Möwensommer - Lotte Römer - E-Book

Möwensommer E-Book

Lotte Römer

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Beschreibung

Ein kleiner Blumenladen, eine zauberhafte Nordseeinsel und eine junge Frau auf der Suche nach dem großen Glück

Lina ist ein richtiges Inselkind und fühlt sich pudelwohl auf Norderney. Sie liebt ihre Arbeit in dem Blumengeschäft Blühende Phantasie, die Weite des Meeres und die Segelausflüge mit ihrem Kindheitsfreund Mattis. Nur in Sachen Liebe läuft es bei Lina nicht wie gewünscht. Schon ewig ist sie in Mattis verliebt, doch dieser scheint ihre Gefühle nicht zu erwidern. Seit er ihr nach einer gemeinsamen Nacht das Herz gebrochen hat, fällt es ihr schwer, sich auf eine neue Beziehung einzulassen. Zugegeben, die Auswahl an passenden Kandidaten ist auf Norderney auch überschaubar. Doch da zieht Bent, der neue Standesbeamte, auf das Nordseeeiland und flirtet mit Lina. Ist er vielleicht der Richtige? Aber warum verhält sich Mattis so seltsam, wenn es um Bent geht?

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Seitenzahl: 376

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Zum Buch

Lina kennt auf Norderney sowohl jedes Sandkorn als auch das Meer wie ihre Westentasche. Zusammen mit ihren Eltern, ihrem Bruder und dem frechen Graupapageienpärchen Frau Merkel und Herrn Schröder lebt sie auf der idyllischen Nordseeinsel. Doch zwei große Träume konnte Lina sich bisher nicht erfüllen. Sie würde zu gerne den Blumenladen, in dem sie angestellt ist, übernehmen und in ein Blumencafé verwandeln, das köstliche Naschereien anbietet. Und endlich die große Liebe finden! Diesem Ziel kommt Lina bald sehr nah, denn der neue Standesbeamte Bent bittet sie um ein Date. Allerdings ist da auch noch Mattis, dem eigentlich Linas Herz gehört – obwohl sie für ihn nur seine beste Freundin ist …

Zum Autor

Lotte Römer hat viele Leidenschaften, unter anderem Bücher, Berge und das Meer. Beim Joggen an den malerischen Stränden Norderneys oder während sie die majestätischen Ausblicke der Alpengipfel genießt, entstehen die Ideen für ihre herzerwärmenden Liebesromane. Dann nimmt sie die Leser*innen mit auf die Reise und verleitet sie zum Träumen.

Auch wenn einige Schauplätze real existieren, sind alle handelnden Personen und die Handlung in dieser Ausgabe frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

© 2021 by Lotte Römer Originalausgabe © 2021 by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie, Zürich Coverabbildung: Tina Terras & Michael Walter / Getty Images, Roman Sigaev, fotohunter, Ann.and.Pen / Shutterstock E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749950607

www.harpercollins.de

Widmung

Widmung

Für meine Mutter.

Wenn je ein Glaube einen Berg versetzt hat,

dann ihrer.

Kapitel 1

Fünfzig langstielige Rosen. Lina konnte den schweren Strauß schon kaum noch umfassen. Am Ende würde dieses Bukett wirklich pompös aussehen. Es sollte ein Sinnbild der Liebe sein, und ein kleiner Teil von Lina verstand sehr genau, was der Mann, der den Strauß in Auftrag gegeben hatte, mit den Rosen zum Ausdruck bringen wollte. Sie lächelte bei dem Gedanken und dachte darüber nach, wie sie die Stängel so fixieren konnte, dass das Gebinde bei der Übergabe seine Form behalten würde.

Um sie herum standen unzählige große und kleine Blumentöpfe, Wannen mit weiteren blühenden Topfpflanzen, Eimer voll mit farbenprächtigen Schnittblumen und zierliche Tische mit Dekoartikeln. Von der Decke über dem Verkaufstresen wuchs Efeu in dicken Ranken und verwandelte den Verkaufsraum in eine grüne Oase. Lina liebte besonders das Eck mit den Orchideen. Einige von den wunderschönen Pflanzen brauchten besonders viel Zuneigung, anderen reichte schon ein Schnapsglas voll Wasser die Woche. Diese extravaganten Blumen hatten es Lina schon immer angetan. Bereits in ihrer Teenagerzeit hatte sie in ihrem Kinderzimmer auf dem Fensterbrett Orchideen gezogen. Wäre es ihr Laden gewesen, sie hätte sich noch viel mehr auf ausgefallene Blühpflanzen spezialisiert, aber Claudia war nun mal die Chefin, und die setzte eben andere Schwerpunkte. Doch Lina liebte die fröhlichen Farben, die verschiedenen Düfte, die das Geschäft erfüllten, und besonders den neu eingetroffenen alten Leiterwagen, der über und über mit bunten Geranien dekoriert war. Als Claudia damals von Bayern auf die Insel gekommen war, hatte sie auch ein paar alte Milchkannen mitgebracht. Die Kannen, über deren Ränder lilafarbene Achimenes bis fast zum Boden herabhingen, glänzten in der Sonne. Die alten Behälter waren teils schon ein wenig rostig, sodass der Glanz einen herrlichen Kontrast zur Patina des Metalls bot.

Das Blumengeschäft verströmte so viel Gemütlichkeit, dass viele Norderneyer einfach nur auf einen Klönschnack hereinschauten, weil sie die Atmosphäre des Ladens genießen wollten. Wie so oft, wenn Lina sich im Geschäft umsah, dachte sie, dass ein paar kleine Tische mit Stühlen im Laden noch schön wären. Man könnte Kaffee ausschenken und vielleicht kleine Gebäckstücke anbieten. Dann wäre es eine Art Blumencafé. In ihrer Vorstellung war das der Inbegriff von Hygge. Vorsichtig hatte sie Claudia ihre Idee schon mal vorgeschlagen, doch sehr zu ihrem Leidwesen wollte ihre Chefin nichts davon hören. Lina wandte sich wieder den Rosen zu und nahm eine weitere Blume zu dem Strauß. Jede der langstieligen Rosen war ein absolutes Kunstwerk der Natur. Schon eine einzige davon wäre für sie ein perfektes Geschenk gewesen – allerdings schenkte ihr momentan keiner Blumen.

»Meinst du nicht, das ist etwas ungewöhnlich für einen Brautstrauß?«, fragte Claudia und sah ihr über die Schulter. Lina war dabei, die Rosen zu einem Strauß zusammenzubinden, indem sie hübsche breite Bänder, die nichts daran beschädigen würden, um die Stiele wickelte.

»Das hab ich dem Herrn auch gesagt. Aber er war von seiner Idee sehr überzeugt.« Lina war der Kunde, Baron von Stein, genauso ein Rätsel wie offensichtlich auch ihrer Chefin.

»Ist es nicht ein bisschen übertrieben?« Claudias Blick war noch immer skeptisch. Sie zupfte mit der für sie typischen Handbewegung ihren Pony zurecht. Eine nervöse Geste, denn sie war alles andere als eitel. Sie trug eine rustikale Arbeitshose, die eigentlich für Handwerker im Baugewerbe gedacht war, und hatte ihre Haare zu einem straff geflochtenen Zopf gebunden. Das apfelgrüne Shirt mit der schnörkeligen Aufschrift Blühende Phantasie und dem kleinen roten Tulpenlogo des Blumenladens bildeten den einzigen Farbtupfer von Claudias Outfit.

»Nein, ist es nicht. Baron von Stein hat gemeint, die langstieligen Rosen seien ein Scherz, um seiner zukünftigen Frau auf sowohl – ich zitiere – humorvolle als auch wertige Weise seine besondere Zuneigung zu demonstrieren«, sagte Lina mit verstellter Stimme, um den adligen Herrn nachzuahmen, woraufhin Claudia laut lachte. »Ich habe nicht wirklich verstanden, warum er zwei Sträuße braucht – ein Brautstrauß hätte es sicher auch getan, noch dazu in der Ausführung, die er bestellt hat. Aber uns soll es recht sein, oder? Der Baron hat für den Brautstrauß pastellfarbene Rosen mit goldbesprühten Nelken bestellt. Ja, ich weiß, das ist nicht perfekt, sondern extrem kitschig«, kam Lina Claudias Einwand zuvor, »doch er ist der Kunde, nicht wahr? Mehr als beraten kann ich ihn nicht. Mein Plan ist, mit Schleierkraut zu verschleiern, was zu verschleiern geht.« Lina grinste schon wieder.

»Na gut. Ich sehe, du machst das schon – wie immer.« Claudia lächelte ihr zu. »Dann kümmere ich mich mal um die Efeuranken für die Strandkörbe. Efeu haben wir hier ja genug.« Sie deutete auf die Ranken um sich herum, die wirklich wie Unkraut wuchsen und so den ganzen Laden bevölkerten. »Ehrlich, etwas Alberneres habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gestaltet. Als ob unsere Inselstrandkörbe nicht schön genug wären! Die stehen doch wohl für sich.« Claudias Empörung zeigte sich darin, dass sie begann, den Efeu ruppig mit der Gartenschere abzuschneiden und auf ihren Arbeitstisch zu werfen, der verborgen zwischen zwei perfekt geschnittenen Buchsbäumchen stand. Die kleinen Bäume warteten schon seit Jahren darauf, ein neues Heim zu finden.

»Na, das sieht der deutsche Adel wohl anders.« Lina hatte das Bild des Barons noch deutlich vor ihren Augen, wie er im senffarbenen Anzug durch den Laden stolziert war und naserümpfend an den Lilien geschnuppert hatte. Er war mit seinen mit Gel zurückgekämmten Haaren und den von Goldringen gezierten Fingern ein ganz besonderes Exemplar Mann, der sehr exakte Vorstellungen von der Dekoration rund um seine Trauung hatte. Zum Glück war Lina im Geschäft gewesen. Denn Claudia, die ihr Herz immer auf der Zunge trug, hätte dem Baron wohl freiheraus gesagt, was sie von efeuberankten Strandkörben auf Norderney hielt. Zu Linas Bedauern war die Braut nicht im Laden aufgetaucht, dabei hätte sie nur zu gern gewusst, wie die Frau aussah, die in diesem adeligen Paradiesvogel ihr Gegenstück gefunden zu haben glaubte. Aber vermutlich würde sich ihr diese Chance bei der Übergabe ihrer Blumenkunstwerke bieten. Im Anschluss daran hätten Claudia und sie sicher was zu reden!

Lina betrachtete die Rosen und kam zu dem Schluss, dass sie fertig mit dem Strauß war. Langstielige Rosen zu binden war auch nicht wirklich anspruchsvoll. Da würde der Brautstrauß morgen ein anderes Kaliber sein. Allein die Verwendung des Goldsprays würde die Nelken billig wirken lassen, was sie nur schwer ausbügeln konnte. Es tat ihr in der Seele weh, ihre Blumen so zu misshandeln, zumal weiße Nelken für Treue standen, was Lina als viel passender empfunden hätte. Doch der Kunde war nun einmal König. Trotzdem: Lina kam nicht umhin sich zu fragen, ob das Gold der Nelken vielleicht eine Bedeutung hatte, von der sie nichts wusste.

Sie nahm den Rosenstrauß, um ihn nach hinten in die Kühlung zu tragen, wo die Pflanzen garantiert ihre Frische behielten.

Als sie zurück in den Verkaufsraum kam, hantierte Claudia schon mit der ersten Efeugirlande herum.

»Dann mach ich mich an die Tischgestecke für die Feier, oder?«, schlug Lina ihrer Chefin vor.

Claudia nickte zur Antwort und fluchte leise, während sie kleine rote Rosen in ihrem Gebinde befestigte. »Hinten stehen die Kübel …«

»… mit den Nelken, ich weiß. Hab ich schon gesehen. Passend zum Brautstrauß. Und ja, ich denk dran, sie auch goldfarben anzusprühen.«

In diesem Moment ging die Ladentür auf.

»Guten Tag, Herr Rainer!«, riefen Claudia und Lina unisono.

»Moin, mien leven Deerns.«

Der alte Herr stützte sich auf einen Gehstock und trat mit unsicheren Schritten auf Lina zu. Sie mochte ihn, besonders wegen seines gütigen Lächelns, das ihn mit seinem weißen Bart wie einen besonders freundlichen, leicht gebrechlichen Weihnachtsmann wirken ließ. Jede Woche besuchte er das Geschäft und kaufte eine besondere Blume und ließ sie mit etwas Grün dekorieren. Vergangene Woche war es eine regenbogenfarbene Rose gewesen. Claudia hatte sie eigentlich als Gag bestellt – und dann waren die bunten Rosen weggegangen wie warme Semmeln.

»Es sieht hier ja wild aus, wenn ich mir das zu sagen erlauben darf.« Herr Rainer zeigte mit seinem Gehstock auf das Rankeninferno auf Claudias Tisch.

»Oh, Sie dürfen«, antwortete Claudia, wobei sie ihren Daumen in den Mund steckte. Anscheinend war ihr ein Dorn zum Verhängnis geworden. »Es ist das pure Chaos. Aber wir haben eine Adelshochzeit – oder so was Ähnliches«, nuschelte Claudia zur Erklärung, noch immer mit ihrem Finger im Mund.

»Adel, ach so was.« Langsam schüttelte Herr Rainer den Kopf und griff mit seiner freien Hand nach der Efeugirlande, die er eingehend betrachtete. »Früher war das anders auf Ney, da waren wir alle noch mehr unter uns.« Er als alteingesessener Norderneyer konnte sich noch an das ruhige, beschauliche Inselleben von vor sechzig Jahren erinnern, als der Tourismus noch in den Kinderschuhen gesteckt hatte.

»Was darf es heute sein, Herr Rainer?« Lina war nach vorne zu den Blumenkübeln gekommen, wo eine bunte Auswahl Schnittblumen darauf wartete, gekauft zu werden.

»Was haben Sie denn Schönes?«, entgegnete er und musterte das Angebot, das über Callas, Gerbera und Chrysanthemen hin zu Rosen und ein paar wenigen Hortensien reichte.

»Ich würde mich wohl für eine Lilie entscheiden, die duften wundervoll. Es ist eine tolle, neue Sorte. Hier, riechen Sie mal«, forderte Lina Herrn Rainer auf und hielt ihm eine der Blumen hin. Während er sich ein wenig nach vorn beugte, senkte er die Lider. Man erkannte sofort den Genießer in dem alten Mann.

»Oh, wirklich.« Er riss die Augen überrascht wieder auf, die nur so blitzten. Herr Rainer war zwar alt, doch geistig noch topfit. Und er liebte es immer noch, Neues zu entdecken.

»Die wird meine Else freuen.«

»Sehr schön. Ich gebe noch ein wenig Schleierkraut dazu, das geht aufs Haus.« Das Geschäft hatte aus Versehen eine doppelte Lieferung erhalten. Außerdem wollte Lina den Rainers eine Freude bereiten. »Oh, das ist ja wunderbar, vielen Dank, meine Liebe. Ich werde Else auch gleich dran schnuppern lassen, da wird sie staunen.«

Else Rainer war seit Jahren nicht mehr aus ihrem Haus in der Maybachstraße herausgekommen. Sie konnte seit ihrem Schlaganfall kaum ein paar Schritte laufen und litt unter einer halbseitigen Lähmung. Dadurch hatte sich bei den Rainers die jahrzehntelang klassische Rollenverteilung vertauscht. Wo vorher Frau Rainer ihren Mann bekocht und sich um die Wohnung gekümmert hatte, erledigte Herr Rainer alle Tätigkeiten, so gut er eben konnte. Niemand hätte es ihm zugetraut, doch mit den Jahren war er zu einem perfekten Hausmann geworden.

Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, dass seine Frau so glücklich wie möglich war, trotz der Umstände. So besuchte er jede Woche das Blumengeschäft und holte eine kleine Aufmerksamkeit für seine Else.

Lina kannte die Rainers nicht sehr gut, allerdings wurde auf der Insel erzählt, dass die beiden Leute bewundernswert mit ihrer Situation zurechtkamen.

Vorsichtig drapierte Lina etwas Grün zu Lilie und Schleierkraut und verpackte das Arrangement in durchsichtige Folie. Es knisterte laut. Wie immer spürte Lina ihren inneren Widerwillen gegen das ganze Plastik, das im Laden verwendet wurde. Sie hatte schon mehrfach für mehr Nachhaltigkeit plädiert – insbesondere hinsichtlich der kleinen Tütchen mit Dünger, die Claudia immer an die Kunden verteilte. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie das Geschäft viel mehr nach ökologischen Standards betrieben, immerhin waren heutzutage die Probleme mit Plastik und Kunstdünger nun wirklich bekannt. Es gab so schöne Papierverpackungen, hervorragende alternative Düngemethoden und ganz wunderbare Blumen aus Bioanbau, die der Blühenden Phantasie alle Ehre gemacht hätten.

Aber Claudia war schließlich die Chefin, dachte Lina erneut.

»Wunderbar haben Sie das gemacht, mien Deern.« Herr Rainer war sichtlich zufrieden mit Linas Arbeit.

Lina freute sich über das Kompliment des alten Mannes. »Danke. Geht es Ihrer Frau gut?«

»Oh ja. Wir kommen zurecht, vielen Dank. Wissen Sie, solange man noch zu zweit ist, geht das schon.«

Zu zweit. Ein kleines, doch schmerzendes Ziehen in Linas Magengegend war die Reaktion auf Herrn Rainers Worte. Sie sehnte sich seit Jahren nach Zweisamkeit. Seit Justus, mit dem sie eine zweijährige Beziehung geführt hatte, wegen der Arbeit zurück aufs Festland gezogen war, hatte es keinen Mann mehr in ihrem Leben gegeben. Wie lange war das jetzt her? Tatsächlich schon drei Jahre, dass er fort war?

Jedenfalls war sie seitdem Dauer-Single. Kein Wunder, die Männerauswahl auf der Insel war auch wirklich überschaubar – zu überschaubar nach Linas Geschmack. Aber wenn sie ehrlich in sich hineinhorchte, fehlte ihr manchmal ein Mann an ihrer Seite, jemand, an den sie sich anlehnen konnte, der sie einfach mal in den Arm nahm, für den sie da sein konnte und er für sie. Allerdings konnte sie es sich nicht erlauben, sich in Grübeleien zu vertiefen, denn es gab heute noch viel zu tun.

Lina richtete sich auf, kassierte ab und verabschiedete Herrn Rainer. »Bis nächste Woche dann!«

Er hob im Gehen die Hand und winkte vorsichtig mit der in Cellophan verpackten Blume. Erneut knisterte das Plastik.

Lina widmete sich wieder den Schnittblumen und roch ein weiteres Mal an den herrlichen Lilien. Ihr Beruf war jedenfalls sehr abwechslungsreich und immer für eine Überraschung gut, auch wenn diese Überraschungen vielleicht nicht immer ihrem eigenen Geschmack entsprachen, wenn sie an die goldenen Nelken dachte. Aber, so viel war klar, Floristin war und blieb ihr absoluter Traumjob!

Kapitel 2

»Totale Flaute, ich kann es nicht fassen, es war ein fünfer Wind vorhergesagt und jetzt das!« Mattis schaute ungläubig den Mast entlang hinauf zum Himmel, der sich wolkenlos in strahlendem Blau über ihnen erstreckte.

»Ach, macht doch nichts.« Lina hatte längst ihr Sommerkleid ausgezogen, sich ihr Handtuch geschnappt und war zum Vorderdeck des kleinen Segelboots gegangen, um im Bikini die warme Sonne zu genießen. Sie würde sich einfach hinlegen, sich bräunen und dem Glucksen der Wellen an der Bordwand lauschen. Vermutlich würde sie ohnehin einschlafen, wenn sie sich ausschließlich auf das sanfte Auf- und Abtanzen des Bootes konzentrierte, so müde wie sie nach dem langen Tag im Blumenladen war. »Wir genießen einfach das traumhafte Wetter.«

»Ich wollte so gern mit dir nach Juist rüber«, erwiderte Mattis knurrend, während er sich daranmachte, die Kajüte aufzusperren. »Jetzt wird es nichts mit unserer entspannten Segelpartie, außer wir wollen die ganze Zeit das Gebrumme des Motors hören.«

»Das lieber nicht, dann bleiben wir eben einfach hier.« Schon hatte Lina das Handtuch ausgebreitet und sich niedergelassen. Sie hielt die Hand über die Augen und schaute zum endlosen Himmel hinauf, über den langsam ein paar Schäfchenwolken dahintrieben. Es war wirklich ungewöhnlich warm für einen Junitag auf dem Wasser. Die Nordsee konnte sogar im Hochsommer frisch sein, da waren Tage wie dieser eigentlich ein wahres Geschenk. Darum fand sie es gar nicht so schlimm, heute im Norderneyer Hafen zu bleiben, statt wie geplant auszulaufen. Um sie herum waren die anderen Schiffe am Steg entlang vertäut. Es waren weit und breit keine Leute auf den anliegenden Booten zu sehen. Kein Wunder, bei dieser Flaute.

»Komm, Mattis, leg dich einfach auch ein wenig in die Sonne«, schlug Lina ihrem besten Freund vor. Das leise Plätschern der Wellen machte, dass sie sich schon ganz schläfrig und wohlig fühlte.

Ein undefinierbares Grummeln war die Antwort, und Lina konnte nicht sagen, ob Mattis ihr zustimmte oder noch immer das Wetter verfluchte. Er war, wenn seine Pläne durchkreuzt wurden, zuweilen ein wenig launisch.

Sie hatte die Augen geschlossen und hörte ihren Kindheitsfreund noch immer mit dem Schlüssel herumhantieren. Anschließend stieg er in die Kajüte hinunter. Lina versank in eine Art Dämmerzustand. Sie genoss es immer sehr, auf dem Wasser zu sein. Gemeinsam mit Mattis war sie mindestens einmal pro Woche auf seinem Segelboot. Genauso wie sie selbst liebte er die grenzenlose Freiheit, die man nur draußen auf dem Meer genoss, wo einzig die Gesetze des Ozeans und des Windes galten. Sowohl Mattis als auch Lina waren erfahrene Segler, die mit fast allen Situationen zurechtkommen konnten. Heute hatten sie mit gutem Wind gerechnet. Der Plan an diesem Tag war gewesen, nach Juist zu segeln, das von Norderney nur einen Katzensprung entfernt war und deshalb perfekt als schnelles Ausflugsziel taugte. Sie mochten beide das Hafenrestaurant dort, um sich etwas Gutes zu tun. So, im Segelhafen von Norderney, musste eben die Fantasie herhalten. Außerdem könnten sie später vielleicht noch andere Schiffe bei Anlegemanövern beobachten und sich über die ungeschickten Freizeitkapitäne amüsieren, oder sie könnten rüber in die Bucht gehen und den Windsurfern zuschauen, nachdem sie genug Sonne getankt hatten. Langweilig war Lina mit Mattis noch nie geworden.

Das Meer strahlte heute in einem so intensiven Blau, als wollte es mit dem Himmel konkurrieren, und winzige weiße Schaumkrönchen schmückten die Wasseroberfläche. Neben Mattis’ Segelboot lag ein Touristenboot am Steg, das Lina noch nie gesehen hatte. Ein einfaches Holzboot mit nur einem Mast und ohne Kajüte, das so gar nicht hierher passen wollte. Sie nahm sich vor, Mattis nach dem kuriosen Boot zu fragen.

»Bist du eingecremt?«, tönte jetzt dumpf dessen Stimme aus dem Schiffsbauch.

Statt eine Antwort zu geben, drehte Lina sich nach vorn und öffnete die Augen wieder. Mattis kannte die Antwort ohnehin. Er war in dieser Hinsicht die Stimme der Vernunft, während Lina sich auf Mattis’ Weitsicht verließ.

»Bleib einfach liegen.« Mattis war ans Deck zurückgekommen, die aufgeschraubte Sonnencremetube hielt er bereits in der Hand. Sie verstanden sich schon seit Jahren ohne Worte, und er wusste, dass Lina, was ihre Sonnenbäder betraf, zum Leichtsinn neigte. Das hatte ihr schon so manchen gefährlichen Sonnenbrand beschert, und eigentlich war ihr klar, dass damit nicht zu spaßen war.

Behutsam verteilte Mattis einen großen Klecks Creme zwischen seinen Händen und legte diese dann auf ihren Rücken. Auf der sonnengewärmten Haut fühlten seine Finger sich angenehm kühl an. Er begann bei ihren Schultern und arbeitete sich dann ihren Rücken in gleichmäßigen Kreisen hinunter. Lina wusste genau, wie Mattis’ Hände sich anfühlten, wenn er sie eincremte. Seit Kindertagen rieb Mattis ihr den Rücken ein, seit Kindertagen waren sie gemeinsam über die Strände und durch die flachen Wellen gesprungen, und seit Kindertagen hatten sie ihre gemeinsame Sonnencreme-Routine. Seine fließenden, sanften Bewegungen waren ihr so vertraut, dass sie sicher war, sie hätte die Berührung seiner Hände unter Hunderten Männern erkennen können. Mit den Jahren waren die Bewegungen immer mehr ausgereift, und Lina genoss es sehr, wenn er die Sonnenlotion auftrug. Es war wie eine kleine, aber feine Massage.

»So. Und jetzt?«, fragte Mattis, nachdem er fertig war. »Möchtest du ein Glas Sekt und ein paar Erdbeeren?«

Unvermittelt brach Lina in lautes Lachen aus. »Natürlich. Und die Kaviarschnittchen kannst du auch anrichten.«

Sie richtete sich ein wenig auf und drehte sich zu Mattis, der sie angrinste. »Heb dir das für deine Eroberungen auf, mein Lieber.« Wie immer, wenn sie dieses heikle Terrain betrat, verspürte sie einen kleinen Stich. Einen Stich, der sich nie ganz vermeiden ließ, seit sie damals … Schnell schob Lina die Erinnerung weit von sich und erwiderte das Lächeln ihres Sandkastenfreundes, der schon aufgestanden war.

»Dann ein Bier, oder?«

»Klingt super.« Lina hatte sich längst wieder gefangen, als Mattis zurückkehrte und zwei Flaschen dabeihatte. Sie stießen an und tranken direkt aus den Bierflaschen. Die Stimmung war ruhig und friedlich, während sie einträchtig nebeneinandersaßen.

»Du, sag mal, was ist das denn für ein eigentümliches Boot?« Lina deutete mit dem Flaschenhals auf das kleine Holzschiff, das sie vorhin entdeckt hatte.

»Eine Plätte. Genau genommen eine Chiemseeplätte.« Die Antwort kam ohne jedes Zögern. »Das ist ein Segelboot, das aus der Tradition der Fischerboote entstanden ist. Ob das allerdings so richtig für die Bedingungen hier auf der Nordsee taugt, bezweifle ich.« Mattis nahm einen großen Schluck Bier. Er wusste über Boote Bescheid wie niemand sonst, den Lina kannte.

»So eine Hitze!« Er zog sich sein T-Shirt über den Kopf und saß jetzt mit nacktem Oberkörper neben Lina. Sie roch seinen ganz eigenen Körperduft: würzig, leicht nach Holz und ein bisschen nach dem herben Bier, das er gerade trank. Lina nippte ebenfalls an ihrem Getränk. Täuschte sie sich, oder schlug ihr Herz ein wenig schneller als noch Sekunden vorher? Sicher war es nur das heiße Wetter, das ihr zu schaffen machte.

»Und hast du viel zu tun diese Woche?«, erkundigte sich Mattis.

»Frag nicht!« Lina verdrehte die Augen. Sie dachte an die große Hochzeit, die bevorstand. Morgen würde sie ganz früh ins Blumengeschäft gehen und gemeinsam mit Claudia die kleinen Gestecke für die Tische fertig gestalten. Dazu kamen noch der Brautstrauß und ein passendes, dezentes Arrangement für das Revers des Bräutigams. Außerdem sollte es noch exquisite kleine Anstecknadeln für alle Gäste geben, nur eine Nelke mit Schleierkraut und Grün, aber wenn man hundert davon machen musste, wurde selbst das zu einer zeitlichen Herausforderung.

»Lass mich raten – es ist wieder mal jemand so verrückt, sich ewig zu binden!« Wenn das Thema Hochzeit angesprochen wurde, egal, in welchem Zusammenhang, verzog Mattis das Gesicht. Er war ein Freigeist, ein ewiger Junggeselle, der sich gern mit Frauen traf – und anschließend genauso gern wieder weiterzog.

»Du hast es erfasst. Und noch dazu ist es irgendein reicher Industrieller und Baron vom Festland. Da muss alles perfekt sein. Claudia hat eine Flut an Frischblumen geordert. Es sind einhundert Gäste, verteilt auf zwölf Tische, dazu der übliche Schnickschnack und zwei große Bodenvasen links und rechts des Brauttisches.«

Mattis wusste genug über Linas Arbeit als Floristin, dass er sich etwas unter ihren Beschreibungen vorstellen konnte.

»Oje.« Er beugte sich zu Lina herüber und berührte sie kurz an der Schulter, eine tröstliche Geste.

»Ja.« Sie seufzte. Seine warme Hand, die noch für einen winzigen Augenblick auf ihrem Schulterblatt lag, fühlte sich gut an.

»Ich versteh eh nicht, dass die Leute sich da so anstellen. Allein das mit dem Heiraten ist doch völlig übertrieben. Welche Ehen halten denn heutzutage noch für immer? Da könnte man doch klug genug sein, um sich die Kosten zu sparen.« Wie so oft, wenn das Thema auf den Tisch kam, veränderte sich Mattis’ Ton. Seine sonst so warme Stimme klang sehr entschieden.

»Oh, ich glaube kaum, dass du dich in dieser Situation mal wiederfindest, bei deinem Lebenswandel. Nur keine Sorge.« Linas Worte trieften nur so vor Sarkasmus.

»Das glaub ich allerdings auch.« Sein Gesichtsausdruck ließ keine Zweifel zu. Sie kannte diesen Ausdruck, wenn er die Lippen fest aufeinanderpresste. Mattis war ein willensstarker Mann – und kam bei Frauen wahnsinnig gut an, so gut, dass sein Ruf ihm über die ganze Insel vorauszueilen schien. Sein muskulöser Oberkörper, die gut definierten Muskeln und das symmetrische Gesicht, aus dem meerblaue Augen hervorstrahlten – kein Wunder, dass er begehrt war. Lina konnte das durchaus verstehen.

»Ganz der Vater. Kommt mit Nähe einfach nicht zurecht«, pflegte Linas Mutter zu sagen, und mit Sicherheit war diese Einschätzung nicht ganz falsch, denn Mattis’ alter Herr war seit dem Tod von Mattis’ Mutter allein mit seinem Sohn geblieben und hatte Mattis ohne Frau an seiner Seite großgezogen. Vielleicht, dachte Lina, war da auch etwas in Mattis zerbrochen oder gar nicht erst gewachsen, was Liebe und Nähe anging. Mattis schien jedenfalls nichts zu vermissen, ganz im Gegenteil. Wann immer Lina ihn auf sein Liebesleben ansprach, zuckte er mit den Schultern, grinste frech und schwieg.

Und seit ihrem achtzehnten Geburtstag wusste Lina, dass er für keine Frau dieser Welt sein Schweigen brach.

Kapitel 3

Lina schaute auf die Uhr. Es war Viertel nach elf. Sie war so was von spät dran! Um halb zwölf sollte die Trauung beginnen.

Ohne nach links oder rechts zu sehen, hastete sie durch die Fußgängerzone in Richtung Strand. Sie war gleich mit zwei Brautsträußen bewaffnet, um dem Bräutigam seinen liebevollen Streich zu ermöglichen.

Am Weststrand waren die Strandkörbe bereits ganz früh am Morgen von Claudia dekoriert worden – unter ihrem wilden Fluchen, wie »verschlimmbessernd« diese Aktion war. Lina hatte sehr lachen müssen, das Wort hatte sie davor noch nie gehört.

»Unsere Strandkörbe sind eines der Wahrzeichen von Norderney, und sie sind bisher sehr gut ohne Efeu zurechtgekommen«, hatte Claudia geschimpft, während sie ihren Fahrradanhänger mit Efeubergen befüllt hatte. Lina hatte sich einen Kommentar darüber verbissen, dass die Chefin auch erst seit sechs Jahren auf dem Nordseeeiland lebte und somit technisch gesehen noch lange nicht als Insulanerin galt – jedenfalls nicht nach den ungeschriebenen Regeln der Einheimischen.

Schließlich hatte Lina sich dann dem goldglitzernden Brautstrauß gewidmet und sich in Kleinigkeiten verzettelt. Denn es waren noch ein paar Kunden in den Laden gekommen, nicht zuletzt, um einen kleinen Klönschnack zu halten, und am Ende war die Zeit ihr einfach zwischen den Fingern zerronnen, und sie war gerade so fertig geworden. Sie hatte eine Konstruktion aus Rosen, Glitzernelken und Schleierkraut zusammengestellt, die man mit viel Liebe futuristisch nennen konnte, außenherum weißer Tüll, wie vom Bräutigam gewünscht. Viel Geld, aber nicht so viel Geschmack, dachte Lina, als sie jetzt versuchte, die Sträuße zu Fuß unbeschadet in Richtung Strand zu transportieren.

Sie schaute zum Himmel hinauf, wo sich finstere Wolken auftürmten. Der Wind hatte aufgefrischt. Sosehr sie den reichen Adligen für seltsam hielt, einen Regenguss während der Trauung wünschte Lina niemandem. Schnell lief sie weiter.

Auf Höhe des kleinen Waffelladens strömte ihr der Duft der frisch gebackenen Köstlichkeiten entgegen, und ihr Magen knurrte laut vernehmlich. Die kleinen Tische standen bereits vor dem charmanten Café, und zwei kleine Jungen kamen mit Waffeln am Stil, deren oberer Teil in dunkle Schokolade getaucht worden war, aus der Tür, während eines der beiden Kinder einen herzhaften ersten Bissen nahm.

Lina hob die beiden Blumensträuße hoch über ihren Kopf. Beide waren in die obligatorische Knisterfolie eingeschlagen. So bahnte sie sich ihren Weg durch die Innenstadt.

»Moin Lina!« Eine vertraute Stimme ließ sie sich umdrehen. Mattis grinste ihr entgegen, sichtlich erfreut, sie zu sehen.

»Was machst du hier?« Es war immer schön, ihren besten Freund spontan zu treffen.

»Ach, im Rathaus ist eine Sicherung durchgebrannt, da muss ich hin. Und du? Alles für den schönsten Tag im Leben deiner Kundschaft erledigt?« Der Sarkasmus in seiner Frage war unüberhörbar. Mattis betrieb ein kleines Elektrogeschäft auf Norderney und war für sämtliche Technikprobleme zuständig, welche in der Stadt so anfielen. Zügig schob er sein Fahrrad neben sich her durch die Fußgängerzone mit den Einkaufslustigen und schloss mühelos zu Lina auf, die ihr Tempo wieder aufnahm.

»Erledigt schon, aber ich bin viel zu spät dran. Der reiche Kerl heiratet direkt unten am Strand! Ich werde also gleich einen Sprint hinlegen, wenn ich aus der Menschentraube raus bin. Ich hab nämlich nur noch zehn Minuten.« In der Innenstadt herrschte heute reges Getümmel, was sicher auch dem bewölkten Wetter geschuldet war. Da trieb es die Leute eher in Geschäfte als an den Strand. Sie bummelten durch die kleinen Läden, aßen Krabbenbrötchen oder gingen mit ihren Kindern zum Kap Hoorn, dem neuen riesigen Outdoor- und Indoor-Spielgelände im Stadtpark.

»Magst du mein Fahrrad haben? Dann kannst du die letzten Meter Gas geben?«, bot Mattis ihr an.

Linas Augen leuchteten auf. »Du bist meine Rettung!«

Theatralisch hob Mattis seine freie Hand in Richtung Herz. »Ich weiß«, sagte er grinsend. »Aber natürlich will ich eine Gegenleistung dafür.«

In gespielter Verzweiflung verdrehte Lina die Augen. »War mir klar. Oh, Verzeihung!« Sie hatte eine Frau angerempelt, die ihr einen Blick zuwarf, als würde sie Lina gleich umbringen wollen. Meine Güte, selbst im Urlaub waren so viele Leute gestresst.

Sie wandte sich wieder Mattis zu. »Also, was ist der Preis?«

»Eine Waffel in der Mittagspause, wenn jeder von uns mit seinem Auftrag fertig ist. Mir wäre vorhin fast meine eigene Sicherung vor Hunger durchgebrannt, kaum dass ich den Duft aus dem Waffelcafé gerochen habe. Ich hab noch nicht mal gefrühstückt. Außerdem können wir dann gleich noch deinen Geburtstagsausflug besprechen«, schlug Mattis vor.

Daran hatte Lina noch überhaupt keinen Gedanken verschwendet. Erst jetzt, wo Mattis es ansprach, dachte sie an Montag. Stimmt, da würde sie fünfundzwanzig werden. Das Gefühl, das diese Tatsache in ihr auslöste, war kein gutes. Es fühlte sich eher mulmig an, denn ihr war klar, dass dieser Tag Erinnerungen wecken würde, die sie lieber weiter in sich vergrub. Seit sie achtzehn geworden war, hatte sie nicht mehr mit Mattis allein feiern wollen, weil es sie jedes Mal wieder Erinnerungen an das Fest anlässlich ihres Geburtstags zur Volljährigkeit erinnerte. Außerdem veranstalteten ihre Eltern jedes Jahr im Januar die Winterparty für ihre Kinder. Lina hätte dieses Fest völlig ausgereicht, vor allem nachdem ihr achtzehnter Geburtstag ein so unschönes Ende genommen hatte.

Doch Mattis ließ in keinem Jahr locker. Er organisierte immer einen Ausflug. Bei ihrem neunzehnten Geburtstag wäre Lina Mattis und seinem Korb voller Leckereien fast ins Gesicht gesprungen, als er vor ihrer Tür gestanden hatte und sie zu einem Picknick raus zum Strandflieder entführen wollte. Aber dann war sie mitgegangen. Weil Mattis eben Mattis war – und nicht nur der Kerl, der sie im Jahr zuvor bitterlich enttäuscht hatte. Er war ihr bester Freund, und nach dem Vorfall war Mattis das noch immer, und Lina war diese Beziehung viel zu wichtig, als dass sie auf diese Freundschaft hätte verzichten wollen.

Sie war ihm drei Monate ausgewichen, das war schlimm genug gewesen. Es hatte sich angefühlt, als wäre sie eine Suppe ohne Salz, einfach unvollständig.

»Ich weiß schon, was wir dieses Mal machen können«, informierte Mattis sie. »Das wird dir gefallen.«

»Mhh-hmm.« Bittersüß. Das traf ihre Emotion dazu am besten. Sie spürte eine Mischung aus Freude und noch immer den Nachhall der tiefen Traurigkeit, die sie seit ihrem achtzehnten Geburtstag immer wieder überkam. Sie konnte sich noch sehr gut an diesen einen Tag vor sieben Jahren mit ihm erinnern, wie an einen Phantomschmerz, der nie verging. Lina riss sich zusammen und konzentrierte sich auf das Jetzt. Sie war fest entschlossen, sich auf das Positive zu fokussieren. Das andere war ein Ausrutscher gewesen, mehr nicht.

Gemeinsam erreichten Mattis und Lina das Ende der Fußgängerzone, wo sich der Kurpark erstreckte. Geigenklänge, ein Tusch und Applaus waren zu hören. Zahlreiche Besucher hatten sich auf dem Freigelände eingefunden, um den Warschauer Symphonikern zu lauschen. Lina war überrascht, als sie die Leute im Freien sitzen sah. Nach ihrem Empfinden wäre heute eher ein Tag für das Conversationshaus gewesen, wo die Konzerte bei schlechtem Wetter stattfanden. Doch anscheinend wurde die Veranstaltung, da einmal geplant, auch bei drohendem Regen durchgezogen. Das Orchester setzte zum nächsten Stück an.

»Also?«, fragte Mattis nach und hielt ihr sein Rad hin, nachdem er seinen monströsen Werkzeugkasten aus dem Fahrradkorb geholt hatte.

»Geht klar.« Lina übernahm das Fahrrad und legte ihre Blumensträuße behutsam in den Korb. Es war immer schön, Zeit mit Mattis zu verbringen, selbst wenn es nur die kurze Mittagspause war.

»Danke, dass du mich gerettet hast!«, sagte sie gespielt pathetisch in seine Richtung, während sie die Blumen noch mal zurechtrückte.

»Immer und gerne, das weißt du doch.« Er sah sie mit seinen funkelnden blauen Augen an. Seine vollen Lippen verrieten nicht den Hauch eines Lächelns. Der Ausdruck auf seinem Gesicht irritierte Lina für einen Moment, doch dann breitete sich das bekannte breite Grinsen auf Mattis’ Miene aus. »Dann mal los, der Baron wartet.«

»Ja, bis nachher.« Lina hob ihr Bein über die Fahrradstange und fuhr los, ohne zurückzuschauen. Mattis’ Rad war ihr einen Hauch zu groß, aber das würde nicht weiter stören. Ohne die Schilder mit dem durchgestrichenen Fahrrad zu beachten, fuhr sie so schnell es eben ging über das Kurparkgelände, wich Fußgängern geschickt aus und steuerte an den Blumenrabatten entlang. Der ganze Park war prächtig dekoriert. Jedes Jahr gestalteten auch Lina und Claudia ein paar der Beete, denen Lina auch im Vorbeifliegen einen prüfenden Blick zuwarf. Berufsneugier. Sie hatten ihre Beete dieses Jahr mit bunten Dahlien bepflanzt. Wo in der Mitte große satt pinke und weiße Blüten dominierten, waren die Pflanzen, die sie säumten kleiner und orangegelb gemustert. Insgesamt wirkte die Kombination bunt und fröhlich, genau wie Claudia es vorhergesagt hatte.

Lina passierte den Park und konnte endlich richtig Gas geben. Noch fünf Minuten, stellte sie fest, das konnte sie ebenso noch schaffen. Sie trat kräftig in die Pedale und erreichte schnell den Deich. Das Meer breitete sich als glitzernde blaue Weite vor ihr aus, und sie hörte das Rauschen der Wellen, die an den Strand spülten. Genüsslich sog sie den Geruch des Salzwassers tief in ihre Lungen ein. Der weiße Strand zog sich wie ein Band zwischen Deich und Wasser dahin, von Strandkörben geziert. Ein paar Leute gingen an der Uferlinie entlang spazieren, etliche Drachen tanzten im Wind. Sie erinnerten sie an ihre Kindheit, besonders an diesen einen Sommer, in dem sie und Mattis geradezu besessen vom Drachensteigenlassen gewesen waren. Ihre gesamte freie Zeit hatten sie dem Wind und ihren Drachen gewidmet. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als eine Windböe ihr die Haare aus dem Gesicht wehte und der Himmel plötzlich aufriss. Ein paar Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg herab, und plötzlich schien der ganze Strandabschnitt vor ihr aufzuleuchten. An keinem Ort der Welt fühlte Lina sich so zu Hause wie hier. Das Meer erstrahlte wie ein blauer leuchtender Spiegel des Himmels. Es sah wunderschön aus, am liebsten hätte Lina einfach angehalten, stattdessen strampelte sie gegen den Wind an, immer wieder Touristen ausweichend, die ihre Kameras oder Smartphones zückten, um die wundervolle Landschaft und die eben entstandene Wolkenformation fotografisch festzuhalten. Das Papier, in das der Brautstrauß geschlagen war, knisterte leise im Wind.

Endlich kam der Badewagen, wo das Standesamt am Strand untergebracht war, in Sichtweite. Der alte Badekarren war noch von ganz früher, aus der Zeit, in der die Damen zum Baden ins Wasser gefahren worden waren, um sie vor den Blicken der Herren zu schützen. Mit den großen, hölzernen Reifen wurde er damals von einem Pferdegespann ins Wasser gezogen. Jetzt diente das historische Gefährt als romantischer Ort am Strand, in dem die Trauungszeremonien vollzogen wurden. Der cremefarbene Karren sah aus wie ein winziger, antiker Wohnwagen. Lediglich das Brautpaar, die Trauzeugen und der Standesbeamte fanden in dem kleinen Anhänger Platz.

Eine große Menschentraube hatte sich vor dem Gefährt versammelt. Gehörten die etwa alle zur Hochzeitsgesellschaft? Meine Güte, die passten doch niemals in die wenigen Strandkörbe, die u-förmig um die hölzerne Umkleide angeordnet waren.

Warum hatte sich diese große Gesellschaft nicht in den Weißen Saal im Conversationshaus eingebucht? Für so große Hochzeitsgesellschaften war es ideal, dort die Trauung vornehmen zu lassen, fand Lina. Auch viel einfacher zu dekorieren, das spielte für sie natürlich auch eine Rolle. Aber sie fragte ja niemand.

Lina sprang die Stufen zum Strand hinunter und wickelte im Laufen das Cellophan von dem Strauß mit den Rosen und stopfte es in die Brusttasche ihrer Latzhose, sodass diese sich unschön nach vorne beulte. Doch das war ihr egal. Hauptsache, sie war noch pünktlich.

»Darf ich mal?« Sie schob sich an einer sehr korpulenten Frau vorbei, die ein weißes Kleid mit schwarzen Punkten trug und mit beiden Händen einen überdimensionalen schwarzen Strohhut festhielt. Den kritischen Blick der Dame ignorierte Lina einfach und zwängte sich zwischen einem jungen Paar und zwei alten Männern hindurch, beide Blumensträuße hoch über ihren Kopf gehoben, damit ihr Werk nur nicht beschädigt wurde.

»Vorsicht, darf ich mal bitte?« Endlich hatte sie es geschafft, die Gästereihen zu passieren, und sah das Brautpaar vor sich. Lina riss vor Überraschung die Augen weit auf. Genau so hätte sie sich das Brautpaar eben nicht vorgestellt und irgendwie schon!

Der Baron trug einen roten Anzug in exakt der Farbe der Rosen im Brautstrauß. Sein Schnurrbart mit den gezwirbelten Enden verlieh ihm zusammen mit dem Monokel eine ganz eigenwillige Erscheinung, die aber durch und durch Stil hatte. Gerade hatte er mit seiner goldberingten Hand die seiner Braut an die Lippen gehoben und küsste zart ihre Fingerspitzen, während er keine Sekunde die Augen von ihr ließ.

Die Braut war von eher runder Statur, sicher hatte sie zwanzig Kilo zu viel auf den Rippen. Ihr Kleid hörte über dem Knie auf, war weiß, aber golddurchsetzt und wurde von einem roten Gürtel im Farbton des Anzugs zusammengehalten, den auch ihre Schuhe hatten. Ihr Gesicht wurde von ihrer Nase dominiert, die ihr jedoch etwas Markantes verlieh. Es hätte leicht sein können, dass sie ein wenig wie ein Raubtier gewirkt hätte, wären da nicht die verspielten, dunklen Locken gewesen, die ihr fröhlich um das Gesicht tanzten. Lina schaute auf den Brautstrauß und zurück zu Baron von Stein und seiner zukünftigen Gemahlin. Das Blumenarrangement würde das Ensemble perfekt abrunden. Baron von Stein hatte sich vorgebeugt und küsste die Braut auf die Wange, was mit Bravorufen aus dem Publikum quittiert wurde.

»Entschuldigen Sie?« Erst jetzt, als der Applaus abflaute, konnte Lina sich bemerkbar machen.

Die Braut schaute in ihre Richtung. »Ach, wie wunderbar!« Sie stakste in ihren hochhackigen Schuhen über den Sand auf Lina zu.

»Der Strauß ist perfekt.« Sie lächelte Lina freundlich an. »Sie sind ein Genie! Ich finde auch die Blumengirlanden ganz wunderbar.« Sie griff nach den langstieligen Rosen und hielt den monströsen Strauß in ihren Armen. Sie wäre wohl mit diesen Blumen allein schon wirklich zufrieden gewesen, was die Frau noch sympathischer machte.

»Ich … also …« Vor lauter Menschen hatte sie die Efeuranken, die Claudia gebunden hatte, noch gar nicht wahrgenommen, und sie sahen wie erwartet einfach nur schrecklich deplatziert aus. Dabei war das Ambiente hier am Strand wirklich zauberhaft, wenn man es pur genoss!

»Das ist nicht der Brautstrauß, Engelchen.« Der Baron war herangetreten. »Ich wollte dir nur eine zusätzliche Freude machen. Wissen Sie, ein Strauß langstieliger Rosen war mein erstes Geschenk für Gloria.«

Gloria, deren Name perfekt zu der extravaganten Frau passte, küsste ihren Bräutigam ungestüm, der die Zärtlichkeit sichtlich genoss. Nun verstand Lina natürlich, warum er Baron gleich zwei Blumensträuße geordert hatte!

Nachdem das Paar sich voneinander gelöst hatte, wandte er sich Lina zu. »Wenn wir bitte den anderen Strauß haben könnten?«

Lina nickte und hob den zweiten Strauß auf, den sie behutsam hinter sich in den Sand gelegt hatte. Vorsichtig wickelte sie ihn aus. Tatsächlich passten die Farben wunderbar zusammen. Der Baron war ein unerwartetes Genie in Fragen der Farb- und Stilzusammenstellung. Lina hatte vorschnell über ihn geurteilt, das musste sie sich eingestehen. Trotzdem: Die Efeudekoration an den Strandkörben war einfach unverzeihlich, dabei blieb sie. »Oh!« Die Braut schlug sich die Hand vor den Mund beim Anblick ihres Blumenarrangements.

»Ihr Mann hatte die Idee für den Strauß«, antwortete Lina, statt auf die Girlanden einzugehen. Sie war eine so schlechte Lügnerin!

Der Wind wehte nun sanfter, die Wolkenberge hatten sich ganz verzogen, wie es so oft auf der Insel der Fall war, und es war gut möglich, dass das Wetter für die Zeit der Trauung hielt. Die Strandkörbe hätten – ohne Deko – ihr natürliches nordisches Flair versprüht. Der weiße weiche Sand und der Duft des Meeres taten ihr Übriges, um der anstehenden Zeremonie den letzten Schliff zu geben.

»Gefällt er dir, meine Schöne?« Der Baron hatte seine Stimme gesenkt. Sie hatte einen ganz eigenen, sanften Ton angenommen, der offenbar für die Frau seines Herzens reserviert war.

»Ach, Mäuschen, die Blumen sind wirklich zauberhaft.« Die Braut bedachte ihren zukünftigen Gatten mit einem anhimmelnden Blick.

Hatte Gloria den Baron wirklich eben Mäuschen genannt? Jetzt war es Linas Hand, die in Richtung ihrer Lippen flog, um das Zucken ihrer Mundwinkel zu verbergen.

»Wären Sie dann so weit?«, rief eine dunkle Stimme aus Richtung des Badekarrens. Ein blonder Mann mit kurz geschnittenen Haaren, perfekten Gesichtszügen, dunklen, geheimnisvollen Augen und einem perfekt sitzenden Nadelstreifenanzug, der eines Bräutigams würdig gewesen wäre, kam auf sie zu.

Das musste der neue Standesbeamte sein, von dem Oliver, Linas Bruder, erzählt hatte. Wie hieß er noch? Es wollte ihr nicht einfallen.

»Ja, Momentchen.« Die Braut winkte grazil in Richtung des Standesbeamten und wandte sich noch mal an Lina. »Vielen Dank, meine Liebe! Sie machen meinen Tag noch schöner.«

»Sehr gern«, antwortete Lina und meinte es auch so. Sie hatte nach wenigen mit der Braut gewechselten Worten verstanden, warum Baron von Stein sich in genau diese Frau verliebt hatte.

»Können wir jetzt?«, unterbrach der Standesbeamte erneut. »Es tut mir leid, aber ich muss auch noch rüber zur Hochtiedsstuv, da ist nachher noch eine Hochzeit.«

In der Hochtiedsstuv – einem alten, wunderschönen Fischerhaus im Argonnenwäldchen – fanden ebenfalls oft Trauungen statt, wie Lina natürlich bestens wusste. Dort konnte die frisch Vermählten übernachten und die Hochzeitsnacht zu einem besonderen Erlebnis werden lassen, wenn man den rustikalen Charme der Fischerkarte mochte. In den vergangenen Jahren war Norderney zu einer richtigen Hochzeitsinsel geworden, was wohl auch diesen zweiten Standesbeamten rechtfertigte, der ganz neu eingestellt worden war.

Der Mann im Nadelstreifenanzug war ganz aus dem Badekarren herausgetreten. Prüfend schaute er zum Himmel.

»Möglicherweise könnten wir es sogar so machen, wie Sie wollten und die Zeremonie hier vor dem Wagen vornehmen, ausnahmsweise, versteht sich.«

»Wirklich?« Der Bräutigam griff nach der Hand der Braut und drückte sie fest.

»Das wäre wundervoll. Hab ich dir nicht gesagt, Mäuschen, dass wir Glück haben?«, brachte die zukünftige Gemahlin strahlend hervor. Das Paar tauschte einen weiteren Kuss, dieses Mal ganz keusch und zärtlich, während der Standesbeamte mit schnellen Schritten auf sie zulief.

Während er immer näher kam, fiel Lina auf, wie groß der Mann war. Er strahlte ein Selbstbewusstsein aus, von dem andere Männer nur träumen konnten und … In diesem Moment wurde Lina sich ihrer Latzhose mit der unschönen Beule auf Brusthöhe und ihrer mit Sicherheit total verwuschelten Haare bewusst. Instinktiv tastete sie nach ihrer Frisur und gelangte zu dem Schluss, dass das, was da auf ihrem Kopf war, vermutlich mehr einem roten krausen Vogelnest glich als einer gepflegten Frisur. Sie spürte, wie sie vor Verlegenheit rot wurde und wich ein Stück zurück. Aber der Standesbeamte würdigte sie ohnehin keines Blickes.

»Meine Chefin Claudia kümmert sich gerade um die Deko im Hotel«, wollte Lina die Brautleute noch informieren, allerdings waren die zukünftigen Eheleute schon hinter dem Standesbeamten her in Richtung des historischen Gefährts gegangen. Bestimmt hatten sie Lina nicht mehr gehört. Doch dann drehte sich der Baron noch mal zu ihr um.

»Wiedersehen!« Er winkte über seine Schulter zu Lina zurück, woraufhin sich auch der Standesbeamte umwandte und sie ansah. Täuschte sie sich, oder musterte er sie in Sekundenbruchteilen von oben bis unten, um sich dann, ohne eine Miene zu verziehen, wieder umzudrehen?

Es fühlte sich für sie ein wenig so an, als wäre sie bei einer wichtigen Prüfung durchgefallen.

Rasch eilte sie zum Fahrrad zurück. Da gab es ein einziges Mal einen neuen, interessanten Mann auf Norderney, der länger blieb als einen Urlaub lang, und dann entpuppte er sich als arroganter, oberflächlicher Schnösel, der sie mit einem einzigen Blick abkanzelte.

Gut, dass sie keinen Typen brauchte, um in ihrem Leben klarzukommen, dachte sie trotzig und schwang ihr Bein über die Fahrradstange.

Plötzlich vibrierte ihr Handy, direkt auf Höhe ihres Herzens. Mattis! Den hätte sie jetzt beinah vergessen. Beim Gedanken an die Waffelbäckerei knurrte ihr Magen erneut, wie schon vorhin, als sie an der Bäckerei vorbeigegangen war. Sie zog ihr Smartphone unter dem Papierknäuel hervor, das noch immer in der Brusttasche ihrer Hose steckte.

Bin da. Und du? hatte er geschrieben. Knapp wie immer.

Komme, tippte Lina. Danach stieg sie auf und trat kräftig in die Pedale.

Kapitel 4

Lina spürte seine warme Hand, die am Ansatz ihrer Jeans entlang über ihren Bauch glitt. Die Welt war irgendwie verschwommen, sie konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen, aber als er sie küsste, kam es ihr herrlich warm und vertraut vor. Ihre Lippen öffneten sich wie von selbst, und seine Zungenspitze begann, mit der ihren zu tanzen. Lina schlang ihre Arme um ihren Liebhaber, fühlte durch dessen Hemd seine Muskeln, seine Stärke, und wusste, dass sie sich ganz fallen lassen konnte in die Berührungen dieses Mannes. Seine Finger waren inzwischen unter ihr Shirt gewandert, lagen nun auf ihrem Rücken, und er presste Lina an seinen durchtrainierten Körper. Sie merkte, dass es ihm ging wie ihr selbst: Sie wollten einander so sehr!

Linas Atem ging schwer, als sie den Traummann erneut leidenschaftlich auf den Hals küsste. Mit den Fingern strich er ihren seitlichen Bauch entlang und schloss die Hände dann für einen Moment fest um ihre Taille. Er wollte sie noch näher ziehen, immer näher.

Ein leises Stöhnen entrang sich Linas Lippen, die gerade wieder die des Mannes gefunden hatten und …

»Hey, du Mistkerl!«

Lina öffnete die Augen. Mit einem Mal war sie hellwach, herausgerissen aus dem schönsten Traum seit Langem.

»Da kuckste, wa?«