Müll aufzusammeln.
Ein ungutes Gefühl schlich sich in ihren Magen.
Sie rieb sich die Hände an der Hose trocken – der Morgentau hatte sie klamm gemacht – und ging vorsichtig näher.
„Herr Berger?“ Ihre Stimme klang zu laut in der morgendlichen Stille.
Keine Reaktion.
Noch ein Schritt.
„Ist alles in Ordnung?“
Er bewegte sich nicht.
Sie trat ganz nah heran.
Die Sonne kam gerade über die Baumwipfel, warf einen schrägen Lichtstrahl auf den Mann im Plastikstuhl.
Kaffee stand auf dem Campingtisch vor ihm. Ungerührt. Kalt.
In seiner linken Hand hielt er noch eine halbe Semmel.
Ein fetter Senffleck zierte sein graues T-Shirt.
Tinka fröstelte.
„Herr Berger?“, flüsterte sie jetzt.
Da wusste sie es.
Noch bevor sie den ersten Schritt zurück machte.
Noch bevor sie sein Gesicht sah, das sich grau verfärbt hatte, mit leicht geöffnetem Mund, in dem ein Rest Bratwurst steckte.
Noch bevor sie verstand, dass es kein gemütliches Wegdösen war.
Klaus Berger war tot.
Zehn Minuten später stand Platzwart Leo neben ihr, kratzte sich am Nacken und sah aus, als könne er es kaum glauben.
„Also... der war gestern noch quietschlebendig“, murmelte er.
„Er ist auf jeden Fall jetzt nicht mehr lebendig“, sagte Tinka und zog sich die Gummihandschuhe aus.
„Vielleicht... einfach Herzinfarkt. Oder zu viel Senf.“
Tinka verdrehte die Augen. „Du meinst ernsthaft, er ist an Senf gestorben?“
Leo zuckte die Schultern. „Die Leute kriegen heute von allem was. Allergien, Gluten, Histamin, schlag mich tot.“
„Letzteres trifft es ziemlich genau.“
Leo trat näher, sah sich die Szenerie an: Der Tisch war ordentlich gedeckt, aber es fehlte das Messer. Die Wurst war angebissen, das Brötchen auch. Die Kaffeetasse leer. Der Mann saß mit seltsam verkrampften Schultern da, als hätte er mitten im Kauen den Geist aufgegeben.
„Wir rufen die Polizei“, sagte Tinka.
„Ach, meinst du? Reicht das nicht, wenn wir den Notarzt holen?“
„Leo. Der Mann ist tot. Allein. Unangemeldet, mit einem Bus ohne Nummernschild. Wenn das nicht nach Fragen schreit, weiß ich auch nicht.“
Leo schnaubte, aber zückte sein Handy.
Tinka trat einen Schritt zurück. Das Bild blieb ihr dennoch vor Augen: Der tote Mann, die Semmel, der kalte Kaffee. Irgendetwas daran stimmte nicht.
Und sie wusste nicht warum, aber irgendetwas in ihr sagte:
Das hier war kein Zufall.
…
Sie wartete, während Leo telefonierte, seine Stimme gedämpft, aber mit wachsender Nervosität. Als er aufgelegt hatte, sagte er nur: „Die Polizei kommt. Dauert aber. Sind wohl noch in Rosenheim bei einem Verkehrsunfall.“
Tinka nickte. Ihr war kalt. Nicht vom Wind, sondern von dieser seltsamen Stille, die sich über den Platz gelegt hatte, seit sie Berger entdeckt hatte. Als hätte der Fuchswinkel selbst den Atem angehalten. Der See glitzerte zwischen den Bäumen, Vögel zwitscherten, irgendwo klappte jemand ein Vorzelt auf – und dennoch lag etwas Unausgesprochenes in der Luft.
„Ich sperr den Bereich ab“, murmelte Leo, und das tat er dann auch. Zwei rot-weiße Flatterbänder aus dem Schuppen, quer über die beiden Zufahrten zum Fuchswinkel gespannt. Nicht, dass sich jemand darum scheren würde – aber immerhin.
Tinka ging zurück zum kleinen Platzbüro. Es war ein flacher Holzbau, direkt neben dem Sanitärhaus, mit einem Schreibtisch, einem Kalender aus dem Vorjahr und einem Telefon, das immer dann klingelte, wenn sie gerade keine Hand frei hatte. Heute blieb es still.
Sie setzte sich, legte sich die Hände auf die Knie und zwang sich zur Ruhe. Es war ein Unfall. Wahrscheinlich. Vielleicht. Aber wenn sie ehrlich war – sie glaubte es nicht.
Klaus Berger war nicht wie die anderen Gäste gewesen. Er hatte zu wenig mitgebracht, zu wenig gefragt, zu wenig gelächelt. Er hatte sich nicht einmal über das WLAN-Passwort erkundigt. Wer tat das denn?
Sie nahm das Formular, das er am Vortag abgegeben hatte. Es lag auf dem Stapel mit den Anmeldungen, ganz oben. Name, Adresse, Kennzeichen – alles halbherzig ausgefüllt. Kein Personalausweis, keine Telefonnummer. „Barzahler“, hatte er gesagt. 50 Euro für drei Tage. Keine Quittung verlangt.
Sie sah sich die Unterschrift an: ein schnörkelloses „B“. Kein Nachname, kein Vorname. Nur der Buchstabe. Als hätte er gar nicht wirklich hier sein wollen. Oder als hätte er etwas zu verbergen.
Sie ging rüber zum Bus, der noch neben dem Wohnwagen stand. Der Motor war kalt, der Innenraum aufgeräumt – zu aufgeräumt. Keine Zahnbürste, keine Schlafsachen, kein Chaos. Nur ein leeres Rucksackfach und eine Thermoskanne im Becherhalter. Es roch nicht nach Mensch. Es roch nach Abwesenheit.
Die Polizei kam erst zwei Stunden später.
Zwei Streifenbeamte, jung, freundlich, überfordert.
„Er saß einfach da?“, fragte einer von ihnen, der mit dem zu großen Helm. Tinka nickte. Sie hatte die Geschichte jetzt zum vierten Mal erzählt.
„Und Sie haben nichts angefasst?“
„Nur geschaut, ob er noch atmet.“
„Mhm.“ Der Polizist kritzelte etwas in sein Notizbuch.
Der andere beugte sich über den Toten. „Könnte wirklich ein Herzstillstand sein. Oder Verschlucken. Aber das entscheidet die Rechtsmedizin.“
Tinka verschränkte die Arme. „Und das dauert wie lange?“
„Kommt drauf an. Ein, zwei Tage vielleicht.“
„Und solange... bleibt er hier sitzen?“
Die Beamten schauten sich an.
„Nein“, sagte der größere dann. „Wir holen ihn ab. Aber... sagen Sie mal – dieser Berger. Haben Sie irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt?“
Sie zögerte. Dann nickte sie langsam. „Er war... unauffällig. Zu unauffällig. Kein Gepäck. Keine Kennzeichen. Keine Adresse, die wirklich existiert. Ich hab’s gegoogelt. Die Straße gibt’s nicht.“
Die Beamten schrieben das auf. Nicht hektisch, aber auch nicht desinteressiert.
„Gut, wir geben das weiter“, sagte der jüngere. „Das übernimmt dann die Kripo. Wenn’s was ist.“
Wenn’s was ist.
Als sei das hier ein kleiner Zwischenfall.
Als wäre das nur einer von vielen, die am Freitagmorgen tot in einem Plastikstuhl sitzen.
Die Leiche wurde am späten Nachmittag abgeholt. In einem schlichten grauen Wagen mit gelbem Blinklicht. Ohne Sirene, ohne Hektik. Es wirkte beinahe würdevoll.
Tinka stand daneben und spürte, wie sich in ihr etwas regte. Keine Angst. Keine Trauer. Es war eine Ahnung. So ein Ziehen im Bauch, das sich nicht wegerklären ließ.
Und sie wusste:
Das hier war nicht der letzte seltsame Tag auf diesem Platz.
Am nächsten Morgen war alles wie immer – und doch nicht.
Die Sonne schien, die ersten Camper saßen vor ihren Wohnwagen, tranken Kaffee, lasen Zeitung. Ein älteres Ehepaar hängte Wäsche auf. Kinder liefen mit Croissants in der Hand über die Wiese. Vom See her wehte Musik. Alles ganz normal.
Aber Tinka spürte es: Die Nachricht hatte sich herumgesprochen. Auf Campingplätzen ging das schnell. Einer tot – schon war die Kaffeemaschine in Platz 12 Mittelpunkt aller Spekulation.
„War’s das Herz?“, fragte Frau Sonntag, Dauercamperin seit 1999, mit silberblauer Dauerwelle und einem Mops namens Napoleon. Sie hatte den Hund wie immer in einem Kinderwagen vor sich hergeschoben.
„Wissen wir noch nicht“, sagte Tinka.
„Hatte der Feinde? Ich mein, der sah ja schon komisch aus. So... schweigsam.“
„Er war einen Tag hier.“
„Aha.“ Frau Sonntag zog die Augenbrauen hoch, als sei genau das verdächtig.
Auch andere meldeten sich mit Beobachtungen.
Platz 27: „Ich hab den um Mitternacht noch telefonieren sehen.“
Platz 19: „Der hat im Supermarkt nur Senf und Bier gekauft. Wer macht denn sowas?“
Platz 4: „Hat der nicht mit dem Typen aus dem grauen Camper gesprochen? Der mit dem Tattoo am Hals?“
Tinka schrieb sich alles auf. Nicht, weil sie sich einbildete, die Polizei zu ersetzen. Sondern weil sie wusste, dass niemand das hier sonst tun würde.
Leo tauchte kurz vor Mittag auf. Mit Sonnenbrille, Kaffee und schlechter Laune.
„Du glaubst doch nicht wirklich, dass das Mord war?“, fragte er ohne Begrüßung.
„Ich glaub, dass zu viele Dinge nicht zusammenpassen.“
„Ach Tinka. Du warst zwei Tage auf dem Platz und schon bist du Miss Marple?“
Sie sagte nichts.
Aber sie dachte: Wenn schon Miss Marple, dann mit Gummistiefeln.
Am Nachmittag klopfte es an der Tür zum Platzbüro.
Ein Mann stand draußen. Schlank, Mitte fünfzig, Jeans, Lederjacke, Aktentasche. Kurz geschnittenes graues Haar, scharfer Blick.
„Lorenz?“, fragte er. Nicht unfreundlich, aber auch nicht einladend.
„Ja.“
Er zeigte einen Ausweis. „Kriminalpolizei Rosenheim. Mein Name ist Köster.“
Sie ließ ihn eintreten.
Er sah sich um, musterte alles, als könne selbst der Ordner mit den Quittungen Hinweise liefern.
„Sie haben den Mann gefunden?“
Sie nickte. Wieder diese Geschichte. Wieder die halbe Wahrheit.
Er hörte zu. Anders als die Streifenbeamten. Ruhiger. Wachsam. Mit einem Stift, der klackte, während er Fragen stellte.
„Sie sagten, der Name war vermutlich falsch?“
„Die Straße jedenfalls gibt’s nicht. Und der Name... na ja. Wir haben keinen Ausweis gesehen.“
Köster notierte das.
Dann sah er sie an. „Warum glauben Sie, dass es kein Unfall war?“
Tinka zögerte. Dann sagte sie: „Weil ich ihn gesehen hab. Und weil man kein Brötchen mit Wurst und Senf halb isst, den Kaffee stehen lässt, und dann einfach stirbt, ohne vom Stuhl zu rutschen.“
Köster lächelte schmal. Kein spöttisches Lächeln. Ein zustimmendes.
„Wir prüfen das. Und wir melden uns wieder.“
Dann war er weg.
Und Tinka war sich sicher:
Er wusste schon mehr, als er sagte.
Es wurde Abend. Der Fuchswinkel lag im Halbschatten, verlassen, leer. Der Plastikstuhl war verschwunden. Der Wohnwagen abgesperrt. Ein kleiner Zettel klebte an der Tür: „Untersuchung läuft – Betreten verboten.“
Tinka ging langsam dorthin. Stand vor dem Band, das sich im Wind bewegte, und sah hinunter auf den Platz, wo bis gestern noch ein fremder Mann gesessen hatte. Jetzt war nur noch Stille.
Oder?
Aus dem Wald hinter dem Stellplatz knackte es. Ein Rascheln.
Tinka drehte sich abrupt um. Kein Tier. Keine Person.
Aber sie schwor sich:
Ab jetzt würde sie alles beobachten. Alles notieren.
Denn wenn hier jemand gestorben war, der nicht sterben sollte –
dann würde sie herausfinden, warum.
Und wer dafür verantwortlich war.
Und ob dieser Jemand noch hier war.
Am nächsten Morgen erwachte Tinka von einem Geräusch, das sie in ihrem alten Leben nie gehört hatte: dem metallischen Rattern eines klappenden Vorzelts, gemischt mit dem unüberhörbaren „Moooment, des passt so net!“ einer empörten bayerischen Rentnerin.
Sie blinzelte. 6:21 Uhr.
Der Himmel über dem Chiemgau war hellgrau, es roch nach nasser Wiese, Kaffee und ganz leicht nach Bratfett. Offenbar bereitete jemand schon um diese Uhrzeit ein Camperfrühstück zu. Wahrscheinlich Werner aus Platz 8. Der röstete sich seine Würstchen auch bei Nieselregen in Badehose.
Tinka schlüpfte in ihre Hausschuhe – in Wahrheit zu große Gummiclogs, die sie gestern aus dem Fundschrank gezogen hatte – und ging die paar Schritte zum Waschhaus. Am Waschbecken neben dem Eingang stand Renate Sonntag, wie immer früh dran, und putzte sich in kreisenden Bewegungen die Zähne. Napoleon saß daneben auf einer mitgebrachten Anti-Rutsch-Matte und sah aus, als würde er gleich jemanden verklagen.
„Guten Morgen“, sagte Tinka vorsichtig.
Renate spuckte aus. „Heute Nacht war was los.“
Tinka sah sie an. „Was meinen Sie?“
„Hinterm Fuchswinkel. Ich hab Geräusche gehört.“
„Tiere?“
Renate schnaubte. „Keine Tiere atmen so schwer. Es war... menschlich. Schritte. Und dann ein Knacken.“
„Wann war das?“
„Halb zwei. Ich war auf Toilette.“
Tinka runzelte die Stirn. „Haben Sie jemanden gesehen?“
„Leider nein. Zu dunkel. Aber ich sag Ihnen was: Wenn da jemand noch rumgeschlichen ist, nach dem... na ja, dem Todesfall... dann gefällt mir das gar nicht.“
Tinka nickte langsam. Ihr auch nicht.
Sie überlegte, ob sie der Polizei davon erzählen sollte. Aber was war es schon? Ein Geräusch. Ein Eindruck. Es konnte alles oder nichts bedeuten.
Doch es passte zu dem Gefühl, das sie nicht loswurde.
Jemand hatte noch etwas im Fuchswinkel zu erledigen. Und dieser Jemand war noch nicht fertig.
Der Tag verlief ruhig – zumindest oberflächlich. Die Sonne kam durch, es wurde wärmer, der Campingplatz füllte sich. Ein Pärchen aus Stuttgart reiste an, mit geliehenem Wohnmobil und viel zu vielen Fahrrädern. Ein pensionierter Lehrer hatte sich telefonisch für drei Wochen angemeldet („Ich schreibe an meinem Roman“) und Platz 11 reserviert. Leo werkelte mit seiner üblichen Mischung aus grantigem Brummen und unverständlichem Gefluche am Stromkasten, während im Hintergrund das Radio aus seinem Wohnwagen dudelte: Volksmusik, wie immer.
Tinka versuchte, so normal wie möglich zu agieren.
Sie führte Reservierungen durch, nahm Pakete an, erklärte dreimal das Mülltrennungssystem und diskutierte mit einem Dauercamper über die korrekte Lage des Abwassertanks.
Aber ihre Gedanken waren woanders.
Sie notierte alles, was ihr auffiel. Der graue Bus war mittlerweile abgeschleppt worden, der Wohnwagen versiegelt. Doch gestern Nachmittag war ein junger Mann aufgetaucht, hatte ein paar Schritte um den Platz gemacht, das abgesperrte Gebiet betrachtet und war dann wortlos wieder verschwunden. Tinka hatte ihn nicht erkannt. Aber er hatte kein Gepäck, kein Fahrzeug und trug einen dunklen Hoodie mit aufgezogener Kapuze. Auffällig unauffällig.
Sie hatte das Kennzeichen eines am Parkplatz stehenden Kombis aufgeschrieben, das nicht zu den registrierten Gästen passte.
Und sie hatte sich vorgenommen, mehr zu fragen.
Unauffällig, aber gezielt.
Denn etwas stimmte nicht.
Und je mehr Zeit verstrich, desto klarer wurde ihr:
Sie würde nicht schlafen können, solange sie nicht wusste, was hier los war.
Am Nachmittag saß sie mit Leo vor dem kleinen Kiosk, der seit Jahren nicht mehr offiziell betrieben wurde, aber in dem es immer noch Cola, Spezi, Bier und vereinzelt Dosenravioli gab. Ein Relikt aus alten Zeiten, das Franz nie hatte aufgeben wollen.
„Ich kenn da einen“, sagte Leo plötzlich, während er die Kronkorken mit dem Daumen jonglierte. „Kriminaltechniker. Früher. Jetzt in Rente. Kommt manchmal mit dem Fahrrad vorbei.“
Tinka sah auf. „Wirklich?“
„Jo. Stefan Lintner. Der wohnt in Prien. Hat früher bei der Kripo München gearbeitet, dann Rosenheim. War nicht so der Schreibtischtäter, wenn du verstehst. Aber ein verdammt scharfer Hund.“
„Könnte der... na ja... sich den Wagen mal ansehen? Oder das Formular?“
Leo zuckte die Schultern. „Vielleicht. Wenn’s ihm Spaß macht. Ich kann ihn mal fragen.“
Tinka nickte. „Mach das. Bitte.“
Leo grinste. „Du gibst nicht auf, was?“
„Ich bin einfach... neugierig.“
„Neugier bringt dich auf Ideen. Und Ideen bringen dich in Schwierigkeiten.“
„Oder zur Wahrheit.“
Leo nahm einen Schluck und lehnte sich zurück. „Du bist echt anders als Franz. Der hätte gesagt: ‘Tot ist tot.’ Und den Grill angeschmissen.“
Am Abend, kurz vor sieben, klopfte es an der Rezeptionstür.
Ein Mann, etwa Anfang sechzig, sportlich gebaut, mit wettergegerbtem Gesicht und einer dieser Jacken, die aussehen wie aus einem Outdoor-Katalog. Er lächelte knapp. „Lintner. Ich soll mir was anschauen.“
Tinka bat ihn herein.
Sie zeigte ihm das Formular, den Zettel vom Wohnwagen, ein paar Notizen, die sie sich gemacht hatte. Er nickte, sagte kaum etwas, machte sich selbst Notizen in ein kleines schwarzes Heft.
Dann fragte er: „Haben Sie Bilder gemacht? Vom Toten?“
„Ein, zwei. Bevor die Polizei kam.“
„Kann ich sehen?“
Sie reichte ihm ihr Handy. Er scrollte, vergrößerte, stutzte.
„Da.“ Er tippte auf den Bildschirm. „Das Brötchen. Sehen Sie das?“
Tinka beugte sich vor.
„Die Abdrücke. Die Bissspuren passen nicht zu dem Rest. Irgendwas stimmt da nicht.“
„Was meinen Sie?“
„Ich will nichts versprechen. Aber entweder hat jemand ihm das Brötchen nachträglich in die Hand gedrückt – oder jemand anderes hat davon gegessen.“
Tinka starrte das Bild an. „Warum sollte jemand das tun?“
„Um etwas zu vertuschen. Oder um etwas zu sagen.“
Lintner reichte ihr das Handy zurück. Dann stand er auf.
