Morikoko - Kaja Ohlsen - E-Book

Morikoko E-Book

Kaja Ohlsen

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Beschreibung

Max ist erkältet und sucht bei seinem Freund Trost und Fürsorge, doch Alex benimmt sich wieder einmal wie der Elefant im Porzellanladen. Als er jedoch bemerkt, wie sehr er Max verletzt hat, schenkt er ihm einen Wunsch und wird kurzerhand von Max zum Märchenerzähler erklärt. Und so beginnt Alex mit seiner Geschichte über einen Jungen, der vom Vater verstoßen durch den Wald irrt. Von gütigen, sprechenden Bäumen und weisen plappernden Steinen. Von frechen Fuchskindern, trotzigen Rotkätzchen, Herbstgesängen und der großen Liebe. Die geht bekanntlich gerne seltsame Wege - und manchmal trägt sie sogar einen Hut.

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Seitenzahl: 429

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Das Buch

Max ist erkältet und sucht bei seinem Freund Trost und Fürsorge, doch Alex benimmt sich wieder einmal wie der Elefant im Porzellanladen. Als Alex jedoch bemerkt, wie sehr er Max verletzt hat, schenkt er ihm einen Wunsch. Anstatt einer Bestellung seines Lieblingsgerichts beim Italiener oder einer Tasse heißen Kakaos wünscht Max sich – ein Märchen.

Und so beginnt Alex mit seiner Geschichte über einen kleinen, armen Jungen, der von seinem Vater verstoßen wird und durch den Wald irrt. Von gütigen, sprechenden Bäumen und weisen plappernden Steinen. Von frechen Fuchskindern, trotzigen Rotkätzchen, Herbstgesängen und der großen Liebe. Die geht bekanntlich gerne seltsame Wege - und manchmal trägt sie sogar einen Hut.

Die Autorin

Kaja Ohlsen (Pseudonym), geboren 1989 in Hamburg, wuchs in Schleswig-Holstein auf. Im Alter von 14 Jahren zog sie mit ihren Eltern in ein kleines Dorf in Niederbayern. Dort absolvierte Kaja Ohlsen zunächst die Realschule, anschließend die Ausbildung zur Erzieherin. Seither arbeitet sie in einer Kindertagesstätte und schreibt sowohl an eigenen Romanen, als auch an Fanfiction.

Bisher von der Autorin bei BoD erschienen:

Irgendwo auf der Welt (2016)

Die bezaubernde Miss Kitty (2017)

Die Ecken meines Herzens (2018)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Zwischenspiel

Kapitel 12

2. Zwischenspiel

Kapitel 13

Epilog

Alex und Max

Prolog

„Mein Kopf tut weh.“

„Aha.“

„Und mein Hals kratzt furchtbar.“

„Hm.“

„Luft bekomme ich auch kaum.“

„Tja.“

„Ich glaube, ich muss sterben.“

„Ich glaube, du spinnst noch mehr als sonst.“

„Ich bin krank. Schwer krank“, empört sich Max, hustet demonstrativ und zieht sich die Decke wieder bis unters Kinn. Er sitzt seit einer halben Stunde auf seinem Lieblingssessel, fest in die große, petrolfarbene Decke eingewickelt, die eigentlich Alex gehört.

Tatsächlich ist er zwar recht blass, hustet und niest schon den ganzen Tag und klingt, als hätte er die letzte Nacht bei einem Punkrockkonzert sämtliche Lieder mit gebrüllt, aber trotzdem wird Alex das Gefühl nicht los, dass Max ein klein wenig übertreibt. Er ist halt eine Mimose. „An Schnupfen sterben nur Katzen“, entgegnet Alex deshalb und versteckt sich weiter hinter seiner Auto, Motor, Sport.

„Du bist ein herzloser Mistkerl.“ Max hustet erneut, aber dieses Mal ist es definitiv echt. Es klingt bellend, rau und schmerzhaft und will und will einfach nicht aufhören.

Als Alex nun doch das Magazin senkt, schimmern Tränen in Maximilians von der Erkältung geröteten Augen und sein Gesicht ist noch eine Spur blasser als zuvor. Ein Seufzer gleitet über Alex' Lippen. Er weiß schon sehr lange, dass er ein ziemliches Arschloch sein kann. Genau genommen, dass er ein ziemliches Arschloch ist. Ihm fehlen gewisse soziale Kompetenzen. Rücksicht fällt ihm extrem schwer. Mit Mitleid hatte er auch schon immer Probleme. Empathie? Komplette Fehlanzeige.

Umso weniger versteht er, warum ausgerechnet Max mit all seiner liebevollen Zärtlichkeit, seiner Fürsorge und seiner tiefverwurzelten romantischen Ader ihm seine Zuneigung schenkt. Es ist ihm ein absolutes Rätsel – und das seit nunmehr vier Jahren.

„Tut mir Leid“, brummt Alex entschuldigend, „du hast Recht, was den herzlosen Mistkerl angeht.“

Er steht von der Couch auf und schnappt sich die leere Thermoskanne, die auf dem Wohnzimmertisch steht, inmitten von Hustensaft, Lutschbonbons und Zupfboxen. „Ich mach dir deinen Erkältungstee und koche dir noch eine Suppe. Du brauchst was in den Magen. Oder möchtest du lieber was anderes?“

„Keinen Hunger“, murmelt Max und schiebt die Decke beiseite. Er setzt schwerfällig und ungelenk die Beine vom Sessel auf den Boden und steht auf. „Bin müde. Gute Nacht.“ Und bevor Alex noch etwas sagen kann, verschwindet Max aus dem Wohnzimmer, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Jetzt fühlt sich sogar Alex mies. Ja, Max ist manchmal ein kleiner Hypochonder, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es ihm gerade schlecht geht. Wäre es da zu viel verlangt gewesen, dass Alex ihm ein wenig hilft? Ihn umsorgt, ihm Brust und Rücken mit Erkältungscreme einreibt und vielleicht sein Lieblingsessen kocht? All die Dinge macht, die andersherum für Max eine Selbstverständlichkeit darstellen, wenn Alex krank ist?

Aber nein.

Er sagt ihm den ganzen Tag lang, dass er sich nicht so anstellen soll.

Sehr liebenswürdig und aufmerksam.

Alex macht also einen Umweg über die Küche zum Schlafzimmer, kocht in der Mikrowelle eine Tasse Kakao für Max und gibt einen Klacks Sprühsahne darauf. Aus dem großen Waschschrank im Flur schnappt er im Vorbeigehen eine dunkelgraue, weiche Wolldecke und klemmt sie sich unter den Arm, zusammen mit einem zusätzlichen Kissen. Im Schlafzimmer setzt er sich an die Bettkante, stellt die Tasse ab und legt Decke und Kissen auf das Bett. Max hat ihm den Rücken zugedreht und die Decke bis an die Nasenspitze gezogen.

„Lass mich in Frieden“, brummt sein Freund, was weit weniger bedrohlich klingt als sonst. Liegt wahrscheinlich an der verstopften Nase, die seine Aussprache sehr nasal klingen lässt. Irgendwie französisch, findet Alex, allerdings ist es vermutlich nicht hilfreich, wenn er das jetzt zu Max sagt.

„Komm schon, du weißt doch besser als ich, was für ein Idiot ich sein kann“, sagt er und legt seine Hand auf Maximilians Schulter.

Der jedoch entzieht sich seiner Berührung. „Du schaffst es immer wieder, dich zu steigern“, erwidert Max und klingt alles andere als versöhnlich.

„Es tut mir leid, wirklich. Ich mach es wieder gut.“

„Ach ja? Und wie?“

„Wünsch dir was.“

Nun scheint Max doch aufzuhorchen und überlegt. „Ein Märchen“, sagt er dann, „erzähl mir ein Märchen.“

„Damit du wieder nicht einschläfst?“

„Du hast gesagt, ich darf mir etwas wünschen. Ich wünsche mir ein Märchen. Mit Wald und Herbst und Liebe.“

Alex seufzt ergeben. „Na gut.“ Er breitet die Decke über Max aus, der sich nun auf den Rücken dreht. „Es war einmal, vor langer, langer Zeit, ein kleiner Junge, der lebte mit seinen Eltern und seinen Geschwistern in einer kleinen Hütte am Rande eines Waldes. Der kleine, magere Junge eignete sich kaum zur Arbeit, zu schwerer schon gleich gar nicht, und stahl sich wieder und wieder davon, die Tiere und Blumen der Wiesen und Wälder zu beobachten.“

„Danke“, murmelt Max leise, als Alex ihm auch noch das zweite Kissen unter den Rücken schiebt und den heißen Kakao in die Hand drückt.

Während er aus seinen Klamotten schlüpft, erzählt Alex weiter: „Kein Handwerker der umliegenden Dörfer wollte den schmächtigen Knaben in die Lehre nehmen und so entschied der Vater, ihn mit zur Jagd zu nehmen, auf dass er wie er ein Jäger werde und das Fleisch und das Fell der Tiere verkaufen konnte. Doch jedes Mal, wenn sie im Wald innehielten und der Vater auf ein Tier die Armbrust anlegte, musste der Junge husten oder niesen, stieg unbedacht auf einen Zweig, der daraufhin knackend brach, oder machte ein anderes Geräusch, das ihre Stellung verriet und das Tier zur Flucht antrieb. Als sein Vater schließlich vier Fuchswelpen entdeckte, die vor einer Höhle tobten und balgten, wies er den Jungen an, stehen zu bleiben und zu warten, bis er mit der Arbeit fertig war.

Der Knabe wartete, überlegte, wie er die Tiere warnen konnte, ohne sich selbst zu verraten, doch als ihm nichts einfallen wollte und der Vater bereits auf den ersten Welpen zielte, lief er los und schrie. Der Vater zuckte zusammen, verriss die Waffe und schoss in einen Baum. Der Pfeil blieb bebend im Stamm stecken, die Welpen schreckten auf und verschwanden im Bau ihrer Mutter. Der Vater war ungehalten und stapfte auf den Jungen zu, vor Wut die Hände zu Fäusten geballt, packte seinen Sohn am Kragen, schüttelte ihn wild und warf ihn dann auf den moosigen Boden. Er griff nach seiner Armbrust, warf seinem Sohn einen abschätzigen Blick zu und sagte: „Wenn du nur verloren gingest, die Welt wäre für mich voll sonniger Tage.“ Er wandte sich von dem Jungen ab und setzte sich in Bewegung, ohne ihn eines weiteren Blickes oder Wortes zu würdigen.“

„Grausam“, murmelt Max und schnieft. „Das wird jetzt aber nicht wie beim Mädchen mit den Schwefelhölzern und der Junge erfriert im Wald.“

„Willst du das Märchen hören oder nicht?“

Max seufzt. „Erzähl weiter.“

1

Der Junge lag auf dem feuchten, moosigen Waldboden, Tränen in den Augen und auf den Wangen, schmerzende Oberarme dort, wo sein Vater ihn grob gepackt hatte, und das Gefühl im Herzen, dass es besser war, tatsächlich verloren zu gehen. Wenn er jetzt zurückkehrte, würde er in die enttäuschten Augen seiner Mutter blicken müssen und dies wäre schlimmer als jede Strafe, die sein Vater sich für ihn ausdenken konnte. Also schluckte er schwer gegen den Kloß in seinem Hals an, setzte sich auf und wischte sich mit dem Hemdsärmel die Tränen aus dem Gesicht. Er stand auf, sah sich kurz um und stapfte dann los – tiefer und immer tiefer in den Wald hinein. So lange und so weit wollte er gehen, bis er nicht mehr wusste, wie er aus dem Wald wieder heraus kam und ihn auch sonst niemand mehr finden konnte.

Während er über den erdigen Boden stapfte, die kleinen Hände zu Fäusten geballt, nichts am Leib als Hose, Hemd und ärmelloser Weste, dachte er an seine Geschwister, die sich bald an den Tisch setzen würden, um sich ums Abendbrot zu streiten: Brot, ein winziges Stück Käse, vielleicht ein Schluck Milch. Wenn er nicht nach Hause kam, hatten sie einen Konkurrenten, seine Mutter einen zu fütternden Mund weniger. Er, der ohnehin nie etwas dazu beitrug, dass Essen auf dem Tisch landete und die Bäuche füllte, würde ihnen nie wieder zur Last fallen, das schwor er sich bei allen Heiligen.

Trotz seiner Entschlossenheit wurden seine Schritte bald langsamer. Der Wald wurde dichter, unwegsamer, und die Dämmerung setzte ein, die Sonne entzog ihr Licht dem Himmel, während der abendliche Wind mit winterlicher Kälte durch seine Kleidung fuhr, als trüge er sie überhaupt nicht am Leibe. Arme und Beine begannen zu zittern, wenig später die Zähne zu klappern. Er verschränkte die Arme vor dem Oberkörper und steckte seine Hände schützend unter die Achseln, um sie zu wärmen. Umdrehen wollte er dennoch nicht.

Er dachte an all die Male, die sein Vater ihn zu einem der Handwerker im Dorf oder Nachbardorf gebracht hatte, immer in der Hoffnung, sein Sohn möge sich für irgendeine Arbeit eignen, egal, welche es sein mochte. Die Hitze beim Schmied hatte er nicht vertragen, die Säcke in der Mühle waren viel zu schwer gewesen und dem Tischlermeister zufolge fehlte ihm das rechte Augenmaß. Jedes Mal hatte sein Vater ihn wieder abholen müssen, jedes Mal gab es nichts als ein ablehnendes Kopfschütteln.

Nichts zu machen, mit dem Jungen, hatte selbst der Priester gesagt, der sich für einige Wochen erbarmt hatte, ihm ein paar Worte Latein beizubringen.

Als seine bloßen, kleinen Füße so sehr brannten, dass er keinen Schritt mehr zu gehen vermochte, war es so dunkel geworden, dass er keinen Meter mehr weit sehen konnte, und der erste Schnee des Winters fiel in kleinen, winzigen Flocken zur Erde. Er stolperte über eine Wurzel, Zweige schlugen ihm ins Gesicht und die Haut seiner Hände riss sich an Steinchen und Ästen wund, als er zu Boden stürzte. Müde, ausgelaugt und durchgefroren fehlte dem Jungen die Kraft, aufzustehen. Er zog die Knie eng an den Körper und umschlang sie mit seinen starren Armen. Längst hatte er aufgehört, ob der klirrenden Kälte zu zittern.

„Was liegst du zu meinen Füßen und weinst, Menschenkind? Das ist kein rechter Ort zum Schlafen. Heute Nacht kommt der Frost. Geh nach Hause, kleiner Mensch“, sprach jemand mit tiefer, brummender Stimme.

Der Junge wollte antworten, doch alles an ihm war starr und eisig, seine Finger und Füße spürte er kaum noch. Seine Gedanken waren träge und ziellos, Bilder seiner Geschwister tauchten vor seinen verschlossenen Augen auf: wie sie am Tisch saßen und aßen und dabei kein Wort sprachen; sein Vater, der mit dem Hund nach draußen ging, eine Laterne in der klobigen, schwieligen Hand, nach Bewegungen am Waldrand suchte, ohne jedoch einen Namen zu rufen; seine Mutter, die stumm am Tisch saß, das Hemd des Vaters in Händen, das dringend geflickt werden musste, den Blick auf seinen Teller und den leeren Platz gesenkt, die Augen abwesend.

Ob sie ihn doch vermissten, ein klein wenig nur?

Vielleicht würde er von ihnen träumen, wenn er einschlief, von Mutters dampfend heißer Kartoffelsuppe oder den kleinen Tierfiguren, die sein Vater aus Holzresten für seine Kinder schnitzte. Oder den Liedern, die seine Schwestern sangen, während sie einander an den Händen hielten und im Kreis hüpften. Von seinen Brüdern, die miteinander um die Wette liefen oder sich im Spiel schubsten und stießen, bis doch wieder einer von ihnen weinte.

Ob sterben wohl weh tat?

Oder war es wie einzuschlafen, nur ohne aufzuwachen?

Wenn du nur verloren gingest, hörte er die schroffen Worte seines Vaters in seinen Ohren summen.

Zum ersten Mal in seinem Leben würde er seinen Vater nicht enttäuschen - mehr verloren gehen als zu sterben, konnte man vermutlich nicht.

Flügel schwangen sich durch die Nacht. Krallen kratzten über Holz. „Das ist der Mensch, der Aminas Welpen gerettet hat“, krächzte jemand von ganz weit oben.

„So, so“, brummte die tiefe Stimme von zuvor.

„Die Seinen wollen ihn nicht mehr, er ist ihnen unbequem, er nimmt ihnen die Sonne, Sonne, Sonne“, krächzte das Wesen weiter. „Und jetzt stirbt der Mensch hier. Schade drum. Schade drum. Dummdidummdidumm.“

Äste knarrten und knacksten, als sich der Erste wieder zu Wort meldete. „Schluss mit dem Unsinn, wer wird denn gleich von Sterben reden. Das Menschenkind hat sich zu meinen Wurzeln hernieder gelegt, also will ich mich darum kümmern. Flieg weiter, Plappervogel, bevor ich dich von meinen Ästen schüttle. Ich habe mit dem Kind zu sprechen.“

Ein kurzes, protestierendes Krächzen zerriss die Stille der Nacht, doch dann schlugen Flügel durch die Luft und der Vogel verschwand in der Ferne.

Vielleicht ist das so, wenn man stirbt, dachte der Junge bei sich, da hörst du dann die Tiere und Pflanzen sprechen, weil der liebe Herrgott dich zu sich ruft und deine Ohren wieder öffnet für all die fremden Sprachen, die einmal eine einzige waren.

„Du hast gut getan an den Bewohnern dieses Waldes, also wollen wir auch gut an dir tun und dir eine Zuflucht bieten. Doch deine Menschenhaut ist nutzlos gegen Wind und Wetter; damit du bei uns bleiben kannst, brauchst du ein dichtes Fell. Die Füchse hast du beschützt, nun soll dich ihr Fell beschützen, solange du es zu tragen wünschst.“

Wärme erfasste den Körper des Jungen, flauschige Gemütlichkeit breitete sich aus. Ein leises Knacksen und Knicksen knisterte um ihn herum und nach wenigen Minuten drang der eiskalte Wind nicht mehr zu ihm hindurch. Er rollte sich noch enger zusammen und spürte weiches Fell, das ihn an der Nasenspitze kitzelte.

„Diese Höhle soll von nun an die deinige sein. Du kannst hier schlafen und ausruhen, solange du möchtest. Meine Wurzeln sollen dir zu jeder Zeit Zuhause und Schutz sein. Und nun schlafe, Menschenkind, du Kind des Waldes. Schlafe, bis die Morgensonne dich wach kitzelt, kleiner Morikoko.“

Und so schlief der Junge in der Geborgenheit der dichten Wurzelhöhle auf weichem Moos und eingehüllt in warmes Fell.

2

Die Morgensonne bekam keine Gelegenheit, ihn in seiner Höhle aus dem Schlaf zu kitzeln. Denn bevor sie ihre weichen, hellen Strahlen auf seiner Nasenspitze tanzen lassen konnte, steckte jemand energisch seinen Kopf zum Eingang der Höhle herein.

„Der blöde Vogel hat Recht! Da liegt er!“, rief eine hohe, fiepsende Stimme aufgeregt.

Erschrocken zuckte er zusammen und stolperte dann über seine eigenen Beine, als er aufspringen und zurückweichen wollte. Er riss die Augen auf und blickte verwirrt in das flauschige, bräunlich-rote Gesicht eines Fuchswelpen.

„He, rutsch, mach Platz, ich will ihn auch sehen!“

„Macht euch doch nicht so breit, ihr seid nicht alleine im

Wald!“

„Das musst du gerade sagen, du bist doch breiter als wir drei zusammen!“

„Könnt ihr mal die Klappe halten? Ich glaube, wir machen ihm Angst“, fiepste der erste Fuchs, schob den Kopf eines anderen wieder aus der Höhle hinaus und wandte sich dann dem Jungen zu. „Mama sagt immer, wir sind zu stürmisch. An uns muss man sich erst gewöhnen.“

„Frag ihn, ob er zum Spielen raus kommt!“

„Du sollst still sein, hat sie gesagt!“

„Selber!“

„Schluss jetzt!“, fauchte der Fuchs zur Höhle hinaus. „Er kommt ja gar nicht dazu, etwas zu sagen! Wir müssen ...“ Äste knarrten und knacksten und der kleine Fuchs wurde langsam rückwärts aus der Höhle gezogen. „Halt! Nicht! Lass mich los, alter Baum, oder ich beiße dich in deine Wurzeln!“ Jemand lachte amüsiert, aber freundlich. Eine tiefe Stimme erwiderte: „Du bist ein Wildfang, kleine Nalani, genau wie deine Mutter einer war. Setz dich zu deinen Brüdern und warte, bis ich mit Morikoko gesprochen habe. Dann könnt ihr mit ihm spielen, falls er das möchte.“

„Aber ich ...“

„Na!“

Schnauben. „In Ordnung. Aber nur kurz. Wir müssen los“, fiepste das Fuchskind.

„So so“, sagte der Baum und ließ das Füchslein auf den Boden plumpsen. „Morikoko, kommst du zu uns heraus? Ich möchte dich gerne sehen, wenn wir uns miteinander unterhalten.“

Das muss ein Traum sein, dachte der Junge, während er den Füchsen und dem Baum zugehört hatte. Sein Blick fiel auf seine Hände, die keine Hände mehr waren, sondern kleine, behaarte Pfoten. Sein Herz begann schneller zu schlagen, als sich auch seine Füße als Pfoten erwiesen.

Er musste im Wald eingeschlafen sein und jetzt träumte er, während er erfror. Genau, das war die einzig sinnvolle Erklärung. Immerhin würde es dann nicht weh tun, das Sterben. Und … solange er träumte, was sprach dagegen, die Höhle zu verlassen, um sich mit einem Baum zu unterhalten?

Er atmete tief durch, sah dann an sich herab und musterte seine vier Beine und Pfoten. Nacheinander wackelte er mit den Zehen. Ein seltsames Gefühl.

Versuchsweise stellte er sich auf seine Pfoten, spürte das Moos unter seinen bloßen Sohlen. Ein letztes Mal atmete er tief ein, dann setzte er sich in Bewegung und stakste ungelenk aus der Wurzelhöhle heraus. Dabei verlor er zweimal das Gleichgewicht, stolperte rückwärts und fiel beinahe auf seinen Hintern. Die Fuchskinder grinsten und kicherten, doch er hatte keine Zeit, sich lange darüber zu ärgern, denn als er sich umdrehte, blickte er direkt in das runzlige, knorrige Gesicht eines dicken, uralten Baumstamms, über dem viele Meter hoch blattlose Äste als gewaltige Krone in den kühlen Morgenhimmel ragten.

Mit offenem Mund starrte er in das Gesicht. Dieses Mal landete sein Hintern tatsächlich auf dem Boden. Kleine Steine und Äste piksten ihn, doch das war ihm egal. Noch nie hatte er etwas derart Beeindruckendes gesehen.

„Guten Morgen, mein kleiner Morikoko. Wie ich sehe, hast du dich gut von den Strapazen erholt. Laufe nur mit deinen neuen Pfoten durch den Wald, dann werden sie sich alsbald anfühlen, als wärst du mit ihnen geboren. Aber vergiss nicht:

Sie sind nur eine Leihgabe zu deinem Schutz. Wann immer du wieder als Mensch über die Erde wandeln und nicht mehr hier leben möchtest, brauchst du den Wald nur zu verlassen, um das Fell abzustreifen. Hast du das verstanden?“

Er nickte.

Nicht, dass er es tatsächlich verstanden hätte, aber er wollte nicht die Geduld eines so mächtigen Wesens auf die Probe stellen, ganz gleich, ob Traum oder Wirklichkeit. Erwachsene konnten sehr schnell wütend werden, wenn Kinder etwas nicht verstanden, und wenn er auf etwas verzichten konnte, dann sicherlich, dieses Wesen zu erzürnen.

„Dann geh spielen, kleiner Morikoko, entdecke deine neue Heimat und sei unbesorgt. Nalani wird dich unbeschadet pünktlich zur Dämmerung zurück zur Wurzelhöhle bringen.“

„Versprochen!“, meldete sich das Fuchsmädchen und sprang auf ihre Pfoten. Sie sah vom Baumgesicht zu ihm herüber und fragte: „Kommst du mit, Morikoko?“

Er zögerte einen Moment, aber dann nickte er erneut.

Plötzlich sprangen die anderen Fuchswelpen ebenfalls auf die Füße, umringten ihn, stupsten ihn mit ihren kleinen, feuchten Nasen und schnupperten an ihm.

Morikoko.

Der Name klang irgendwie … richtig, dachte der Junge bei sich.

„Wir wollen zu den plappernden Steinen, um unsere Zukunft vorhersagen zu lassen“, sagte einer der Füchse, dessen linkes Ohr an der Spitze abgeknickt war. „Ich bin Mamndi.“

„Ich werde der größte und stärkste Fuchs, der jemals in diesem Wald gelebt hat. Und mein Bau wird so groß sein, dass alle anderen Füchse sich so einen tollen Bau wünschen“, verkündete das dickste der vier Fuchskinder.

„Träum weiter, Kulko. Du wirst niemals stärker sein, als ich es bin!“, warf der dritte Fuchsbruder ein und reckte dabei stolz die schmale Brust hervor und die Schnauze gen Himmel.

Nalani seufzte. „Ihr seid alle drei peinlich, Laraim“, sagte sie und schüttelte den Kopf. Morikoko jedoch lächelte sie an.

„Seinen Wurf kann man sich leider nicht aussuchen. Los geht’s, sonst sind die Rehe vor uns bei den Steinen und wir können bis zur nächsten Sonnenwende warten!“

Aufgeregt wackelten die Brüder mit ihren Ohren, bevor sie los hüpften.

Morikoko setzte sich ebenfalls in Bewegung, wenn auch weit vorsichtiger und bedachter. Nach ein paar Schritten mit den fremden Pfoten hielt er inne und drehte sich zum Baum um.

Das Gesicht hing immer noch in der Mitte des Stamms und lächelte. „Nur zu, kleiner Morikoko. Hab Spaß.“

„Morikoko, komm schon!“, rief Nalani von weiter vorne.

Morikoko, dachte er – und rannte los.

3

Sie liefen eine Weile durch den Wald, Mamndi und Laraim vorne weg, Nalani neben Morikoko und Kulko hinterdrein.

Während die beiden Brüder vor ihnen nicht müde wurden, sich gegenseitig zu necken, zu stupsen und einander ins Fell zu zwicken, hatte Morikoko alle Hände voll zu tun, seine vier Beine zu koordinieren. Das alleine wäre wohl schnell oder zumindest erheblich leichter zu lernen gewesen, wäre sein neuer Körper nicht so nahe am Boden gebaut. Aus der neuen Perspektive wirkte alles größer, ständig schlugen ihm Äste und Zweige ins Gesicht und gegen die Nase und es war viel schwieriger, über Steine und umgefallene Stämme zu klettern, die im Weg lagen.

Hin und wieder sah er zu Nalani hinüber, die scheinbar mühelos neben ihm lief und sich mit einer natürlichen Eleganz bewegte, von der Morikoko nur träumen konnte.

„Eierschwurbler voraus“, brüllte Mamndi plötzlich und rannte in atemberaubendem Tempo davon.

„Den schnapp ich mir!“, rief Laraim und legte ebenfalls deutlich an Geschwindigkeit zu. „Das sind ja sechs Stück!

Mindestens! Ein ganzer Schwarm! Nalani, Kulko, beeilt euch, die kriegen wir!“

Mühelos jagte das Fuchsmädchen davon, warf Morikoko ein „Beeilung!“, zu, und selbst Kulko schien von irgendwoher Kraftreserven freizusetzen, die ihn an Morikoko vorbeirasen ließen.

„Wartet!“, rief Morikoko und versuchte, ebenfalls schneller zu laufen. Er senkte entschlossen den Kopf, konzentrierte sich auf seine Beine – und knallte mit voller Wucht gegen einen Baum.

„Aua!“ Morikoko plumpste mit dem Hintern auf den Waldboden und schüttelte den Kopf. Ihm war schummrig, sein Blick verschwommen und sein Schädel brummte.

Verflixt.

Die Fuchswelpen waren sicher schon über alle Berge, die würde er nie im Leben einholen können. Und da er nur hinter den Brüdern hergelaufen war, hatte er sich auch den Weg nicht gemerkt. Er konnte folglich nicht einmal alleine zurück zur Wurzelhöhle finden. Das hatte ja sehr gut funktioniert.

Vielleicht, wenn er sich ganz fest … Ein Pups riss ihn aus seinen Gedanken.

Ein kleiner, winziger, aber für seine neuen Ohren deutlich hörbarer Pups.

Morikoko kniff die Brauen zusammen und ließ seinen Blick schweifen. Gerade, als er sich fragte, ob er sich das Geräusch nur eingebildet hatte, sagte jemand: „Ob er das gehört hat?“

„Ich weiß nicht“, zischte ein anderer, deutlich leiser, „Aber brüll ruhig noch ein bisschen weiter herum, dann werden wir es gleich herausfinden.“

Seine Ohren zuckten auf seinem Kopf und drehten sich, bis sie die Stimme geortet hatten, dann suchten seine Augen einen Waldfleck zwischen zwei Büschen ab. Und tatsächlich – jetzt konnte er zwei kleine Wesen dort ausmachen; sie standen vollkommen still in Laub und Moos, hielten einen Pilz fest umklammert und wagten nicht einmal zu blinzeln.

„Ich glaube, er hat uns gesehen“, flüsterte der erste wieder, wobei sich seine schmalen Lippen kaum bewegten. Die Augen hatte er weit aufgerissen, die großen, spitz zulaufenden Ohren hingen unter dem Hut hervor.

„Hallo“, sagte Morikoko schließlich und lächelte. „Ich bin ...“

„Friss uns nicht!“, riefen die beiden, ließen ihren Pilz los, der zur Seite fiel, und gingen dahinter in Deckung. Nur die Spitzen ihrer roten Mützen lugten hervor.

Morikoko lachte. Die beiden waren zu albern in ihren kleinen Wämsern und Hosen und mit den großen Nasen, die ihnen im Gesicht baumelten. „Fressen? Warum soll ich euch fressen?“

Noch während er lachte, hob er seine Pfote in alter Gewohnheit an den Mund und spürte dabei die scharfen, kleinen Zähne in seinem Maul. „Oh. Stimmt.“ Er legte den Kopf schief und dachte kurz nach. Dann sagte er: „Ich werde euch nicht fressen, keine Angst.“

„Das sagst du jetzt, und wenn wir dann rauskommen, packst du uns mit deinen Pfoten, hältst uns fest und beißt uns den Kopf ab!“, warf ihm eines der Männlein vor. Es sprach derart aufgeregt, dass seine Mützenspitze wild über dem Pilz in der Luft wackelte.

„Ich wüsste gar nicht, wie das geht“, entgegnete Morikoko.

„Aber wenn ihr euch fürchtet, gehe ich einfach.“ Er hob seinen Hintern vom Boden und sah einmal nach links, einmal nach rechts, drehte sich um seine eigene Achse und setzte sich wieder. „Also, falls ihr mir sagen könnt, wo sich der sprechende Baum mit dem Gesicht befindet.“

„Sprechender Baum mit Gesicht? Geht's auch etwas genauer?“

„Davon gibt es hier ja bloß ein paar Dutzend.“

„Als ob du wüsstest, wie viel ein Dutzend ist.“

„Natürlich weiß ich das. Ein Dutzend sind du und zehn. Also elf.“

„Blödsinn! Ein Dutzend bin nicht ich und zehn. Ich bin doch keine Zahl. Ein Dutzend sind vierzehnillionfünfunddreidreißigachtzwei und ein Halber.“

„Wo soll denn ein Halber herkommen? Bei Welitans Mütze, das ist doch Humbug!“

Während die zwei Männlein miteinander stritten, traten sie hinter dem Pilz hervor. Sie standen einander mit in die Hüften gestemmten Händen, der eine im roten, der andere im blauen Wams, vor dem Pilz gegenüber und schimpften, dass ihre langen, gurkigen Nasen wild hin und her schwangen.

„Zwölf“, sagte Morikoko, um zu helfen, doch die beiden Wichte ignorierten ihn, weshalb er deutlich lauter wiederholte: „Zwölf! Ein Dutzend sind zwölf!“

Auf einen Schlag wurde den beiden Streithähnen bewusst, dass sie ihre Deckung verlassen hatten. So schnell ihre kurzen Beine sie trugen, rannten sie wieder hinter den Pilz. Dieses Mal jedoch duckten sie sich sogar, weshalb Morikoko nicht einmal mehr ihre Mützen sehen konnte.

„Ein gemeiner Trick, uns herauszulocken, um uns zu fressen!“

„Einfach fragen, wie viel ein Dutzend ist, obwohl du die Antwort selber weißt. Schäm dich!“

„Ein Lügner, ein Täuscher bist du!“

„Ein Betrüger, wie alle Füchse!“

Morikoko schnaubte empört. „Das wollte ich doch gar nicht wissen. Ihr habt damit angefangen!“ Es ärgerte ihn, dass die zwei so schlecht über ihn dachten und sprachen. Er hatte ihnen doch gar nichts getan. Überhaupt war das Ganze Nalanis Schuld. Sie hätte auf ihn aufpassen sollen, aber stattdessen rannte sie los, um irgendein Eierding zu fangen.

Dabei hatte er sich auf die plappernden Steine gefreut. Wenn sie nur halb so beeindruckend waren, wie der sprechende Baum, dann waren sie noch immer unfassbar faszinierend.

„Blöde Eierschrubber“, grummelte Morikoko und stieß mit einer Pfote gegen einen kleinen Stein, der daraufhin mehrere Meter weit durch die Luft segelte.

„Eierschrubber? Was soll das denn sein?“

„Eierschwurbler meint er bestimmt. Da sind vorhin welche über uns drüber geflogen, als wir dem Frischling den Pilz geklaut haben.“

„Warum hast du das nicht gleich gesagt? Wir hätten doch ...“

„Ihr habt einem kleinen Wildschwein sein Futter gestohlen?“,

unterbrach Morikoko ungläubig ihren Streit.

Stille.

„Also, wenn man das auf diese Weise sagt, klingt es viel gemeiner als es war“, erwiderte einer der Wichte.

„Der Pilz gehört dem Frischling und ihr habt ihm den Pilz weggenommen – das klingt genau so gemein, wie es ist“, beharrte Morikoko.

„Ach was … er hatte ja nicht nur den einen Pilz.“

„Genau. Das waren viel mehr! Bestimmt ...“

„... ein Dutzend!“

„Oder noch mehr!“

„Viel mehr!“

Stille trat zwischen sie.

Nach einem Moment des Schweigens tauchten zuerst die Mützen, dann die langnasigen Gesichter der Männlein hinter dem Pilz auf. Vielleicht wollten sie sicher gehen, dass der Fuchs nicht näher gekommen war; vielleicht wollten sie aber auch nachsehen, ob er ihren Worten Glauben schenkte.

Morikoko hob beide Augenbrauen an. „Es war der einzige Pilz, den er hatte, hab ich Recht?“

„Nun ja ...“

„Also ...“

„Ich bin mir sicher, seine Mutter hat ihm in der Zwischenzeit noch viel mehr gebracht. So viele, dass er sie gar nicht alle fressen konnte.“

„Genau! Ihm ist schon ganz schlecht und er hat Bauchweh vor lauter Pilzen!“

„Bestimmt kotzt er schon die Büsche voll! Der ist froh, wenn er die nächsten Tage keinen Pilz mehr sehen muss! Wir haben ihm quasi einen Gefallen getan!“

„Genau!“

„Genau!“

Morikoko schüttelte den Kopf. „Ihr werdet den Pilz zurückbringen. Sofort. Oder ...“

„Oder was?“

„Oder ich muss doch noch herausfinden, wie ich euch fressen kann“, erwiderte Morikoko und bemühte sich, so ernst dreinzuschauen, wie er nur konnte. Er öffnete ein wenig das Maul, damit sie seine Zähne sahen. Das konnte sicherlich nicht schaden.

„Nun, vielleicht hat er ja noch gar nicht so viele gefressen und freut sich, wenn wir den hier zurückbringen“, entgegnete der kleinere der beiden Wichte.

„Echt jetzt? Wir bringen den doch nicht zurück!“

„Wenn du mit dem Fuchs diskutieren willst, nur zu.“

„Was ich? Nein. Ich dachte nur … na gut.“

Sie hoben den Pilz an, einer am Stil, der andere am Hut, und setzten sich in Bewegung.

„Seid ihr nicht aus der anderen Richtung gekommen?“, fragte Morikoko und folgte mit seinen Augen jedem ihrer Schritte.

„Oh je – natürlich. Na so was, da wären wir fast in die falsche Richtung gelaufen“, erwiderte der hintere Wicht. Unter Ächzen und Stöhnen wendeten sie umständlich und marschierten wieder los.

Gerade, als sie zwischen den Büschen verschwanden, tauchte Nalani wieder auf. Sie bremste geschickt neben Morikoko und ließ etwas aus ihrer Schnauze auf den Boden fallen. Das gefiederte Wesen wollte sich davonschleichen, doch das Fuchsmädchen setzte ihre Pfote sanft, aber bestimmt auf einen der fünf Flügel. „Was wollten denn die Nobblinge von dir? Die fallen sonst schon tot um, wenn sie nur die Fußabdrücke eines Fuchses sehen.“

„Sie haben einen Pilz gestohlen, aber jetzt bringen sie ihn wieder zurück.“

Nalani prustete laut los, sah dann zu Morikoko hinüber und kniff die Brauen zusammen. „Das ist dein Ernst, ja? Wie hast du das denn geschafft?“

Morikoko zuckte die vorderen Achseln. „Sie haben eingesehen, dass es falsch war, einem Frischling einen Pilz zu stehlen. Na ja, und vielleicht …“ „Und vielleicht was?“

„Und vielleicht denken sie, falls sie es nicht tun, werde ich sie fressen.“

Nalani lachte laut. „So fängt man schon eher eine Maus“, sagte sie und sah dann zu ihren Pfoten hinab. „Lust auf ein paar Eier?“

Morikoko musterte das gefiederte Tier, das entfernt an einen – wenn auch sehr hässlichen – blauen Vogel erinnerte. Der Schnabel schien sich am Hinterkopf zu befinden, Augen hatte es keine, zumindest keine, die er erkennen konnte, und der Hals des Tiers war nackt wie bei einem Geier. Ein leises Knurren aus seinem Magen erinnerte Morikoko daran, dass er heute noch nichts gegessen hatte. Dennoch sagte er: „Sind die denn noch in dem Vogel drin? Wenn wir die erst noch herausholen müssen, dann verzichte ich lieber.“

„Ja und nein“, antwortete Nalani. „Die Eier sind noch in dem Eierschwurbler, aber wir bekommen sie auf einem anderen Weg heraus, als du gerade denkst. Komm mit, ich zeig es dir.“

Sie senkte den Kopf, schnappte sich sanft das Vogeltier und nahm ihn behutsam ins Maul.

Als sie sich in Bewegung setzten, hörte Morikoko ein Rascheln im Gebüsch. Er blieb stehen und drehte sich um – gerade rechtzeitig, um die Nobblinge mit dem Pilz herauskommen zu sehen. Sie verharrten sofort in ihrer Bewegung.

„Verflixt, ich glaube, er hat uns gesehen.“

Morikoko setzte eine böse Miene auf. „Das heißt wohl, ich muss euch fressen!“, knurrte er und sprang in ihre Richtung.

Die Nobblinge hüpften vor Schreck in die Höhe, drehten sich in der Luft um und rannten mit dem Pilz los, als sei der Teufel hinter ihnen her. „Wir bringen ihn zurück! Versprochen! Bei allen Pilzen im Wald!“, riefen sie und stoben davon.

Morikoko lachte, wandte sich um und schloss zu Nalani auf.

„Ich glaube, jetzt bringen sie ihn tatsächlich wieder zurück“, sagte er und grinste dabei zufrieden.

4

Morikoko leckte sich über die Lippen und seufzte zufrieden. Er lag auf dem Rücken im Laub, auf seinen vollen Bauch schien die Mittagssonne und er fühlte sich so federleicht wie die Wolken, die über ihm über den Himmel zogen.

Nalani neben ihm war mindestens genauso satt, aber noch immer hielt sie den Eierschwurbler mit einer Pfote fest. Der schien sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben und wehrte sich nicht mehr. „Willst du noch eines?“, fragte das Fuchsmädchen mit träger Stimme.

„Ich platze gleich“, entgegnete Morikoko und rülpste.

Interessant. Füchse konnten also auch rülpsen. Wer hätte das gedacht? Er gähnte herzhaft und wälzte sich auf die Seite. In seinem kleinen Bauch befanden sich mindestens zehn Eier.

„Wenn nicht sogar ein Dutzend“, sagte er und musste grinsen.

„Was?“, fragte Nalani und rülpste ebenfalls.

„Nichts“, antwortete Morikoko und beobachtete, wie sie langsam ihre Pfote von dem blauen Federvieh hob. Der fünfflügelige Vogel hob den Kopf, von dem ein paar zerknickte Federn abstanden. Er richtete sich auf, drehte das Haupt nach allen Richtungen und schüttelte sich dann. Als er auf seinen zu kurz geratenen Beinchen davon stakste und den federlosen Hals reckte, schimpfte er laut piepsend und schnatternd im Tonfall höchster Empörung. Sein Schnattern war noch zu hören, als er längst zwischen den gelbblättrigen Sträuchern verschwunden war.

„Wir müssen meine Brüder suchen“, murmelte Nalani missmutig, „wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch vor den Rehen zu den Plappernden Steinen. Die halten dauernd an, um Gras oder Blätter zu fressen und vergessen dabei, wohin sie unterwegs sind.“ Sie seufzte, rollte sich auf den Bauch, stöhnte und stemmte sich dann auf die Pfoten.

Obwohl ihm nicht der Sinn danach stand, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, tat Morikoko es ihr gleich. Ihm war zuvor deutlich geworden, wie sehr er von Nalani abhängig war, um wieder zur Wurzelhöhle zurückzufinden, und er hatte nicht vor, sie noch einmal aus den Augen zu verlieren.

„Wieso wollt ihr unbedingt zu den Steinen?“, fragte Morikoko, während er neben ihr über den Waldboden trottete. Nicht, dass er es sich entgehen lassen wollte, sprechende Steine zu sehen, aber die Fuchsgeschwister schienen sie bereits zu kennen.

Nalani rief nach ihren Brüdern, lauschte mit aufgestellten Ohren und lief dann weiter. „In den Tagen vor dem Winter, bevor die Steine in den Winterschlaf fallen, träumen sie, während sie wach sind. Nur in diesen wenigen Tagen können sie die Zukunft vorher sagen.“

Morikoko dachte an seine Mutter, die die vermeintlichen Wahrsagerinnen, die von Dorf zu Dorf zogen und ihre Dienste anboten, immer als Lügenweiber bezeichnet hatte. Über niemand sonst sprach sie jemals mit solcher Verachtung in der Stimme und angewiderter Abscheu im Gesicht. „Niemand kennt die Zukunft. Wer etwas anderes behauptet, will dich nur ausnutzen“, wiederholte er ihre Worte. Allerdings ließ Morikoko all die Beleidigungen und Flüche weg, die seine Mutter in diesem Zusammenhang auszusprechen pflegte.

„Die Steine schon. Und wie sollen sie jemanden ausnutzen? Sie verlangen doch nichts für ihre Worte. Sie brauchen auch gar nichts. Ihnen genügt es, wenn die Buttergnome sich um die Moosflechten kümmern, die auf ihren Köpfen wachsen“, erwiderte Nalani. „Und unseren Familien haben sie Frieden gebracht.“

„Frieden?“ Morikoko beobachtete etwas Kleines, das durch die Luft flog und aussah wie ein Schmetterling im Pelzmantel samt Wollschal. Das Geschöpf landete auf einem Pilz, stieg dann wieder sogleich auf in die Luft und immer höher und höher, bis es auf einem Ast Platz nahm und dort auch verweilte.

„Früher haben die Blaufüchse, die Rotfüchse, die Wasserfüchse und die Blütenfüchse jedes Jahr im Frühling erbittert um die Vorherrschaft gekämpft. Das Revier am Tippelblumensee hat das beste Tunnelsystem an Fuchsbauten, auf den Wiesen hoppeln die dicksten Hasen und weit und breit sind keine Wölfe in der Nähe. Jeder wollte sich dort mit seiner Familie niederlassen und das Revier für sich beanspruchen. Es gab blutige Kämpfe, Jahr für Jahr. Manchmal wurden die Familien fast ausgelöscht“, erzählte Nalani, während sie weiterlief.

„Dann kamen die Plappernden Steine. Sie wissen immer schon im Herbst, wer den Kampf im Frühjahr gewinnen wird. Also brauchen unsere Familien nicht mehr gegeneinander zu kämpfen. Stattdessen treffen sich die Stärksten jeder Sippe zur Zeit der Träume bei den Plappernden Steinen und hören, wer im nächsten Jahr das Revier am Tippelblumensee bewohnen darf.“ Nalani rief erneut nach ihren Brüdern, lauschte und sprintete plötzlich los. Sie hüpfte hinter einen dicken Baumstamm und zog dann Kulko an den Ohren hervor.

„He, lass das, spinnst du?“, schimpfte er, während er sich Reste von Eiklar und Eierschalen von den Lippen leckte. Er stemmte die Pfoten gegen den Boden, schüttelte heftig den Kopf und konnte sich schließlich aus dem Griff seiner Schwester befreien.

Morikoko trabte zu den beiden herüber und beobachtete, wie auch Mamndi und Laraim aus einem Gebüsch trotteten und zu ihnen herüber kamen. Um Mamndis Schnauze herum klebten blaue Federn und Blut. Als er Morikokos überraschtes Gesicht sah, zuckte er die Achseln. „Konnte nicht widerstehen, hat so sehr gezappelt. Das blöde Vieh wollte einfach keine Eier hergeben.“

„Los, wir haben schon genügend Zeit verschwendet!“, ermahnte Nalani ihre Brüder. „Dieses Mal keine Ablenkungen. Wir laufen schnurstracks zu Tumandril und Velunika. Verstanden?“

Die Brüder zogen das Genick ein. „Ja, Nalani“, brummelten sie kleinlaut, bevor sich die Gruppe wieder in Bewegung setzte.

Dieses Mal lief Nalani vorne weg und Kulko bildete mit Morikoko das Schlusslicht. So sehr die beiden sich auch bemühten, sie blieben immer ein Stück hinter den anderen.

Schließlich blieb Kulko stehen.

„Egal“, sagte er und klang mit einem Mal sehr traurig. „Was macht es für einen Unterschied, welche Familie gewinnt? Ich werde im Frühling bestimmt nicht unsere Familie anführen, also kann es mir egal sein.“

Morikoko setzte sich neben ihn. Kulko war zwar langsam, aber er würde den Weg zu den Plappernden Steinen schon finden, also konnten sie sich auch Zeit lassen. Trösten war nicht gerade Morikokos Stärke, darin waren seine Schwestern stets besser gewesen. Aber vermutlich war es immer noch besser, er saß neben Kulko, als gar niemand.

„Von uns wird es eh keiner. Wir sind zu spät gekommen. Alle anderen Füchse dieses Jahres sind schon viel älter“, fuhr Kulko fort und knabberte ein paar letzte Beeren von einem Strauch.

„Einer unserer Verwandten wird unsere Familie nächstes Jahr anführen und sich deshalb den besten Bau aussuchen und die dicksten Hasen jagen dürfen. Wir wurden im Sommer geworfen, als alle anderen schon alt genug waren, um auf den eigenen Pfoten aus dem Bau zu laufen. Wir spielen für sie gar keine Rolle.“

Das war tatsächlich ungewöhnlich. Von seinem Vater wusste er, dass Füchse normalerweise von März bis April geboren wurden. Warum, hatte sein Vater ihm nicht erklärt.

„Manchmal ist es schwierig, anders zu sein als alle anderen“, entgegnete er, als er an seine Brüder dachte. Sie waren so gewesen, wie sein Vater es sich gewünscht hatte: kräftig, voller Tatendrang und handwerklich geschickt. Wie oft hatte er sich gewünscht, er wäre mehr wie sie – wenigstens ein klein wenig.

Na wundervoll, dachte Morikoko bei sich, jetzt hatte er sich selbst traurig gestimmt, anstatt Kulko Trost zu spenden.

Plötzlich zwickte Kulko ihn ins Fell. „Du bist nicht anders als alle anderen. Du bist genauso alt wie wir. Das hat bestimmt etwas zu bedeuten. So einer wie du hat uns noch gefehlt.

Sicher sagen uns die Steine etwas ganz Tolles.“ Mit einem Schlag war alle Traurigkeit vergessen. Aufgeregt hüpfte der rundliche Fuchswelpe hin und her und wackelte mit den Ohren. „Na komm schon, wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch vor den Rehen.“

Morikoko sprang auf seine Füße und lief mit Kulko los. „Was habt ihr nur immer mit den Rehen? Sind die wirklich so langsam und vergesslich?“

Kulko kicherte. „Du hast ja keine Ahnung. Aber das Schlimmste an ihnen ist: Sie sind so verflixt viele.“

Tatsächlich waren die Plappernden Steine noch viel gewaltiger, als Morikoko sie sich vorgestellt hatte. Sie waren auf ihrer Lichtung schon von Weitem zu sehen, der Pfad, der zu ihnen führte, war von den zahllosen Wesen, die zu ihnen pilgerten, breit und platt getreten.

Stumm liefen Morikoko und Kulko zwischen Wildschweinen, Wieseln, Gänsen und Bären, Ratten, Mäusen, Hasen und Kaninchen und vielerlei anderen Tieren und sonstigen Wesen auf die Lichtung zu.

Zuerst hatten sich die kleinen, wendigen Füchse noch immer wieder zwischen anderen Tieren vorbeigeschoben, aber dann wurde es zu eng und dicht, um noch einmal seinen Platz zu wechseln.

Morikoko konnte von da an nichts mehr sehen als Beine, Hufe, Pfoten, Flossen, Fell und Schuppen und Federn und musste sich sehr darauf konzentrieren, von niemandem angerempelt oder getreten zu werden. Da niemand etwas sagte, wagte auch Morikoko nicht zu fragen, wie weit es noch war.

Nach einer endlosen Zahl an Schritten mit seinen kleinen Pfoten, eingeklemmt zwischen Kulko zu seiner Linken, einem Wildschwein rechts, einem Paar Gänse vor und einem Wolf hinter sich, mit all ihren Geräuschen, ihrem leisen Gemurmel und Gebrummel, wurden die Reihen mit einem Mal wieder lichter und sie klebten nicht mehr direkt aneinander. Einige Tiere scherten nach links aus, andere nach rechts und wieder andere strömten geradewegs auf die Mitte zu.

„Je näher man an den Plappernden Steinen steht, umso eher träumen sie von einem“, flüsterte Kulko aufgeregt und stieß Morikoko in die Flanke. „Da drüben, auf dem Baumstamm, da sitzen sie!“ Und schon machte er sich auf den Weg zu seinen Geschwistern.

„Wo wart ihr denn so lange?“, tadelte Nalani, während sie Kulko mit den Zähnen am Rückenfell packte, um ihn zu sich herauf zu ziehen.

Morikoko hüpfte auf einen moosbewachsenen Stein neben dem Stamm und kletterte von dort aus weit müheloser zu den Fuchswelpen hinauf. Er drehte sich um, platzierte seinen Hintern neben Nalani – und riss Augen und Mund auf. Hatten die beiden Steine vom Weg aus so groß wie eine Hütte gewirkt, stellte sich dies nun als kolossaler Fehler heraus.

Vielmehr hatten sie die Ausmaße der Kirche, in die Morikoko jeden Sonntag zu gehen hatte.

Sie ragten aus der Erde heraus, gigantische Felsen wie zwei Köpfe, mit Nase und Mund aus Stein und Moosflechten und Grasbüscheln, die an Haare erinnerten, weit in den Himmel hinauf und über die anderen Bäume und über die Kronen aller Bäume hinaus. Doch noch beeindruckender als ihre schiere Größe waren ihre Augen, die sie nun langsam und unter steinernem Grollen öffneten.

Tumandrils Augen waren von einem seidigen Jadegrün, durchsetzt von einem haselnussbraunen Ring, schimmerten im herbstlichen Sonnenlicht wie Edelsteine und schienen direkt durch alle Anwesenden hindurch zu sehen und noch weiter, bis zum Abend, bis zur Nacht, bis in den morgigen Tag hinein.

Die Augen seiner Gefährtin hingegen schimmerten glatt und dunkelblau, wie ein tiefer, unberührter Bergsee, den noch nie ein Mensch, noch nie ein Tier in seiner Ruhe und Ursprünglichkeit gestört hatte.

„Da bist du ja endlich, Morikoko“, sagte Velunika mit einer Stimme wie Donnergrollen und Felslawine. Und dann – lächelte sie.

Vor Schreck fiel Morikoko rückwärts vom Stamm. Zwar hatte er sich noch mit seinen Händen festhalten wollen, doch zu spät fiel ihm wieder ein, dass er nur noch Pfoten hatte.

Einige der Tiere, die hinter dem Stamm gestanden und gewartet hatten, wichen zurück, manche erschrocken, manche mit einem amüsierten Lächeln im Gesicht. Er landete unsanft im Gras, stolperte dabei über seine vier Beine und fiel auf die Schnauze. „Aua.“ Morikoko blinzelte verwirrt und schüttelte den Kopf. Dann wurde ihm bewusst, dass er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand und sich nicht gerade rühmlich verhielt.

Hastig rappelte er sich auf, während Nalani, Mamndi, Laraim und Kulko vom Stamm zu ihm herunter sahen, auf ihren Gesichtern eine Mischung aus Fassungslosigkeit, Überraschung und Aufregung. Bevor Morikoko wusste, wie ihm geschah, schob ein Rentier seine breite Schnauze unter den kleinen Fuchs und hob ihn hoch. „Bitte sehr, Fuchskind“, sagte er und ließ ihn auf den Stamm plumpsen. Er leckte Morikoko übers Gesicht. „Na los, schau sie an, schließlich will sie mit dir sprechen.“

Morikokos Herz schlug ihm bis an den Hals, seine Pfoten zitterten und das Fell sträubte sich ihm im Nacken. Er konnte sich nicht erinnern, jemals dermaßen aufgeregt gewesen zu sein. Vor lauter Anspannung brachte er kein Wort heraus, nicht einmal ein knappes „Danke“. Von Nalani wurde er ins Fell gekniffen, während Kulko ihm die Schnauze in den Rücken schob. Mit steifen Gliedern wandte sich Morikoko widerstrebend den Plappernden Steinen zu. Das gütige Lächeln von Velunika änderte nichts an seinem Herzrasen und dem Rauschen in seinen Ohren. Er hatte das Gefühl, um ihn herum bewegte sich alles, während er selbst in einem Eiszapfen festsaß und ihm nichts anderes übrig blieb, als festgefroren nach draußen zu sehen.

„Jung siehst du aus, Morikoko. Ein hübsches Füchslein bist du.

Und deine Freunde sind auch bei dir. Das ist gut, mein kleiner Fuchs“, sagte Velunika fröhlich und zwinkerte ihm zu. „Ich habe von dir geträumt, schon vor zwei Monden. Von deinem Leben, deinen Abenteuern, deinen Sommern und Wintern.

Aber erzählen möchte ich dir von deiner Liebe: Wenn du den Wald verlässt, wirst du sie nie richtig kennen lernen. Aber wenn du im Wald bleibst, verlierst du deine Liebe für immer.“

Morikoko wusste nicht, was von ihm erwartet wurde. Sollte er ihr antworten? Eine Frage stellen? Sich bedanken? Oder durfte er nur sprechen, wenn sie ihn dazu aufforderte? In seinem Kopf verhedderten sich Gedanken und Gefühle ineinander und bildeten alsbald ein undurchdringbares Knäuel.

Tumandril blinzelte langsam. „Blaue Augen, im Mondenschein, am Tage grau wie samtener Stein, die Haare kurz, die Mähne lang, das Herz voll Mut, dann wieder bang, so nahe gleich und doch so fern, vor Liebe Sehnsucht sich verzehren“, trug er mit tiefer, schwerer Stimme vor.

Morikoko starrte in die großen Augen, das Maul noch immer geöffnet.

Nalani stieß ihn in die Rippen. „Bedanke dich für das Traumsagen und den Weisspruch“, knurrte sie leise.

„Vielen Dank für den Traumspruch und das … die … ich ...“, verhaspelte sich Morikoko und biss die Zähne fest zusammen.

Er schluckte gegen den Kloß in seinem Hals an, atmete tief durch und sagte: „Vielen Dank.“ Dann senkte er verlegen den Blick.

Die beiden Plappernden Steine lächelten und schlossen die Augen, wohl um den nächsten Traum zu träumen, während alle auf der Lichtung schweigend ausharrten, hofften und bangten, dass der nächste Name der ihrige sein möge.

Alle, außer Morikoko.

5

„Wieder nichts“, murrte Laraim, als sie den breiten Pfad verließen und quer durchs Unterholz liefen, abseits von den Ohren all der anderen Tiere, die von der Lichtung strömten. Es dämmerte bereits. Sie würden zu spät zur Wurzelhöhle kommen, viel später als vereinbart. Aber es war nicht ihre Schuld. Bis zum Schluss hatten sie gewartet, dass Velunika den Anführern der Fuchsfamilien die Antwort gab, für die sie gekommen waren.

Stolz und aufrecht waren sie direkt vor den beiden Plappernden Steinen gesessen und hatten mit einem Blick nach oben gesehen, der sagte: „Wir sind da, es kann beginnen.“

Tat es aber nicht. Jedenfalls nicht für die Füchse. Fünf Elche, eine ganze Horde Kaninchen, ein Fischreiherpaar, mindestens sieben Rehe, ein Wildschwein und etwas, das vage an einen Fisch auf zwei Beinen erinnerte, erhielten eine Traumsagung und einen Weisspruch, manche davon sehr deutlich und eindeutig, andere außerordentlich vage und beliebig.

„Der Blaufuchs war ziemlich sauer“, sagte Mamndi und lachte dabei. „Ich glaube, der Elch fand es gar nicht lustig, in den Po gebissen zu werden, nur, weil er im Weg stand.“

„Eine Demütigung war das. Wie konnte Velunika es wagen, sie zu ignorieren? Ich an ihrer Stelle ...“

„Hättest was getan? Die beiden sind riesige, uralte Steine. Sie müssen nichts essen und nichts trinken. Unsere Krallen und Zähne sind ihnen gleich. Du hättest höchstens gegen sie pinkeln können. Allerdings hätten dich dann mehrere hundert bis tausend wütende Tiere wegen dieser Respektlosigkeit in Fetzen gerissen“, unterbrach Nalani ihren Bruder und sprang geschickt über einen Ast.

Kulko grinste. „Ich fand es witzig, als Morikoko vom Baum gefallen ist. Wusch – und weg war er.“

Die anderen Füchse grinsten ebenfalls, selbst Morikoko. „Sie hat mich überrascht“, erwiderte er, halb Eingeständnis, halb Entschuldigung. Jetzt, wo sie auf dem Rückweg waren und nicht mehr all die Augen auf ihn gerichtet waren, fand er die Angelegenheit bei weitem witziger.

„Blöd nur, dass sie dir nichts Wichtiges gesagt hat“, meinte Mamndi. „Dass du ein starker Fuchs mit einer großen Familie und vielverzweigten Bauten wirst. Oder den ganzen Wald rettest. Das wäre was gewesen.“

„Ich den Wald retten?“ Morikoko lachte. „Wollen wir für den Wald hoffen, dass er mich nie als Retter braucht.“

Kulko schnappte im Vorbeilaufen nach ein paar Zweigen an einem Strauch, an denen noch dunkelrote Beeren hingen. Er kaute genüsslich darauf herum. „Sie hat etwas von vielen Sommern und Wintern gesagt. Also alt wirst du schon mal“, kommentierte er mit vollem Mund.

„Eine Verschwendung war es“, schimpfte Laraim, „stattdessen hätte sie lieber von wichtigen Füchsen träumen sollen.“

„Du bist doch bloß sauer, weil sie nicht gesagt hat, dass du einmal die Familie der Rotfüchse anführen wirst. Aber das wird nie passieren. Für die anderen Füchse existieren wir überhaupt nicht. Schlag dir das aus dem Kopf.“

Eine Weile trabten die Füchse schweigend durch den Wald.

Ihre kleinen, dunklen Augen passten sich an das wenige Licht an, das noch zu ihnen auf den Boden fiel. Die Welt verlor an Farben, aber nicht an Konturen. Morikoko war fasziniert davon, wie gut er sehen konnte, obwohl der Himmel über ihnen schon dunkel war. Ein klein wenig plagte ihn das schlechte Gewissen, weil sie versprochen hatten, vor der Dämmerung zu Hause zu sein. Aber wenn er es dem Baum erklärte, würde er es sicherlich verstehen. Überhaupt musste er dem Baum alles erzählen, was passiert war, so viel, dass es vielleicht die ganze Nacht dauerte.

„Wann wirst du gehen?“, fragte Kulko plötzlich in das stille Knistern ihrer Pfoten auf Laub und Moos.

Morikoko verstand zuerst nicht, dass die Frage an ihn gerichtet war. Als er sah, dass Kulkos Blick an ihm haftete, kniff er die Brauen zusammen und blieb stehen. „Gehen? Wohin denn?“, fragte er verwundert. Er hatte doch gar nichts davon gesagt, irgendwo hin zu gehen.

Auch die anderen Füchse blieben stehen und sahen zwischen Kulko und Morikoko hin und her.

„Velunika hat gesagt, wenn du im Wald bleibst, wirst du deine Liebe verlieren. Also musst du gehen“, sagte er und die Traurigkeit vom Nachmittag war in seine Stimme zurückgekehrt.

Morikoko dachte einen Moment darüber nach. „Meine Mutter hat einmal gesagt: Liebe ist schön, aber sie tut auch weh.“ Er legte den Kopf schief. „Ich glaube nicht, dass ich das möchte, das mit der Liebe. Außerdem hat Velunika auch gesagt: Deine Freunde sind bei dir. Ich hatte noch nie Freunde. Und der Wald ist so groß und es gibt so viel zu entdecken.“ Er presste die Lippen fest aufeinander. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich gehe hier nicht weg. Nie.“

Kulko musterte ihn ernst. „Nie? Ganz nie, nie, nie?“

„Ganz nie, nie nie“, wiederholte Morikoko, sprang ihm entgegen, zwickte Kulko ins Fell und rannte los. „Fang mich!“, rief er ihnen zu und duckte sich unter einem Ast hindurch.

Morikoko rannte, so schnell ihn seine Pfoten trugen. Er duckte sich, sprang, wich kleinen Bäumen, Schnecken und Steinen aus, bog mal scharf nach links, dann nach rechts ab, legte noch an Tempo zu und sauste in einem Affenzahn durch den Wald.

Sein Herz schlug wild in seiner Brust und sein Atmen wurde laut und lauter, aber er blieb nicht stehen.

Freiheit