Immer schön die Ballons halten - Tobi Katze - E-Book + Hörbuch

Immer schön die Ballons halten Hörbuch

Tobi Katze

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Beschreibung

Tobi Katze erzählt ungewöhnlich, selbstironisch und heilsam vom Glück der kleinen Dinge. Henriette Liebling ist unzufrieden mit ihrem Leben. Sie steckt allerorten in Sackgassen und hat sich eingerichtet in der Ereignislosigkeit eines sicheren, aber langweiligen Jobs, einer schönen, aber sterilen Wohnung und einer netten, aber monotonen Beziehung. Sie muss einige Tiefpunkte erleben, bevor die Erkenntnis reift: Das ist nicht ihr «Lieblingsleben». Das ist höchstens Plan B. Und so begibt sie sich auf die Suche nach dem, was «erwachsen sein» für sie wirklich bedeutet. Tobi Katze schreibt über das Gefühl, elegant aus der Reihe zu tanzen, und ganz allgemein über die unscheinbaren Momente, in denen das größte Glück ein eigener, querer Kopf ist.

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Zeit:5 Std. 26 min

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Tobi Katze

Immer schön die Ballons halten

Erwachsen werden ist ja sonst nicht unsere Art

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Tobi Katze erzählt ungewöhnlich, selbstironisch und heilsam vom Glück der kleinen Dinge.

Henriette Liebling ist unzufrieden mit ihrem Leben. Sie steckt allerorten in Sackgassen und hat sich eingerichtet in der Ereignislosigkeit eines sicheren, aber langweiligen Jobs, einer schönen, aber sterilen Wohnung und einer netten, aber monotonen Beziehung. Sie muss einige Tiefpunkte erleben, bevor die Erkenntnis reift: Das ist nicht ihr «Lieblingsleben». Das ist höchstens Plan B. Und so begibt sie sich auf die Suche nach dem, was «erwachsen sein» für sie wirklich bedeutet.

Tobi Katze schreibt über das Gefühl, elegant aus der Reihe zu tanzen, und ganz allgemein über die unscheinbaren Momente, in denen das größte Glück ein eigener, querer Kopf ist.

Über Tobi Katze

Tobi Katze, geboren 1981, schreibt Kurzgeschichten, Essays, Gedichte und Drehbücher. 2009 schloss er sein Studium der Literatur und Kulturwissenschaften ab. Seit mehr als zehn Jahren tritt er auf Poetry-Slams und Lesebühnen auf. 2007 gewann er den LesArt-Preis der jungen Literatur und 2014 den Bielefelder Kabarettpreis für sein erstes Bühnenprogramm «rocknrollmitbuchstaben». Sein Buch «Morgen ist leider auch noch ein Tag», in dem er selbstironisch und ehrlich über sein Leben mit Depressionen schreibt, war ein Bestseller.

Für meine Eltern, weil ich nie jemand anders sein musste.

Hellgrau regnen die Tage

Das Telefon klingelt. Seit sieben Jahren klingelt das Telefon. Jeden Tag, jeden Morgen, jeden Abend klingelt das Telefon. Und nie ist es für mich. Vor sieben Jahren habe ich Frau Marienthal das letzte Mal gesprochen.

«Frau Liebling, ich habe da was für Sie», hat sie damals gesagt. «Strateria-Versicherung. Etwas ganz Solides. Leichte Schreibarbeiten, für den Einstieg. Und dann: Training on the job. Das wäre doch was.»

Ein Job. Mein Job jetzt. Nicht mehr Schriftstellerin, sieben Jahre bin ich das jetzt schon nicht mehr. Es fühlt sich nicht mehr komisch an, etwas ganz anderes zu tun. Sieben Jahre sind genug dafür, dass sich nichts mehr komisch anfühlt oder fremd oder unbefriedigend. Sieben Jahre Strateria-Versicherung, geborgen unter dem geschwungenen Strateria-S, das blattgrüne Haus, wie sie das Logo gerne nennen.

«Ist doch super, Henni», hat mein Bruder gesagt. «Versicherung. Das ist was mit Zukunft. Den Leuten wird schließlich immer etwas Furchtbares passieren.»

An dem Tag hat er mir Janka vorgestellt, mit ihrem kleinen Würmchen im Arm, frisch geschieden war sie und so wunderschön. Flipps und Janka und ihre kleine Marie, die nicht von ihm ist, sondern von jemand, der sie nicht verdient, sagt er.

Letztens haben sie sich verlobt. Es ist ein ganz wundersam schöner Traum, den die beiden mit der Kleinen da leben. Ganz selten noch schrecke ich hoch, als wäre ich gerade erst erwacht. Die Kollegen wissen es nicht. Nur ein, zwei haben mich vor einigen Jahren in einer Buchhandlung stehen sehen und am nächsten Tag darauf angesprochen. Ich weiß es nicht mehr genau. Auf einem Büchertisch haben sie mich stehen sehen. Obwohl sie nicht mehr mich dort gesehen haben, nur noch ein Buch, das ich geschrieben habe. Die Zeiten, in denen man sagte, man habe mich dort stehen sehen, zwischen all den anderen Büchern, die sind so lange her. Gott, nicht einmal ich selbst sage das noch so. Die Zeit, in der mein Buch und ich noch dasselbe waren, das alles, das Schreiben und Sein und Fiebern, das ist alles so lange her.

Das Telefon klingelt. Jeden Tag klingelt das Telefon, seit sieben Jahren jeden Tag, jeden Morgen, jeden Abend klingelt das Telefon über meinen aufgeräumten hellgrauen Schreibtisch hinweg. Manchmal erwische ich mich dann dabei, wie ich stöbere in meinem Kopf und den Gedanken, die ich früher mal hatte, und dann lächle ich. Und dann überlege ich, ob ich Ralf anrufen sollte und ob er sich wohl noch erinnern könnte an mich, an Henriette, die immer viel zu lange Sätze schrieb und keine Ahnung hatte, wo die Kommas hingehören. Aber ehrlich gesagt habe ich meist Besseres vor, abends, wenn ich nach Hause komme und froh bin, dass das Telefon nicht mehr klingelt und ich keine Tastatur mehr sehen muss und Geschäftsbriefe und Hotelbuchungen. Wenn ich Feierabend habe. Dann ist da mein Mattes und Tüte, der dusseligste Labrador, den ich finden konnte, und wir sitzen auf der Couch und erzählen von unseren Tagen, und Tüte hat sich ausgestreckt über meine Oberschenkel und atmet warm, und dann essen wir Pasta zu Abend, nicht mehr Nudeln.

«Henriette. Kaffeepäuschen?»

Elka lässt ihre Fingerspitzen auf meinen Tisch tropfen, im Vorübergehen ein flüchtiges Trommeln. Sie will Richtung Teeküche, in ihrem grauen, zierlichen Kostüm mit den goldenen Streifen schwebt sie beinahe, gradlinig und aufrecht. Fünfzig ist sie, und ihre Haut hat offenbar vierzig davon in der Sonne gelegen. Sie ist ein einziger Vordergrund in ihrer vehementen Präsenz, scheint nie mit Hintergründen zu verschwimmen. Und es ist einzig ihre Sprache, die ihrem Wesen weiche Kurven verleiht. Kaffeepäuschen.

Ich trotte hinterher und fische eine Tasse aus dem Spülbecken, lasse Wasser darüberprasseln, gerade lang genug, um mir selbst zu glauben, dass das jetzt meine Tasse sei. Dann schenke ich uns Kaffee ein.

«Milch?», fragt Elka.

«Ja», sage ich.

Wir stehen uns gegenüber, Elka an die Arbeitsplatte, ich an eine Wand unserer schummrigen Teeküche gelehnt, und rühren in unseren Kaffeetassen, ohne dass eine von uns beiden Zucker darin hätte.

«Alles gut oben?», frage ich, weil man irgendwann halt so etwas fragt. Bevor man schweigt.

«Chefchen hat wieder Panik. Und schlechte Laune», murmelt Elka. «Wir hängen hinterher. Hat heute früh wohl auf den Deckel bekommen. Und jetzt», ein leichtes Zischen schleicht sich durch ihre Zähne, untermalt ihr süffisantes Lächeln, «und jetzt sind wir halt ‹schuld›. Der tritt völlig blind nach unten und merkt gar nicht, dass die das oben sehen. Man muss schon bescheuert sein, auf das morsche Holz einzutreten, das einen trägt.»

«Guter Spruch», murmle ich.

«Hat mir das letzte Chefchen immer ganz stolz aufgesagt. Und sich auch nicht dran gehalten. Sei mal froh, dass du mit Chefchen nicht so viel zu tun hast. Das ist zwar süß, wie sie mir immer die Welt erklären, aber es wird anstrengend mit der Zeit.»

Elka schüttelt amüsiert den Kopf.

Ich meine, diese Geschichte schon zu kennen. Sicher bin ich aber nicht. Nicht so wild. Ich kann trotzdem empört sein, auch wenn ich finde, dass Elka da ein bisschen überreagiert. Wiesekind ist immer noch ihr Chef, und Loyalität hat noch niemandem geschadet. Vielleicht wäre Elka selbst schon Chefchen, wenn sie das mal in ihren Kopf bekäme. Ein bisschen selber Schuld, denke ich, aber das gehört nicht in diese Teeküche gesagt, in diese wohlverdiente Kaffeepause, in der wir alle mal ein paar Minuten Elkas und Henriettes sein können, statt der stillen Frau Friedrichs und Frau Lieblings. Obwohl hier niemand Tee trinkt in dieser Teeküche, aber man sagt es halt so, kein Grund, sich da unnötige Gedanken zu machen. Davon gibt es jeden Tag doch schon genug, so viele unnötige Gedanken, die die Menschen denken und aussprechen, die sie sich wie Steine in die eigenen Wege legen, nur weil sie wie unhöflicher Besuch ohne Einladung im Kopf vorbeischauen.

«Du machst das schon richtig», sage ich dann matt und behalte den Rest für mich. Niemanden herausfordern mit den eigenen Gedanken. Das ist gefährlich.

Abschätzig mustert Elka mich, und ihre dunklen Augen forschen, ob da noch mehr ist hinter meinen Worten.

Wir unterteilen unsere Welt in Gefahren, das habe ich gelernt, und es ist nicht sonderlich klug, nur den Menschen dahinter zu sehen. Weil wir einander Wölfe sind. Im selben Rudel, derselben Firma zwar, aber Wölfe dennoch. Und unter uns Wölfen, das weiß Elka, und das weiß ich, lebt es sich am besten, wenn man nicht der Schwächste ist, vor allem aber nicht der Stärkste. Also schlage ich die Augen nieder und lasse Elka sehen, was sie sehen will, Henriette, die grinst und lacht und verlegen auf ihre Schuhe starrt, hat sie doch etwas Dummes gesagt, ohne das zu wissen.

«Na, komm», Elka deutet mit dem Kopf Richtung Tür. «Bevor der Laden hier ohne uns untergeht.» Die Halsreife klimpern, als sie sich in Bewegung setzt.

Lust- und ziellos klicke ich in Office-Anwendungen herum. Zum dritten Mal korrigiere ich einen Bericht, weil da irgendwo ein Rechenfehler steckt. Kurz vergrabe ich mein Gesicht in den Händen, massiere frustriert die Schläfen.

«Na, nix zu tun?»

Manegold hat seine Fäuste lautlos neben mir auf meinen Tisch gestemmt. Leicht angewinkelt tragen seine Arme ihn, distanzlos wiegt sein Stammtischoberkörper neben meinem Kopf auf und ab, während mir greller Aftershave-Geruch süßlich in die Augen peitscht.

«Herr Manegold», sage ich tonlos. «Ich suche grad nach …»

«Arbeiten sieht aber anders aus», unterbricht er mich gerade laut genug, um alle im Büro an dieser Unterhaltung teilhaben zu lassen. Er hat etwas von einem Gorillamännchen, einem selbstgefälligen Gorillamännchen, das süffisant auf meinem Schreibtisch lehnt und aufgrund der Pose gerade keine Hand frei hat, sich auf die Brust zu schlagen.

Ich nicke stumm und spare mir jedes Wort, ich möchte mich entschuldigen, aber Manegold mag keine Entschuldigungen. Manegold mag Mitarbeiter, die sich nicht entschuldigen müssen, das sagt er gern und oft, wenn man sich dazu hinreißen lässt, es dennoch zu versuchen.

«Was kann ich tun, um diesen Fehler wieder auszubügeln?»

«Ihn gar nicht erst machen.»

Das ist der Soundtrack unserer Unzulänglichkeit. Und er hat recht. Hätte ich keine Kaffeepause gemacht oder wäre früher gekommen, dann hätte ich mehr Zeit gehabt für diese Tabelle, hätte ich den Willen gehabt, sie früher zu verstehen, vielleicht hätte ich es geschafft. Ganz sicher sogar. Weil ich einfach bin und einfach bleiben werde, wenn es mir nicht wichtig genug ist, vernünftige Arbeit zu leisten. Es tut mir leid.

«Sieh zu, Liebling», taumeln mir Manegolds Worte ins Ohr. «Streng dein hübsches Köpfchen mal ein bisschen an, zur Abwechslung. Dann klappt das auch mit dem Arbeiten.»

Seine Hand tätschelt mit einem Klaps meinen Hinterkopf. Früher hätte ich jetzt wohl diese Hand gebrochen, denke ich, oder zumindest irgendetwas Witziges gesagt.

Aber in den letzten sieben Jahren hier habe ich gelernt, die Dinge einfach stehenzulassen. Dinge stehenzulassen kostet keine Kraft. Es ist so einfach, dagegen zu sein. Zu rebellieren. Früher war ich nie um eine Antwort verlegen. Heute weiß ich es besser und beginne noch einmal, diese Tabelle nach meinem kleinen Zahlenausreißer zu durchwühlen.

Ich muss das nur wollen, dann finde ich meine kleine Fehlerzahl schon, und dann ist alles wieder gut, dann kann ich die Entschuldigung aus meinem Kopf verbannen und endlich wieder wertvoll sein. Dann muss ich nicht mehr nachdenken über diesen Klaps auf meinen Hinterkopf, über Wölfe und Gorillas, dann weiß ich wieder alles, was es zu wissen gibt für mich, und das ist gut. Keine Kaffeepausen mehr für mich.

Es ist kurz vor sieben, als ich triumphierend vom Bildschirm aufblicken darf. Es bedarf keiner Leidenschaft, nur Disziplin, um zufrieden zu sein. Zwei Anrufe in Abwesenheit. Mattes. Er wird das verstehen. Wenn ich später mit ihm auf unserer Couch sitze und erzähle, wie mein Tag so war.

Liebling, du musst

Früher habe ich meine Tage anders verbracht. Bis zum 28. Mai 2010. Ich bin sonst nicht so gut mit diesen Dingen, kann mir keinen Geburtstag merken, aber dieses Datum ist so was wie die Telefonnummer der ersten großen Liebe. Es geht nicht mehr raus aus dem Kopf, egal wie sehr man sich bemüht. Ich war eine Frau, die gerne Fehler machte. So viel wusste ich mit meinen 29 Jahren damals schon. Der Rest stand da noch zur Debatte. Und ich in einer Drogerie.

«Junge Frau, was zum Teufel machen Sie denn da?», fragte mich die Drogerieverkäuferin. Zwischen zwei grell erleuchteten Kosmetikregalen starrte sie fassungslos auf die vier Sorten Rasierschaum, die ich großzügig auf meinem Arm verteilt hatte.

«Ich mache ein paar Fehler», plapperte meine große Klappe reflexhaft. «Aber keine Panik, ich habe ’nen Stift dabei.»

Dann begann ich damit, die entsprechenden Produktnamen ebenso offensiv wie gewissenhaft unter die weißen Rasierschaumpröbchen auf meinem linken Arm zu kritzeln.

«Fehler lohnen sich nämlich nur, wenn man weiß, wo man sie gemacht hat», murmelte ich beiläufig. «Das hat mein rechter Arm letzte Woche auf die harte Tour rausgefunden. Da habe ich die Proben nämlich nicht beschriftet. Schauen Sie mal, Sie können kaum noch die Sommersprossen erkennen in dieser Kraterlandschaft. Und das Problem ist: Ich weiß nicht mehr, welche dieser ‹hautschonenden› Rasiersäuren ich letzte Woche wo aufgetragen habe. Da wollte ich diesmal schlauer sein.»

«Oh, das sieht aber bitter aus», murmelte die Drogeriefrau zurück.

Und sie hatte recht.

Meine Haut ist in etwa so wehleidig wie ein erwachsener Mann mit lebensbedrohlicher Erkältung. Auch heute noch. Und zu wissen, dass drei der vier Pflegeprodukte, die man ausprobiert, die eigene Haut in einen blutigen Rummelplatz aus Juckreiz verwandeln, das ist nur dann hilfreich, wenn man später auch nachvollziehen kann, ob die «milde Rezeptur mit Orangenbutter» oder doch die «straffende Algen-Formel» sich anfühlen, als wäre man auf der Herdplatte eingeschlafen. Wie gesagt, ich machte gerne Fehler. Aber auch Fehler muss man richtig machen. Damit sie was bringen.

Die Verkäuferin neben mir sah das ganz ähnlich. Wenn auch aus anderen Gründen.

«Aber Sie können doch nicht einfach Rasierschaum aus dem Regal nehmen und den … benutzen. Das geht doch nicht», stammelte sie fassungslos.

«Ja, sicher geht das. Man soll den Rasierschaum doch unbedingt vorher testen, steht doch auf diesen verschissenen Dosen überall drauf.»

«Ja, aber zu Hause.»

«Dafür müsste ich den doch kaufen.»

«Genau.»

«Aber dann ist das doch kein vorher Testen mehr, wenn ich den erst kaufe und dann ausprobiere. Das ist doch bescheuert.»

Die Verkäuferin rang sich zwei schnappende Atemzüge ab, ihre Augen hechteten immer wieder von den Schaumkrönchen auf meinem Arm zum Regal und zurück, als wollte ihr Blick alles wieder fein säuberlich einräumen. Ihr Mund konnte sich nicht entscheiden, ob er grinsen sollte oder lieber nicht. Dann holte sie tief Luft, und das Grinsen fiel aus.

«Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?», zischte sie empört und stellte damit vielleicht eher unabsichtlich eine der ganz großen Fragen, die wohl jeder von uns zu beantworten hat. Und es war eine gute Frage. Ist es immer noch.

Was glaubte ich zu sein?

Sagen wir so: Ich war eine Frau, die gerne Fehler machte. So weit waren wir schon. Nicht weil ich dumm war, sondern weil ich es immer einfach hatte. Weil ich mich nie sorgen musste. Weil ich «Jungszeug» machte und mochte, wie die Erzieherin im Kindergarten das nannte. Weil mir davon abgesehen nie jemand gesagt hatte, wie ich sein müsste oder sollte, so als Mädchen. Weil mir der beschissene Schnabel so quergewachsen war, dass ich gar nicht anders konnte, als so zu sprechen, wie er das wollte. Und wenn ich sprach, dann klang das auch genau so, so quer, so gar nicht Mädchen. Eher wie die Stille am Anfang deines Lieblingsalbums auf Vinyl, wenn der Tonabnehmer nur altes, warmes Kratzen findet.

So grundlegend, wie sie klang, war die Frage natürlich nicht gemeint, aber das war mir herzlich egal.

«Ich bin Henriette», ritzte ich also mit dieser kratzigen Stimme in das Eis zwischen uns, «und ich suche einen guten Rasierschaum, der mir nicht die Haut wegätzt.»

Wie irritiert Menschen reagieren, wenn man einfach mal eine ihrer nachlässig in den Raum geworfenen Fragen beantwortet, statt sie, wie es von einem erwartet wird, als Beleidigung aufzufassen und die Klappe zu halten.

Das ist schon fast ein bisschen kurios, wenn man darüber nachdenkt.

«Ach, Kleinkünstlerin sind Sie von Beruf», hatte mich zum Beispiel mein alter Zahnarzt mal gefragt, «also auch so eine Narzisstin, die von ihrem Papa nicht gelobt wurde und jetzt auf Bühnen nach Beachtung schreit?»

Eine erstklassige Frage, musste ich zugeben. Gerade, wenn man fast eine Stunde mit Bus und Bahn und dann auch noch ohne Sitzplatz unterwegs war, umringt von älteren Herren, die einem allesamt auf den Arsch starren. Da hat frau dann richtig Bock auf kecke Sprüche.

«Nee, Schriftstellerin», hatte ich geantwortet, «und Sie sind Zahnarzt geworden, weil Sie gerne Latex tragen und Leuten den Finger in den Mund stecken?»

Mein neuer Zahnarzt stellte solche Fragen nicht, war mit öffentlichen Verkehrsmitteln ganz wunderbar schnell zu erreichen und hatte ein sehr geschmackvoll gestaltetes Wartezimmer.

Es kann sich also lohnen, solche Fragen einfach mal zu beantworten.

Eine neue Verkäuferin bekam ich allerdings nicht. «Unmöglich», rief sie nur ungemein theatralisch und riss dann hilflos die Arme empor, als kapituliere sie vor mir und meiner blöden großen Klappe. Wie unangenehm mir das heute noch ist. In Gedanken zählte ich bis zwei, das hatte ich irgendwo aufgeschnappt, dass das helfen solle, sich selbst zu finden. Einatmen. Eins. Zwei. Ausatmen. Sei ein großes Mädchen.

«Wissen Sie was?», meinte ich verschüchtert, während ich die Rasierschaumnamen auf meinem verschmierten Arm überflog, «die sind bestimmt alle gut, irgendwie. Ich glaub, ich nehm die mit.»

«Lassen Sie’s gut sein», riet mir die Verkäuferin kühl und drängte mir noch einen abschätzigen Blick auf, bevor sie den Kopf schüttelte und wieder in ihrer dystopischen Regalwelt ohne Ausprobieren verschwand.

Unsicher drückte ich die Zähne auf die Lippen und wippte von einem Bein aufs andere, den Blick zielsicher im Nirgendwo. In meiner Unbefangenheit stieß ich Menschen viel zu häufig vor den Kopf.

Wie um mich zu entschuldigen, griff ich trotzig und wahllos einen pinken Rasierer aus dem Regal und stampfte beschämt zur Kasse. Wenigstens irgendetwas kaufen.

Meine Finger trippelten ungeduldig auf dem Warenband. Es kam mir vor, als hätte meine Rasierschaumprobe die Runde gemacht, denn die Kassiererin ließ ihren Blick süffisant vor meine Füße fallen, als sie stoisch das Wechselgeld herbeikramte.

Pfeif drauf, dachte ich und kratzte mir ein «Stimmt so» aus der Kehle, während ich mir meinen beschissenen Rasierer schnappte. Die Kassiererin aber schaute nicht einmal auf, als ich, den Kopf ganz tief unter den roten Haaren versteckt, zum Ausgang hetzte.

 

Ich weiß nicht, vielleicht war ich zu jung für mein Alter. Oder alle anderen waren einfach immer zu alt. Dieses erhabene Schweigen, dieses Sichempören, weil da irgendwer Rasierschaum ausprobiert, statt ihn direkt zu kaufen, und das alles dann auch noch in Bochum-Ehrenfeld, wo sie doch alle so wahnsinnig offen und alternativ sind – außer eben beim Ausprobieren von Pflegeprodukten. Nicht, dass da jemand kostenlos zwei Quadratzentimeter schöne Haut bekommt. Trostlos, das. Und dann auch noch diese klischeegrauen Häuserzeilen überall, stummes Dastehen von Wohnbeton und keine Bewegung darin. Als müsste mich das traurig machen, so vorwurfsvoll schienen diese Häuser da neben mir herumzudrucksen, während ich durch all diese Trostlosigkeit schritt, in der das Grau fast wie ein Tropfen Farbe funkelte. Ich mochte das. Ich mochte die grauen Häuser, mit den verwaschenen Existenzen hinter den verhangenen Fenstern, ich mochte die Stolpersteinstraßen hier und die raue Luft, die aus den Seelen der Menschen über ihre Zungen wehte. Und ich mag es bis heute. Der Ruhrpott ist ein unlektoriertes Kapitel. Zwanzigmal überarbeitet, aber immer noch keine klare Richtung, Backstein und Industriehallen zwischen polierten Shoppingcentern, wie vergessene Halbsätze irgendwo in einem schlecht gekürzten Monolog. «Henriette. Die Idee, die Idee ist wirklich sehr schön», hätte mein Lektor damals vielleicht gesagt, «aber man spürt, dass du nicht sicher bist, wie du sie formulieren sollst.»

Passe ich deshalb so gut hierher?

Ich musste lächeln, als ich mich selbst bei dieser Frage ertappte, die natürlich keine Frage war. Aber wer hat schon den Mut zu einer klaren Meinung, vor allem zu sich selbst?

Die nächste Querstraße sog mich wieder in sich auf, und meine Schritte wurden leichter, als die Sonne zwischen den Wolken hervorlugte und die Bordsteinkante in ein sattes Abendgold tauchte.

Und dann war ich zurück in meinem Bunker mit Einbauküche und Terrasse und dem großen Tisch aus Holz, an dem so viele gute Ideen verworfen wurden, dass er ganz stumpf davon geworden war und trübe. Wie ich das liebte.

Ich liebte das Gefühl, wenn mein Haustürschlüssel zaghaft klemmte, das störrische Quietschen, wenn mich mein Briefkasten begrüßte und das schiefe Türchen an den ungeölten Scharnieren entlangtanzte. Post für mich. Henriette Liebling wohnt hier, das sagten klemmende Schlüssel und quietschende Türchen und nicht zuletzt auch jeder Brief, der mich erreichte. Liebling stand da, Liebling, Henriette, in der Oskar-Hoffmann-Straße.

Ich mag meinen Namen, den Klang davon in meinem Kopf. Ein Nachname, mit dem man sich geliebt fühlen muss, sogar wenn das Finanzamt schreibt. Liebling, schrieben sie, du musst deine Steuern zahlen, Liebling, Schwarzfahren kostet 60 Euro, Liebling, bring endlich diese scheiß Bücher zurück zur Bücherei, sechs Monate sind wirklich lang genug.

Ich konnte nicht anders, als meine Wohnung jeden Tag mit einem Lächeln aufzuschließen. Mit dem rechten Fuß schob ich dann immer die Tür hinter mir ins Schloss und genoss einen Moment die stille Dunkelheit im Flur. Einatmen, eins, zwei, Ausatmen. Ankommen. Die Frau aus der Drogerie, ihre Empörung – all das musste immer draußen auf mich warten, vor der Tür. Die leichte Sommerjacke fiel wie jedes Mal unbedacht zu Boden, während ich in die Küche schwebte, zu meinem Tisch, Briefe und Rasierer in der Hand, direkt weiter zur Terrasse. Ich riss die Tür auf, ließ die Briefe auf meinen Holztisch regnen, dann war es still. Nur Abendluft und Sonnengold flüsterten vom Feierabend, an diesem 28. Mai vor sieben Jahren, und immer noch will ich jedes Wort davon verstehen.

 

Auf der Terrasse fiel mir auf, dass sich inzwischen neun Rasierer auf meiner Arbeitsplatte tummelten, ich aber immer noch keinen passenden Rasierschaum besaß. Ich schätze, das fasst meine Persönlichkeit bis heute ganz gut zusammen.

Zukunft von früher

Samstag. Und wie das wieder aussieht hier.

«Jetzt renn doch nicht schon wieder ins Wohnzimmer, ich hab da gerade frisch gesaugt, Mattes.»

«Ey, ich hab Socken an, Henni.»

«Auch an Socken hängen Flusen …»

Mattes’ Blick pendelt gelassen an seinem letzten Geduldsfaden hin und her. Er hält eine Weinflasche im Arm wie ein Baby und zuckt die Achseln.

«Können wir uns darauf einigen, das Wohnzimmer nicht mehr zu betreten, bis Brit und Alex da sind? Auch nicht auf Socken?»

«Wegen der Flusen?», murmelt Mattes ungläubig.

«Wegen der Flusen.»

«Du übertreibst, Schatz.»

Schatz. Früher wäre es nie zu diesem «Schatz» gekommen. Das erste Mal, als Mattes «Schatz» sagte, vor zwei, drei Jahren, da stromerte das Wort noch einsam und verlassen durch den Raum, unentschlossen und ungeliebt. Es schien wie ein dunkles Geheimnis, welches wir gerade erst gemeinsam entdeckt hatten und nie finden wollten. Damals habe ich geschluckt, und wir haben uns angestarrt.

Es ist, als hätte jemand den Kontrast reduziert in unserem Leben, die Farben entsättigt und alles in beschissenen Pastelltönen nachgemalt, wo früher Neon prangte. Gealtert, vergilbt ist die Hitze zwischen uns, mittlerweile. Ich werde älter.

Wir hatten uns immer geschworen, nie, nie mit «Schatz» anzufangen. Das ist eine verdammte Beziehungshandgranate. Wenn der Stift einmal gezogen ist – dann war’s das. Dann hältst du dieses Wort in der Hand, und es tickt, und das gemeinsame Leben ist zu klein, um es irgendwohin zu werfen, wo es keinen Schaden anrichtet. Irgendwann ist nicht nur der Sicherungsstift gezogen, irgendwann lässt man die Granate auch fallen, und dann bleiben dir noch drei Sekunden, zu entscheiden, was du tust.

Mattes und ich, wir entschieden uns für fassungslos dastehen und hoffen, dass der andere sich opfert und sich draufwirft auf diese Granate, aber das passierte natürlich nicht. Und so wurden wir beide Opfer, und die Illusion ist lautlos explodiert, unsichtbar und enttäuschend. Die Illusion, dass unsere Beziehung nie langweilig werden würde, dass sie nie werden würde wie jede andere. Dass wir nie werden würden wie jeder andere. Die, vor denen deine Eltern dich nie warnen mussten. Wir waren immer cool und jung und verrückt. Bis wir es nicht mehr waren. Lautlos explodiert. Zu einem Pasta-Pärchen mit Hund.

Und jetzt? Jetzt kann ich nicht einmal mehr jung und wütend herumschreien, Dinge auf den Boden werfen, mich später, wenn wir nackt und rauchend nebeneinanderliegen, dafür entschuldigen und darüber lachen. Jetzt kann ich nur noch stumm schlucken und glasig durch das Grau lächeln. Schatz.

Wir sind uns nicht kühl, das spüre ich noch immer. Nur älter geworden. Gewöhnter. Muss das denn etwas Schlechtes sein? Wortlos lächelt mein Mattes mich an, bevor er meine Wange küsst. Es muss nicht immer Versöhnungssex sein, manche Dinge sind so viel intensiver und grundlegender. Es ist nichts Schlechtes. Es ist warm und nah, viel näher, als Sex es je sein könnte.

Tüte trottet niedergeschlagen auf mich zu, schmiegt um meine Beine wie eine Katze. Dann trottet er weiter ins Wohnzimmer, hinterlässt eine Schneise aus Hundehaar und beginnt, sich den kompletten Straßenstaub der letzten Jahre aus dem Fell zu schütteln, während er mir glücklich in die Augen schaut.

Und das ist alles, was du über das Leben wissen musst, denke ich, während einerseits Wut in mir hochkocht und ich mir andererseits ein Grinsen nicht verkneifen kann. Ich grunze ein kleines Kichern heraus.

Mattes zieht nach. Grinst und stellt behutsam den Wein mitten auf den Fußboden, direkt vor sich, wo er gerade steht. Dann folgt er Tüte ins Wohnzimmer, läuft demonstrativ auf seinen Socken einmal im Kreis darin herum, zieht Tüte mit sich nach draußen Richtung Küche und schnappt sich immer noch grinsend den Staubsauger.

Die Flasche Wein steht auch Punkt acht immer noch genau dort, wo er sie abgestellt hat, und erst als es klingelt und Alex Brit in unsere frischgesaugte Wohnung schiebt, da ändert sich das. Schön, dass ihr da seid, wie schafft ihr es nur, das eure Wohnung immer so toll aussieht, wollen wir vorher was essen, mach doch mal den Wein auf, Schatz.

Und dann sitzen wir gemeinsam im Wohnzimmer, und die wichtigste Frage in unser aller Leben ist, was wir heute Abend spielen wollen.

«Monopoly», schlägt Brit vor, «wenn ich schon im echten Leben kein Geld habe», und leert ihr erstes Glas Wein mit einem flüchtigen Zug. Früher wären wir reich gewesen, mit dem, was wir jetzt verdienen. Aber ich weiß, was sie meint.

«Wie wär’s mit Tabu?», fragt Mattes.

Ich stöhne.

«Bitte nicht. Ich möchte mir heute nichts ausdenken müssen.»

Wie ich dieses Spiel hasse. Dinge neu formulieren. Was ist so verkehrt an geläufigen Begriffen? Sich neue Dinge auszudenken, wo doch schon passable Worte existieren, erscheint mir sinnlos. Neue Worte zu finden, wo es doch schon alte gibt. Es muss nicht alles neu erzählt werden, eigentlich muss nicht einmal alles erzählt werden. Lasst doch die Dinge in den Köpfen, denke ich.

Worte. Wie aggressiv mich Worte machen. Überall wird immer so viel erzählt, auf der Arbeit. Dass dies und jenes nicht funktioniert und kompliziert sei. Erzählen ist einfach. Wer nichts schafft, der erzählt. Worte sind auch so eine Ex-Beziehung von mir. Erzählen. Zu Bruch gegangen an diesem 28. Mai, und Jahre später will ich noch froh sein, dass es kaputtgegangen ist. Diese Jugendliebe, die man nie so ganz hinter sich lassen kann, die bis ans Ende in deinem Kopf herumspukt mit diesem Was-wäre-wenn auf ihren Lippen. Die weh tut, obwohl man längst darüber weg ist. Albern ist das, dieses Hängen an alten Lieben, obwohl man doch auf beiden Beinen steht. Wie unglaublich aggressiv mich Worte machen. Nicht mehr traurig. Immer dieses Reden.

Sagt doch am besten einfach gar nichts und macht stattdessen. Das denke ich und sage es nicht, denn ich bin nicht so.

Ich bin keine, die es sich einfach macht. Ich weiß, wann ich schweigen muss.

Mattes schenkt mir Wein nach.

«Ich hol mal das Monopoly», ächzt er dann, während er seine Hände auf die Knie stemmt und sich unsicher nach oben wuchtet. Kaum hörbar stöhne ich auf.

«Ist was?», fragt Mattes und wankt ein wenig hin und her, was er immer tut, wenn ihm sein Bein eingeschlafen ist.

«Nee, alles super», sage ich. «Monopoly. Ein Spiel darüber, dass man Miete zahlen muss. Voll gut.»

Argwöhnisch runzelt mich seine Stirn an.

«Sollen wir was anderes …?»

«Bloß nicht. Monopoly ist schon gut. Vielleicht gewinne ich da ja mal», setze ich nach, und all die Lügen malen mir ein Lächeln ins Gesicht.

Alex und Brit schweigen bedacht.

Mattes zuckt abwesend mit den Schultern. Dann wankt er weiter.

Als hätte jemand plötzlich die Lautstärke wieder aufgedreht, gehen die Gespräche anschlusslos weiter. Alex spricht über Steuern und Anlageberatung. Brit nickt zustimmend. Ich langweile mich. Noch nicht einen Würfel gerollt, noch nicht ein Gespräch über Low-Carb-Diäten geführt und doch schon da angekommen, wo ich früher nie hinwollte. Brauche wohl dringend neue Ziele, wie es aussieht. Ich halte an mir, kann mich aber nicht ganz greifen. Nicht ganz schweigen.

«Sag mal», unterbreche ich Alex inmitten eines Monologs über festverzinstes Irgendwas, «wann haben wir eigentlich aufgehört, saufen zu gehen?»

Bedächtig mustert er mich durch sein bis zum Rand gefülltes Glas Wein, kratzt sich den fülligen Bart und lässt den Blick durch unser Wohnzimmer streifen.

«Als ihr angefangen habt, euer Wohnzimmer komplett in weiß einzurichten», meint er dann. «Irgendwie um den Zeitpunkt rum habt ihr aufgehört damit. Ist schon witzig, oder? Da zieht ihr extra in eine schöne Wohnung mitten im Partyviertel, um dann nicht mehr rauszugehen.»

«Na ja», sage ich, «irgendwie arbeiten wir so viel dafür. Mir fehlt da einfach die Kraft.»

«Verstehe», meint Alex. «Das ist natürlich echt ein Problem. So ein bisschen wie guten Wein kaufen und den dann nicht trinken, weil der so teuer war.»

«DAS hingegen würde uns nicht passieren.»

«Vielleicht solltet ihr einfach mal wieder ein bisschen individueller wohnen.»

Es wirkt fast albern, wenn er das so sagt. Mein Freund Alex, der immer so abgerissen aussah, fast schon eingestürzt. Mit der abgewetzten Lederjacke in Braun, zugezogen bis unters Kinn, auf diesem albernen Mofa, ohne Helm und keine Socken in den Chucks. Den Iro hat er noch, aber nur ironisch, Lederjacke getauscht gegen gestreifte, enge Weste, Drei-Tage- gegen Vollbart und dazu Turnschuhe, so teuer, dass man damals drei Hosen dafür bekam. Ich habe mal in einem Artikel über den BND gelesen, dass die Agenten sich gegenseitig an den immer gleichen braunen Schuhen erkannten. So ist das auch mit Leuten wie Alex. Die alle in der Werbung arbeiten. Alles, die ganze jugendliche Verkleidung, ist so am Reißbrett entworfen, um jeden Preis individuell, sie haben eine eigene Abteilung dafür bei H&M. Zu alt, um jung zu sein. Gelangweilt sieht er aus darin. Sehe ich auch so aus?

Ich zucke mit den Schultern. «Weiß lässt das alles so schön frisch wirken.»

Brit muss lachen. Ich nicht.

«Ich habe letztens gelesen, dass Weiß als Raumdeko menschenfeindlich ist», legt sie nach.

«Ich habe letztens gar nichts gelesen», sage ich, «das war auch sehr spannend.»

Mattes, der sich irgendwann unbemerkt neben mich gesetzt haben muss, räuspert sich verlegen.

«Weiß soll irgendwie eine Pause von Gefühlen und Stimmungen sein», blubbert Brit weiter und schenkt noch einmal Wein nach.

«Was für einen Scheiß sich Leute ausdenken und aufschreiben.»

Ich lasse meinen Blick durch den Raum gleiten. Ich mag Weiß. Und Gefühle. Ich Mensch voller Widerspruch.

«Da fällt mir ein», gurgelt Brit durch einen halben Schluck Wein hindurch, «ich brauche dringend neue Bücher. Darf ich später mal dein Regal plündern?»

«Klar», sage ich tonlos, «ich hab aber nix Neues. Irgendwie finde ich keine Ruhe mehr zum Lesen.»

«Das ist schade.»

«Ach, geht», murmle ich, «ich hab genug zu tun, als dass ich da Bücher bräuchte, um mich zu beschäftigen.»

«Dass du das mal sagst.»

«Ich lese jeden Tag fünf Milliarden E-Mails. Da muss ich mich privat nicht auch noch mit den Gedanken anderer belästigen.»

Brit zuckt verständnislos die Schultern.