Morgenschwimmer - Gerard Donovan - E-Book

Morgenschwimmer E-Book

Gerard Donovan

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Beschreibung

Manchmal braucht es nicht viel, um das Leben vollkommen aus den Angeln zu heben

In diesen 13 Erzählungen schreibt der Ire Gerard Donovan zum ersten Mal über sein Heimatland, und er erweist sich als scharfer Beobachter der menschlichen Seele und des modernen Irlands. Wie in seinem Erfolgsroman »Winter in Maine« erzählt Donovan von Menschen, die mit einem Mal etwas Ungewöhnliches über sich selbst und ihr Leben begreifen und lernen müssen, mit dieser blitzartigen Erkenntnis zu leben. Und er schreibt von Menschen, die in ihrer Heimat heimatlos werden, die den Bezug zur Vergangenheit verlieren und unter dem Verlust der Menschlichkeit leiden.

Drei Freunde schwimmen jeden Morgen in der Bucht von Galway, aber eines Tages hört einer von ihnen in der Umkleidekabine zufällig mit, wie sich die beiden anderen fragen, ob er wohl weiß, dass ihn seine Frau betrügt. Ein Mann fährt mit seiner Frau von Dublin nach Galway zu den Schwiegereltern, und als er eine Werbetafel für eine Lebensversicherung sieht, fragt er seine Frau, wie lange sie mit einer neuen Beziehung warten würde, wenn er einmal stirbt – seine Frau sagt ihm mehr, als ihm lieb ist. Eine Frau entdeckt nach dem Tod ihres Mannes, dass er in einem anderen Ort ein komplettes zweites Leben mit Familie geführt hat; sie kann gar nicht verstehen, dass sie nie etwas gemerkt hat. Ein Archäologenpärchen findet in einer Ausgrabungsstätte, über die ein Parkplatz für ein Einkaufszentrum gebaut werden soll, das dreitausend Jahre alte Skelett eines Mädchens, und die Frau weiß plötzlich, was die Abtreibung, von der der Mann nichts mitbekommen hat, für sie bedeutet …

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Seitenzahl: 303

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Für Fiona Carrick

Schwachheit, dein Name ist Mensch

Inhaltsverzeichnis

WidmungMorgenschwimmerWie lange?Ladendiebstahl in den USAUns geht’s doch goldIn irischen NächtenArchäologenGlasEin anderes LebenDer VogelsommerDer Mann an der RezeptionNew DealHarry DietzBesuchCopyright

Morgenschwimmer

In der ersten Maiwoche, bevor das Wasser in der Bucht von Galway ein mildes Sommerblau annahm, fuhren Eric Hartman und John Berry zu Jims Haus und erzählten ihm, sie seien an diesem Morgen um acht schwimmen gegangen, beim Sprungturm am Ende der Promenade in Salthill. Die drei Männer waren zusammen aufgewachsen und lebten noch immer in derselben Stadt, obwohl es in den letzten Jahren nur noch selten vorgekommen war, dass die beiden sich bei Jim oder, wie sie es ausdrückten, Jim sich bei ihnen hatte sehen lassen.

Es war noch immer früh am Morgen, und Jim ging im Pyjama und mit schief aufgesetzter Brille in die Küche und trug die gefüllten Teetassen zum weißen Tisch.

Eric sagte: Komm doch mit, dann sind wir zu dritt.

John sagte: Ja, das Wasser ist kalt, der Beton ist kalt, aber wenn man einmal drin ist, ist es gar nicht so übel.

Sonst sagten sie nichts mehr, und Jim saß vor seiner Tasse. Er kratzte sich den Kopf, noch warm vom Kissen, von dem er sich so hastig erhoben hatte, als es klingelte. Es war fünf oder sechs Wochen her, dass er einen der beiden gesehen hatte. Aber so ging das eben, sogar mit Jugendfreunden: Früher oder später kommt immer ein anderes Leben mitsamt seinem Gepäck, auch noch in späteren Jahren.

Jim sagte: Kaltes Wasser ist nicht so mein Ding, aber ich habe gehört, dass die Bucht im Januar wärmer ist als im Sommer, durch den Golfstrom von Mexiko.

Du und deine Fakten, sagte Eric. Also, bist du dabei?

Jim schaute auf den Boden zwischen seinen Füßen und sah den Turm. Es war kalt dort; der Turm und das Betonhäuschen standen am Ende der Promenade, man war den Elementen ausgeliefert, ohne jeden Schutz vor dem starken Wind von der Bucht her. Und der einsame Weg zum kalten Sprung in eisiges Wasser lockte jeden Morgen einsame Menschen dorthin. Als Kind hatte er zugeschaut, wie die knochigen alten Schwimmer ins Wasser sprangen, um den Sockel des Turms herumschwammen und dann bibbernd zu ihren Handtüchern rannten, die sie über das Geländer gehängt hatten. Einer sprang immer, nass, wie er war, auf sein schwarzes Fahrrad und fuhr heim, ohne sich umzuziehen, kaufte sich unterwegs sogar noch eine Zeitung. Vielleicht wollte er um dieser Erinnerungen willen den beiden anderen sagen, dass er mitmachen werde, vielleicht hatte auch die Einsamkeit, die ihn neuerdings am Morgen überfiel, Woche für Woche ein bisschen länger angehalten.

So kam es, dass die drei um acht Uhr morgens, viermal die Woche, den ganzen Sommer hindurch und noch bis tief in den Herbst hinein, im Wasser des Atlantiks schwammen, schnelle rosa Arme in der aufgewühlten dunklen See.

Heute war Jim zwanzig Minuten zu früh dran. Das Wasser war schiefergrau, und ein böiger Wind schien das Sonnenlicht von den Felsbrocken rings um den Turm zu fegen. Er hatte nicht gut geschlafen, und als er am Meer entlangfuhr, sah er von den Aran-Inseln Regenschauer herantreiben und wusste, dass er keine Lust haben würde, auf die beiden anderen zu warten. Aus dem Spaß war Routine geworden, das war ihm klar, aber in letzter Zeit ging es ihren Gesprächen wie der in seiner Uhr gefangenen Zeit. Sie kamen immer wieder an einen Punkt, wo sie schon einmal gewesen waren. Er stellte das Auto ein Stück weiter vorn auf der Promenade ab als sonst und ging das Stück zu Fuß, um sich aufzuwärmen. Weil der Novembersonnenaufgang das Stück klaren Himmel gefunden hatte, wollte er schwimmen, solange die Sonne ihm noch auf die Haut scheinen konnte, auch wenn es eine Sonne ohne Wärme war, Hauptsache Sonne, denn diese Jahreszeit war erbarmungslos: Man stürzte sich hinein und brachte es hinter sich. Doch wenn er durchhielt, einfach weitermachte, würde er sich im Frühling vielleicht anders fühlen.

Er zog sich aus bis auf die Badehose, die er schon anhatte, und tappte vorsichtig über die Steine zum Wasser, fand eine tangfreie Stelle, ging in die Knie und sprang hinein. Die Kälte legte sich ihm wie ein Schraubstock um Kopf und Brust und hüllte Eis um seinen Körper, als er ganz in die grüne Stille eintauchte und die Augen dem Salz und dem wehenden Tang öffnete, dem Ballett dicker Ranken in einer langsamen Strömung. Er schlug mit den Armen, drehte den Hals, stieg an die Oberfläche und strampelte mit den Beinen, bis inmitten der Taubheit ein Körnchen Wärme glühte. Er beschrieb einen engen Kreis um den Turm und hievte sich auf einen Felsen, keuchend und unverständliches Zeug brabbelnd, nur um die schneidende Kälte abzuwehren. Ein Windstoß schickte ihm noch Gischt von den Felsen hinterher, als er sich seine Tasche schnappte und in das Badehäuschen lief, um sich umzuziehen. Er wärmte sich mit dem Gedanken an das trockene Handtuch, die Sonne, zum zweiten Mal heute, die auf der Rückfahrt auf dem Armaturenbrett leuchten würde, die heiße Dusche mit Wasser aus der Leitung.

In dem Häuschen nahm er das Handtuch und ging in die einzige Umkleidekabine, obwohl außer ihm niemand da war. Jim legte Wert auf dieses Quäntchen Privatsphäre. Er wickelte sich die Enden des Handtuchs um die Fäuste und zog es auf seinem Rücken hin und her, während er unwillkürlich die Zehen spreizte, damit sie den feuchten Beton nicht berührten, trocknete sich Brust und Beine ab und sah die blauen Venenspuren unter der Haut. Er warf das Handtuch hin und griff nach seiner Unterhose. Das war das Gute an dem rauen Beton hier: Man hatte keine Lust, lange zu verweilen und nachzudenken.

Er trocknete sich gerade die Füße ab, als jemand an der Tür des Häuschens seinen Namen aussprach.

Weißt du noch, was Jim gesagt hat? Im Juli war das, glaube ich.

Was denn?

Jim lächelte, als er die Stimmen seiner Freunde erkannte. Er zog mit dem Handtuch an den Zehen seines linken Fußes.

John sagte: Sei mal still, ist das Jims Auto da vorn?

Ich seh mal nach, sagte Eric. Nein, er ist nicht da.

Jim hatte schon die Hand an der Kabinentür, wollte sie aufmachen und ihnen sagen, dass er schon im Wasser gewesen war, doch dann rief John: Wisst ihr was, das wird der schönste Tag unseres Lebens!

Eric lachte. Nicht so laut! Er kann jeden Moment hier sein.

Jim hielt inne. Hatte er das wirklich einmal gesagt? Er hatte es gesagt. Besser, er zog sich die Hosen an, bevor er die Kabine verließ.

Steht da draußen auf den Felsen, sagte John, und erzählt uns was vom schönsten Tag unseres Lebens. Was sollte das eigentlich?

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut rauszuplatzen, sagte Eric. Steht da in der nassen Badehose, reckt die Arme in die Luft und sagt: Schaut nur, das klare Wasser, die Sonne in den Wolken, und dann sagt er –

Nein, nicht –

Mein Gott, Jungs, ist es nicht herrlich, am Leben zu sein!

In der Kabine zog sich Jim die Hose an. Die übrigen Sachen waren in der Plastiktüte außerhalb der Kabine. Er konnte jetzt nicht gut hinausgehen und Hemd und Socken holen. Seine Freunde redeten über ihn, es wäre ihnen peinlich gewesen. Und ihm auch.

John kam wieder zu Atem. Am liebsten hätte ich gesagt: Der schönste Tag? Wir gehen schwimmen, Jim. Und was machst du?

Wär mir ja egal, aber er war’s doch, dem die Puste ausgegangen ist, sagte Eric. Will unbedingt hundert Meter weit rausschwimmen und schafft’s kaum zurück. Kann von Glück sagen, dass er nicht vollends aufs Meer rausgetrieben wurde. Er denkt, er ist immer noch ein junger Kerl.

In der Kabine musste Jim lächeln. Sie sprachen hinter seinem Rücken über ihn, und er belauschte sie dabei. Er würde noch eine Minute warten, bevor er die Katze aus dem Sack ließ. Hinterher würden sie alle in der Kneipe darüber lachen und sich auf die Schulter klopfen. Wer bekommt schon zu hören, was seine Freunde über ihn sagen?

Während er mucksmäuschenstill in der Kabine wartete, dachte Jim an den Tag, an dem er so weit hinausgeschwommen war. Es war Hochsommer, und er hatte sich kühn genug gefühlt, etwas Neues zu erforschen, Grenzen zu verschieben, den Kreis zu den größeren Wellen hin zu erweitern und hilflos und mutig dem vielen Wasser zu trotzen. Er hatte es satt, den immer gleichen Weg einzuhalten, den seine Freunde durch die Wellen bahnten. Er fasste den Entschluss erst in dem Moment, als er hineinsprang, und konnte es deshalb den anderen beiden nicht sagen, die immer nebeneinander ein Stück hinter ihm schwammen. Er machte einen Bogen nach links und war in kürzester Zeit schon so weit draußen, dass der Turm um eine Handbreit geschrumpft und seine Freunde nur noch halb so groß waren, weiter, als er eigentlich vorgehabt hatte. Wie müde er wurde! Er sagte nichts, erst als der Krampf an seiner Wade zerrte, hätte er den anderen gern etwas zugerufen, aber womöglich hätten sie ihn ausgelacht oder den Ruf aus einer unerwarteten Richtung nicht gehört, weit links, wo sonst niemand schwamm, und deshalb trat er Wasser, um wieder zu Atem zu kommen, und sah zu, wie seine Freunde den Turm umrundeten und auf die Felsen kletterten. Dann spürte er den ersten Sog einer anderen Strömung, die ihn noch ein Stück weiter hinausschob, eine gleichgültige Hand, die ihn ins Offene hinausstieß, ins unbekannte Meer, außerhalb der magnetischen Anziehung des Turms. Panik erfasste ihn. Unter ihm gähnte die See. Mit hektischen Bewegungen kämpfte er sich parallel zur Küste weiter, bis der Sog nachließ und er wieder Richtung Strand schwimmen konnte und fünfzig Meter weiter vorn aus den Wellen stieg. Vorsichtig suchte er sich einen Weg über die scharfkantigen Felsen zurück zu dem Badehäuschen, berauscht von der Sonne und der Erleichterung darüber, dass er festen Boden unter den Füßen hatte, und als er beim Turm anlangte, waren die beiden anderen schon im Häuschen, doch seine Erleichterung hatte sich in unbändige Freude verwandelt. Er stand auf dem flachen, lauwarmen Stein, und in diesem Moment rief er, dass heute der schönste Tag ihres Lebens sei, wie herrlich es doch sei, am Leben zu sein.

Jim knöpfte sich die Hose zu. Draußen vor der Kabine waren seine Freunde noch nicht fertig mit ihm.

Eric sagte: Findest du nicht auch manchmal, dass Jim ein bisschen, na ja, daneben ist?

Wie meinst du das?

Ich weiß auch nicht. Daneben halt.

Doof?, fragte John.

Ja, doof, sagte Eric. Auf eine nette Art doof, meine ich.

Kein Wunder, dass seine Frau …

Moment. Das will ich wissen, aber schau erst noch mal nach.

Jim trat von der Tür zurück. Kein Wunder, dass seine Frau was? Er legte sich das Handtuch über die Schultern.

Schritte, dann wieder Erics Stimme: Nichts. Er verspätet sich. Vielleicht kommt er heute gar nicht.

Besser, wir gehen gleich rein, über der Bucht zieht sich’s zu.

Jim hörte Taschen rascheln und Schuhe poltern, während sie sich auszogen. Wenn er jetzt die Tür aufmachte, würde er die beiden furchtbar in Verlegenheit bringen. Da wäre ihm die Peinlichkeit vorhin noch lieber gewesen. Am besten, er wartete ab, bis sie das Häuschen verließen und ins Wasser gingen, dann konnte er seine Tasche holen, sich rasch anziehen, hinausgehen und ihnen zuwinken, als sei er gerade erst gekommen. Musste er heute eben zweimal ins Wasser.

Sie sieht ja wirklich nicht übel aus, sagte John.

Ist aber ein bisschen still.

Angeblich hat sie was mit einem aus Dublin, einem Archäologen oder so.

Jim lehnte sich an die Kabinenwand. Er bekam keine Luft mehr, und sein Herz schien in eine andere Brust eingesperrt, eine fremde Brust, in der es nun schlug.

Ach komm – wer hat dir denn das erzählt?, fragte Eric.

Das weiß doch jeder – die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Die sollen so eine Art offene Ehe führen, Jim und sie.

Ich hab gehört …

Keiner stellt dem anderen Fragen, so in der Art. Sie geht mit diesem Archäologen in ein Hotel in einer anderen Stadt.

John hustete. Es hallte von den Wänden wider, eine Erkältung, die sich in einem anderen Hals festsetzt und wiederholt, und dann in noch einem anderen, wie sich so was verbreitet. Jim legte die Hand an die Kabinenwand und ließ sich auf die Bank sinken, spürte den kalten Stein unter den Füßen, eiskalt.

Schon komisch, sagte Eric, Jim sieht man nie mit einer anderen. Wie lange geht das schon?

Zwei Jahre, heißt es, sagte John.

Jim packte die Enden des Handtuchs und hielt sich damit die Ohren zu. Ein Archäologe? Der Wind blies unter der Tür durch und seine Beine hinauf. Mit ihm spürte er Jahre hereinwehen, die ihn auf der Stelle altern ließen. Seine Hoden zogen sich zusammen, und aus den nassen Haaren rannen ihm eisige Tropfen den Nacken hinab. Dann hörte er, wie Hosen abgestreift wurden.

Gut, sie flirtet schon ganz gern, sagte Eric, mit einem Hüsteln, das Jim verriet, dass er tatsächlich die Hosen ausgezogen hatte. Eric hüstelte immer genau in diesem Moment.

John sagte: Mit der Figur, da würde ich auch flirten.

Jim hat keine Ahnung, oder? Ich glaub nicht, dass er irgendwas weiß.

Nein, wahrscheinlich nicht – ist ja ein bisschen weltfremd. Aber man muss ihn einfach mögen.

Jim ist ein anständiger Kerl, sagte Eric. Ein guter Mann. Immer ein bisschen anders.

Jim saß da und betrachtete sich, besah seinen Bauch. Die Speckfalten waren immer noch da, obwohl er seit Monaten Sport trieb. Auch seine Brust wirkte schwabbeliger, Säckchen um die Warzen. Wieder rüttelte ein Windstoß an der Tür der Kabine, und Jim bekam eine Gänsehaut. Seine Beine wirkten dünner, nicht mehr so muskulös. Das viele Schwimmen hatte nichts gebracht, nur dass er jetzt wusste, wie stark ein Körper schrumpfen konnte und was ihm noch bevorstand. Ja, er war älter geworden, gerade so, als hätte er es erst bemerkt, als ihm sein Körper sagte, ich bin zweiundfünfzig, und das bist du.

Seine Frau war bestimmt glücklich. Denise und er führten eine Ehe ohne Fragen. Seine Samstage bestanden darin, dass er durch die Buchläden schlenderte, auf der Shop Street einen Kaffee trank, sich unters Volk mischte und die High Street entlangschlenderte, wo es nach Fisch und Pizza roch, bis hinunter zum Spanish Arch und von dort die paar Schritte bis zu den Schwänen am Claddagh, wo der Corrib in die Bucht mündete. Man kann eine Ehe nach den Samstagen beurteilen, dachte Jim. In dem Häuschen wurde es dunkel. Er bewegte die Schultern, er musste hier raus. Aber er wollte seine Freunde nicht vor den Kopf stoßen.

Eric sagte: Irgendwann muss man sich fragen, ob Jim überhaupt noch weiß, wie’s geht.

Von wegen, sagte John. Weißt du noch, Lucy bei dem Abteilungsessen? Ich hab gehört, Jim und sie sind auf die Toilette, und als sie wiederkam, hat sie sich ihr Kleid gerichtet. Jim ist ein bisschen später rausgekommen und hat sich an die Bar gesetzt.

Jim schüttelte den Kopf. Er hatte diese Frau nie angerührt, war damals auf die Toilette gegangen, um sie loszuwerden. Er stand auf und schwenkte die Arme, um warm zu werden.

Interessant, sagte Eric. Davon hat mir keiner was gesagt, Jim und Lucy. Regnet es schon?

Nein. Alles bestens.

Das ist immer das Schlimmste, das Hemd ausziehen. Das bringt mich um.

In der Kabine kam Jim sich kälter vor als der Wind. Er stieg auf den Sitz und machte Gewichtheberübungen, ging in die Knie, bis er mit dem Gesäß seine Fersen berührte, und streckte sich wieder, dabei atmete er leise. Fröstelnd lehnte er sich an die Wand, eine Hand auf dem Handtuch, damit es nicht herunterfiel. Er konnte hier drinbleiben, solange er keinerlei Geräusche machte, seine Freunde benutzten die Kabine nie. Jeder hatte seinen festen Bereich, Eric weiter innen und John an der Tür, und sie zogen sich immer in derselben Reihenfolge aus: Hosenbein, Hemdsärmel, das blöde Hüsteln, immer dasselbe Atmen, dieselben kleinen Hüpfer über die Risse im Beton, wenn sie zum Wasser rannten. Und weil sie beim Ausziehen immer mit dem Gesicht zur Wand standen, würden sie ihn nicht sehen, wenn er den Kopf über die Kabinentür streckte.

Er stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute.

Genau nach Plan war jetzt John Berrys schwarze linke Socke dran. Gut so, John. Jetzt den obersten Hemdenknopf, genau, mit Daumen und Zeigefinger – bestens. Und jetzt noch ein Hüsteln, wenn du das Hemd ausziehst. Jim stemmte sich mit dem rechten Knie gegen die Türangel und stellte den linken Fuß flach auf die Bank, hielt das Handtuch mit der rechten Hand fest und legte zwei Finger der linken auf die Oberkante der Kabinenwand, um das Gleichgewicht zu halten.

John zog sein Hemd aus und hüstelte. Viel kälter heute, so viel steht fest. Das Fett um Johns Hüften wabbelte, als er das Hemd am dritten Haken von links aufhängte. Jim dachte daran, wie er ihn eines Abends bei Eric beobachtet hatte, als es Kohl mit Speck gab und er sorgfältig das Fett von der glänzenden Schwarte ablöste. John Berry faltete seine Hose zusammen, legte sie in die Tasche und zupfte sie wie üblich zurecht, damit sie keine Knitterfalten bekam.

Ich weiß nicht. Kann mir nicht vorstellen, dass er das mit seiner Frau und dem Archäologen nicht weiß. Ich an seiner Stelle wüsste es, das kann ich dir flüstern. Vom ersten Moment an.

Jim versuchte, alle Archäologen durchzugehen, die er kannte.

Eric sagte: Vielleicht ist es ja eine dieser Scheinehen. Einer von beiden ist schwul, aber sie bleiben zusammen.

Du vergisst Lucy. Außer, er ist bi. Mal ehrlich, Eric, ist er dein Typ?

Lass den Quatsch!, rief Eric.

Sie lachten, während Jim in seiner Späherposition erstarrte.

Wie wär’s, sagte Eric, machen wir den nächsten Surfausflug allein, nur du und ich? Bei Jim bin ich mir nicht sicher diesmal.

Ja, genau, nur wir beide. Weißt du noch, wie er uns erzählt hat, dass im Westen die Naturgeister wohnen? Einmal hat er abends an den Kliffs von Moher gesessen und darauf gewartet, dass sie sich zeigen.

Hat sie im Mondschein tanzen sehen.

Ungefähr so? John Berry hob den linken Arm und drehte sich im Kreis, dann zog er den Bauch ein und machte einen Ausfallschritt. Er besah sich von oben bis unten.

Kann ich dich mal was fragen?

Klar.

Findest du, ich hab abgenommen?

Was? Ja, ein bisschen schon, um die Hüften.

Wirklich? Oder sagst du das nur so?

Nein, wirklich, ich glaub schon.

Jim war sich sicher, dass John sich jeden Tag auf die Waage stellte. Er brauchte keinen, der ihm das sagte. Von oben herab sah Jim, dass Johns Haare sich auf dem Kopf lichteten, und das Fett unter seinem Kiefer drückte ein Doppelkinn heraus. Seine Knie waren geschwollen, von der Arthritis.

Das ist das erste Mal, dass Jim nicht zum Schwimmen kommt, sagte John. Vielleicht hat er Ärger mit seiner Frau.

Vielleicht trifft sie sich wieder mit diesem Dozenten an der Uni.

Wieder? Das hat nie aufgehört, sagte John. Erst letzte Woche haben sie wieder geturtelt, was man so hört, in der Collegebar, in der hintersten Ecke.

Eric schwang die Arme. Der arme Kerl hat keinen Schimmer, was sie so alles hinter seinem Rücken treibt. Einmal hat sie’s sogar bei mir probiert.

Nein, sagte John.

Auf der Jahresfeier der Abteilung.

Eric legte seinen Pullover zusammen. Das war seine Routine: Er hakte die Daumen in den Bund seiner zu weiten, schlabbrigen weißen Unterhose, drehte sich zur Wand, beugte sich vor, hob das rechte Bein, dann das linke, legte die Unterhose in seine Tasche und stieg in die Badehose. Dann zog er den Pullover aus.

Jim wartete lange Sekunden, während die beiden sich die Hände rieben und in dem Raum hin und her gingen. Sich jetzt zu zeigen hätte zu Streit geführt, zu alten Dementis und neuen Ausreden. Er schluckte und spürte, wie die eisige Luft des Novembermorgens über den Betonboden strich, in der Kabine hochwirbelte und ihm mit stumpfer roter Klinge über die Knöchel fuhr. Sein linker Fuß glitt auf dem nassen Sitz aus. Im Fallen schrammte sein rechtes Knie an den Türangeln entlang. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als loszulassen. Der Sitz schnellte nach oben wie eine Wippe und krachte gegen die Wand.

O Gott, sagte Eric.

Jim hängte sich das Handtuch über Kopf und Brust. Er öffnete die Tür.

Unter dem Handtuch hervor sah er John Berrys schwarze Nylonsocken und die braunen Schuhe unter einer engen Badehose. Er zog grundsätzlich für den Sprint zum Wasser Socken und Schuhe wieder an.

Du meine Güte, sagte Eric vom Eingang her.

Was ist?, fragte John und ging zu ihm hin.

Es wird regnen.

John drehte sich um. Entschuldigung, wie ist das Wasser heute?

Die simple Tarnung mit dem Handtuch und ein bisschen Abstand. Jim wackelte mit der Hand, um anzudeuten: So lala, leider. Er nahm seine Tasche und ging in die Kabine zurück.

Eric sagte, na los, John, gehen wir rein, bevor die Wolke da ernst macht. Wir laufen runter und springen einfach rein.

John Berry und Eric Hartman rannten los.

Sie würden zum Meer laufen und sich ducken, sich in die Hände hauchen. Im letzten Moment vor dem Sprung zieht John immer Schuhe und Socken aus. Sie lassen die Arme nach hinten schwingen, gehen in die Knie und gleiten ins Wasser wie Milch in den Tee. Sie schwimmen einmal um den Turm, die Körper statisch, aber in Bewegung, Insekten in einer Kloschüssel.

In der Kabine griff Jim nach der Plastiktüte mit Hemd, Socken, Schuhen und Jacke. Es stimmte, dass Denise und er sich arrangiert hatten. Ihr Privatleben war kompliziert, aber nur von außen betrachtet. Leidenschaft war etwas, worauf er verzichten konnte, und sie empfand es vermutlich genauso. Doch falls er jemals eine andere kennenlernte, würde er es Denise sagen. Mit der Romantik war es vorbei zwischen ihnen, aber sie schliefen im selben Bett, und Denise hatte nichts von einem Archäologen oder einem Dozenten erzählt. Vielleicht war auch alles nur bösartiger Klatsch.

Sie hätte es ihm gesagt. Jim stand auf und schnallte den Gürtel über dem Hemd fest. Ja, sie war ein paarmal betrunken nach Hause gekommen. Ja, sie schien deprimiert. Er hatte sie gefragt, ob ihr irgendetwas fehle. Sie hatte gesagt, sie sei müde. Jim hatte Kerzen angezündet und ihr den Kopf massiert.

Du bist so gut zu mir, hatte sie gesagt und seine Hände berührt.

Jim verstaute die nassen Sachen in der Tasche und setzte sich wieder hin. Etwas, das man durch eine Kabinentür hört, ein aufgeschnapptes Gespräch auf der Straße, ein hastig aufgelegter Telefonhörer, wenn man ins Zimmer kommt, etwas, das man hört und das einen eine Stunde lang bedrückt oder auch ein Leben lang. Ihm blieben noch ein paar Minuten, um hinauszugehen, bevor die beiden zurückkamen, aber er brachte es nicht über sich. Statt dessen sah er Bilder von Denise, nicht mit einem anderen Mann, nicht von ihrem nackten Körper, sondern von einer Denise, die nicht die Wahrheit sagte. Er sah sie in der Küche nicht die Wahrheit sagen, im Garten nicht die Wahrheit sagen, beim Fernsehen nicht die Wahrheit sagen. Die Bilder glitten in die Vergangenheit zurück, und nach ein paar Sekunden sagte sie schon nie mehr die Wahrheit, bis zu dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten. Nicht einmal da, als er mit ihr an einem verregneten Freitag nach den Vorlesungen ins Kino gegangen war und sie noch an ihrer Diplomarbeit saß, sagte sie ihm die Wahrheit. Er spürte seinen Magen, fast musste er würgen. Er hielt sich die Hand über den Mund und spannte die Oberschenkel an, als wieder ein Windstoß in das Betonhäuschen fuhr und diesmal auch noch Regen hereinwehte.

In der letzten Minute von John Berrys und Eric Hartmans Morgenrunde erinnerte sich Jim an den Tag seines hochsommerlichen Schwimmrekords, als er das mit dem schönsten Tag gesagt hatte. Er hatte sich umgedreht und gesehen, wie die beiden in der Höhle des Häuschens einander zulächelten.

Warum denn nicht?, rief er. Warum kann heute nicht der schönste Tag sein?

Vielleicht hast du ja recht, antwortete ihm Johns Schatten, aber ich würde nicht drauf wetten. Nicht heute.

Jetzt war es zu spät, die Kabine zu verlassen. Jim blieb sitzen, bis er die beiden Männer hereinkommen hörte, schlurfend und bibbernd.

Ist das kalt! Und Jim hat sich gedrückt.

Wahrscheinlich sucht er irgendwo nach seiner Frau.

Jim schob den Riegel zurück, stürmte mit wehenden Haaren und rutschender Brille aus der Kabine und schrie die beiden an. Habt ihr nichts Besseres zu tun?

Eric sagte: Jim.

So redet ihr also hinter meinem Rücken über mich?

John nahm ein Handtuch. Nein, Jim.

Eric fragte: Warst du das vorhin?

Ja, ich hab alles gehört, sagte Jim.

War doch nur Spaß.

Jim sagte: Eric, du kannst einfach nicht die Klappe halten, deswegen erzählt dir auch keiner was, keiner bis auf den da. Er zeigte auf John. Und deine Frau will dich verlassen.

Jetzt aber langsam, sagte John.

Frag mich doch, woher ich das weiß, sagte Jim.

Sie will mich nicht verlassen.

Sie hat’s mir gesagt. Sie hat’s mir schon vor Monaten gesagt, als ich dich abgeholt hab, an dem Tag, als dein Auto in der Werkstatt war.

John schüttelte den Kopf und schaute zu Boden.

Die vielen Pillen, sagte Jim. Er ging zur Tür des Häuschens. Der Regen wurde stärker, und er spürte, wie seine Schultern nass wurden.

Du gehst jetzt besser, sagte Eric. Du redest Blödsinn.

John machte einen Schritt. Hau ab, Jim. Wir wissen, dass du sauer bist.

Ihr wisst nichts über mich. Sprecht mich nie wieder an, keiner von euch beiden.

Jim ging die Promenade entlang zu seinem Auto, ließ den Motor an und drehte die Heizung bis zum Anschlag auf. Über der Bucht von Galway raute die schwere Wolke das Wasser flockig auf, und das Auto wackelte vom Anprall eines Schauers, der Tropfen gegen das linke Fenster schleuderte. Er sah, wie Hartman und Berry mit ihren Taschen aus dem Häuschen rannten. In seinen Nieren wühlten Fäuste.

Er wusste es, ja, sicher, aber er liebte sie zu sehr, um etwas zu sagen. Und sie war nett zu ihm gewesen am Morgen seiner seltsamen und gefährlichen Eskapade draußen auf dem Meer, als er heimkam und es nicht erwarten konnte, ihr davon zu erzählen, denn solche Momente hatten sie nicht mehr, er und Denise, in denen er ihr etwas Neues erzählen konnte. Sie sagte, es sei bescheuert, so etwas zu machen, aber sie lachte auch und lächelte ihn an, ein Lächeln, das er aus einer viel früheren Zeit kannte. Und für einen kurzen Moment hatte er gedacht, es gäbe vielleicht doch noch Hoffnung.

Durch den prasselnden Regen sah er, wie seine Freunde auf der Promenade zum Abschied die Hand hoben und sich herabbeugten, um ihre Autotür aufzuschließen. John Berry zog sich die Jacke über den Kopf. Jim saß mit den Händen auf dem Lenkrad da und wartete, dass der Motor warmlief. Der Regenschauer zerrte die Körper seiner Freunde über das Fenster, ließ sie auf der Windschutzscheibe zerrinnen und machte sie schließlich zu Fremden.

Wie lange?

Ein paar Minuten außerhalb von Dublin, auf der Fahrt nach Galway, fragte Peter seine Frau: Angenommen, ich würde morgen sterben, wie lange würdest du warten, bis du es mit einem anderen machst?

Er überholte ein langsam fahrendes Auto, und Brenda sah ihn verständnislos an: Bis ich was mache?

Du weißt schon, mit einem anderen Mann schlafen. Wie lange wartest du, wenn ich morgen sterbe?

Sie musterte ihn von oben bis unten. Was für eine furchtbare Frage. Mein Gott, wie kommst du denn auf so was? Sie setzte sich wegen der gleißenden Abendsonne die Sonnenbrille auf und verschränkte die Arme.

Also keine Antwort, sagte Peter.

Sie fuhren unter der Brücke in Maynooth durch, und der Verkehr wurde dichter. Es war ein verlängertes Wochenende im Juni, und anscheinend fuhren alle gleichzeitig nach Westen. Peter klappte die Sonnenblende herunter. Er wollte ihr sagen, dass er gerade eine Reklametafel für eine Lebensversicherung gesehen und sich gefragt hatte, was passieren würde, wenn er umkäme und sie allein wäre. Natürlich führte ihn dieser Gedanke weiter zu der Frage, wie lange sie warten würde, bevor sie sich mit einem anderen Mann zusammentat. Die Vorstellung, dass sie mit jemandem schlafen könnte, der jetzt noch ein Fremder für sie war, hatte ihm einen Stich versetzt, und dann hatte er sich gesagt, dass sie den Mann ja vielleicht schon kannte; vielleicht trank sein Nachfolger in diesem Moment gerade nur ein paar Meilen entfernt eine Tasse Kaffee oder joggte oder sah fern. Die Frage hatte sich ihm aufgedrängt, und er hatte sie ausgesprochen, ohne lange zu überlegen.

Brenda sagte nichts mehr und hielt die Arme verschränkt.

So viel dazu, dass man erst bis zehn zählen soll, bevor man den Mund aufmacht. Er wollte ihr nicht gestehen, dass eine Reklametafel am Straßenrand ihn dazu gebracht hatte, eine so törichte Frage zu stellen, also schwieg auch er, trat abwechselnd aufs Gaspedal und auf die Bremse und klopfte im Takt der Radiomusik aufs Lenkrad, bis sie sich nach einer Meile noch einmal der gleichen Reklame näherten.

Wenigstens eine grobe Schätzung, sagte er.

Sie fuhr zu ihm herum. Darauf kriegst du keine Antwort von mir, kapiert? Hast du irgendwas vor?

Nein, nein. Ich wollte es nur wissen. Nur eine Frage, sonst nichts. Er hob die Schultern, um seine Unschuld zu beteuern, und verspürte den ersten Anflug von Reue. Jetzt hätte er die ganze Sache am liebsten vergessen, aber die Frage ließ ihn nicht mehr los: Er sah sie näher kommen, darauf bedacht, im Rückspiegel zu bleiben. Die Autos bewegten sich nur ruckweise vorwärts. Noch ein paar Meilen, dann würde es bestimmt flüssiger werden. Das Lenkrad fühlte sich feucht an, aber er dachte, dass ihre Eifersucht ihn auch freute, wenn es denn Eifersucht war. Er hätte gern die Fensterscheibe heruntergelassen, aber Brenda hasste Abgase, und die Klimaanlage funktionierte nicht richtig, wenn sich das Auto nicht bewegte. Die Sonne stand inzwischen so tief, dass die Blende nichts mehr nützte. Er lehnte sich zurück und streckte sich. Er fühlte sich müde.

Sie fuhren nach Galway, um das Wochenende bei Brendas Eltern zu verbringen. Sie war verärgert, und jetzt würde das Wochenende mörderisch werden; er hörte schon, wie es mit seinen Messern auf ihn losging, wie es den Samstag am Sonntag wetzte.

Zehn Minuten später fragte sie: Plötzlich oder nach langer Krankheit?

Er antwortete, ohne zu überlegen, weil er das ganze Thema loswerden, das Gespräch darüber ein für alle Mal beenden wollte.

Was spielt das für eine Rolle?

Na ja, wenn du bei einem Unfall ums Leben kämst, wäre ich in einem Schockzustand und würde lange Zeit nicht mehr mit jemandem zusammen sein wollen. Aber angenommen, du stirbst langsam, in einem Krankenhausbett, an einer unheilbaren Krankheit, das wäre wahrscheinlich was anderes.

Sie löste ihre Arme und schien sich wieder zu entspannen, aber Peter hatte das Gefühl, dass er jetzt weitermachen musste.

Also gut. Ich sterbe an einer Krankheit. Was ist der Unterschied?

Sie sagte: In diesem Fall würde ich, was weiß ich, vielleicht drei Monate warten.

Peters Herzschlag beschleunigte sich. Hab ich richtig gehört? Drei Monate? Du würdest ganze zwölf Samstage warten? Das darf doch …

Reg dich nicht auf, war ja nur so ins Blaue hinein gesagt.

Er wechselte auf die linke Spur, um dem Unfall auszuweichen, der an dem Stau schuld sein musste. Zwanzig andere machten das Gleiche, nervöse, ungeduldige Drängler, die viel zu dicht auffuhren und immer erst im letzten Moment bremsten. Von dem ständigen Geruckel wurde ihm schlecht, das hatte er schon seit seiner Kindheit. Er rechnete noch einmal die Monate in Wochen um, nur um sicherzugehen, dass er keinen Fehler gemacht hatte.

Zwölf Samstage, sagte er.

Du hast mich gefragt, sagte sie.

Also bitte, murmelte er. Der Wagen vor ihm bremste ihn aus, und als er wieder beschleunigte, schoss ein anderer in die Lücke.

Hoffentlich bist du jetzt nicht den ganzen Abend sauer, bloß weil ich deine Frage beantwortet habe, sagte sie. Mehr hab ich nämlich nicht getan, ich hab nur …

Ich weiß.

… auf deine Frage geantwortet.

Er dachte an den imaginären Mann, der ihr die Bluse auszog, und dann ließ ihn diese Vorstellung nicht mehr los. Das Verrückte daran war, dass sie beide Anfang dreißig waren und keinen Grund hatten, an so etwas auch nur zu denken, und jetzt kreiselte alles weiter wie eine Münze, eine Frage, die er einfach in die Luft geworfen hatte, ausgelöst durch diese Reklame mit dem Fettsack, der aussah, als würde er keinen Tag länger leben, und der wahrscheinlich in diesem Moment zu Hause auf der Couch saß, sein Bier gluckerte, sich durch die Kanäle zappte und keine Ahnung hatte, welche Kettenreaktion er mit diesen großen schwarzen Lettern über seinem Kopf ausgelöst hatte, die Peter vor einer halben Stunde gelesen hatte, als sie in dem Stau steckten: Was tun Ihre Lieben, wenn Sie morgen sterben?

Als sie eine Stunde später Athlone erreichten, sagte Peter, er wolle sich in ein kühles Café an der Straße setzen und vielleicht einen Kaffee trinken, um wach zu werden, aber sie sagte, sie wolle weiterfahren, sie hätten ja schon mehr als die Hälfte geschafft. Ausgemacht war, dass sie in einem Hotel in Galway übernachten würden, damit, so hatte er gemeint, ihre Eltern nicht ihretwegen aufbleiben mussten. Der wahre Grund war, dass er dann einen Abend weniger mit zwei Menschen verbringen musste, die er nie wirklich gemocht hatte und die ihn nicht mochten. Nicht gut genug für ihre einzige Tochter. Sie hatten sich vor ein paar Jahren in Galway zur Ruhe gesetzt, sich eingekauft, bevor die Preise in die Höhe schnellten.

Während sie mit hoher Geschwindigkeit weiterfuhren, wandte Brenda sich ihm zu. Die Straße verengte sich wieder auf zwei Spuren und auf die Worte, die sie sagte, auf die etwas traurigen Augen, die ihrem Lächeln widersprachen.

Ich hab manchmal dran gedacht, es zu tun, wenn du auf Geschäftsreise warst.

Er hatte jetzt auf der kurvenreichen, engen Straße einen großen Bus vor sich. Er sah gar nichts, konnte auf viele Meilen nicht überholen. All die vielen Autos, kein Entrinnen. Dann wurde ihm bewusst, was Brenda gesagt hatte, und er ließ es noch einmal ablaufen, und plötzlich konnte er sie nicht mehr ansehen. Er hatte die Frage gestellt, hatte es sich selbst eingebrockt, und dafür bekam er diese Antwort und alles, was noch kommen würde.

Ich hab dran gedacht, sagte sie.

Der Bus qualmte aus dem Auspuff, und sein Hintermann forderte ihn per Lichthupe auf, schneller zu fahren.

Er sagte: Schon okay. Deswegen hab ich ja gefragt. Ich wollte einfach wissen, wie lange du warten würdest, das war alles.

Erzähl mir nicht, dass du nie andere Frauen angesehen und es dir gewünscht hättest, sagte Brenda. Ich hab dich beobachtet, wie du sie anschaust, wenn wir zusammen ausgehen.

Sie hatte recht. Er hatte Frauen in Bars und auf der Straße angesehen, und wenn sie es darauf angelegt hätten, hätte er sie nicht zurückgewiesen. Er hätte das jetzt gern zugegeben, fürchtete sich aber davor, was sie dann denken würde. Die Sonne sank den Baumwipfeln entgegen, malte den Himmel rot an, skizzierte die Nacht.

Ich hab nie mit einer anderen geschlafen, seit wir verheiratet sind, falls du das meinst, sagte er, und sehnte sich danach, dass sie dasselbe sagen würde.

Aha, sagte sie. Und ich soll jetzt dasselbe zu dir sagen. Du bringst das aufs Tapet, wenn wir zu meinen Eltern fahren, und ich hab keine Ahnung, warum.

Ich auch nicht. Er drehte am Radio den schwachen Sender weg. Es tut mir leid, Brenda.

Er stemmte sich gegen das Lenkrad. Es wäre besser gewesen, nichts zu sagen, es auf sich beruhen zu lassen und stattdessen wie alle anderen morgens um drei darüber nachzudenken, über Treue und Kameradschaft. Der Typ auf der Reklametafel rüstete sich jetzt bestimmt schon für den Freitagabend des langen Wochenendes und lockerte seinen Gürtel.

Eine Stunde später erreichten sie die Außenbezirke von Galway; es war schon ganz dunkel, und die Scheinwerfer reihten sich an der Straße auf wie Perlen an einer Kette. Brenda zeigte nach der Seite: Da, Peter, ich glaube, das ist unser Hotel.

Als er abbog, sagte sie: Weißt du, wenn man mit jemandem zusammen ist, dann geht’s manchmal darum, einen Freund zu haben, einen Kameraden.

Peter witterte Entspannung und sagte: Ich schwöre dir, ich habe vorhin genau dasselbe gedacht, über Kameradschaft, als wir an Athlone vorbeigefahren sind.

Sie lächelte. Aber du hast nichts gesagt, Peter. Ich wollte, du wärst spontaner.

Er bog in eine Seitenstraße ein. Du meinst impulsiv?

Das hab ich nicht gesagt. Ich hab gesagt spontan. Man muss sein Leben leben, stimmt’s?