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»Da unten ist die Hölle« Die Taucher der Essener Wasserschutzpolizei müssen weit über ihre psychischen Grenzen hinausgehen, als sie das Depot eines Killers in der Tiefe räumen. Welcher Wahnsinnige versteckt die Toten im Essener Baldeneysee? Wieder einmal stehen Rechtsmedizinerin Karin Hollmann und ihr Freund, Oberkommissar Sven Spelzer vor Mädchenleichen, die ihnen viele Rätsel aufgeben. Wie weit geht ein skrupelloser Gangsterboss, um den gewaltsamen Tod seines Bruders zu rächen? Zwei scheinbar unabhängige Fälle bringen die Ermittler selbst in Lebensgefahr. Ein friedliches Naherholungsgebiet entpuppt sich als Spielwiese für einen irren Mörder. Obwohl die Handlungsabläufe in sich abgeschlossen sind, empfiehlt es sich, die Bücher in der Reihenfolge zu lesen.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Mordtiefe
Von H.C. Scherf
Thriller
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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Mordtiefe
Band 3 aus der Serie Spelzer/Hollmann
© 2018 H. C. Scherf
Ewaldstraße 166, 45699 Herten
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MORDTIEFE
Spelzer/Hollmann-Reihe – Band 3
von H.C. Scherf
Element des Lebens.
So hat der Tod
das Wasser genannt,
um seine Identität zu verbergen
© Peter Rudi
- Kapitel 1 -
Energisch zog Astrid den Reißverschluss ihrer Kapuzenjacke hoch, um sich vor dem eisigen Wind zu schützen, der kräftig über den See trieb. Ihr Kajak schaukelte bedenklich, als sie sich in die Sitzluke quetschte und den Spritzschutz verschloss. Heute hielt Klaus nicht das Boot am Ufer, um ihr das Einsteigen zu erleichtern. Der Kundentermin war für ihn sehr wichtig, musste unbedingt in die frühen Abendstunden gelegt werden. Doch das wöchentliche Fahrvergnügen, das einen Teil ihres umfangreichen Fitnessprogramms ausmachte, sollte zumindest bei ihr nicht darunter leiden.
Die eintretende Dämmerung legte sich bereits wie eine Haut über das Wasser, durch den böigen Wind entstanden geheimnisvolle Pfeiftöne. Astrid liebte diese Ruhe am Wasser, die entstand, wenn sich die Besucher am Haus Scheppen allmählich an den heimischen Herd zurückzogen und das letzte Segelboot im kleinen Hafenbecken vertäut war. Es waren die ruhigen Schläge des Paddels, die sie runterkommen ließen. Sie vertrieben alle schlechten Geister, die sich im Laufe des betriebsamen Tages angesammelt hatten. Schlag für Schlag trieb sie das Kajak weiter hinaus auf den Baldeneysee, der sich mit seiner Strömung gegen die Spitze des Bootes stemmte. Die kleinen Wellen brachen sich am Bug und erzeugten ein beruhigendes Plätschern. In Gedanken sang sie diesen Ohrwurm Perfect von Ed Sheeran mit, der sie schon seit dem Frühstück begleitete und einfach nicht weichen wollte.
Nur schemenhaft konnte sie die Kampmannbrücke erkennen, da sich leichter Dunst über das Wasser legte, der die Umgebung in ein geisterhaftes Licht tauchte. Astrid fühlte sich wohl in dieser Stille des anbrechenden Abends. Sie summte jetzt das Lied laut mit und sah im Geiste wieder diese Szenen aus dem wunderschönen Musik-Video, als Sheeran mit seiner Freundin über den Skihang glitt, gefangen in unendlicher Glückseligkeit. Genau das hatte sie sich immer mal mit Klaus gewünscht, wenn der nur nicht diese verfluchte Höhenangst hätte. Keine zehn Pferde brachten ihn in einen Sessellift oder eine Gondel.
Der Gedanke verlor sich, als sie mit dem Bug gegen ein Hindernis stieß. Das Kratzen unter dem Boot endete so plötzlich, wie es gekommen war. Sie suchte die Wasseroberfläche ab und kam zu dem Entschluss, dass es sich um einen Ast gehandelt haben musste, der nun weiter mit der Strömung trieb. Sie entspannte sich wieder und vergaß den Vorfall. Sie umfasste ihr Paddel kräftiger und bereitete sich auf einen kurzen Sprint gegen die Strömung vor. Das Holz tauchte tief ein in das schwarze Wasser und erzeugte kräftige Wirbel. Die Front des Kajaks hob sich für einen Augenblick aus dem Wasser, um sofort wieder einzutauchen. Als sie zwei, drei Züge gepaddelt war, hatte sie das Gefühl, nicht einen Zentimeter von der Stelle gekommen zu sein.
Nein, nur das nicht! Spontan schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sich ihr Steuerblatt am Heck wieder einmal in dieser verfluchten Wasserpest verfangen hatte, die einen großen Teil des Sees befallen hatte. Diese schnellwachsenden Pflanzen hatte der Teufel als Plage auf die Menschheit losgelassen. Als sie das Steuerblatt mit dem Schnurzug hochklappte, war nichts von dem Grün zu sehen. Diese verfluchten Pflanzen waren zwar erst vor gar nicht langer Zeit mit einem Spezialboot gemäht und abtransportiert worden, doch sie musste natürlich genau eine Stelle erwischen, die vergessen wurde. Ganz großartig. Jetzt kann ich zusehen, wie ich diesen Mist wieder loswerde.
Astrid versuchte, durch Rückwärtsfahren das sperrige Gewächs wieder zu lösen. Keine Chance. Fluchend löste sie den Spritzschutz und drehte sich vorsichtig zum Heck. Ein Bad in dieser kalten Brühe war für den heutigen Abend eigentlich nicht eingeplant gewesen. Sie war sich jedoch nicht mehr so ganz sicher, als sie vorsichtig zum Heck kroch. Das Kajak schaukelte bedenklich. Jetzt konnte sie das Steuerblatt erkennen, das jedoch völlig frei vor ihr lag. Da war es wieder, dieses Scharren und Kratzen. Diesmal kam es von Backbord. Etwas bewegte sich unter dem Boot und erzeugte einen großen Schatten. Astrid hatte davon gehört, dass es große Welse in diesem See geben sollte, doch erzählt wurde viel. So groß konnte ein Fisch doch nicht sein, dass er einen derartigen Schatten im Wasser erzeugte. Jetzt befand er sich auf der anderen Seite und ... er erzeugte tatsächlich Luftblasen.
Bevor sich Astrid darüber Gedanken machen konnte, tauchte direkt neben ihr der Kopf mit der Tauchermaske auf. Reflexartig riss sie die Arme nach hinten, was dazu führte, dass sie rücklings im Wasser landete. Ihre Kleidung saugte das Nass begierig auf. Die Kälte des Wassers lähmte für einen kurzen Moment ihre Atmung, ihre Schwimmversuche drohten bei aufsteigender Panik zu versagen. Sie schluckte Wasser und ruderte wie eine Wilde mit den Armen. Verzweifelt versuchte sie, wieder die lebensspendende Oberfläche zu erreichen. Den trüben Himmel konnte sie durch die bräunliche Brühe nur noch schwach erkennen. Ihre Hände suchten verzweifelt nach einem Halt an dem Boot. Die Fingerspitzen fanden schließlich die Öffnung des Sitzes. Kurz bevor sie den Rand umklammern konnten, spürte Astrid eine feste Hand an ihrem rechten Fußknöchel. Mit aller Kraft trat sie nach unten, rang nach Luft, die ihren Lungen nun endgültig auszugehen drohte. Todesangst breitete sich wie eine lähmende Droge in ihr aus. Panik erfüllte sie, als das Wasser in die Lunge eindrang. Sie konnte nicht verhindern, dass immer mehr folgte und das regelmäßige Atmen verhinderte.
Das Gehirn gab den Gliedmaßen verzweifelt Befehle, die diese jedoch nicht mehr ausführen konnten. Mit angstgeweiteten Augen blickte sie nach unten und erkannte diesen großen Schatten, der sie immer tiefer in die Dunkelheit des Sees zog. Die Konturen verschwammen, alle Bewegungen erstarben. Ein erfüllender Frieden stellte sich ein, als Astrid verstand, dass sie ihren letzten Weg in ein nasses Grab einschlug. Eine einzelne Blase verließ noch ihren Mund, zerplatzte an der jetzt wieder ruhigen Oberfläche. Der Baldeneysee glättete sich, hatte sein Opfer dankbar aufgenommen.
Ein einzelnes Kajak trieb führerlos über den See. Erst das Stauwehr in Werden stoppte die einsame Fahrt.
- Kapitel 2 -
Peter Krüger, Leiter des Drogendezernats, hatte sich in den letzten Monaten zu Svens bestem Freund entwickelt. Die gemeinsame Ermittlung im Fall des ›Serben‹ schweißte die beiden Oberkommissare auf eine angenehme Art zusammen. Sven lehnte am Fenster und betrachtete das Treiben vor dem gegenüberliegenden Gerichtsgebäude, als ihn die Frage des Freundes wieder in die Realität zurückholte.
»Haben euch die drei Wochen in Thailand wenigstens was gebracht? Du hast noch kein Wort darüber verloren. Erzähl mal, wo habt ihr euch rumgetrieben? Vielleicht kenne ich ja den einen oder anderen Ort. War ja schließlich schon etliche Male dort unten.«
Ohne sich umzudrehen, fasste Sven seinen Urlaub mit wenigen Worten zusammen.
»War ganz gut. Wir hatten für eine Woche eine Gruppenreise gebucht, die von Bangkok ganz in den Norden bis zum Goldenen Dreieck führte und wieder zurück nach Hua Hin. Von Chiang Mai aus sind wir wieder nach Süden gefahren. Die zweite Woche in Hua Hin im Hilton hat uns ganz gutgetan.«
»Ja und? Ist das alles, was du zu berichten hast? Du hast eines der schönsten Länder dieser Erde besucht, tausend Tempel gesehen und kannst nicht mehr berichten, als dass die Reise ganz gut war? Verdammt, dann hättest du auch ins Allgäu fahren können. Was ist los mit dir, Sven? Da ist doch was. Hat es mit diesem Pehling zu tun, mit dieser Geschichte am Baldeneysee?«
Svens Körper straffte sich. Er spürte die fragenden Blicke in seinem Rücken, wollte dem Thema ausweichen.
»Ich weiß ja, dass es mich nichts angeht, aber die Sache mit Karin und diesem Killer hat uns verdammt noch mal alle sehr beschäftigt. Jeder hier im Präsidium hat sich seine Gedanken gemacht. Wir können ...«
»Ihr macht euch Gedanken? Schön, dass ihr euch alle solche Sorgen über unsere Zukunft macht. Doch damit werden wir schon alleine fertig.«
»Da bin ich aber anderer Meinung, Sven. Ob es dir passt oder nicht, du wirst es dir anhören müssen, was die Kollegen darüber denken. Dieser Pehling ist nicht nur euer Problem, mein Lieber, den sucht die halbe Nation. Keiner von uns kann sich ein Urteil darüber erlauben, warum Karin seine Flucht womöglich gedeckt hat. Außerdem ist es ja überhaupt nicht bewiesen, dass sie es wirklich tat.«
»Sie hat ihn nicht aufgehalten, hat uns nicht über seine Flucht informiert. Das reicht doch, oder?«
»So, so, dir reicht das, du eifersüchtiger Hahn. Wie schön für dich. Was hätte sie deiner Meinung nach tun sollen? Sie hatte doch keine Chance gegen das Tier. Sollte sie ihn mit bloßen Händen aufhalten, ihn mit ihren spitzen Schuhabsätzen bedrohen? Sie konnte ihm doch nur folgen und hilflos zusehen, wie er flüchtet. Anstatt dankbar dafür zu sein, dass sie den Vorfall überlebt hat, verurteilst du sie noch. Er hat sie verschont, mein lieber Freund. Dank dem Herrn dafür, dass er sie nicht mitgenommen und umgebracht hat. Du tust ja fast so, als hätte sie ihm ins Boot geholfen und seine Flucht vorbereitet. Hast du sie noch alle?«
Peter erkannte deutlich, wie sich Svens Hände in den Taschen zu Fäusten ballten, sich seine Gesichtszüge verhärteten. Er erwartete jeden Augenblick, dass er sich auf ihn stürzte. Krassnitz öffnete die Tür und blieb einen Moment abwartend stehen. Sie spürte deutlich das Knistern zwischen den Freunden. Vorsichtig klopfte sie an den Türrahmen.
»Hallo, Erde an die kämpfenden Truppen. Darf ich die Herren dienstlich ansprechen oder soll ich den Ausgang des Gefechtes abwarten? Hier gibt es noch ganz alltägliche Dinge zu erledigen. Wir hätten da möglicherweise einen kleinen Mord im Angebot.«
»Das ist Angelegenheit von diesem Sturkopf. Ich werde mich dann mal um meine Drogenkunden kümmern. Krassnitz, haben Sie Kernseife da? Dann waschen Sie diesem Trottel mal den Kopf. Und nicht vergessen, hinter den Ohren auch.«
Peter Krüger duckte sich geschickt unter dem heranfliegenden Locher weg und sortierte seinen Pferdeschwanz wieder über die Schulter. Grinsend verließ er das Büro. Krassnitz meldete sich noch einmal zu Wort.
»Chef, wir haben eine vermisste Frau in Werden.«
»Wo treibt sich Hörster rum? Ich brauch den Besitzer des Bootes. Der soll die Nummer überprüfen und herausfinden, wo der normale Liegeplatz des Kajaks war. Selbst wenn es zu Hause gelagert wird, muss es ja irgendjemandem gehören. Wer hat das Kajak gefunden?«
»Die Frau steht da hinten an der Bank neben dem Kollegen. Die hat wohl ihren Hund ausgeführt und das Boot vor der Staumauer entdeckt. Vorsicht bei dem Hund, der ist ziemlich nervös und fletscht die Zähne. Habe die Frau schon deutlich darauf hingewiesen, dass ihr Hund einen Maulkorb benötigt. Bin froh, dass die mich nicht anschließend selbst gebissen hat. Vielleicht haben Sie mehr Glück bei der Furie.«
»Lieber Kollege, Sie sollten etwas vorsichtiger mit Ihren Ausdrücken umgehen. Der Hund hat vielleicht nur auf Ihre Uniform reagiert, was häufig vorkommt. Und die Frau wird vielleicht nicht gerne von oben herab belehrt. Ich kümmere mich darum. Und Sie bemühen sich bitte um die Besitzer des Bootes.«
Sven war es egal, ob er nun einen Feind mehr unter den Polizeikollegen hatte. Er mochte es nicht, wenn man Menschen in dieser unziemlichen Weise bezeichnet. Es sei denn, sie hatten es auf Grund ihrer Taten verdient. Auch ihm rutschte bei seinen Kunden hier und da mal ein Schimpfwort raus. Am Boot fand er endlich seinen Stellvertreter Hörster.
»Was sagen denn die Ämter über die Fließgeschwindigkeit der Ruhr hier vor dem Wehr? Vielleicht können wir, wenn wir das Bootshaus gefunden haben, einen Zeitpunkt ermitteln, an dem das Boot führerlos wurde. Es besteht ja immerhin noch die Möglichkeit, dass sich das Kajak von allein selbstständig machte und der Besitzer es noch nicht bemerkte. Ich möchte jetzt noch nicht die Taucher rausschicken, bevor das nicht geklärt ist. Sagen Sie Krassnitz, sie möchte bitte sämtliche Vermisstenmeldungen aus der Nacht durchgehen. Das könnte uns ja Hinweise geben. Wie ich sehe, sind die Kollegen von der Wasserschutzpolizei schon fleißig und suchen das Ufer ab.«
»Der Kahn ist auf einen Klaus Wehring aus Wattenscheid zugelassen. Zumindest steht das auf dem Schild im Boot. Jetzt können wir nur hoffen, dass er es nicht zwischenzeitlich verkauft hat und der neue Besitzer vergaß, das Schild zu aktualisieren. Krassnitz sucht schon nach einem solchen Mann in der Vermisstenliste.«
»Gut, Hörster. Ich hatte das gerade auch in Auftrag gegeben. Adresse haben wir?«
Das Telefon unterbrach das Gespräch der beiden.
»Chef. Bingo. Dieser Klaus Wehring hat seine Frau noch in der Nacht als vermisst gemeldet. Sie wollte ihre übliche Kajaktour abreißen. Das gehörte zu ihrem Fitnessprogramm. Er selbst hatte gestern Abend eine geschäftliche Besprechung und konnte nicht teilnehmen. Soll ich Ihnen die Telefonnummer geben?«
»Danke Krassnitz. Dann können wir ja mit der Suche im Wasser beginnen. Hörster, Sie fordern bitte die Taucher an. Klären Sie bitte mit den Kollegen der Wasserschutzpolizei, wo die Frau ins Wasser gefallen sein kann, wenn wir die Fließgeschwindigkeit und die Zeit in Relation setzen. Natürlich bleibt immer noch der Unsicherheitsfaktor, wie lange das Boot schon hier liegt. Egal, ich fahre zu diesem Wehring.«
- Kapitel 3 -
Unbändige Wut stieg in ihm auf. Diese verfluchte Sensationspresse hatte einmal mehr einen Aufmacher geliefert, der Elmar Pehling in Rage versetzte. Irrer Mörder richtet mutmaßlichen Bandenboss. In dem Artikel beschrieb ein Journalist seine Sicht der weitestgehend erfolglosen Ermittlungen der Polizei bis zum gewaltsamen und schrecklichen Tod eines Mannes, den bisher noch kein Gericht schuldig gesprochen hatte. Eine eigens dafür gegründete Soko war nicht in der Lage, einen mutmaßlichen Gewaltverbrecher zur Strecke zu bringen. Erst ein langgesuchter Serienmörder machte kurzen Prozess mit einem Mann, dessen Schuld bisher nie bewiesen werden konnte. Welche stillen Verbindungen gibt es zwischen der Polizei und diesem irren Mörder? Handelt es sich bei dem brutalen Rächer, der Selbstjustiz übt, um den langgesuchten Massenmörder Pehling? Warum schont die Justiz diesen Irren? Alles Fragen, denen man seitens der Presse nun nachgehen würde.
Auf der gleichen Seite veröffentlichte man ein Statement eines Mannes, der eigens aus Serbien angereist war, um die Umstände des Todes seines geliebten Bruders zu hinterfragen. Für Hinweise, die zur Ergreifung des Killers führten, hatte er privat eine Belohnung in Höhe von siebzigtausend Euro ausgesetzt. Eine Telefonnummer, unter der man sich melden konnte, war ebenfalls abgedruckt worden. Die Jagd auf den Mörder eines bisher Unschuldigen war eröffnet. Der Journalist ließ in dem Artikel sogar zu, dass sich dieser Stojan Kladicz darüber ausließ, dass es zu einer Vorverurteilung seines Bruders in der Öffentlichkeit gekommen war, da er einen Migrationshintergrund besaß. In Deutschland erführe man allein damit schon eine Stigmatisierung.
Pehling fuhr sich über den noch ungewohnten Bart, den er sich in den letzten Wochen hatte wachsen lassen. An die Brille, die er mit Fensterglas hatte anfertigen lassen, konnte er sich einfach nicht gewöhnen. Immer wieder rückte er sie auf der Nase zurecht. Wann immer es möglich war, verzichtete er auf das Tragen dieses Folterwerkzeugs, wie er sie nannte. Einige Gäste an den Nebentischen blickten entrüstet zu ihm rüber, als er heftiger als beabsichtigt die Zeitung auf die Tischplatte knallte. Man schätzte ihn als ruhigen, zufriedenen Gast, der immer wieder ein nettes Wort für das Personal übrig hatte. Niemals wäre man auf die Idee gekommen, dass sich hinter dem derzeit überall angesagten Rauschebart das Gesicht eines Massenmörders verbergen könnte.
Durch den Ärger, den er beim Lesen der Titelstory verspürte, verpasste er die kleine Meldung auf einer der folgenden Seiten, dass man im Baldeneysee seit gestern nach einer vermissten Frau suchte, die vom Bootsausflug nicht zurückgekehrt war. Die Mordkommission war eingeschaltet worden, da ein Gewaltverbrechen nicht ausgeschlossen werden konnte. Die Polizei ermittelte in alle Richtungen.
Die Suche im Internet, als er den Namen Stojan Kladicz eingab, ergab nichts, was ihm bei seiner Recherche weiterhalf. Es handelte sich bei dem Mann um ein ehemals hochrangiges Mitglied der serbischen Armee, das sich um die Befreiung des serbischen Volkes verdient gemacht haben soll. Das konnte alles oder nichts bedeuten. Auf die Verdienste ging man nicht im Besonderen ein. Lediglich seine Teilhaberschaft an etlichen in Deutschland und international tätigen Firmen weckte Pehlings Neugierde. Für ihn stand fest, dass sich auch die deutschen Behörden nach diesem Artikel mit dem Mann beschäftigen würden. Belohnungen aus privater Hand wurden nicht gerne gesehen, zumal in diesem Fall die Informationen nicht direkt an die Polizei geliefert werden sollten. Selbstjustiz war hier wie überall auf der Welt strafbar.
Pehling nahm sich vor, diesen ominösen Geschäftsmann genauer unter die Lupe zu nehmen. Einerseits konnte er verstehen, wenn Familienmitglieder Rachepläne schmiedeten, hierbei ging es schließlich um seinen Arsch. Doch zuvor wollte er eine Herzensangelegenheit erledigen.
Karin erkannte die hochgewachsene Gestalt schon lange, bevor sie den Mini in die Parklücke setzte. Es würde ihr immer ein Rätsel bleiben, woher dieser Mann stets wusste, wo sie sich genau in diesem Augenblick aufhielt oder aufhalten wollte. Es war kein angenehmes Gefühl, sich ständig beobachtet zu fühlen. Allmählich entwickelte sich bei ihr eine Phobie. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sich eine Person fühlen musste, die permanent von einem Stalker bedrängt wurde. Sie hatte noch mindestens eine Stunde Zeit, bis ihre Freundin Katja zum Quatschen im Café erschien. Langsam ging sie auf den Mann zu, in dem sie auf Anhieb Pehling erkannte. Er konnte sich in das Kostüm eines Pottwals pressen, sie würde ihn immer darin spüren. Es existierte eine Ausstrahlung, die kein zweites Wesen für sie besaß. Karin konnte sich dieser nicht entziehen.
»Gehen wir ein paar Schritte?«
Sie widersprach ihm nicht, als er sich umdrehte. In stiller Erwartung folgte sie ihm zur Bank eines Spielplatzes.
»Woher wussten Sie, wo ...?«
Pehling überging die Frage und betrachtete sie von der Seite. Ein warmer Schauer lief ihr über den Rücken, als er ihr die unerwartete Frage stellte.
»Hat er dich gut behandelt? Du trägst wieder ein Problem in dir – erzähl mir mehr davon.«
Karin hatte genau in diesem Augenblick aufgegeben, sich darüber Gedanken zu machen, warum dieser Mann auch ihre tiefsten Gefühle erkannte. Es machte ihr nichts aus, sich zu öffnen. Pehling wusste mehr von ihr als ihre beste Freundin.
»Wenn Sie Sven meinen – ja, er hat mich in diesen Wochen in Thailand gut behandelt. Er hat es vermieden, mich unter Druck zu setzen. Ich meine damit diese Szene am See. Doch ich weiß, dass er darunter leidet. Er kann sich Ihre Reaktion an diesem Abend genau so wenig erklären, wie ich es kann. Warum haben Sie wieder getötet? War es wieder dieser andere Elmar? Warum wehren Sie sich nicht gegen das Böse in Ihnen? Sie sind stark, Sie müssten es schaffen. Und ich frage mich immer wieder – warum ich?«
Immer noch betrachte er sie von der Seite fast mitleidig, schließlich amüsiert. Doch seine Stimme besaß plötzlich eine unüberhörbare Traurigkeit. Sie schmeichelte sich fast in sie ein, fesselte sie in einer besonderen Art.
»Du kennst ihn nicht. Er ist sehr schlau. Jetzt in diesem Augenblick hört er uns aufmerksam zu, sucht nach unseren Schwachstellen. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass er dich ein wenig mag. Du wirst es dir nicht vorstellen können, aber dieser Mistkerl da drin mag dich tatsächlich. Verstehe das bitte nicht falsch, Karin. Ich mache dich jetzt nicht auf eine billige Art an. Nein. Ich freue mich tatsächlich darüber, dass du dich mit Sven so gut verstehst. Doch du hast ein Recht darauf, es zu erfahren. Dieser Teufel in mir schätzt dich. Und ich kann ihn gut verstehen.«
Karin sprang auf, wollte sich entfernen. Ihre Augen zeigten plötzlich Panik. Pehling zog sie am Arm zurück und sah ihr bittend ins Gesicht.
»Sei mir nicht böse, aber du wolltest doch die Wahrheit wissen. Jetzt hast du sie gehört. Damit müssen wir beide leben. Doch du bist mir ausgewichen. Was steht zwischen dir und Sven? Du musst darüber reden, sonst frisst es dich auf. Wir sprachen doch schon einmal darüber. Ich möchte dir helfen, weil auch du mir geholfen hast.«
»Ich habe Ihnen nicht geholfen. Sie verstehen das völlig falsch.«
»Du hättest schreien können. Du hättest zulassen können, dass er mich auf dem Boot erschießt. Du hast dich ihm in den Weg gestellt. Das werde ich dir niemals vergessen. Lass mich dir helfen, wie es mir möglich ist – bitte. Du hast es ihm erzählt?«
Die letzte Frage traf Karin völlig überraschend. Warum wechselte dieser Pehling immer wieder das Thema? Konnte er tatsächlich in ihren Gedanken lesen? Er legte seine Fingerspitzen zärtlich unter ihr Kinn, als sie sich abwenden wollte, drehte er ihr Gesicht zu sich. Sie blickte in Augen, die ehrliche Sorge ausdrückten.
»Er weiß von meinem Bruder. Es war nicht schlimm. Es tat gut, es ihm endlich sagen zu können.«
»Siehst du, ich habe es dir gesagt. Du musst Vertrauen zu denen haben, die dich mögen, die dich um deiner selbst lieben – ohne Vorbehalte. Dein Misstrauen ist grundsätzlich berechtigt, denn die Menschen sind egoistischer geworden. Sie nutzen deine Schwächen zu ihrem Vorteil. Doch richte dich an denen auf, die dich vorbehaltlos mögen. Nun genug philosophiert. Wie war deine Zeit in Thailand?«
Dankbar sah sie zu Pehling auf, der einmal mehr geschickt das Thema gewechselt hatte.
»Ich danke Ihnen für Ihre ehrlichen Worte. Aber die Antwort darauf müssen wir verschieben auf ein anderes Mal. Meine Freundin wird schon warten. Gibt es ein anderes Mal?«
Sein Lächeln genoss sie beim Weggehen, verpasste jedoch seine leise gesprochenen Worte.
»Lass Katja nicht warten. Es gibt immer ein nächstes Mal, Karin. Ich bin stets in deiner Nähe.«
Pehling ließ eine nachdenkliche Frau zurück.
- Kapitel 4 -
Der dunkelblaue Maserati Levante war in der breiten Auffahrt zum schicken Einfamilienhaus nicht zu übersehen. Sven parkte seinen Passat direkt daneben und lief eine Runde um diesen außergewöhnlichen SUV. In dem Augenblick, als er seine Nase an die Scheibe der Beifahrertür drückte, erreichten ihn die Worte vom Hauseingang.
»Ist erst sechs Wochen alt. Gefällt Ihnen das Auto?«
Sven erkannte einen sportlich gekleideten großgewachsenen Mann durch die Frontscheibe, der auf ihn zuschlenderte.
»Sie sind bestimmt der Oberkommissar, der sich angemeldet hat. Habe ich recht?«
»Sie haben recht. Und Sie sind Klaus Wehring. Freut mich. Ja, das ist wirklich eine Sahneschnitte. Das ist doch ein Levante, oder? Hatte mal das Vergnügen, das Werk in Modena besuchen zu dürfen. Wenn ich mich recht erinnere, hat man einmal mehr diesen Maserati nach einem Wind benannt. Ich glaube, dass Levante ein Ostwind ist, oder?«
»Wow, ich bin beeindruckt, Herr Spelzer. Das wissen die wenigsten, dass dieser Hersteller immer Windbezeichnungen für seine Typen aussucht. Der Schlitten hat mich von Anfang an begeistert. Gesehen und schon war es ein Must have. Doch Sie sind bestimmt nicht den weiten Weg gefahren, um sich meine Schwärmerei anzuhören. Gehen wir rein?«
Einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die teuren Alufelgen werfend, die alleine schon mehr kosteten, als sein Passat an Zeitwert besaß, folgte er dem Mittdreißiger ins Haus. Auch hier bewies die Familie Wehring ein gutes Auge für geschmackvolle und teure Einrichtung. Sven sank in die breite Wohnlandschaft, in der ihm Klaus Wehring einen Platz anbot.
»Wasser, Limo? Oder lieber was Alkoholisches?«
»Nur einen Kaffee, wenn es keine Umstände bereitet.«
»Kein Problem. Ich muss gestehen, dass ich zu den Müllschaffenden gehöre, die Kapseln benutzen. Dafür trenne ich allerdings sorgfältig den verbleibenden Abfall.«
Während Wehring für einen Augenblick in der Küche verschwand, studierte Sven die Inneneinrichtung. Als er eine kleine Bildergalerie auf dem weißen Sideboard erspähte, stand er auf und nahm eines der Fotos in die Hand. Eine wahre Schönheit, die ihr Gesicht lachend an das des Hausherrn gelegt hatte. Der freche Bubischnitt umrahmte ein feingeschnittenes Gesicht, das ihn spontan an die junge Audrey Hepburn erinnerte. Die anderen gerahmten Fotos zeigten vor allem Klaus Wehring mit allen möglichen Geschäftsleuten, von denen Sven der eine oder andere bekannt vorkam.
»Das ist der ehemalige Maserati General Manager Europa Giulio Pastore. Den habe ich einmal besucht, bevor er von Alberto Cavaggioni abgelöst wurde. Wir sollten eine Software für ihn entwickeln. Die neue Firmenleitung hat das damals abgelehnt. Schade eigentlich. Hätte unsere kleine Firma schon früher aus den roten Zahlen holen können.«
»Interessant. Ich nehme an, das hier ist Ihre Frau?«
»Natürlich, das ist Astrid. Setzen wir uns doch wieder. Sie können mir sicher schon Ergebnisse mitteilen, oder? Haben Sie meine Frau, ich meine Astrid, schon gefunden?«
Sven musste sich eingestehen, dass er seine anfangs positive Meinung über diesen attraktiven Mann mit dem gepflegten Dreitagebart korrigieren musste. Die gefühllose Art, wie er das Problem seiner vermissten Frau anging, stieß bei ihm auf Widerwillen. Coolness gehörte zwar zum Business, doch das konnte man doch nicht eins zu eins auf das Privatleben übertragen. Die Sorge um seine schöne Frau, wenn sie überhaupt vorhanden war, konnte Wehring hervorragend verbergen. Sven ging auf diese Frage nicht ein.
»Sie führen ein IT-Unternehmen, habe ich den Unterlagen entnommen. Erfolgreich?«
»Was meinen Sie damit, Herr Spelzer? Möchten Sie damit wissen, ob mein Unternehmen verschuldet ist und dringend eine Lebensversicherungssumme benötigt? Ist es das?«
Kein Muskel zuckte in Svens Gesicht. Er wartete geduldig auf die Antwort. Die anfängliche Freundlichkeit war bei seinem Gastgeber wie weggewischt.
»Nein, Herr Oberkommissar, wir können uns über fehlende Aufträge nicht beklagen. Ich sehe im Augenblick auch keinerlei Zusammenhang zwischen dem Verschwinden meiner Frau und der Auftragslage meines Unternehmens. Fallen Sie eigentlich immer in dieser Art über die Angehörigen her, die ein Familienmitglied als vermisst melden? Ich persönlich halte das für ziemlich taktlos. Während sich unsereins Sorgen um das Wohlergehen der Familie macht, recherchieren Sie mir gegenüber offen in Richtung einer Täterschaft. Kein guter Einstieg für Sie. Ich wiederhole deshalb meine Frage. Haben Sie irgendetwas Neues zu berichten, was mir eventuell die Sorge nehmen könnte? Wenn nicht, darf ich Sie bitten, erst wiederzukommen, wenn das der Fall ist.«
»Wo liegen Ihre Boote eigentlich? Ich nehme an, dass auch Sie eines besitzen, da ich Sie auf einem der Fotos neben Ihrer Frau gesehen habe. Also, wo sind die Boote stationiert?«
Wehring, der sich bereits erhoben hatte, setzte sich wieder und starrte Sven an.
»Unsere Kajaks haben wir im Yachthafen von Haus Scheppen deponiert. Einige Geschäftsfreunde haben ...«
»Warum sind Sie an diesem Abend nicht gemeinsam gefahren? War das nicht üblich bei Ihnen?«
»Das liegt an einem Geschäftstermin, einem sehr wichtigen, von dem viel für die Firma abhing.«
Sven zog den kleinen Notizblock aus der Jackentasche und sah Wehring fragend an.
»Wie gesagt, ein Geschäftstermin. Sonst noch was?«
»Sie werden mir sicher den Namen und die Telefonnummer Ihres Geschäftspartners nennen können. Ich höre.«
»Jetzt hören Sie mir mal genau zu, Herr Oberkommissar. Die Art, wie Sie mit mir umgehen, gefällt mir überhaupt nicht. Ich werde das mit meinem Anwalt ...«
Sven erhob sich, steckte die Schreibutensilien wieder weg und wandte sich zur Tür.
»Tun Sie das, Herr Wehring. Ihr Anwalt wird Ihnen bestätigen, dass Sie verpflichtet sind, mir diese Auskünfte zu geben. Sie dürfen mir dann alles auf dem Präsidium ... sagen wir so um 09:30 Uhr in meinem Büro ... darlegen. Ich denke, dass Sie ein hervorragendes Navi in Ihrem Superschlitten haben. Wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
Kurz bevor Sven Spelzer die wuchtige Haustür öffnete, hielt ihn die Stimme von Wehring, jetzt schon wesentlich kleinlauter zurück.
»Es war eine Frau.«
Sven stoppte und drehte sich wieder Wehring zu.
»Name, Adresse? Warum machen Sie daraus so ein Geheimnis?«
»Es war ... also, meine Frau durfte ... verdammt, es war eine Freundin. Muss das denn unbedingt sein, dass dies an die große Glocke kommt?