Morgen ist leider auch noch ein Tag - Tobi Katze - E-Book + Hörbuch

Morgen ist leider auch noch ein Tag Hörbuch

Tobi Katze

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Beschreibung

Diagnose: Depression. Behandlung: mit Humor. Selbstironisch und sehr ehrlich erzählt Tobi Katze von seinem Leben mit der Depression. Nach der Diagnose seines Therapeuten ist er beinahe erleichtert. Endlich hat er einen Namen für das Gefühl, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist: «Ich bin das einzige iPhone 5 in einer Welt voller Android-Telefone. Was allen hilft, passt nicht in meine Anschlüsse.» Die meiste Zeit schließt er sich in seiner Wohnung ein und spricht lieber mit der schmutzigen Wäsche als mit seinen Freunden. Abends übertönt er die Stille in ihm mit Partys, füllt die Leere, wo Gefühle sein sollten, mit Bier und pflanzt sich ein Dauergrinsen ins Gesicht, um ja nicht den Anschein zu erwecken, etwas wäre nicht in Ordnung. Das alles ist furchtbar. Und dann auch wieder furchtbar komisch. Aber spricht man so über Depression? Ja, genau so!

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Zeit:2 Std. 56 min

Sprecher:Tobi Katze

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Tobi Katze

Morgen ist leider auch noch ein Tag

Irgendwie hatte ich von meiner Depression mehr erwartet

Über dieses Buch

Diagnose: Depression. Behandlung: mit Humor.

Selbstironisch und sehr ehrlich erzählt Tobi Katze von seinem Leben mit der Depression. Nach der Diagnose seines Therapeuten ist er beinahe erleichtert. Endlich hat er einen Namen für das Gefühl, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist: «Ich bin das einzige iPhone 5 in einer Welt voller Android-Telefone. Was allen hilft, passt nicht in meine Anschlüsse.»

Die meiste Zeit schließt er sich in seiner Wohnung ein und spricht lieber mit der schmutzigen Wäsche als mit seinen Freunden. Abends übertönt er die Stille in ihm mit Partys, füllt die Leere, wo Gefühle sein sollten, mit Bier und pflanzt sich ein Dauergrinsen ins Gesicht, um ja nicht den Anschein zu erwecken, etwas wäre nicht in Ordnung.

Das alles ist furchtbar. Und dann auch wieder furchtbar komisch. Aber spricht man so über Depression?

Ja, genau so!

Vita

Tobi Katze, geboren 1981, schreibt Kurzgeschichten, Essays, Gedichte und Drehbücher. 2009 schloss er sein Studium der Literatur- und Kulturwissenschaften ab. Seit mehr als zehn Jahren tritt er auf Poetry-Slams und Lesebühnen auf. 2007 gewann er den LesArt-Preis der jungen Literatur und 2014 den Bielefelder Kabarettpreis für sein erstes Bühnenprogramm «rocknrollmitbuchstaben». Im Januar 2014 startete er auf stern.de sein Blog «Das Gegenteil von traurig» über Leben und Arbeit mit Depressionen.

Inhaltsübersicht

MottoBleiStilleMüssen wir jetzt nicht irgendwie heulen?UntertitelDie Unordnung der WeltMinus 9dBEndlich verrücktWahrscheinlich unterschiedlichUnter der HautKopf ganz leichtHolz und Pflanzen und HeimatZwei Stunden, fünfzehn MinutenDer SchwereloseAngst und ZigarettenGanz staubig und scheuSommerschlafRisiken oder Nebenwirkungen?Alle meine FreundeEin Junge aus KuchenRemisKastanien und WasserEin MädchenKontrolleJedi-Mind-TrickKlartextePlutoDiplomatische BeziehungenEin Mann mit Hang zur EmotionNachwortDankLeseprobe «Immer schön die Ballons halten»

Für meinen Bruder, den mutigsten Menschen, den ich kenne

Blei

Morgens bin ich manchmal einfach leer, als sei meine Seele die ganze Nacht gerannt. Erschöpft und verschwitzt will sie dann die Fresse halten und ihr Feierabendbier genießen. Wir sind ein zerstrittenes Ehepaar mit gegenläufigen Schichten.

Wenn ich dann im Bett liege, ist mein Körper Blei. Das Haus könnte brennen, ich hätte trotzdem Probleme damit, meinen Fluchtreflex anzuwerfen. Es ist nicht so, dass ich nicht aufstehen wollte – im Gegenteil. Aber ich bin einfach aus Blei. Aus tiefdunklem, farblosem Blei. Und auf mir liegt eine Decke aus noch mehr Blei. Und der Haufen Klamotten neben meinem Bett, den ich seit zwei Wochen mal dringend waschen sollte, der ist ebenfalls Blei. Und alles, was Forderungen an mich stellen könnte, ist sowieso aus Blei und bremst und liegt auf mir und lässt sich nicht fortdenken und wird mit jedem Gedanken daran noch schwerer.

«Hallo», sagt der Kleiderhaufen neben mir, «du, ich störe dich sehr ungern in deinem Rumliegen, aber magst du mich mal wegräumen? Ich komme mir ganz enorm übersehen vor.»

«Nee, ich seh dich schon», sage ich, «aber wo ist da der Sinn? Wenn ich dich wasche, landest du ja ohnehin wieder genau hier vor meinem Bett. Ich könnte dich in den Schrank räumen, aber ich nehm dich ja eh Stück für Stück wieder raus. Da kann ich dich doch auch gleich liegenlassen.»

«Aber eingeräumt sieht das viel ordentlicher aus.»

«Dieses Schlafzimmer hat seit einem Jahr keinen dauerhaften Besuch gehabt, der sich an Unordnung stören könnte. Der Rest war besoffen.»

«Touché», sagt der Kleiderberg.

Imaginäre Gespräche mit dem Wäschehaufen. Es gibt optimalere Szenarien, einen Tag zu starten, nehme ich an.

Man hat viel Zeit, wenn man nicht aufstehen, aber drüber nachdenken und sich Vorwürfe machen kann. Und verdammt – bin ich da gut drin. Man könnte fast meinen, ich würde das professionell betreiben. Aber wenn sich damit Geld verdienen ließe, würde ich garantiert den Zeitpunkt verpassen, was daraus zu machen.

Rationales Denken hilft mir in solchen Momenten erstaunlich wenig. Den ganzen Tag im Bett zu liegen, weil mich der Frust darüber, im Bett zu liegen, am Aufstehen hindert, ist eine perfide Endlosschleife von geradezu weltironischen Ausmaßen.

Man merkt, ich denke stets positiv. Andere Stärken habe ich an mir noch nicht entdecken können. Angeblich soll ich ja ein recht witziger Typ sein. Irgendwann hat mal jemand beschlossen, meine lethargische Verneinung jedweder Lebensrealität als humoristisch wertvoll anzusehen. Aber mein Dasein als Perpetuum mobile permanenter Frustration zu erleben ist dann doch eher anstrengend.

Wenn ich könnte, würde ich darüber lachen. Aber Lachen ist auch anstrengend.

 

Ich bin da irgendwie reingeschlittert. In mein jetziges «Leben». Wie das eben so ist, würde ich jetzt sagen, wenn ich wüsste, wie das eben so ist. Ich habe studiert, Germanistik, das kann man durchziehen, ohne sich richtig darauf einlassen zu müssen, aber danach habe ich nie wirklich lange bei einer Sache bleiben können. Ich bin hin- und hergetrieben zwischen Nebenjobs und Kunst als Selbstverwirklichung. Habe knallbuntschlimme Flyer in Fußgängerzonen verteilt, morgens um fünf LKWs entladen, sinnfrei Millionen Akten sortiert in den sommeraufgeheizten Katakomben der Innenstadtbüros. Habe Menschen das Gepäck getragen und später Geschichten über sie geschrieben, habe eigentlich alles gemacht – bis auf Panflöten in der Innenstadt spielen. Und dazwischen immer wieder: schreiben, schreiben, schreiben.

Ich habe mich so lange wie möglich vor der Vorstellung gedrückt, dass mein Leben mal eine produktive Richtung annehmen müsste. Und dann stand ich da, mit einem akademischen Abschluss, aber ohne die Fähigkeit, regelmäßige Arbeitszeiten einzuhalten. Meine einzige Entscheidung bis zu diesem Punkt war, mich nicht zu entscheiden. Entscheidungen sind das Schreckgespenst meiner Generation.

Also machte ich das einzig Richtige: Ich ließ mich treiben und tat, was ich schon immer getan habe. Nur dass ich mich seitdem Künstler nenne. Ich schreibe. Schreibe über meine Gedanken und mein Leben und versuche, darin so etwas wie einen Sinn zu finden oder zumindest einen witzigen Widerspruch für ein kurzes Gedicht, das ich dann auf einer Bühne in ein Mikrophon flüstern kann, um den Menschen eine gute Zeit zu bereiten.

Ganz konkret heißt das, dass ich eigentlich tun und lassen kann, was ich will.

Aber ich will nichts. Nur liegen und dass alles still ist.

Und dann rede ich mit meinem Wäschehaufen. So langsam beschleicht mich das Gefühl, dass mit mir irgendwas nicht in Ordnung sein könnte.

Wie glücklich ich wäre, das alles nur zu träumen. Die letzten zwei, drei Jahre mit einem Augenaufschlag verschwinden machen zu können. Denn: Seinen Traum zu leben ist ganz schön scheiße, wenn es ein schlechter Traum ist. Oder ein sehr langatmiger, in dem man die meiste Zeit nur lethargisch irgendwo rumliegt und alles reichlich ätzend findet.

Nichts ergibt mehr Sinn, jedes Aufräumen ist ohne Bedeutung, da ich ohnehin jeden Moment aufwachen werde. Ganz sicher werde ich aufwachen, und dann war all die Arbeit im Traum umsonst. Ich bin mir da ganz sicher. Genauso sicher, wie ich bin, dass ich mich da irre.

Es lebt sich konsequenzfrei in diesen Halbwelten. Und Aufwachen ist ein Traum, den ich schon vor langer Zeit aufgegeben habe.

 

Mein Ellenbogen schmerzt, er liegt auf einem Teller mit Brotkrümeln aus Stahl. Keine Ahnung, wie alt die sind. Über eine Woche auf jeden Fall. Die Zeit, sie vergeht so schnell, wenn man sich gut amüsiert …

Jedes Mal beim Einschlafen denke ich mir, diesen Teller aber wirklich mal wegräumen zu müssen. Früher ergab sich das ganz natürlich, egal, ob da neben mir wer im Bett schlief oder nicht – heute ergibt sich gar nichts mehr. Unter sechs Bier ist selten an Schlaf zu denken, aber der Pegel reicht leider nicht, um zumindest verkatert zu sein. Also auch keine Ausrede, nicht aufzustehen.

«Hätte ich letzte Nacht mal mehr gesoffen» ist eine Aussage, die nicht viele unterschreiben können. Aber Ausreden braucht der Mensch – so dringend wie Nahrung und DVD-Spieler. Ohne Ausreden, die man sich selber glauben kann, ist das Liegen-bleiben-Müssen, das Nicht-aufstehen-Können, ein Teufelskreis. Das habe ich gerade schon gesagt. Meine Gedanken kreisen seit Jahren so ziemlich jeden Tag stetig um dieselbe Achse von Schuld und Ursache. Ich fühle mich scheiße, weil ich nicht aufstehen kann, und ich kann nicht aufstehen, weil ich mich deswegen scheiße fühle. Aber erklär das mal einem Menschen. Noch mehr Unverständnis – kann man sich eigentlich nur noch selbst entgegenbringen.

Vielleicht sollte ich mal mit jemandem darüber reden. Meinem Therapeuten zum Beispiel. Andererseits: Da müsste man hingehen. Was Aufstehen bedeutet. Praktikable Lösungen sehen anders aus.

Ich frage mich wirklich, wie die Leute das machen. Allein die Vorstellung, jeden Morgen ohne jegliches Ringen mit sich selbst einfach aufzustehen … Wahrscheinlich braucht man dafür eines dieser berühmten Ziele, aber mein Ziel für heute ist mir noch nicht offensichtlich. Es gibt so viele Dinge zu tun, aber nichts, was mich treibt. Mal die viel zu fettigen Haare waschen – wäre doch ein nettes Ziel. Scheint mir in der Theorie sogar ganz machbar. Anderes – nicht so sehr.

Ich würde zum Beispiel ganz gerne eine neue Bühnennummer schreiben, damit Menschen wieder lachen können. Irgendwie ist das ja mein Job, aber Themen finden sich so schwer, wenn man nur im Bett liegt und auf Facebook behauptet, Schriftsteller zu sein. Denn der Blick in die Welt, über die sich zu schreiben lohnte, ist von meinem Bett aus recht begrenzt. Ich kann ins Wohnzimmer linsen, und was ich da sehe, ist nicht gerade vielversprechend. Und durchs Wohnzimmer hindurch in den Flur – da ist nur große, müde Dunkelheit.

Es wäre heller beziehungsweise könnte es dort und in mir selbst heller sein, wenn ich es denn schaffte, die Glühbirne im Flurlicht auszutauschen. Das wäre auch mal so ’n Ziel, denke ich. Es müssen ja nicht immer die großen Dinge sein. Eigentlich wäre ich schon froh, heute nicht im Bett zu verhungern. Lampe wäre so das Highlight. Oh Mann.

 

Jemand hüstelt dezent. Ist wahrscheinlich der Wäschehaufen.

«Ich hab dich nicht vergessen. Nur keine Lust.»

Meine Psyche möchte mir in solchen Momenten sicher etwas mitteilen. Aber für die Zukunft erwarte ich eine schlüssige Argumentationskette und klare Kommunikation.

«Ich setz dich auf meine To-do-Liste, wie wär das?», schiebe ich hinterher, um die Wäsche zu beruhigen.

«Ach, fick dich», sagt die Wäsche.

Richtig toll, mit sich und den eigenen Bedürfnissen im Einklang zu sein. Immerhin motiviert mich diese herzerwärmende Konversation aufzustehen – allerdings nur, um den Wäscheberg demonstrativ zu ignorieren. Ich könnte ihn waschen und wegräumen – aber den Teufel werde ich tun. Man muss auch mal Grenzen setzen. Den Pflichten Grenzen setzen. Sonst tanzt einem das eigene Ordnungsempfinden irgendwann auf der Nase rum.

«In your face, organisierter Haushalt», flötet mein Bewusstsein also und lässt mich leichtfüßig aus dem Bett über Hosen, Socken und T-Shirts ins Wohnzimmer schlurfen, ohne auch nur einmal das Parkett zu berühren.

Mein Leben ist so voller Widersprüche, dass ich mich manchmal dafür bewundere, immer noch aufrichtig davon verwirrt zu sein.

Stille

«Katze!»

Jones schwenkt ihre Arme euphorisch über die Köpfe der Bedienungen, die so zielsicher unchaotisch zwischen den Tischen umherschweben, dass sie im Menschenwirbel der Bar mein Fels und Ruhepunkt sein können. So wie man sich bei Seegang einen Fixpunkt an Land sucht, so suche ich ihn unter Menschen, damit mich die Bewegungen und Geräusche, die Masse an Leben nicht aus dem Gleichgewicht bringen.

Das Haus zu verlassen ist eine Flucht vor dem Sichverstecken. Ich habe den ganzen Tag, verdammt, das fällt mir gerade auf, die ganze verschissene Woche, wie gelähmt im Bett verbracht. Aber abends rausgehen – ist kein Thema. Es muss mich nur etwas ziehen. Bier zum Beispiel. Mir selbst diesen Widerspruch zu erklären ist mir bisher noch nicht gelungen. Ich verstecke mich, vor Menschen und Leben, und dieses Verstecken führt mich manchmal unter Leute, um wenigstens den Gedanken daran, wie furchtbar ich mich selber und mein gelähmtes Liegen finde, stummzusaufen. Oder leiser.

Jones zu treffen ist ein Bonus, mehr nicht. Freunde treffen ist nichts, was ich wirklich gerne tue. Es ist Teil einer Maske: bloß niemand merken lassen, dass ich allein und nirgendwo sein will. Niemand darf das merken, damit ich es selbst nicht merke. Ergibt das irgendeinen Sinn? Nein? Gut, dann deckt sich das mit dem Rest meines Lebens.

Ich kann mich unter zahllosen Menschen einsam fühlen und mich gleichzeitig für dieses Gefühl verachten, weil es mir wahnsinnig unoriginell vorkommt. Ich meine, man nimmt an so vielem Teil, wenn man sich zwischen feiernden Menschen hindurchquetscht, an Gesprächen und Gerüchen, hat erstaunlich intime Körperkontakte mit Ellenbogen und Ärschen, die sich an einem vorbeireiben, aber Teil davon ist man trotzdem nicht.

Ich kämpfe mich durch ein Kreuzfeuer aus Querschlägern. Ich bekomme Dinge ab, aber ganz sicher nichts, was für mich bestimmt ist. Die ganze gute Laune zum Beispiel, die nicht meine ist. Wie ein Treppenhaus zur Mittagszeit. Fremde Mittagsdüfte schleichen mir in die Nase, aber wenn ich die Wohnung aufschließe, köchelt da nichts für mich, und im Kühlschrank nur abgelaufene Mayonnaise. Oder, schlimmer, nicht abgelaufene Mayonnaise. Die ich dann leider auch noch essen kann. Pur. Mit einem Löffel.

Jones schwenkt inzwischen nichts mehr, starrt nur durch die Crazy Party People hindurch, als wolle sie die Masse teilen wie das Schwarze Meer. Oder einfach zerteilen. Kann man bei ihr nicht so genau sagen. Misanthropie ist ein Hobby von ihr, genauso wie überschäumende Euphorie mit nahtlosem Übergang in Zynismus. Galgenhumor sagt sie manchmal dazu, aber mir mag nie aufgehen, an welchem Galgen dieses hübsche, talentierte Mädchen nun genau hängen soll. Ist alles nur Attitüde, sagen die schwarzen Fingernägel, als sie sich um ihre halbvolle Bierflasche schließen, die Sekunden später geleert vom Mund zurück auf den nikotingebeizten Holztisch wandert.

Scheiße, denke ich, Jones hat gut vorgelegt, da musst du nachziehen. Also winke ich Meret an der Theke ein kurzes «Hallo» zu, sodass mir irgendwer ein Bier in die Hand drücken wird. Es hat Vorteile, Stammgast zu sein.

 

Wir kommen seit Jahren hierher, Jones und ich, in den Laden mit diesem unfassbar bescheuerten Namen. Blume. Wer nennt seine Kneipe so? Und vor allem: Warum? Keine Ahnung, ob das wegen diesem Dings oben auf dem Bier so heißt oder wegen romantischem Grünzeugs. Passt aber beides nicht, denn alles ist aus dunklem Holz hier, und Bier gibt’s nur in Flaschen. Dortmund halt. Aber die Blume ist mehr für uns als eine Kneipe. Hier können wir einfach sein, ohne uns beweisen zu müssen, niemand, der urteilt. Wir tauchen unter. Ich glaube, das hat uns immer verbunden. Zwei Taucher im selben stillen See.

Die ersten Worte, die wir je gewechselt haben, gingen gemeinsam mit uns in einem stürmischen Ozean aus Pearl Jam unter. Beide waren wir Anfang zwanzig und auf Landgang gewesen, an die Schrankwand irgendeiner WG-Küche gespült. Partys waren schon früher wie Wasser für mich und ich ein davon umspielter Fremdkörper, meilenweit zu erkennen. Ein Fels ohne Brandung. Ich betrachtete das formlose Treiben rings um mich, die mir rätselhafte Leichtigkeit, mit welcher die Leute ins Gespräch kamen. Und mir gegenüber stand Jones, die mir mit ihrem schweigenden, schweren Blick voller Nichtverstehen unter Wasser Tauchergrüße zuwarf. Vier Flaschen lang standen wir uns gegenüber, tranken, um die Menschen zu ertragen. Bier war unser Sauerstoff, den wir zum Überleben brauchten. Er ist es bis heute.

Dann nickten wir uns irgendwann zu und versuchten, etwas zu sagen.

«Ist dein Bier auch leer?» war meine Frage gewesen.

«Ich möchte nicht hier sein. Ich möchte nirgendwo sein», hatte sie geantwortet, und beides hatte Eddie Vedder verschluckt.

Wir verstanden uns nicht, sahen nur bewegte Münder, und auf einmal war keiner von uns mehr allein damit, die Dinge um sich herum nicht zu begreifen. Seither verstehen wir gemeinsam die Dinge nicht und schwimmen in regelmäßigen Abständen in angrenzenden Gewässern ein Stück des Weges zusammen.

Jones malt, wofür mir die Worte fehlen, in lebensverwirrtem Aquarell und schwerem Öl. Sie malt, was sie nicht versteht, damit andere es für sie tun. Wirft ihre Verwirrung auf Hauswände mit Sprühdosen, mit fein gestochener Tinte auf ihre eigene und manchmal fremde Haut. Vielleicht, um all das abzugeben, loszulassen, zu erzählen. Und was Jones sich nicht erlaubt, sich nicht erlauben kann, loszulassen, das schreibe ich fest in meinen Geschichten, damit es einen Namen hat, gebannt werden kann und nicht gefürchtet werden muss von uns. So tun wir es seit Jahren.

Und immer mal wieder, wenn die Zeit und wir es brauchen, schaffen wir eine kleine, furchtlose Stunde für uns. Wie heute, und es bleibt unausgesprochen, was da geschieht. Es geschieht einfach.

Ich ziehe die letzten Meter allein meine Bahnen durch die Menschenmenge der Bar, und dann, endlich, schiebe ich mich neben Jones. Ihre Lederjacke quietscht, als sie lächelnd die Arme hinter den Kopf schiebt, um ihre schwarzen Haare festzuzurren.

«Starke Jacke», sage ich. «Aber man versteht dich kaum, wenn du dich bewegst.»

Jones grinst nur breit und bewegt die Arme flügelschlagend auf und ab.

«Katzerich …», flötet sie unter all dem Lederjackengequieke, «ich bin ein Vogel. Ein quietschender, bösartiger Vogel.»

Dann lacht sie und schlingt einen Arm um mich.

«Ist schön, dich zu sehen. Wie geht’s dir, Alter?»

«Meine Wohnung ist der Vorgarten von Mordor, und jedes Mal, wenn ich in den Kühlschrank schaue, überkommt mich der unbändige Wunsch, diesen Teller Nudeln wegzuwerfen, zu dem ich irgendwie eine ungesunde Bindung aufgebaut habe. Aber ich bringe es nicht übers Herz.»

Sie funkelt mich erschreckend unirritiert an und schweigt.

«Außerdem spricht meine schmutzige Wäsche mit mir.»

«Tobi … du bist schon einer von den Verrückten», sagt sie dann gestelzt versöhnlich und winkt fahrig in die Leere der menschlichen Masse vor uns.

«Findest du es nicht auch furchtbar still hier?»

Über die Musik und die durcheinanderschießenden Worte, das Gläserklirren und die vibrierenden Blicke hinweg ist ihre Stimme kaum zu vernehmen, und doch ist es still. Der Tresen belagert mit Pinnchen und verwaschenen Existenzen, die über Erikas, Birgits und Manfreds reden und wo die alle hin sind, verschwunden aus ihren Leben, und dann weitertrinken. Die Discokugel zerstückelt buntes Licht zwischen Band-Plakaten und kämpft gegen die Dunkelheit an, die über den Boden heraufkriecht. Der Wirt mit dem Iro reicht Bier an die dahinter gedrängten Studenten, die sich zwischen blutroten Tischkerzen intelligente Anekdoten über die dunklen Holztische zubrüllen, Bierflaschen aneinanderstoßen.

Sie alle sind still. Nicht akustisch. Nicht lautlos. Aber wirkungslos. Es ist alles da, es scharrt und schnarrt und stampft, aber es scheint mir nicht echt, nicht echt in dem Sinne, wie mir diese Stille derzeit echt erscheint. Es ist wie ein Fernsehbild, ein Fernsehton – nicht ganz in meiner Realität. Abgekapselt und wiedergegeben, aber nicht erlebt.

 

«Findest du es nicht auch furchtbar still hier?»

Ich verstehe Jones’ Worte und den Sinn, aber was antwortet man darauf? Männer sind nicht verloren in einer Welt, die so viel lebendiger ist als sie selbst. Männer haben Kontrolle. Über Emotionen und das Leben. Schwäche zeigen als Stärke zu sehen ist eine wunderschöne Utopie, die aber selbst tief in mir keinen Sinn ergeben will.

Ich sage nichts, obwohl ich schreien will, dass mich das alles nicht berührt, dass ich weiß, was sie meint. Aber ich mache nur einen dummen Scherz und brülle: «WAS? – ICH VERSTEH DICH NICHT!» Was für eine beschissene Scheiße.

Diese Maske ist so fest angewachsen und Teil von mir, ich bekomme sie nicht runter. Nicht einmal vor Jones, die jedes Stück meiner Seele auswendig kennt. Und vielleicht sogar besser als ich selbst. Sie kann sehen, was ich nicht sehen will, und hat längst zusammengefügt, was ich als unbegreiflich widersprüchlich empfinde. Ein Schweigen, zwei Menschen. Jones und ich.

Ansonsten geht der Abend aber. Nur dieses Stille-Ding, das ist schon hinderlich beim Seelenfrieden. Wahrscheinlich brauche ich einfach Bier. Schreie ich also wieder, betont zu laut: «ICH BRAUCH ENDLICH EIN BIER!», und dann warte ich ab, was Jones so sagt, aber Jones sagt gar nichts mehr. Und so schauen wir beide weiter in diese aufflackernde Geräuschkulisse, die nur Akustik, aber keine Regungen produziert, und mischen unser Schweigen sanft und gleichmäßig mit hinzu in den Raum, der es bereitwillig aufnimmt.

Vielleicht hoffe ich, dass mein Schweigen sich neben ihres setzt, dass sie sich in ihrer Stille nicht alleine fühlt. Aber mein Schweigen ist zu schüchtern, um richtig verstanden zu werden. Ihres hingegen ist fast schon hart in diesem Moment, mehr Spundwand, an der die Menschen zerschellen, denn Sandstrand, an dem die Gespräche sich totlaufen. Was Stille doch sagen kann.

«Hier, dein Bier», flötet Meret und fährt sich verschmitzt durch ihr rosenrotes Haar, während sie die Flasche elegant auf den Tisch schiebt.

«Du bist die beste Bedienung der Welt», sage ich kurz und lächle ihr so lange penetrant entgegen, bis sie wieder in der dunklen Stille verschwindet.

Schweigend trinken wir, schaffen es zwei Liter weit, ohne auch nur ein Wort zu wechseln. Jones genießt wahrscheinlich die idyllische Lautlosigkeit des Seins. Ich versuche, darin nicht zu ertrinken und gleichzeitig nicht von so viel Bedeutungslosigkeit in diesem Raum verzehrt zu werden.

Nach meinen Standards ist das eigentlich ein ganz guter Abend: Immerhin habe ich was getrunken und war unter Menschen. So geht das ja angeblich, dieses Sichamüsieren, Freundetreffen, Ausgehen. Man macht das ja so.

Am Ende stehen wir wortlos auf. Wir versuchen das zumindest. Jones gibt direkt auf und lässt sich unter kreischendem Lachen auf den Boden kullern. Die Melancholie verpufft, meine Hand greift unter ihren Arm und zieht sie zurück in eine sozial akzeptierte Haltung.

«Katzerich … ich bin doch kein Vogel.»

«Nicht?»

«Nein. Ich bin ein … weiß ich nicht. Vielleicht ein Vogel.»

«Hast du grad schon gesagt, Jones.»

«Ja?»

«Werd mal weniger betrunken, sonst nenn ich dich Johanna.»

Jones strafft sich augenblicklich, als hätte sie nie ein Bier getrunken. Oder höchstens die Hälfte. Man muss nur die Schwachstelle kennen.

«Trägst du mich nach Hause?»

«Aber klar doch, Johanna.»

«Geht schon wieder.»

Draußen fallen wir zweimal um. Vielleicht dreimal. Zählen ist eine gemeinsame Schwäche von uns. Wir können eher gut mit Worten.

«Du bist ’n guter … äh … scheiße.»

«Freund?»

«Nee, das andere …»

«Typ?»

«Nee. Warte. Doch. Du bist ’n … Typ … glaub ich.»

«Und du … auch.»

Und wir meinen das vollkommen ehrlich. Auch wenn wir nicht genau wissen, was nun eigentlich genau.

Müssen wir jetzt nicht irgendwie heulen?

«Mensch, Herr Katze, was bedrückt Sie?», fragt mein Therapeut.

«Diese Teppichfarbe», sage ich, «vor allem diese Teppichfarbe. Ich bin erstaunt, dass Sie als Mensch noch so einwandfrei funktionieren.»

Der Teppich ist aber auch wirklich zum Kotzen. Orientalisch verschwurbeltes Popelgrün mit deutlich fehlgeschlagenen Ambitionen, es einmal zur Leopardenoptik zu bringen. Da muss man schon derbe einen an der Murmel haben, denke ich bei mir, um so was auch nur ansatzweise schön finden zu können. Oder halt Therapeut werden.

Mein Therapeut allerdings hat sie noch erstaunlich alle beisammen und ist dazu auch noch geduldig. Er lächelt. Ich fläze mich in meinem Sessel. Hinter mir tollt ein Haufen Kuscheltiere verstörend intim auf einer Matratzenlandschaft herum. Und Farne. Überall Farne. Boden: Farne. Fensterbank: Farne. Tisch: Farne. Ja. Plural. Neben der Tür: Farne. Überall wächst irgendwas, und wenn nichts wächst, dann sind da kopulierende Kuscheltiere oder eben Sessel, von denen aus wir diesen sexuell aufgeladenen Dschungelnachbau in all seiner Detailtreue betrachten müssen.

Schon irre, was einem so alles auffällt, wenn man krampfhaft versucht, sich nicht mit sich selbst zu beschäftigen. Wahrscheinlich stehen da eigentlich nur zwei Gewächse traurig irgendwo herum, und ein Stoffaffe ist über den kleinen Elefanten gestolpert, aber ich male mir die Realität immer groß und verstörend, wenn ich das Gefühl habe, im Mittelpunkt zu stehen.

Schauen Sie doch mal, hier, diese Vase, die ist doch nun wesentlich spannender als ich. Ikea, sagen Sie? Das ist ja allerhand. Solche Gedanken spuken dann in meinem Kopf umher. Einem wird ja beigebracht, mehr an die anderen zu denken und weniger an sich selbst. Vielleicht denke ich manchmal ein bisschen zu viel an die anderen. Vielleicht bin ich deswegen hier. Mag aber auch an dieser nicht näher definierten Persönlichkeitsstörung liegen, die ich angeblich mit mir herumtrage. Interessieren täte mich der Grund schon, aber was man nicht weiß, weiß man nicht.

 

Ich komme schon eine ganze Weile hierher, in dieses Farnspektakel von Therapiezimmer.

Zugegeben, ich hatte mich vor einem Jahr bei meinem Hausarzt ein bisschen nebulös ausgedrückt: «Ich hab das Gefühl, es nicht wert zu sein, geliebt zu werden. Ich bin leer. Also, so gefühlsmäßig. Psychisch. Verstehense?»

Das kann ja nun wirklich alles bedeuten. Medizinisch, meine ich.

«Haben Sie Fieber?»

«Nein.»

«Woher wissen Sie das?»

«Ich hab ein Thermometer zu Hause.»

Ich solle dann bitte trotzdem mal kurz den Mund aufmachen. Keine Ahnung, vielleicht gibt’s depressiven Belag auf der Zunge. Ich will jetzt nicht urteilen. Als sich auch da nichts fand, gab man mir schon fast zähneknirschend diese hochpräzise, eloquente Diagnose: «Nicht näher definierte Persönlichkeitsstörung.»

Wow.

Merke: Wenn du dich scheiße fühlst, ohne Belag auf der Zunge zu haben – hast du eine gestörte Persönlichkeit. Mit so einer dezidierten Diagnose darf man dann aber auch wirklich zum Psychologen. Vorher natürlich nicht. Da muss schon ein Fachmann einmal in den Mund reingucken. Um die Simulanten auszusortieren. Was weiß ich, Medizin ist ein komplexes Feld. Das ist ja clever gemacht in unserem Gesundheitssystem. Nicht dass irgendwann jeder zum Psychologen rennt, nur weil er morgens nicht aus dem Bett kommt. Das wäre ja was. Nein, da muss schon ein «richtiger» Arzt vorgeschaltet sein, dem man dann sagt: «Es geht mir nicht gut, so mental.»

Und dann fragt der Arzt: «Also mental geht es Ihnen nicht so gut?»

«Ja, genau», antwortet man dann. «Mental.»

Daraufhin lehnt der Arzt sich grübelnd zurück, faltet die Finger und spricht mit Grabesstimme: «Ich habe herausgefunden, dass es Ihnen nicht so gut geht. Mental. Ich schreibe das jetzt hier auf einen Zettel. Damit ist es offiziell.»

«Da hat sich Ihr Medizinstudium aber gelohnt», spricht man ehrfürchtig, verlässt die Praxis, und ein knappes halbes Jahrhundert später hat man dann schon einen Therapieplatz. Das ist ein richtig durchdachtes System für Menschen, die es oftmals nicht einmal schaffen aufzustehen. Wenig Aufwand. Einfach schön gemacht. Die Wartezeit kann man gut mit Liegen rumbekommen. Oder dem Versuch, sich nicht umzubringen. Das klappt meistens. Und dann tritt man, wie ich, jede Woche einmal in ein farnverziertes, helles Zimmer und darf sich in einen Sessel setzen. Und reden.

Wir reden, über mich, die Welt, das Wetter, meine Exfreundin, meine Eltern, Schwestern. Mal wird nachgefragt, mal nicht so sehr. Und irgendwie fühlt es sich nicht so an, wie ich mir Therapie immer vorgestellt habe. Ich liege nicht. Keine Couch, kein gar nichts.

«Müssten Sie nicht mal langsam ein bisschen rumtherapieren bei mir?», frage ich ihn, weil mir dieses ewige Zuhören suspekt wird. «Müssen wir uns nicht irgendwie an die Hände fassen und heulen oder so was? Soll ich dem Kuscheltier von meiner Geburt erzählen? Oder einfach ’ne Runde meditativ summen?»

Wie gesagt, ich tue erstaunliche Dinge, wenn es zu vermeiden gilt, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Und gerade, also derzeit, da geht’s ja auch ganz gut. Also, mir. Meine ich. Sollte mein Therapeut besser auch so sehen. Ich will ja nicht wie so ein hilfsbedürftiger Psycho wirken. Ist alles nur Stress.

Scheinbar gelangweilt trippeln meine Finger einen sehr ungeraden Takt. Unsere Blicke spielen Fangen. Irgendwann kann meiner seinem nicht mehr ausweichen, er lächelt schief und zieht Augenbrauen und Schultern entschuldigend nach oben.

«Was denken Sie gerade?», fragt mich mein Therapeut, nachdem wir eine ganze Weile umeinander herumgetänzelt sind, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, wie absolut phantastisch es mir geht.

«Ich denke», sage ich, «dass ich keinen Grund habe zu klagen.»

Mann, Mann, Mann, wie verloren und alleine so ein Satz in einer psychotherapeutischen Praxis doch rumstehen kann. Beeindruckend. Der Satz schaut sich um, ob da noch irgendwas kommt, und muss dann feststellen: nö. Da kommt nichts mehr. Hoffentlich ist der Mann mit diesem Einzelkind der belanglosen Sätze zufrieden. Ich versuche, das auch zu sein, und nicke und presse meine Lippen fest zusammen, ganz fest. Luft durch die Nase rein und raus, rein und wieder raus, nicht heulen, bloß nicht heulen, denke ich. Was soll der Mann denn sonst halten von dir?

«Wenn Ihnen danach sein sollte zu weinen – das wäre völlig in Ordnung», sagt er fast hoffnungsvoll.

«Ach, wir können ruhig noch ein bisschen reden. Wie war Ihr Wochenende?»

«Es soll hier nicht um mich gehen, sondern um Sie, Herr Katze. War Ihr Wochenende denn besonders?»

Was für ein schlauer Fuchs. Wie er das nur macht? Irgendwie finden diese Therapeuten ja mit einer Zielsicherheit, die unter anderen Umständen beängstigend wäre, deine Schwachstelle. Arschlöcher würden so was ausnutzen, aber Therapeuten sind zum Glück keine Arschlöcher, die müssen selber vorher so ein Anti-Arschloch-Seminar besuchen, bevor die bei anderen unter die Mütze gucken dürfen, das ist schon ganz gut geregelt.

Mein Wochenende war ziemlich unspektakulär, ich habe mit Jones stumpf gesoffen und dann zwei Tage alleine und still im Bett gelegen, mich gehasst und es zwischendurch sogar geschafft, Kaffee zu kochen.

«Mein Wochenende war super», sage ich also, «richtig was erlebt.»

«Soso.»

«Jaja.»

«Na dann.»

«Ja.»

Wir schweigen.

«Sie haben im Bett gelegen und die Tapete angestarrt, oder?»

Ich zögere.

«Ja, schon», sage ich dann, «aber das war Raufaser. Das ist irre Action für die Augen.»

«Sie sind ein seltsamer Vogel, Herr Katze», schmunzelt mein Therapeut.

«Ist das Ihre offizielle Meinung, oder haben Sie das jetzt so lapidar daherformuliert?»

«Hochoffiziell», lacht er da, «das geht so in meine Unterlagen.»

«Find ich gut, damit kann ich leben.»

«Ist es denn wichtig für Sie, was andere von Ihnen halten?

«MEINE FRESSE, sind SIE gut», fährt es aus mir heraus. «Das ist ja beängstigend.»

Und bevor er darauf irgendetwas erwidern kann, schiebe ich hinterher: «Und fragen Sie jetzt bitte nicht, warum ich das beängstigend finde. Das war genug Erkenntnis für heute. Ich will ja noch ein bisschen was haben von dieser Therapie.»

Er lacht und streichelt abwesend seinen Farn wie ein treues Haustier. Ein treues, dummes, totes Haustier.

«Ich gebe Ihnen mal eine kleine Aufgabe mit auf den Weg: Versuchen Sie, sich weniger die Gedanken anderer zu machen.»

Er lässt diesen Satz papierfliegergleich durch den Raum gleiten, damit ich Zeit habe, ihn zu verstehen. Wir stehen auf und schauen uns an.

«Wir sehen uns, Herr Katze.»

Dann gibt er mir sanft die Hand und schließt hinter mir die Tür.

Untertitel

Ich bin die ersten Minuten nach meinen Therapiebesuchen immer ein bisschen out-of-this-world, mit den Gedanken ganz bei mir und vergesse, dass noch Dinge wie «die Straße vor der Tür der Praxis» existieren. Nach dem hochtherapeutischen Händedruck zum Abschied trete ich nach draußen und bin regelmäßig geblendet vom Sonnenschein der Realität. Dann schalte ich für gewöhnlich mein Telefon wieder ein und schlendere die ersten Meter raus aus der Praxistür, um die Kurznachrichten und verpassten Anrufe der letzten Stunde zu begutachten. Das ist so ein Ritual, das mir zeigen soll, dass die Welt auf mich wartet. Mich vermisst. Dass es Menschen gibt, die mich brauchen. Leider ist so etwas für den Arsch, wenn da dann nichts passiert ist. Keine Nachrichten. Keine Anrufe. War klar.

Mann, ich glaube, ich würde mich selbst ganz schön ätzend finden, wenn ich von mir wüsste, dass ich so ticke. Also, noch ätzender.

«Tobi?»

Ein Schatten fällt auf mein Smartphone und redet mit mir in einem überquellenden Überfluss viel zu guter Laune für meinen Zustand. Kennt der Schatten mich?

Das ist alles unwirklich, weil ich ja gerade erst quasi aus meinem Kopf herausmarschiere, und dass direkt dahinter so knallhart die reale Welt wieder beginnt, nicht gefiltert durch ein Smartphone, wo man alles noch ein paar Minuten wegdrücken kann, das ist zu diesem speziellen Zeitpunkt einfach schlecht vorstellbar.

Noch während mein Kopf sich hebt, hat der Schatten «Was machst du denn hier?» gefragt. Was ich mal hart unhöflich finde. Ich stehe zwanzig lässige Schritte neben der Praxis meines Psychotherapeuten, und ich habe mir ganz explizit vorgenommen, dass mich hier keiner zu kennen oder zu erkennen hat, weil die Realität erst später beginnt. Ungefähr eine halbe Stunde später, wenn ich an meiner Bushaltestelle stehe, um mit der 460 wieder zurück in die Wirklichkeit zu fahren. Da existieren dann auch wieder Menschen, die von sich aus mit mir interagieren dürfen. Vorher möchte ich ein Geist sein, ganz für mich, und durch Menschen hindurchgehen können. Eine halbe Stunde, die ich brauche, um aus dem reinen Befassen mit mir selbst zurückzuwandern in eine Welt, die nicht nur aus mir besteht. Ich dachte, das Universum hätte das mitbekommen. Hat es anscheinend nicht.

Und so muss ich in ein bekanntes Gesicht schauen. Ohne halbe Stunde Auszeit. Direkt nach der Therapie. Lene lächelt. Aber ich kann nicht zurücklächeln, weil mich das Arschlochtum des Universums grad noch ein bisschen ärgert. Ganz schön egozentrierte Nummer. Aber dass das Universum ein Vollpfosten sein kann, ist ja jetzt nicht die unfassbar große Neuigkeit.

«Hallo», sage ich dann etwas unentschlossen. Das ist mir alles zu spontan hier. Einfach so auf Menschen treffen.

Das Problem hat Lene sicher nicht. Sie freut sich immer, wenn sie Menschen trifft, wenn wir uns treffen und dann redend durch die Welt spazieren. Und auch wenn sie gar nicht wissen kann, dass sie mich vor der Praxis eines Psychologen trifft, bin ich mir dennoch bereits sicher, dass sie bestürzt ist, mich vor der Praxis eines Psychologen zu treffen. Das höre ich in ihrer Stimme.

Aber all das lässt sich Lene natürlich nicht anmerken, sie strahlt einfach nur, dass es sich fast in den Gläsern ihrer schwarz umfassten Brille spiegelt.

«Witzig, was machst du denn hier?» meint eben nicht: «Witzig, was machst du denn hier?», sondern:

Psychotherapie. Oha. Du bist schon ein ganz schöner Honk.

Ich kann das nicht nur glasklar hören, ich kann das förmlich lesen. Unter ihre und alle Worte legen sich bei mir nämlich diese Untertitel, die mir Gespräche übersetzen, in eine Sprache, die ich verstehe.

Dann wehen Wind und ihr ständig bebender, schmaler Körper, der sich immer in drei Richtungen gleichzeitig bewegen will, so voller Energie scheint er mir, Wind und Körper wehen Lene schwungvoll zu mir.

Sie umarmt mich zur Begrüßung, fast zärtlich, aber bevor sie mir mitleidig auf die Schulter klopfen kann, wegen Psychotherapie und Honksein und so, mache ich einen kleinen Schritt zurück. Nähe zu Menschen ist ein seltsames Gefühl in diesem Moment. Ich weiß es nicht genau, mir steht der Sinn nach Sicherheit und Alleinsein. Ich will gerne «Nein» sagen können. Zu allem. Zu dem hier. Aber ich schaue nur verwirrt auf den Boden und tue so, als hätte ich irgendetwas verloren. Ironischerweise stimmt das auch irgendwie. Schätze aber, die Fähigkeit, normal mit mir und anderen Menschen umzugehen, die wird da nicht auf dem Asphalt vor der Praxis rumliegen. Aber schauen kann man ja mal. Schadet nichts. Lene betrachtet ebenso den Boden, und ich merke, wie ihre Blicke auf meinen Asphalt kriechen, meinen Raum. Also schaue ich wieder hoch und sage: «Dachte, ich hätte was verloren.»

Sie lächelt nur und zuckt vergnügt die Schultern.

Ich find’s peinlich, was du hier abziehst, sagen die um sie schwebenden Untertitel.

Aber wir beide sprechen das nicht aus und verhalten uns weiter so, als wäre nichts. Als würden wir uns nur zufällig auf der Straße treffen, einfach so, als hätte sie mich nicht bei meinem großen Geheimnis ertappt und mich dafür verurteilt. Und ich tue so, als fiele mir all dies nicht auf, als sei ich das naive Häuflein Mensch, für welches Lene mich wohl hält, das man ruhig verachten und belügen kann.

Gleichzeitig weiß ich, dass das totaler Kappes ist, was mir mein Herz da einflüstert. Natürlich weiß ich, dass das alles nicht stimmt, und ich weiß es gleichzeitig nicht. Meine Gedanken sind ein Bahnhofsgebäude von Hundertwasser.

Ihr azurblaues Haar weht in mein Gesicht und vor ihres, sodass die Brille und das runde Kinn hinter einem Wasserfall verschwinden.

Lene ist für mich konserviert: ihr Haar buntes Wasser, sanft den Kopf herabgeflossen, wenn sie wieder neben mir Gedichte auf Servietten schrieb und Bierdeckel, bevor wir auf die Bühne gingen. Wortverliebt am Mikro standen, ich neben ihr, und sie schon damals so ungebremst und kraftgeladen.

Wir funktionierten zusammen. Ich konnte ihr zuhören, das wird der Grund gewesen sein. Sechseinhalb Stunden nebeneinanderstehend im Intercity durch Deutschland hasten und all das für nur fünf Minuten auf einer offenen Bühne. Dass wir beide wahnsinnig sein mussten, war klar – aber das verbindet nicht. So ziemlich jeder auf diesen Bühnen hat ein irrationales Feuer. Sich aufzureiben, nur um Literatur für ein paar Minuten lebendig sein zu lassen, gehört schon fast zum guten Ton. Man schläft zu dritt im Wohnzimmer des Veranstalters auf dem Fußboden, der einzig ruhige Ort in diesen Tour-Tagen ist die Dusche. Man redet über Bahnstrecken und Bahnhöfe und vielleicht mal über Kunst, zu dritt um einen Küchentisch gedrängt, auf dem zwei volle Aschenbecher den Vormittag enthalten. Bunt gewürfelt findet sich da ein Freundeskreis, Freunde auf Zeit aus dem ganzen Land, so fühlt sich dieses Unterwegssein mit der Kunst an. Mal begleiten einen die gleichen Leute für fünf Tage, mal nur für einen Abend. Freundschaftsrotation.

Und vor ein paar Jahren waren da eben auch einmal Lene und ich, aus derselben Stadt, aber nur von ferne bekannt, eine Woche gemeinsam unterwegs, aus dem Ruhrgebiet rauf bis nach Bremen und zurück, ausgestreckt im Fahrradabteil irgendeiner Regionalbahn an die Rucksäcke gelehnt. Während Münster an uns vorbeizog, meinte Lene, ihre Mutter, die fehle ihr. Ganz sanft und unvermittelt. Das war kein Abladen von Emotionen, kein Ballast, der über Bord geworfen werden musste, und ich der Einzige, der da war, um das aufzufangen. Ich war keine Müllhalde für Lenes abgewetzte Vergangenheit, wo man die Dinge manchmal hinerzählt, einfach nur, um sie abzulegen, nicht mehr still in sich zu tragen. Sie erzählte nicht für sich – sondern für mich. Und ich konnte zuhören, ich wollte zuhören.

Vielleicht muss man einige Tage mit jemandem auf Tour gewesen sein, um nachvollziehen zu können, was daran so besonders ist. Nach endlosen Tagen aufeinander, miteinander, da braucht es einen Draht, der viel, viel länger, heißer als andere glühen kann, ohne Schäden zu erleiden. Zuhören ist der Moment, der Menschen macht. Ich weiß nicht, was die Leute davor sind, aber jedenfalls keine richtigen Menschen, mit denen ich mich unterhalten könnte. Oder wollte. Vor diesem Moment sind Worte buntes Lichtgewitter, substanzlos und flüchtig. Das ist reden. Aber Menschen reden nicht, sie erzählen, sie verleihen ihren Worten Masse, Gewicht, sodass sie kreisen können um dich. Zumindest für mich ist es so. Die Worte und ich sind dann zwei Körper irgendwo im All, deren Massen einander zur Interaktion ermutigen. Lene und ich fanden füreinander einen Weg, an diesem Tag im Zug, wenige Worte mit ausreichend Masse zu versehen, auf dass sie kreisen konnten.