Mordsriecher Tatort Böblingen - Heinrich Düllmann - E-Book

Mordsriecher Tatort Böblingen E-Book

Heinrich Düllmann

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

In Böblingen stürzt eine Mutter mit ihrer vierjährigen Tochter vom Balkon im sechsten Stock auf die Grünfläche eines Hochhauses. Die Mutter liegt im Koma. Die vierjährige Linda bleibt unverletzt. Obwohl alles nach einem Unfall aussieht, wittert die Hauptkommissarin Helene Krautkopf ein Gewaltverbrechen. Bei ihren Ermittlungen entsteht nach und nach ein vertrauensvolles Verhältnis zu der quirligen Linda, die seit dem Sturz bemerkenswerte Verhaltensweisen zeigt. Warum redet die Kleine plötzlich wie eine Erwachsene? Sind die spontanen Eingebungen des Mädchens beunruhigend? Als Helene in der nahen Verwandtschaft von Linda auf Unerwartetes stößt, droht dem Fall eine grausame Wendung …

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Seitenzahl: 177

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Ähnliche


Heinrich Düllmann

Mordsriecher Tatort Böblingen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Impressum neobooks

Kapitel 1

Es war ein milder Frühlingsabend. Dirk Schnabel schlenderte über den Bürgersteig vor einem Hochhaus in Böblingen und spielte auf seinem iPhone OnlineFussballManager. Plötzlich schrie ein Kind aus einem der oberen Stockwerke, was ihn kaum in seiner Konzentration störte. Vielmehr schmunzelte der dreifache Vater sogar über die Lärmbelästigung, um die er sich ausnahmsweise nicht kümmern musste. Er genoss es, ungestört spielen zu können. Zu Hause konnte er sich selten konzentriert dem Strategiespiel widmen. Da er bei der Arbeit keine Gelegenheit hatte, sich um das Spiel zu kümmern, wollte er das unbedingt vor der Rückkehr erledigen.

Er setzte sich auf eine Bank und merkte bei den umfangreichen Einstellungen nicht, dass das Kind aufgehört hatte zu schreien.

Plötzlich riss er blitzschnell den Kopf hoch und sprang auf, weil ihn ein schriller Hilferuf aufschreckte.

»Friediiiiiiiii«

Er sah eine Frau mit einem Kind über die Brüstung eines Balkons fallen. Die Krone eines Baumes federte den Sturz nur wenig ab. Beide krachten durch die Äste und landeten auf dem Rasen der Grünfläche. Für Sekunden stand Schnabel starr vor Schreck einfach nur da. Die Frau lag auf dem Rücken, das Kind auf ihr.

Als er die Unglücksstelle erreichte, bewegte sich das Kind, das drei oder vier Jahre alt sein mochte. Es ertastete ein Stofftier, das unter dem Kopf hervoräugte. Daraufhin öffnete es die Augen, hob den Kopf und flüsterte:

»Mama, Friedi ist auch da!«

Hilflos blickte es auf das Gesicht der Mutter, die stumm und regungslos blieb.

»Mama, Mama! Was ist los?«

Verzweifelt schüttelte das Kind die Mutter an den Schultern, dennoch reagierte sie nicht. Daraufhin krabbelte es von der Mutter hinunter, um sich dann ganz dicht an sie zu schmiegen, sodass es ihr direkt ins Ohr flüstern konnte:

»Aufwachen, Mama! Mama, aufwachen!«

Doch sie wachte nicht auf. Das Kind weinte und streichelte ihre Wange.

Wie ein Lauffeuer hatte sich das Unglück herumgesprochen und sofort viele Leute angelockt. Es herrschte eine beklemmende Atmosphäre. Fassungslos starrten die herbeigeeilten Personen auf die Unfallstelle. Einige Schaulustige zeigten jedoch wenig Anteilnahme, sondern gafften die Verunglückten einfach nur aus nächster Nähe an. Ein junger Mann fotografierte sogar die beiden Körper mit seinem Handy.

Dirk Schnabel kam sich in der Menschenansammlung verloren vor. Immer mehr Leute strömten herbei und drängten ihn unsanft zur Seite, um schneller voranzukommen. Da stand unvermittelt ein Mann neben ihm, der sich erkundigte, was denn geschehen sei.

»Eine Frau ist mit einem Kind vom Balkon gestürzt. Sieht nicht gut aus!«, stammelte Schnabel und zeigte auf den vierten oder fünften Stock.

»Wo? Von dort oben?«, fragte der andere Mann fassungslos.

»Nicht auszudenken, wenn das unsere Wohnung ist!«, sagte er leise vor sich hin. Dann drehte er sich blitzschnell um und schrie in die Menge hinein:

»Lassen Sie mich durch! Macht Platz! Das ist meine Familie!«

Er machte sich so durchdringend bemerkbar, dass die Leute bereitwillig eine Gasse bildeten, durch die er sich drängte.

»Oh, mein Gott!«, klagte der zu Tode erschrockene Mann und schlug sich die Hände vors Gesicht, nachdem er seine Frau und Tochter erblickt hatte. Völlig aufgewühlt trat er dicht an sie heran und bückte sich zu ihnen hinunter.

»Papa«, flüsterte das Mädchen kraftlos. Die Kleine ergriff einen Zipfel seines Pullovers und zupfte vorsichtig daran. Daraufhin half er ihr vorsichtig auf und prüfte, ob sie verletzt war. Behutsam nahm er sie in die Arme. Sie schien wohlbehalten.

»Linda! Dir ist nichts passiert«, sagte er erleichtert.

»Gott sei Dank.«

Als sein Blick jedoch auf seine Frau fiel, stellte er seine Tochter wieder auf dem Boden ab und ging in die Hocke.

»Mama redet nicht.«

Die Kleine blickte weinend ihren Vater an, der wie versteinert auf den leblosen und blutverschmierten Körper starrte. Urplötzlich berührte eine Hand seine Schulter, und bevor er etwas sagen konnte, sprach ihn eine männliche Stimme entschlossen von hinten an:

»Ich bin Sascha Kienle, der Notarzt. Ich bitte Sie, zurückzutreten, damit wir ungestört arbeiten können!«

»Aber ... das ist ... Clara ... das ist doch meine Frau«, stotterte er entschuldigend.

»Wir tun jetzt das Menschenmögliche für sie«, sagte der Arzt und zog ihn ohne weitere Diskussion vom Unglücksort weg. Gert Kunkel pendelte hin und her oder stellte sich auf Zehenspitzen, um die Rettungsmaßnahmen zu verfolgen. Aber er sah nur wenig. Das machte ihn noch ohnmächtiger. Am liebsten hätte er jetzt seine Angst herausgeschrien.

»Ich will zu Mama«, protestierte Linda und wollte sich von ihm lösen.

»Ach, Linda«, seufzte er und drückte sie an die Brust:

»Das geht jetzt nicht. Mama wird gründlich untersucht! Da stören wir!«

Linda versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien. Gert überlegte kurz, ob er sie vom Unfallort wegbringen sollte, um ihr den Anblick zu ersparen. Er verwarf jedoch diesen Gedanken, weil er seine Tochter kannte. Mit allen Mitteln hätte sie sich dagegen zur Wehr gesetzt, gestrampelt oder geschrien. Deshalb packte er sie kurzerhand und setzte sie auf seine Schultern.

»Siehst du etwas?«

Linda stützte sich an seinem Kopf ab und streckte sich nach oben, sodass ihr Vater sie besonders gut festhalten musste.

»Ja, Papa, ich sehe Mama.«

»Das ist gut«, erwiderte er.

Ein zweiter Notarztwagen und ein Polizeiauto waren eingetroffen. Jetzt gelang es der Polizei, die Unfallstelle großräumig abzusperren und die Schaulustigen zurückzudrängen. Vater und Tochter sahen gebannt zu, wie die Rettungskräfte, umgeben von unzähligen Schläuchen, Flaschen und Geräten, sich um die Schwerverletzte kümmerten. »Was ist los, Knuddel?«, fragte Gert seine Tochter, die es heftig durchzuckte.

Sie reagierte nicht. Nach einer Weile begann sie zu zittern und wurde unruhiger. Der Vater sicherte verstärkt mit beiden Händen ihren Sitz.

»Was ist los, mein Knuddel?«

»Alles gut, Papa!«, antwortete sie prompt, um ihn zu beruhigen. Aber sie selbst war völlig durcheinander und fragte sich verwundert, was passiert sei. Und wieso sie viele Worte verstand, die um sie herum gesprochen wurden. Vielmehr als früher. Sie schüttelte mehrmals den Kopf und schaute sich um, weil sie es nicht glauben konnte. Noch nie hatte sie so gebannt auf die Mundwinkel der Menschen geschaut und auf deren Worte geachtet wie in diesem Augenblick. In der Tat erfasste sie unmittelbar die Bedeutung der Aussagen.Sie konzentrierte sich auf das Gespräch zweier Frauen.

»Das wäre ein Wunder, wenn sie überlebt!«

»Ich frage mich, was da oben passiert ist. Das war kein Unfall. So unvorsichtig ist keine Mutter!«

»Denkst du an Mord?«

»Ja, warum nicht?«

»Ich finde, du siehst zu viele Krimis im Fernsehen. Wer kann so herzlos sein und eine Mutter mit ihrem Kind in den Tod stürzen!«

Linda drückte ihre Hände auf die Ohren. Sie wollte es nicht mehr hören und drehte den Kopf weg. Gert bemerkte das ungewöhnliche Verhalten seiner Tochter. Er sprach sie aber nicht mehr daraufhin an, weil er sicher vermutete, dass sie unter Schock stand.

Das Mädchen erinnerte sich in diesem Moment an eine Erfahrung, die sie Minuten zuvor an der Aufprallstelle gemacht hatte. Sie lag dicht bei ihrer Mutter, aufgelöst, ängstlich, weinend, verzweifelt ... Mit einem Male erhitzte sich ihre Stirn. Es war ein angenehmes Gefühl, das jedoch nach Sekunden wieder verschwand. Es ging so schnell, dass sie es in der trostlosen Situation kaum wahrnahm. Jetzt allerdings ging ihr diese Erfahrung nicht mehr aus dem Sinn. Sie fragte sich unentwegt, ob das kurze, intensive Brennen auf der Stirn ihre Veränderung bewirkt hatte.

Sascha Kienle löste sich aus der Mitte der Rettungskräfte, kam auf sie zu und sprach Gert unvermittelt an.

»Die Lage Ihrer Frau ist stabil, aber sehr kritisch. Sie schwebt in Lebensgefahr. Sie liegt im Koma. Eine Diagnose ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Deshalb wissen wir nicht, ob sie durchkommt. Es ist sowieso ein Wunder, dass beide den Sturz überlebten! Wir bringen ihre Frau jetzt in die Klinik.«

Er hielt kurz inne.

»Und nun zu dir, wie heißt du?«

Der Notarzt schaute das Mädchen an, das ihm regungslos zugehört hatte.

»Linda«, antwortete sie.

»Linda«, wiederholte er begeistert.

»Das ist ein toller Name. Linda heißt nämlich die Schöne. Und wie schön du bist mit deinen schwarzen Haaren und dem langen Zopf!«

Der Arzt streckte ihr die Hände entgegen.

»Ich will dich gründlich untersuchen. Fährst du mit in die Klinik?«

Die verkrampfte Körperhaltung des Mädchens lockerte sich und sie fragte wie aus der Pistole geschossen:

»Mit Tatütata?«

»Aber natürlich, mit Tatütata und ... sogar mit Blaulicht, das ist doch klar«, lächelte er sie an.

Sie befreite sich aus den Armen des Vaters und sprang den Arzt an.

»Uih, bist du wild«, sagte er und fing sie sicher auf.

»Friedi muss mit!«

Linda drehte sich um und zeigte auf das am Boden liegende Kuscheltier. Gert bückte sich und hob Friedi auf.

»Aber der ist doch völlig mit Blut verschmiert, den kannst du so nicht mitnehmen!«

»Macht nichts. Friedi muss mit!«

Sie überhörte einfach die Einwände des Vaters.

Gert suchte Hilfe beim Doktor.

»Geht das?«

»Natürlich«, antwortete der verständnisvoll.

»Linda hat doch auch viele Blutflecken!«

Der Notarzt zeigte auf das verschmierte Blut im Gesicht und auf den Armen.

Zögerlich gab der Vater ihr das Kuscheltier, das sie sofort an sich drückte.

Jetzt ging alles rasend schnell. Die Sanitäter transportierten Clara Kunkel in einen der zwei Notarztwagen. Der Arzt, der die Kleine im Arm hielt, ging mit zügigen Schritten auf den zweiten Rettungswagen zu. Gert folgte ihm.

»Ich begleite natürlich meine Tochter.

»Ja, das ist doch selbstverständlich.«

Kapitel 2

»Komm bitte hierher!«

Der Arzt forderte Linda energisch auf, als sie sich sofort nach dem Einsteigen an den Geräten zu schaffen machte.

»Ich muss dich hier anschnallen, sonst können wir nicht losfahren! Wenn du nicht sitzt, gibt es kein Tatütata und auch kein Blaulicht.«

Widerwillig kam sie und ließ sich anschnallen. Als der Rettungswagen wenige Augenblicke später tatsächlich mit Tatütata losfuhr und das Blaulicht durch die Fenster flackerte, leuchteten Lindas Augen. Gebannt und fasziniert verfolgte sie die rasante Fahrt. Nachdem sie angekommen waren, erfuhren sie, dass Clara sich bereits auf der Intensivstation befand. Der Notarzt ging nach dieser Information mit beiden in die Ambulanz, um dort das Mädchen zu untersuchen. Eine Krankenschwester bat er vorher, das Kuscheltier gründlich zu reinigen, was Linda sehr beruhigte. Überhaupt war Gert erstaunt, wie bereitwillig sich seine Tochter behandeln ließ und bei den verschiedenen Tests konstruktiv mitmachte. Nach einer eingehenden Untersuchung sagte der Arzt:

»Bei Ihrer Tochter ist alles in Ordnung. Sie hat vor allem keine inneren Verletzungen. Und die leichten Schürfungen am Oberarm sind gar nicht der Rede wert.«

Er pustete sanft über die Wunde.

»Papa, auch pusten!«

Sie hielt ihm den Arm hin und lachte ihn an.

»Linda, schau her, hier ist dein Kuscheltier. Ich habe es gebadet, geföhnt und gekämmt! Gefällt er dir?«

Die Krankenschwester zeigte stolz den zotteligen Hund und strich zärtlich über die lange, helle Hundeschnauze.

Das Mädchen strahlte sie glücklich an, vergaß alles um sich herum und knuddelte ihren Liebling.

»Was hältst du davon, wenn ich dir mit Friedi das Krankenhaus zeige? Da gibt es so viele interessante Dinge zu sehen! Dein Vater hat nichts dagegen!«

»Cool«, rief sie und lief auf den Doktor zu.

»Sie können in der Zwischenzeit einen Kaffee am Kiosk trinken, der schmeckt dort ganz ausgezeichnet. Die Untersuchung Ihrer Frau wird sowieso noch einige Zeit in Anspruch nehmen«, schlug er Gert vor.

»So machen wir es«

»Nach unserer Tour bringe ich sie wieder hierher«, erklärte der Arzt, nahm das Mädchen an die Hand und verschwand mit ihr.

Gert ging zum Kiosk. Als er dort einen Kaffee trank, betrat eine Frau die Klinik, mit der er und Linda gestern beim Einkauf im Supermarkt kurzen Kontakt hatten. Er sprach sie an:

»Machen Sie einen Krankenbesuch?«

»Nein, ich bin dienstlich hier. Ich möchte Sie sprechen!«

»Mich?«, antwortete er total perplex.

»Ja, am Unfallort ging es nicht. Ich kam spät zum Einsatz und sah Sie erst, als Sie mit Linda in den Rettungswagen einstiegen.«

»Wer sind Sie überhaupt?«, fragte er.

»Entschuldigung. Ich bin Hauptkommissarin, mein Name ist Helene Krautkopf."

Sie zeigte ihm ihren Dienstausweis.

»Ich untersuche die Hintergründe des Sturzes.«

»Untersuchen? Das war ein fürchterlicher Unfall, da gibt es nichts zu untersuchen«, antwortete er ziemlich aufgebracht.

»Beruhigen Sie sich bitte! Das ist Routine, unser Tagesgeschäft, wie die kriminaltechnischen Untersuchungen am Unfallort. Wir sind damit fast fertig. Meine Kollegen würden anschließend gerne einen Blick auf ihren Balkon werfen. Geht das?«

»Ohne mich? Das gefällt mir gar nicht! Ich verstehe nicht, warum Sie bei uns rumschnüffeln wollen. Was vermuten Sie denn?«, erregte er sich abermals.

»Wir vermuten nichts und schnüffeln tun wir schon gar nicht! Wir wollen uns lediglich ein Bild machen, ohne Untersuchungen anzustellen. Solchen Ereignissen müssen wir nachgehen. Es ist doch gewiss auch in Ihrem Interesse, herauszufinden, wie es dazu kam. Oder haben Sie den Sturz gesehen?«

»Nein, ich war zu der Zeit nicht zu Hause, sonst hätte es den Unfall nicht gegeben«, entgegnete er aufgewühlt.

»Wie meinen Sie das?«, hakte die Kommissarin sofort nach.

»Normalerweise bin ich abends immer daheim, um unsere Tochter ins Bett zu bringen, weil Clara oft erst spät von der Arbeit nach Hause kommt. Aber heute ... sie war so kaputt, als sie zurückkam, völlig ausgebrannt ... Ich hätte nicht gehen dürfen!«

Er schlug sich heftig gegen die Brust.

»Wo waren Sie denn?«

»Bei der Autorenlesung von Tatjana Strobel in der Buchhandlung Vogel. Ich bin freier Journalist und schreibe Artikel über Schriftsteller oder rezensiere deren Werke.« »Wie haben Sie von dem Unfall erfahren?«, erkundigte sie sich.

»Als ich auf dem Nachhauseweg in unsere Straße hineinging, sah ich Menschen, wohin ich auch blickte. Das verunsicherte mich, sodass ich sofort zum Haus rannte. Dort sagte man mir, dass eine Frau und ein Kind vom Balkon gestürzt seien. Natürlich dachte ich gleich an Clara und Linda. Und leider bestätigte sich der Verdacht.«

"Was befürchteten Sie? Sprach Ihre Frau jemals von Selbstmord?", hakte Helene nach.

"Nein! Dafür ist sie nicht der Typ, obwohl sie in letzter Zeit öfters ziemlich niedergeschlagen nach Hause kam."

Gert trank noch einen Schluck aus der Tasse und stellte sie auf die Theke. Genervt sagte er zur Hauptkommissarin:

»Jetzt reicht´s aber! Ich will nicht mehr reden! Hier ist der Schlüssel. Sie können ihn mir morgen zurückgeben. Ich habe einen zweiten bei mir. Mich interessiert jetzt nur noch, wie es Clara geht!«

»Das verstehe ich. Danke für Ihr Verständnis. Ich werde Sie morgen besuchen und den Schlüssel mitbringen.«

»Aber rufen Sie mich vorher bitte an! Hier ist meine Karte!«

»Danke, ich wünsche Ihnen viel Kraft. Übrigens, was ist mit Ihrer Tochter?«

»Gott sei Dank, sie hat den Sturz unbeschadet überstanden und ist putzmunter. Der Arzt zeigt ihr gerade das Krankenhaus.«

»Das wird ihr gefallen! Gute Nacht, Herr Kunkel!«

»Auf Wiedersehen, Frau Krautkopf!«

Ohne Umwege eilte er ins Wartezimmer der Intensivstation und setzte sich. Die ausliegenden Zeitschriften interessierten ihn nicht. Vielmehr schaute er mehrmals gebannt auf die Tür zum Untersuchungszimmer, aber sie blieb verschlossen, was seine Unruhe nach und nach steigerte. Er spazierte nervös durch das Zimmer. Gelegentlich setzte er sich wieder auf die Bank, auf der er es jedoch immer nur wenige Augenblicke aushielt. Je länger es dauerte, desto kribbliger wurde er. Er fühlte sich, als ob eine Armada von Ameisen in ihm herumkrabbelte. Es juckte an Leib und Seele und alle Versuche, sich innerlich zu kratzen, scheiterten jämmerlich.

Das Handy klingelte. Nervös holte er es aus der Tasche und sah die Nummer seines Bruders Heinz auf dem Display. Er nahm das Gespräch an, doch das Sprechen fiel ihm unheimlich schwer, sodass er es schnell beendete.

»Ich will im Moment niemanden sehen, auch dich nicht! Bitte versteh´ das!«

Abrupt drückte er die Verbindung weg. Kaum hatte er sein Handy weggesteckt, hörte er die Stimme seiner Tochter. Blitzschnell drehte er sich um.

»Papa, Papa!«, rief Linda begeistert. Sie riss sich von der Hand des Arztes los und rannte auf ihren Vater zu, der sie auffing, als sie ihn stürmisch ansprang.

»Wie war´s, Knuddel«, erkundigte er sich fast teilnahmslos, weil ihn die Sorge um Clara gefangen hielt.

»Super!«, antwortete sie euphorisch und zeigte ihm im gleichen Moment eine Spritze ohne Nadel.

Der Vater schaute sie fassungslos an, denn er kannte ihre Angst vor Spritzen. Deshalb fragte er auch sofort:

»Und du hast nicht gebrüllt?«

»Nein, Papa!«

»Ich kann Ihnen das erklären, Herr Kunkel«, begann der Arzt zu dozieren.

»Linda hat mir von ihrer Angst erzählt, und wissen Sie, ich konnte sie davon überzeugen, dass Spritzen hilfreich sind. Glauben Sie, dass sie sonst eine Spritze von mir verlangt hätte?«, beendete er zufrieden lächelnd seinen Vortrag.

»Alles schön und gut, aber ich will jetzt wissen, wie es meiner Frau geht!«

»Das ist doch klar. Mein Kollege wird Sie informieren.«

Kaum gesagt betrat ein Mann das Wartezimmer und ging auf Gert zu.

»Grüß Gott, Herr Kunkel. Mein Name ist Heribert Strohbeck. Ich leite die Untersuchungen. Der Zustand Ihrer Frau ist unverändert kritisch. Die Verletzungen am Körper sind nicht besorgniserregend. Sorgen macht uns allerdings das Schädel-Hirn-Trauma. Wir wollen ein Hämatom entfernen, um mögliche Nachblutungen zu verhindern. Dazu brauchen wir jedoch Ihre Zustimmung. Wir haben bereits alles für die Operation vorbereitet.«

Gert spürte, wie ihm die Kraft aus dem Körper gezogen wurde. Er konnte seine Tochter nicht mehr halten und stellte sie sofort auf den Boden. Sein Kreislauf sackte ab, und seine Haltung erschlaffte. Sascha Kienle griff ihm geistesgegenwärtig unter die Arme und schleifte ihn auf eine Bank.

»Danke, Herr Doktor. Es geht schon wieder«, sagte er nach kurzer Zeit.

»Sind Sie sicher?«

Der Arzt blickte ihm in die Augen und setzte die Untersuchung unbeeindruckt fort.

»Ja, wirklich. Ich bin mit der Operation einverstanden«, entgegnete er gefasst und schaute dabei Doktor Strohbeck an.

»Ich gebe Ihnen aber auf jeden Fall eine kreislaufstärkende Spritze!«, erwiderte Sascha Kienle.

»Nein, das ist nicht mehr nötig!«

»Doch, Papa, die Spritze hilft dir«, bestärkte Linda. Gert konnte es immer noch nicht fassen, dass Linda keine Angst mehr vor Spritzen zu haben schien, wo sie früher schon bei Erwähnung des Wortes losbrüllte.

»Wenn es denn sein muss, dann machen Sie doch, was sie nicht lassen können. Aber danach will ich meine Frau sehen«, antwortete er patzig.

»Das geht natürlich. Bei der Operation allerdings können Sie nicht dabei sein. Ich bleibe bei Ihnen, bis mein Kollege zurück ist.«

Wenig später stand er mit der Spritze in der Hand wieder vor Gert. Ohne weitere Erklärungen griff er seinen Arm und setzte die Spritze an.

»Siehste, Papa, du hast gar nicht gebrüllt!«

»Ja, Knuddel, ich fühle mich schon viel besser.«, reagierte er ein wenig schmunzelnd.

»Gehen Sie mit mir!«, bat Doktor Strohbeck.

»Mein Kollege bleibt so lange bei Ihrer Tochter.«

»Ich will mit!«, protestierte das Mädchen energisch. Während die Männer sich kurz anschauten, rannte sie schon Richtung Intensivstation. Kienle erwischte sie gerade noch vor dem Öffnen der Tür.

»Also gut, du darfst mit, Linda, aber du musst dich ganz ruhig verhalten und darfst nichts anfassen. Versprichst du mir das?«

»Ja, Herr Doktor«, entgegnete sie sehr folgsam.

»Noch was. Wir müssen alle eine Schutzkleidung anziehen«, erklärte der Mediziner.

»Schööön«, antwortete sie begeistert, denn bei der Krankenhaustour hatte sie bereits eine anprobieren dürfen, was ihr viel Spaß gemacht hatte.

Gert und Linda waren fassungslos, als sie Clara sahen. Sie waren einiges von der Unfallstelle her gewohnt, doch dieser Anblick schockierte sie. Sie trauten sich nicht, sie zu berühren, weil so viele Schläuche an ihrem Körper angeschlossen waren und die Apparate ständig Geräusche machten. Das flößte ihnen Angst ein. Linda klammerte sich ans Hosenbein des Vaters. Gerade hatten sich die beiden vom ersten Schock erholt, da bat sie der Arzt, sich zu verabschieden.

»Darf ich meine Frau zum Abschied streicheln«, fragte Gert verunsichert.

»Ja, natürlich«

Er streichelte Clara mehrmals übers Gesicht und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen.

»Du schaffst das, Clara! Ich liebe dich!«, flüsterte er ihr zu. Währenddessen zerrte Linda kräftig an seinem Hosenbein:

»Ich will Mama einen Kuss geben!«

Gert hob sie hoch.

»Höher«, bat sie. Linda küsste ihre Mutter auf die Wange und sagte ihr:

»Wir klettern bald wieder!«

Ihre Mutter hatte extra für sie eine Kletterwand in ihrem Spielzimmer errichten lassen, an der sie bergsteigen lernte.

»Komm, Linda, jetzt müssen wir gehen«, sagte der Vater und trug sie aus der Intensivstation. Nach dem Ausziehen der Schutzkleidung gingen die beiden mit dem Arzt in den Warteraum.

»Es ist besser, wenn Sie mit Ihrer Tochter nach Hause gehen. Die Operation kann sehr lange dauern. Wir benachrichtigen Sie sofort über das Ergebnis.«

»Wir bleiben!«, antwortete er kategorisch.

»Okay, wenn Sie etwas brauchen, bitte klingeln!«

Der Arzt verließ die beiden.

»Linda!«

Er bückte sich zu seiner Tochter hinunter.

»Ja, was ist Papa?«

Sie schaute ihn gespannt an.

»Eben bei Mama, habe ich mich gefragt, ob du dich an den Sturz erinnern kannst?«

Er stockte, weil sie den Kopf senkte. Gert fasste sie an die Schultern, worauf sie ihn betrübt ansah und schleppend antwortete:

»Nein, Papa! Ich kann mich an nichts erinnern!«