Die Ecken meines Herzens - Kaja Ohlsen - E-Book

Die Ecken meines Herzens E-Book

Kaja Ohlsen

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Beschreibung

Valentin muss nichts mehr und tut nichts mehr. Als seinem Vater schließlich der Geduldsfaden reißt und ihn vor die Tür setzt, ändert sich seine komfortable Situation drastisch: Haus weg, Personal weg, Geld weg. Stattdessen soll er bei einem jungen Studenten wohnen, dem mittellosen Niklas, der sich mit mehreren Jobs mehr schlecht, als recht über Wasser hält. Der Kühlschrank ist immer leer, als Bett dient eine Matratze am Boden und der Putz rieselt leise von er Wand. Valentin wird plötzlich klar: Er ist am Arsch. Aber wie soll er dieser Misere nur entkommen? Ob Niklas helfen kann?

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Über das Buch

Eben noch ein gefeierter Künstler und willkommener Gast in den Galerien dieser Welt, zerstört ein widerwärtiger Zwischenfall Valentins Karriere. Die Medien zerreißen, seine Freunde meiden ihn, er selbst zieht sich zurück, sein Talent bleibt ungenutzt.

Valentin muss nichts mehr und tut nichts mehr.

Als seinem Vater schließlich der Geduldsfaden reißt und ihn vor die Tür setzt, ändert sich seine komfortable Situation drastisch: Haus weg, Personal weg, Geld weg.

Stattdessen soll er bei einem jungen Studenten wohnen, dem mittellosen Niklas, der sich mit mehreren Jobs mehr schlecht, als recht über Wasser hält.

Der Kühlschrank ist immer leer, als Bett dient eine Matratze am Boden und der Putz rieselt leise von er Wand. Valentin wird plötzlich klar: Er ist am Arsch. Aber wie soll er dieser Misere nur entkommen? Ob Niklas helfen kann?

Über die Autorin

Kaja Ohlsen, geboren 1989 in Hamburg, wuchs in Schleswig-Holstein auf, bis sie im Alter von 14 Jahren mit ihren Eltern nach Bayern zog. Dort absolvierte sie die Realschule und anschließend die Ausbildung zur Erzieherin. Seither arbeitet sie in einer Kindertagesstätte und schreibt Romane.

Die szenische Liebesgeschichte von Adrian und Felix, "Irgendwo auf der Welt" (12/2016), war ihr erster Roman. 2017 folgte der Cozy-Krimi „Die bezaubernde Miss Kitty“.

„Wir müssen uns hüten, denen, die wir lieben,

Mangel an Vertrauen vorzuwerfen,

wenn sie uns nicht jederzeit

in alle Ecken ihres Herzens

einblicken lassen.“

Albert Schweitzer

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Epilog

Prolog

„Hör auf, so laut zu denken“, grummelt Alex genervt.

Neben ihm rutscht Max im Schlafanzug vom Rücken auf den Bauch. Die neue Matratze ist eine Zumutung. Er hätte sich nie dazu überreden lassen sollen, seine geliebte, alte Henriette gegen eine neue einzutauschen.

Hypoallergen, selbstreinigend, schadstofffrei.

Und dann auch noch aus Kaltschaum.

Wie soll denn bitteschön etwas wärmend, wohlig, kuschelig und weich sein, wenn schon der verflixte Name Kälte und Nässe verströmt?

Kaltschaum.

Wie Löschschaum.

Extrem entspannend.

„Leck mich“, brummt Max deswegen ebenso genervt zurück und dreht sich auf die Seite. Er zieht die Knie an und kneift die Augen fest zusammen. Als Kind konnte er in dieser Position immer gut einschlafen, doch jetzt hilft es leider nicht im Geringsten.

Bescheuerte Idee. Bescheuerter Matratzenfritze mit dem bescheuerten Verkaufsgrinsen im bescheuerten Verkäufergesicht. Bescheuerte Matratze. Und bescheuerter Neuematratzegeruch. Und ein ganz klein wenig sogar bescheuerter Alex, auch, wenn er das nie laut sagen würde.

Alex schnaubt. „Wir holen ganz sicher nicht deine alte Matratze vom Sperrmüll. Hör auf, dich wie die Prinzessin auf der Erbse aufzuführen. Augen zu. Schlafen.“

„Ach stimmt, das war es, was ich machen wollte: Schlafen! War mir glatt entfallen! Gut, dass du mich daran erinnert hast. Dann kann ich ja sofort damit loslegen“, erwidert Max wütend und dreht sich noch einmal um. Und noch einmal. Und noch einmal.

„Es ist drei Uhr morgens, verdammt nochmal ...“

„Was du nicht sagst.“

„Schlaf endlich.“

„Was glaubst du eigentlich, was ich hier die ganze Zeit versuche? Schäfchen zählen, warme Milch mit viel Honig, zuerst von hundert, dann von tausend rückwärts zählen, Effi Briest lesen – hab alles schon durch.“ Max gähnt. Ist ja nicht so, dass er nicht auch hundemüde wäre und gerne schlafen würde. Abgesehen davon, dass er todmüde ist, schmerzen sein Rücken, sein Nacken und seine Arme und seine armen Fußsohlen brennen wie Feuer.

Warum muss Mareike auch mit ihrem ganzen Krempel von einem Hochhaus in ein anderes ziehen?

Max hat seine ältere Schwester sehr gern, aber ihre dauernden Umzüge nerven wahnsinnig. Vor allem, weil der Großteil ihres Besitzes aus einer Trillion dicker Märchenbücher besteht, die sie im Lauf der Jahrzehnte gesammelt hat.

Dafür hatte sie schon als Kind ein Faible. Was anderen Mädchen die Pferdebücher, Liebes- und Internatsgeschichten, das waren Mareike Märchenbücher aus aller Welt. Als sie vor ein paar Jahren dann auch noch die Ausbildung zur Märchenerzählerin machte, um fortan damit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und ihren Job bei der Bank aufgab, ein Umstand, der ihrer Mutter beinahe einen Herzinfarkt beschert hätte, wuchs ihre ohnehin bereits stattliche Sammlung plötzlich explosionsartig an. In der ganzen Wohnung gibt es keinen einzigen Quadratmeter, auf dem man nicht wenigstens ein -

Max stutzt. Könnte das die Lösung sein? Ein Grinsen bahnt sich den Weg auf seine schmalen Lippen. „Früher, wenn ich nicht einschlafen konnte, dann hat mir Mareike immer ein Märchen erzählt.“

„Die ist bestimmt wahnsinnig begeistert, wenn du sie um drei Uhr morgens am Handy anrufst und sagst, Schwesterherz, erzähl mir eine Gute-Nacht-Geschichte.“ Alex dreht sich nun ebenfalls um. Er legt sich auf den Bauch, schiebt sich das Kopfkissen unters Gesicht und gähnt laut.

Max grinst noch immer. „Stimmt. Aber wo du doch schon wach bist und deine Stimme sich so gut zum Erzählen eignet ...“ Er lauscht in die Dunkelheit, wartet. Alex ist zu müde, um lange mit ihm zu diskutieren, das weiß Max, aber ob er sich darauf wirklich einlässt? Vielleicht packt er auch einfach sein Bettzeug und verschwindet damit auf die Couch im Wohnzimmer.

Ein resigniertes Seufzen diffundiert durch das Kopfkissen. „Von mir aus. Aber dann gib dir auch Mühe beim Einschlafen.“ Er räuspert sich. „Also … es war einmal ein junger Schreinermeister namens Kilian, der zu viel gesoffen hatte und eine Wette gegen seinen besten Freund Christian verlor. Deswegen musste er ihn zu einer Vernissage begleiten. Dort hat Kilian einen jungen, heißen Herzog, Richard von Walden, kennen gelernt. Die beiden stiegen miteinander in die Kiste und ...“

„Stopp“, unterbricht Max seine Ausführungen. „Entweder du erzählst das Märchen richtig, oder gar nicht. Die schönen Wörter gehören dazu. Sonst kann ich auch die Bild lesen.“ Theoretisch zumindest. Praktisch gesehen verfügt dieser Haushalt nur über Ausgaben einer einzigen Zeitung, die Alex abonniert hat, und in der wird weit mehr Text, als Bild abgedruckt.

Alex seufzt erneut. „Die beiden feierten alsbald Verlobung und wenig später Hochzeit. Richard schenkte seinem Schreiner zu diesem Anlass ein altes, abbruchreifes Haus, das sie liebevoll Zimmer für Zimmer renovierten. Schreinermeister Kilian übernahm dabei die Handwerksarbeiten und hin und wieder das Verarzten der verletzten Finger seines Mannes, wann immer dieser doch einmal dazu helfen wollte.“

„Denkst du dir das gerade aus?“, unterbricht Max ihn erneut. Er kennt durch Mareike recht viele Märchen, auch solche abseits des Grimm'schen und Andersen'schen Standards, das hier ist ihm aber vollkommen unbekannt. Zuzutrauen wäre es Alex, dass er es aus dem Ärmel schüttelt.

„Macht das einen Unterschied?“

„Ich weiß nicht“, entgegnet Max ehrlich und gähnt erneut. Dann schüttelt er den Kopf. „Nein. Weiter im Text.“

„Doch als ihr Hochzeitstag sich schließlich zum ersten Mal jährte, schied der Tod jäh das junge Glück: Kilian verlor Richard durch einen Unfall, den er selbst nur knapp überlebte. Er erbte den Titel, das viele, viele Geld und die große Burg seines Mannes, wohin er sich zurückzog und fortan alle Menschen mied. Trauer umhüllte ihn und legte sich schwer wie Blei auf seine geschundene Seele.

Das Essen mochte ihm nicht mehr schmecken, die Tage erschienen ihm grau und trist und er wusste einfach nicht, wie er seinem mutlosen Leben wieder Sinn verleihen konnte, geschweige denn, ob er das überhaupt wollte. Zwei Jahre lang lebte Kilian in Trauer um seinen Richard in Schwarz.“ „Wirst du zwei Jahre lang um mich trauern, wenn ich sterbe?“, fragt Max nachdenklich und beißt sich auf die Unterlippe.

„Keine Ahnung“, entgegnet Alex ungeduldig, „aber wenn du mich nochmal unterbrichst, werde ich es umgehend herausfinden.“

Max zuckt die Schultern. „Schon gut.“

„Nach dieser Zeit jedoch begann Kilians Herz sich immer mehr nach dem gemütlichen Haus in der Stadt zu sehnen, nach Gesprächen mit Freunden, nach Arbeit und Aufgaben, nach einem Leben und nach Liebe. So groß sein Sehnen aber auch war, getraute er sich nicht, seinem Wunsch nachzugeben. Stattdessen durchwanderte Kilian weiter die Burg, ohne Sinn, ohne Ziel, wieder und wieder, bis sich ihm eines Tages seine Köchin in den Weg stellte.

„Du wirst noch ein Loch in den Boden laufen und in den Keller fallen“, stellte Rosalia fest und überreichte ihm die Tageszeitung. Sie deutete auf eine kurze, in eine schmale Spalte gepresste Mitteilung, die mit rotem Filzstift umkreist worden war. „Hier, lies. Es ist Zeit, dass sich etwas ändert.“ Geschickt goss sie Tee in die Tassen und setzte sich auf das Sofa. Etikette hatten bei den jungen Herrn von Walden früher schon keine Rolle gespielt und so war Rosalia war es gewohnt, kein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen.

„Junger Künstler sucht Wohngemeinschaft. Viel Platz für Werkbank, Werkzeug, Leinwände und Staffeleien notwendig. Nächtliches Steine hauen, Hobeln, Sägen und Hämmern möglich bis sehr wahrscheinlich. Interessenten erhalten Termine unter folgender Nummer“, las Kilian laut vor und runzelte die Stirn. Er wandte sich der Köchin zu und sagte: „Sie wollen, dass ich mir einen Mitbewohner suche?“

„Nicht einen“, erwiderte Rosalia und lächelte. „Genau diesen.“ Und so kam es, dass er noch zur selben Stunde unter angegebener Nummer anrief und einen Termin vereinbarte.

1

Das Haus war um ein Vielfaches größer, als jedes andere, das Kilian bisher gesehen hatte. Nun - abgesehen von Richards Burg, die er allerdings nicht unbedingt als Haus bezeichnet hätte. Bei dem Gedanken an Richard zog sich ihm der Brustkorb zusammen.

Was machte er denn hier?

Er konnte sich doch nicht einfach einen neuen Mitbewohner zulegen, wie man sich ein neues Haustier kaufte, wenn das andere verstorben war. Den Goldfisch in der Toilette runter spülen und dann auf zur nächst gelegenen Zoohandlung, während man überlegte, ob es wieder ein Goldfisch wird oder dieses Mal vielleicht ein Hamster oder doch lieber ein Wellensittich.

Er wollte mit niemand anderem zusammen leben, als mit seinem Mann. Wollte mit Richard im Bett aufwachen und ihm noch ein paar Minuten beim leisen Schnarchen zuhören, bevor er ihn auf die kitzelige Stelle im Nacken küsste, um ihn zu wecken. Wollte mit Richard am Frühstückstisch sitzen, sein Mann noch in Shorts und verwaschenem Bademantel, er selbst in Arbeitskleidung, Kaffee trinken und über Fußball reden. Wollte abends nach Hause kommen, zu Richard, zu beim Lieferservice bestelltem Essen, weil Rosalia spät abends nichts mehr kochte, zu ihrem riesigen, gemütlichen Sofa und dem großen Fernseher mit den über fünfhundert Sendern und der hunderte DVDs umfassenden Filmsammlung, weil sie sich im Fernsehen entweder nichts fanden oder nicht einig wurden.

Vielleicht sollte er einfach umkehren.

Ins Taxi einsteigen und sich zur Burg zurückfahren lassen.

Das hier war doch verrückt, sich bei jemanden vorstellen, der eine Wohnung sucht. Das lief normalerweise andersherum. Sicher war der Kerl vollkommen durchgeknallt und sowieso nicht dazu geeignet, bei Kilian einzuziehen. Und selbst, wenn dieser Künstler ein netter, schüchterner, umgänglicher Mensch war - Kilian war noch nicht dazu bereit, einen Schritt in eine andere, eine neue Richtung zu wagen. Es war ja auch noch viel zu früh, um … er wollte noch ein wenig warten, bis es … bis sich … nun, bis er …

Ja, bis was denn?

Kilian schluckte nervös.

Bis Richard lange genug tot war?

Aber würde es jemals lange genug her sein?

Für Kilian sicherlich nie und für Richards Eltern auch nicht. Was würden die bloß über ihn denken, wenn Kilian einfach los zog und sich irgendeinen wildfremden Mann als Mitbewohner ins Haus holte?

Wobei … Charlotte hatte ihn schon vor vor einem halben Jahr gefragt, ob er nicht doch wieder einmal zu einer Feier kommen mochte. Es war der runde - der 70.? - Geburtstag ihres Onkels gewesen. Oder ihrer Tante? Familie jedenfalls. Und davor hatte sie ihn zur Oper eingeladen. Und davor …

Kilian seufzte. Richards Mutter wäre vermutlich die Letzte, die es ihm nachtragen würde. Sie war eher um ihn besorgt. Und Richards Vater? Nachdem er über ein Jahr lang keine Veranstaltungen, ja, nicht einmal seinen Stammtisch besucht hatte, war dann wieder, langsam, zäh, eine Aktivität der anderen gefolgt. Zuerst der Stammtisch, dann Benefizveranstaltungen, dann der ganze Rest.

Unschlüssig lehnte sich Kilian gegen den dicken, rauen Stamm einer großen Eiche, die direkt vor dem Haus stand und verdammt alt sein musste.

Um Richards Burg herum wuchsen ebenfalls viele Eichen, ein paar davon sogar im Innenhof, aber die empfand Kilian als recht deprimierend und erdrückend.

Die Burg hatte er allerdings noch nie gemocht.

Sie war einfach zu groß, immer kalt und und durch die kleinen Fenster kam viel zu wenig Licht in die Räume. Er sehnte sich nach seinem Haus in der Stadt, nach Nachbarn, nach Straßenlärm und nach der Bäckerei ein paar Häuser weiter.

Zur Tür raus gehen und andere Menschen sehen.

Dazu brauchte er allerdings keinen Mitbewohner.

Er konnte einfach seine Taschen packen, Rosalia und Leonhard Bescheid geben und mit einem Taxi zum Haus fahren. Niemand hielt ihn davon ab. Nur - dort erinnerte ihn alles an Richard. Wenn er alleine im Haus einzog, nur mit Rosalia und Leonhard, er würde es wohl nicht allzu lange aushalten.

Kilian seufzte und stieß sich vom Baumstamm ab. Ansehen konnte er sich den Kerl ja wenigstens, alles andere würde sich dann schon ergeben. Also marschierte er zur kunstvoll verzierten Holztür, bei der schon von weitem zu erkennen war, dass es sich um ein altes, wertvolles Stück Handwerkskunst handelte.

Bei jedem Schritt knirschte der Kies unter seinen Schuhen. Obwohl er ein neues Paar Jeans und ein maßgeschneidertes, handgefertigtes Hemd samt Jackett trug, kam er sich beim Anblick des hier zur Schau gestellten Reichtums schäbig und klein vor.

Kilian hatte nie viel Geld gehabt, genauso wenig wie seine Eltern. Sein Kinderzimmer hatte er sich mit zwei seiner Geschwister teilen müssen, bis seine Eltern genug gespart hatten, um den ziemlich niedrigen Dachboden zu zwei kleinen Zimmern auszubauen, damit ein jeder von den Geschwistern sein eigenes Reich haben konnte. Da war Kilian allerdings schon zwölf Jahre alt gewesen.

Obwohl sein Konto nun weit mehr Geld aufwies, als er je ausgeben konnte, zählte Kilian sich gedanklich und mit dem Herzen zur arbeitenden Mittelschicht. Richards Ersparnisse und Aktien hatte er nicht angerührt, ebenso wenig die Auszahlung der Lebensversicherung und das Schmerzensgeld, welches das Gericht ihm zugesprochen hatte. Er wusste nicht, was er damit anfangen sollte, bei jedem verwendeten Cent hätte er sich schuldig gefühlt.

Kilian zögerte einen Augenblick lang, bevor er die Klingel betätigte. Immerhin befand sich an der Tür keiner dieser Löwenkopfschlagringe, mit denen die schwarz gekleidete Dienerschaft zum Türöffnen herbei gerufen wurde. Irgendwie fand Kilian die Dinger gruslig, vielleicht, weil er schon zu viele Horrorfilme mit Häusern mit ebensolchen Klingeln gesehen hatte.

Trotzdem stand ein Butler im Eingang, als die Tür sich öffnete. Dieser musterte Kilian knapp mit respektvollem, professionellem Blick, deutete eine Verbeugung an und sagte ruhig: „Herr von Walden, herzlich Willkommen. Bitte treten Sie ein.“

Gerade, als Kilian der überaus höflich vorgetragenen Aufforderung nachkommen wollte, stürmte eine junge Frau an ihm vorbei und rannte ihn dabei beinahe um. Kilian konnte kaum etwas erkennen, aber ihre geröteten Augen und die wüsten Flüche aus ihrem Mund waren eindeutig: sie musste eine der Interessenten gewesen sein und war wohl mit dem Ausgang des Treffens alles andere als zufrieden.

„Ich bitte vielmals um Verzeihung, Herr von Walden. Ist Ihnen etwas passiert?“, fragte der Butler besorgt nach.

Kilian schüttelte langsam den Kopf und sah der davon brausenden Frau irritiert hinterher. „Nein“, sagte er ein wenig zu leise, räusperte sich und fügte hinzu: „Nein, vielen Dank, alles in Ordnung.“ Er setzte ein freundliches Lächeln auf, wandte sich dem Butler zu und betrat dann den geräumigen Flur.

Die große Eingangshalle beherbergte einen Springbrunnen, in dessen Mitte die lebensgroße Figur einer Wasser schöpfenden Frau in antiker Kleidung stand, einen Blumenkranz im geflochtenen Haar. Vor Kilians Augen tauchte unvermittelt das Bild des kleinen Zimmerbrunnens auf, den ihm seine Schwester letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Die beiden abstrakten Figuren hielten sich an den Händen und schienen auf der Wasseroberfläche zu tanzen. Der Brunnen stand ungenutzt auf einem Beistelltisch in der Ecke des Zimmers nahe einer Steckdose, weil das stete Plätschern in den hohen Räumen ein lautes Echo erzeugte und zudem dazu geführt hatte, dass Kilian nachts ständig den Drang verspürte, zur Toilette zu gehen. Falls seine Schwester zu Besuch kam, konnte er ihn jederzeit einstecken.

Im Gegensatz zu seiner bescheidenen Miniaturausgabe war der Springbrunnen hier nicht aus billigem Kunststein, sondern aus Schiefer, und wog sicherlich eine halbe Tonne. Deshalb plätscherte dieser Brunnen auch nicht wie ein kleines Bächlein, sondern dröhnte laut wie ein Wasserfall und das Wasser wogte in dem riesigen Bassin bedrohlich gen Rand, schwappte jedoch nicht darüber hinweg.

Kilian folgte dem Butler am Brunnen vorbei und einen langen Korridor entlang – schlampig verlegter Schiffsparkett, dafür aber eine hervorragend gearbeitete Holzdecke, die sicherlich nicht älter als zwei Jahre war - in einen Salon mit mehreren Sitzgruppen, Sesseln und Tischen. Die Möbel waren weder sehr ausgefallen in der Optik, noch im Material, mittlere Preisklasse und definitiv keine Einzelstücke. Da hatte Kilian deutlich mehr Extravaganz erwartet, vielleicht auch das eine oder andere unpassend moderne Möbelstück, Stahl, Gold, viel Glas.

Aber nein, alles in Eiche massiv, dem Geruch nach mit sehr teurer Möbelpolitur auf Hochglanz gebracht, schlichte Formen, die Sofas mit blau-weiß gestreiften Stoffen bespannt.

Zwei Männer saßen weit zurückgelehnt auf einem dieser tiefen Zweisitzer, ein jeder ein Whiskyglas in der Hand, und unterhielten sich leise über etwas, das Kilian nicht verstehen konnte. Eine großgewachsene, langbeinige, stark geschminkte Frau Mitte Dreißig stand vor einem schmalen, Decken hohen Regal, das eine beachtliche Schallplattensammlung beherbergte.

Kilian zählte dreißig Schallplatten in einem Fach, zehn Fächer übereinander, machte an die dreihundert Schallplatten, Pi mal Daumen. Daneben befand sich sowohl eine Leiter, die ebenso hoch war wie das Regal, als auch eine kleine Kommode, auf der ein alter Plattenspieler ruhte.

„Bitte, nehmen Sie doch Platz“, wandte sich der Butler an Kilian. „Kann ich Ihnen ein Getränk anbieten, Herr von Walden?“ „Nein, ich bin zufrieden, vielen Dank“, erwiderte Kilian und beobachtete, wie der Butler sich nach einem knappen Nicken elegant und lautlos wie ein Ninja entfernte. Kein Wunder, dass in vielen Krimis der Mörder der Butler war – einer von diesem Kaliber hatte nicht nur Zugang zu jedem Raum des Hauses, sondern bewegte sich derart geräuscharm durch die Zimmer, dass ihn sein Opfer nicht kommen hören konnte. Er war ein Butler höchster Klasse, wie man sie bei den Royals antraf, und definitiv kein Vergleich zu Leonhard, Richards Butler, der wie Rosalia nun zu Kilians Dienerschaft gehörte.

Nichts, das Leonhard machte, wirkte auch nur ansatzweise elegant. Und leise oder lautlos waren Fremdwörter für den in die Jahre gekommenen Helden, der in seiner wilden Jugend furchtlos mit einem geklauten Rucksack die Welt bereiste.

Plötzlich stand die übermäßig geschminkte Frau neben ihm und riss ihn abrupt aus seinen Gedanken, als sie in sein Ohr flüsterte: „Verrückt, nicht?“

Sie nahm einen Schluck von ihrem Drink. „Normalerweise kommen die Leute zu mir in meine hübsche, kleine Wohnung, wenn sie auf der Suche nach einem Zimmer sind. Scheint ein ziemlich feiner Schnösel zu sein. Das lohnt sich. Bei so einem kann man für ein Zimmer verlangen, was man will. Ist aber wohl ziemlich wählerisch. Oder wie heißt das gleich noch? Schwer vermittelbar, ja, genau, das ist es. Wie eine dreibeinige, einäugige Katze, die nur das teuerste Futter frisst. So ein Vieh will auch keiner in seiner Wohnung, außer, es scheißt Goldmünzen.“

Sie kicherte hinter vorgehaltener Hand und trank erneut. „In der letzten halben Stunde sind sieben Leute durch diese Tür verschwunden“, sie deutete vage mit der freien Hand in die Richtung einer schweren, dunklen Holztür mit Messinggriffen. „Und kurze Zeit später sind sie dann alle wieder heraus gerannt gekommen. Keiner von denen sah glücklich aus. Ich bin mir nicht mehr ganz so sicher, ob ich wirklich rein gehen will. Hört sich an, als wäre der Filius des Hauses ein ziemliches Arschloch.“

Etwas peinlich berührt überlegte Kilian, was er darauf erwidern sollte, doch zum seinem Glück schien die Dame nicht wirklich an einem Gespräch interessiert zu sein, an dem sich beide Parteien beteiligten.

„Na ja, was solls“, befand sie schließlich und zuckte mit den dürren, knochigen Schultern. „Wir sollen ja nur die Wohnung mit ihm teilen und ihn nicht gleich heiraten, was? Bis, dass der Tod uns scheide. Obwohl, bei dem Erbe, da könnte man glatt in Versuchung kommen.“ Kichernd rempelte sie Kilian an der Schulter an und leerte ihren Drink. „Entschuldigung, ich hole mir noch einen von denen da. Sind verdammt lecker. Kann nicht schaden, was?“ Damit ließ sie Kilian stehen und verschwand zur reich bestückten Bar.

Kilian musste ihr in einem Punkt zustimmen: Das hier war vollkommen verrückt. Oder zumindest reichlich ungewöhnlich.

Aber zu diesem Zeitpunkt stand ein Rückzug nicht mehr zur Debatte. Also stellte er sich in eine Ecke des Raumes und überflog die Buchtitel im Bücherregal vor ihm, eine Beschäftigung, die ihn ablenkte und zugleich weniger verloren und einsam wirken ließ. Wenn er von Richard eines gelernt hatte, dann war das sicherlich, dass ein Mann, der vor einem Bücherregal stand und mit leicht zur Seite geneigtem Kopf die Buchrücken betrachtete, vielerlei ausstrahlte: Nachdenklichkeit, Belesenheit, Neugier, Geduld, Kultiviertheit, Ruhe, Sicherheit – aber niemals die verlorene, hilflose Schüchternheit, die Kilian stets in fremder Umgebung bei formellen, offiziellen Veranstaltungen empfand.

Der Großteil der Titel sagte ihm überhaupt nichts, einige wenige Autoren glaubte er immerhin zu kennen oder sich daran zu erinnern, ihre Namen irgendwann einmal gehört zu haben. Literatur war allerdings nie seine Stärke gewesen. Er streckte seine Finger aus und strich über das Holz, unter seinen Fingerspitzen spürte er die feine Maserung. In die Front der Regalböden waren filigrane Muster eingearbeitet worden. Eine schöne, hochwertige Arbeit. Kilian hätte zu gerne gewusst, von wem es stammte, wollte aber nicht den Butler mit solch einer eher ungewöhnlichen Frage stören. Also verschränkte Kilian die Hände hinter dem Rücken und wartete auf das Öffnen der Tür, während er aus den vielen Buchtiteln so viele neue Wörter wie möglich bildete.

Kurz darauf wurde die betreffende Tür aufgerissen und spie einen leicht übergewichtigen, blond gelockten und schick gekleideten Mann mit hochrotem Kopf aus, bevor sie durch den gewaltigen Rückschwung wieder laut knallend zufiel. Der ältere Mann stürmte in erstaunlicher Geschwindigkeit durch das Zimmer und knallte auf dem Weg nach draußen einige weitere Türen hinter sich zu.

Plötzlich stand die gesprächige Dame von zuvor wieder neben ihm. „Das heißt dann wohl, mir geht’s jetzt an den Kragen“, sagte sie zu Kilian. Sie kippte ihren Drink hinunter und drückte ihm das leere Glas in die Hand. „Wir sehen uns in etwa zwei Minuten. Falls ich Sie umrennen sollte, tut es mir Leid. Aber ich bin vermutlich nicht mehr Herrin meiner Handlungen. Prost.“

Lautlos öffnete sich die Tür und ein weiterer, etwas jüngerer Butler trat heraus. Er nickte der Frau zu und bat sie mit einer ausladenden Geste, näher zu kommen. „Frau Reckling, bitte, treten Sie ein.“

Die Tür schloss sich wieder hinter ihr und Kilian musterte das Glas in seiner Hand. Am Rand klebte verschmierter Lippenstift. Wenn er doch noch die Flucht ergreifen wollte, dann jetzt oder nie. Kilian schloss kurz die Augen, atmete durch. Dann stellte er das Glas auf einem Tisch ab und sah auf seine Uhr. Noch bevor er seinen Blick vom Ziffernblatt löste, öffnete sich die Tür schon wieder.

Frau Reckling stürmte nicht durch den Raum. Sie rempelte Kilian auch nicht an oder brüllte Gemeinheiten. Sie schüttelte nur verständnislos den Kopf und goss sich einen weiteren Drink ein. Sie leerte das Glas in einem Zug und verließ dann das Zimmer erhobenen Hauptes und auf überraschend trittsicheren Beinen. In der Zwischenzeit erhoben sich die beiden Männer vom Sofa und verschwanden durch die Tür. Sie blieben deutlich länger als die Dame, kamen aber letztlich sichtlich unzufrieden und mit vor Wut funkelnden Augen wieder heraus.

„Herr von Walden?“

Kilian seufzte. Wie albern wäre es wohl, zu einem der großen Fenster zu laufen, es aufzureißen und hinauszuspringen? Quer über den Hof laufen, die Einfahrt hinunter und dann bis zu Straße und immer weiter, bis er vollkommen außer Puste und mit schmerzenden Beinen irgendwo ins Gras fiel. Unwillkürlich musste er lächeln. Richard hätte es witzig gefunden. Er wäre sofort dabei gewesen.

Aber das würde er nicht mehr.

Nie wieder.

Keine noch so winzige Verrücktheit konnte er jemals wieder mit ihm teilen. Kilian räusperte sich und gab sich Mühe, das Lächeln aufrecht zu erhalten, das ihm bei dem Gedanken an Richards Abwesenheit von den Lippen gleiten wollte.

Zu seiner Überraschung befanden sich zwei Männer in dem Arbeitszimmer. Hinter einem großen, massiven Schreibtisch aus Eiche, mit enormen, handgeschnitzten Beinen, die verschiedene Tierköpfe zierten, saß ein schlanker, älterer Herr mit lockigem, silbrig grauem Haar und ernster Miene. Kilian hatte das Gefühl, als erfassten ihn seine dunkelblauen Augen mit nur einem Blick und fühlte sich dadurch unangenehm an einen seiner Grundschullehrer erinnert, der neben der Tafel einen alten Zollstock aufgehängt und ihnen immer wieder ausführlich davon erzählt hatte, wie unartigen Kinder früher damit der Hintern ordentlich versohlt worden war.

„Guten Tag, Herr von Walden. Ich bin Ferdinand Stein und dies hier ist mein Sohn Valentin.“ Er nickte in Richtung eines anderen Mannes, der mit dem Rücken zu ihnen auf einem Sofa lag und sich nicht rührte. Ein leiser Seufzer glitt über seine Lippen. Plötzlich wirkte der ältere Herr weit weniger einschüchternd, die Falten auf seiner Stirn nicht mehr streng, sondern erschöpft und abgekämpft. „Valentin. Reiß dich zusammen und setze dich gefälligst ordentlich hin!“

„Ich habe bei dieser unfassbar albernen Scharade lange genug mitgespielt, Vater“, erwiderte der Mann, ohne der Aufforderung nachzukommen. Zu sehen war von ihm deshalb weiterhin nur sein dunkelbraunes, glattes Haar, das er definitiv nicht von seinem Vater geerbt hatte, und die Rückseite seiner Bekleidung, bei der es sich um schlichte Blue Jeans und ein schwarzes T-Shirt handelte.

„Herr von Walden ist ein ausgezeichneter Kandidat. Seine Wohnung liegt mitten in der Stadt in einer guten Gegend und bietet mehr als ausreichend Platz für zwei Bewohner. Er ist ein Herzog und ...“

Der Mann auf dem Sofa lachte höhnisch. „Blaues Blut? Einer dieser inzüchtigen Vollidioten, die immer noch glauben, sie seien der Nabel der Welt? Kein Interesse. Waren all die anderen Bewerber nicht Zumutung genug? Ein Herzog, das ist jenseits von Gut und Böse, Vater. Eher würde ich mir ein Zimmer mit einem bettelarmen Studenten teilen. Schick das Spatzenhirn weg.“

Kilian blieb keine Zeit, über die Beleidigung nachzudenken, die ihm da gerade recht unschön gegen den Kopf geworfen worden war, denn noch bevor der Mann auf dem Sofa sein