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Ihre Initialen ergeben das Wort CAVALIER … was sie definitiv sind … abgesehen von atemberaubend sexy und scharf wie Chili. Kurz gesagt: Hot as Hell. Sie sind The Cavaliers. V.A. sind die Initialen des Franzosen Vincent Amblard. Das ist seine Geschichte. Vincent Amblard lebt für das Weingut seiner Familie. Champagner zu produzieren war zwar nie sein Traumjob, aber auf den musste er ebenso verzichten wie auf eine Beziehung. Was egal war, da Frauen es nicht wert waren, geliebt zu werden. Doch als sich seine drei Freunde innerhalb kürzester Zeit verlieben, ihren Schwur brechen und er zudem erfährt, dass seine Jugendliebe in die Champagne zurückkehren wird, rastet er aus. Margaux Maminot, die Danseuse Étoile der Pariser Oper, erklärt mit nur 32 ihren Rücktritt. Ihre Mutter, die sie aus ihrer Heimat entwurzelt, den Kontakt zu dem Nachbarsjungen unterbunden, sie kontrolliert und sich in ihrem Ruhm gesonnt hat, kann nichts mehr dagegen tun. Margaux sehnt sich nach ihrem Zuhause, ihrem Großvater ... und Vincent, der sie abgrundtief hasst. Abgeschlossener Liebesroman mit heißen Szenen und Happy End.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Ihre Initialen ergeben das Wort CAVALIER … was sie definitiv sind … abgesehen von atemberaubend sexy
und scharf wie Chili. Kurz gesagt: Hot as Hell.
Sie sind
V.A. sind die Initialen des Franzosen Vincent Amblard.
Das ist seine Geschichte.
Vincent Amblard lebt für das Weingut seiner Familie. Champagner zu produzieren war zwar nie sein Traumjob, aber auf den musste er ebenso verzichten wie auf eine Beziehung. Was egal war, da Frauen es nicht wert waren, geliebt zu werden. Doch als sich seine drei Freunde innerhalb kürzester Zeit verlieben, ihren Schwur brechen und er zudem erfährt, dass seine Jugendliebe in die Champagne zurückkehren wird, rastet er aus.
Margaux Maminot, die Danseuse Étoile der Pariser Oper, erklärt mit nur 32 ihren Rücktritt. Ihre Mutter, die sie aus ihrer Heimat entwurzelt, den Kontakt zu dem Nachbarsjungen unterbunden, sie kontrolliert und sich in ihrem Ruhm gesonnt hat, kann nichts mehr dagegen tun. Margaux sehnt sich nach ihrem Zuhause, ihrem Großvater ... und Vincent, der sie abgrundtief hasst.
Mr. Captivating ist der vierte Roman der Reihe
Alle Bücher können ohne Vorkenntnisse gelesen werden.
Inhaltsverzeichnis
Mr. Captivating
Kapitel 1
Kapitel 2
Damals...
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Damals...
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Damals...
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Damals...
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
Fateful Vibes
Die Autorin
Impressum
An der Schwelle zum Erwachsenwerden sind sie
dem Tod von der Schippe gesprungen.
Seitdem nennen sie sich 4friends4ever.
Damals haben sie beschlossen, für den Rest
ihres Lebens jeder Gefahr aus dem Weg zu gehen.
Sie haben auf ihre Traumjobs verzichtet und den
unumstößlichen Vorsatz gefasst, niemals eine
Beziehung einzugehen. Denn nur wer Gefühle
zulässt, setzt sich und andere Risiken aus.
Ihre Initialen ergeben das Wort CAVALIER …
was sie definitiv sind … abgesehen von
atemberaubend sexy und scharf wie Chili.
Kurz gesagt: Hot as Hell.
Kapitel 1
Mit unbewegter Miene saß Margaux Maminot aufrecht, nahezu ungeschminkt und mit streng zum Ballett-Dutt frisierten Haaren, neben dem Generaldirektor und der Tanzdirektorin im Pressesaal des Palais Garnier, einem der beiden Häuser der Pariser Oper. Der musikalische Leiter glänzte mit Abwesenheit. Die Animositäten zwischen ihm und der umjubelten Solotänzerin waren kein Geheimnis, der Grund dafür der Öffentlichkeit nicht bekannt. Beide beriefen sie sich Journalisten gegenüber, die nicht müde wurden, immer wieder auf ihre offensichtliche gegenseitige Antipathie anzuspielen, stets auf künstlerische Divergenzen. Vermutungen über eine fehlgeschlagene sentimentale Beziehung dementierten sie seit Jahren, doch niemand glaubte ihnen. Ab sofort würde auch das nicht mehr nötig sein, was lediglich ein positiver Aspekt ihrer Entscheidung war. Margaux war es leid, Elias den Rücken freizuhalten, der sein wahres Ich vor der Öffentlichkeit verbarg. Niemand sollte gezwungen sein, sich zu verbiegen.
»Mit großem Bedauern muss ich Ihnen heute den Rücktritt von Madame Maminot mitteilen. Sie wird in ihrer Glanzrolle als Giselle Ende nächster Woche von der Bühne Abschied nehmen.«
Sie hatten sich darauf geeinigt, die Ankündigung dem Generaldirektor zu überlassen, da Margaux keinesfalls jetzt, am Ende ihrer Karriere, emotional erscheinen wollte. Sie war Balletttänzerin, keine Schauspielerin. Viele Mitglieder ihres weltberühmten Ballettensembles lispelten, stotterten, sprachen schrill oder brachten einfach keinen zusammenhängenden Satz über die Lippen. Nichts davon traf auf Margaux zu, dennoch zog sie das Tanzen dem Sprechen vor. Zudem traute sie heute ihrer Stimme nicht. Denn eine derart tiefgreifende Entscheidung zu treffen war eine Sache, diese auf einer Pressekonferenz mitzuteilen eine andere.
Auf einigen Gesichtern der anwesenden Journalisten zeichnete sich stummes Erstaunen ab. Andere Pressevertreter hoben die Hände, darauf hoffend, als Erste oder Erster eine Frage stellen zu dürfen. Elodie Ferron, die leitende Redakteurin des Kulturressorts der linksliberalen Tageszeitung Le Monde, scherte sich nicht um gesellschaftliche Konventionen. Das Opernhaus war nur ein Gebäude, und diejenigen, die hier arbeiteten, waren Menschen wie alle anderen. Selbst Margaux Maminot, die mit nur zweiundzwanzig als jüngste Tänzerin der Geschichte des renommierten Hauses zur Primaballerina der Opéra National de Paris ernannt worden war. Seither wurde sie umjubelt wie ein Rockstar, selbst von Personen, die weder klassischer Musik im Allgemeinen noch Ballett im Besonderen etwas abgewinnen konnten.
»Margaux, haben Sie diesen Zeitpunkt bewusst gewählt? Ich meine, mich zu erinnern, dass Ihre Ernennung zur Danseuse Étoile vor zehn Jahren erfolgte.«
Klar tust du das, du warst ja damals dabei. Margaux umklammerte mit beiden Händen die Sitzfläche ihres Stuhls und dankte der Vorsehung, dass der Tisch auf dem Podium bodenlang mit dunkelrotem Tuch verkleidet war. Es wäre mehr als peinlich, wenn sie aus der Rolle fallen und auflachen würde. Elodie hatte mit ihr gewettet, dass sie es diesmal nicht schaffen würde, ihre unbewegte Miene beizubehalten, doch sie hatte nicht die Absicht, ausgerechnet heute eine Wette gegen ihre beste Freundin zu verlieren.
»Das ist korrekt«, antwortete sie daher so emotionslos wie möglich.
»Was bedeutet, dass Sie noch zehn weitere Jahre Primaballerina eines der berühmtesten Ballettensembles der Welt bleiben könnten, bevor Sie wie alle Solotänzer und Solotänzerinnen dieses Hauses im Alter von zweiundvierzig zurücktreten müssten«, konterte Elodie. »Wiegt der Verlust dieses Titels nicht zu schwer?«
Was Margaux, als Elodie und sie die Fragen austüftelten, vorhergesehen hatte, geschah. Jekaterina Labat, die Tanzdirektorin, fühlte sich prompt persönlich angesprochen. Kein Wunder bei ihrem Charakter. Geboren in Russland, Französin durch Heirat, war sie diejenige, deren Platz Margaux eingenommen hatte, als die Labat das vertraglich festgelegte Rücktrittsalter für Tänzer der Pariser Oper erreicht hatte – und darunter litt die Frau immer noch.
»Madame Maminot wird den Titel der Danseuse Étoile bis zu ihrem Lebensende behalten, wie wir alle, die wir damit ausgezeichnet wurden, Madame Ferron!« Die Labat rügte Elodie mit demselben Ton, den sie im Proberaum nicht nur den Eleven, sondern auch den routinierten Tänzern gegenüber verwendete, und ging mit den nachfolgenden Worten sogar noch weiter. »Wir sind keine Sterne, die vom Himmel fallen und verglühen. Aber das verstehen Sie natürlich nicht.«
Die Äußerung der Tanzdirektorin des Pariser Opernhauses wurde überall zitiert.
In Tageszeitungen, Wochenzeitschriften, in Druckausgaben und online gleichermaßen. Die Videosequenz des Statements der Labat wurde von den Fernsehsendern öfter gezeigt als die Ankündigung des bevorstehenden Rücktritts der Primaballerina Margaux Maminot. Jekaterina Labat wurde zum beliebtesten Subjekt der Karikaturisten. In den sozialen Netzwerken wurden unzählige Beiträge zu Margauxs unerwarteter und frühzeitiger Entscheidung gepostet und tausendfach kommentiert.
»Es hätte nicht besser laufen können«, meinte Elias Ferron am Abend nach der Pressekonferenz lachend und befüllte die vier bereitstehenden Flötengläser.
Margaux, die seine engste Verbündete war, seine Schwester Elodie, die auch seine beste Freundin war, und Serge, seine große Liebe, hoben die Gläser.
»Du hättest dabei sein müssen«, rügte Margaux Elias. »Wir hätten uns doch endlich einmal im Beisein von Journalisten freundlich anlächeln können.«
»Um die Vermutungen über die seit Jahren kultivierte gegenseitige Abneigung zwischen dem musikalischen Leiter und der grandiosen Danseuse Étoile der Pariser Oper erneut anzufachen?« Elias schüttelte den Kopf. »So gern ich alle wissen lassen möchte, welch fantastische Freundin du für mich bist, ich kann es einfach nicht.« Er warf Serge einen flüchtigen Blick zu, bevor er sein Glas mit dem prickelnden Champagner hob und darauf wartete, dass die anderen es ihm gleichtaten.
Kapitel 2
Vincent zog die Gardine aus cremefarbenem Voile zur Seite, öffnete die Balkontür und trat nach draußen. Sein Blick glitt über den sattgrünen Rasen und die wie zufällig da und dort verteilten Rosenbüsche, weiter zu der mit weißem Kies bestreuten Zufahrtsstraße der Domaine Amblard. Die unmittelbar daran grenzenden Weinreben des Anwesens seiner Familie zogen sich schier endlos über die sanften Hügel abwärts bis nach Chigny-les-Roses. Er hätte nicht auf dem Balkon stehen müssen, denn selbst vom Bett seines Schlafzimmers aus konnte er den Kirchturm seines Heimatorts sehen, wenn er sich an das Kopfteil lehnte. Nicht, dass er mit Glaubensinstitutionen ein wie auch immer geartetes Verhältnis hatte, aber die Saint-Nicolas-Kirche mit den wundervollen flamboyantgotischen Fenstern mochte er.
Es gab wahrlich Schlimmeres, als mitten im Naturpark Montagne de Reims zu leben, das jahrhundertealte Familienunternehmen zu führen und in einer der schönsten Regionen Frankreichs Champagner zu produzieren. Noch mehr, wenn der Duft von frischem Kaffee in der Luft lag und sich mit dem der blühenden Rosen vermischte. Er sah einer Hummel nach, die zu torkeln schien, während sie an ihm vorbeiflog und sich auf den Weg zu einer der unzähligen Blüten machte. Das alles und die Wolken im blauen Himmel, die strahlend weißen Farbtupfern glichen, ließen seine Gedanken vom Vorabend weniger düster wirken.
Was machte es auch aus, dass sich zuerst Clive plötzlich verliebt hatte?
Dass Lance kurz darauf aufgrund eines Unfalls sein Leben riskiert und zur selben Zeit ebenfalls die einzig wahre Liebe entdeckt hatte?
Oder dass sie an dem mittlerweile weit zurückliegenden Wochenende in London nach Clives Hilferuf beschlossen hatten, ihren vor fünfzehn Jahren abgelegten Schwur, der seither ihr gesamtes Leben beeinflusst hatte, einfach über Bord geworfen hatten?
Die anderen, denn nicht er hatte die Entscheidung getroffen. Nein, Clive, Lance und Ethan waren es gewesen. Seine besten Freunde. 4friends4ever nannten sie sich, seitdem das Schicksal sie damals zusammengeführt hatte. Und das waren sie. Vier Freunde fürs Leben. Der verdammte Krebs, diese heimtückische Leukämie, die alles verändert hatte, hatte sie zusammengeschweißt. In schlechten und in guten Zeiten, wie sie immer wieder beteuerten, egal ob in ihrem Chat oder wenn sie sich persönlich in einem ihrer Heimatländer diesseits oder jenseits des Atlantiks trafen.
Vincent blinzelte gegen das Sonnenlicht an und warf einen letzten Blick über den Kirchturm hinweg dorthin, wo die Marne den Naturpark begrenzte und weiter nach Paris floss, wo sie in die Seine mündete.
Dinge änderten sich. Verband sich ein Fluss mit einem anderen, gab er seine Identität auf. Es war im Grunde genommen dasselbe, wenn Menschen eine Komponente eines vor vielen Jahren gefassten Lebensplans abänderten.
Was machte es schon aus, dass sie ihr gesamtes bisheriges Leben als Erwachsene damit verbracht hatten, der Liebe auszuweichen und keine wie auch immer geartete Beziehung einzugehen? Und dass nun plötzlich zwei von ihnen bis über beide Ohren verliebt waren?
Das war doch egal, oder? Es würde sich nichts zwischen ihnen ändern, richtig? Außerdem gab es absolut keinen Grund zu denken, dass Ethan oder er es Clive und Lance nachmachen würden. Man schnippte ja nicht einfach mit den Fingern und plötzlich erschien die Traumfrau, mit der man den Rest des Lebens verbringen wollte. Die anderen beiden hatten unwahrscheinliches Glück gehabt, hat er noch bis gestern gedacht – bevor der Klingelton auf seinem Handy eine neue Nachricht in dem Chat angekündigt hatte.
»Vincent, kommst du?«
Der Ruf seiner Mutter unterbrach seine wirren Gedanken. Zum Glück. Denn egal, was er dachte, es führte zu nichts. Er schaute nach unten und drehte den Kopf ein wenig. Vincent sah nur noch ihre schlanke Gestalt, die um eine der vielen Hausecken des alten Gebäudes verschwand, und rief »Ich komme, Maman!«.
Er trat zurück in sein Zimmer, durchquerte es, dann seinen Wohnraum, öffnete die Tür und schloss sie hinter sich, bevor er die Treppe ansteuerte.
Nein, er würde sich den sonnigen Tag nicht vermiesen lassen. Oder die Woche. Den Monat. Den Sommer. Denn er würde nichts mit dieser einzigartigen Freundschaft eintauschen, die Clive, Lance, Ethan und ihn verband. Niemals.
Vivienne Amblard stand mit dem Rücken zu ihrem Sohn neben dem Waschbecken der riesigen Küche und ordnete Rosen in einer weißen Vase. Mit ihren eng geschnittenen Jeans und dem hellblauen Pullover war sie so zeitlos wie das unbemalte Limoges-Porzellan, das seit dem Tod ihres Vaters, Vincents Großvaters, in der Domaine Amblard Einzug gehalten und das kobaltblaue mit den Goldbordüren und das mit den Streublumen ersetzt hatte. Zum Glück.
»Bonjour, Maman.« Er ging auf seine Mutter zu, berührte sie sanft am Oberarm und sah über ihre Schulter. »Sind die nicht zu früh dran?«
Seine Mutter lachte auf, rückte eine letzte Rose zurecht, wandte sich ihm zu. »Seit wann interessierst du dich denn für die Blütezeit der Rosen?«
»Immer schon?«
Mit einem Achselzucken zwinkerte er ihr zu, beugte sich vor, und ließ sich von ihr auf die Wange küssen. Das war Teil ihres Morgenrituals.
Wenn sie beide zu Hause waren, begannen sie den Tag mit einem gemeinsamen Kaffee, dazu frische Croissants, die der Bäckerjunge weiterhin jeden Morgen vorbeibrachte, obwohl seit Großvaters Tod vieles anders war. In den Suiten, die nach den verschiedenen Rosen benannt waren, die überall auf dem Anwesen wuchsen, wurden keine Fremden mehr untergebracht. Seine Großmutter hatte in dem Jahr, in dem Vincent eingeschult wurde, einen Trakt des Hauses umbauen lassen, um auf den Zug des alternativen Tourismus aufzuspringen. Urlaub auf einem der berühmtesten Weingüter der Champagne anstatt auf einem simplen Bauernhof, hatte der damalige Bürgermeister von Chigny-les-Roses gedröhnt – und war nach einer Amtszeit abgewählt worden. Denn so angenehm die zusätzlichen Einnahmen den Champagnerproduzenten nämlich waren, so störend waren all diese Touristen, die sich nicht nur durch die Wälder, sondern ebenso durch die Weinberge bewegten und Trauben von den Rebstöcken rissen, als ob sie alles Recht dazu hätten.
Vincent erinnerte sich, wie sehr er damals mit dreizehn, nach dem Tod seiner Großmutter, gehofft hatte, dass keine Fremden mehr im Haus herumlaufen und ihre Nasen auch in die privaten Bereiche stecken würden. Bis auf die Kunden, die aus aller Welt anreisten, um untertags ihre Weinkeller zu besichtigen und den berühmten Champagner Amblard vor Ort zu verkosten, hatte hier niemand etwas verloren. Schon gar nicht nachts.
Und doch hatte es noch viele Jahre gedauert, bis seine Mutter dem Ganzen ein Ende gesetzt hatte. Denn obwohl sein Großvater um die Fremden in seinem Haus stets einen großen Bogen geschlagen hatte, hielt er nach dem Tod seiner Frau an ihrem Gastfreundschaftsprojekt fest. Auch als Vincent krank wurde. Er stellte sogar ein Ehepaar ein, das all die Zeit über, die sein Enkel in der Klinik von Professor Habergam unweit von London gegen den Krebs ankämpfte, als Gastgeber fungierte. Maman war nicht in der Lage, sich um die Hausgäste zu kümmern, und das nicht nur, weil sie ständig zwischen Frankreich und England hin und her reiste. Die Sorge und die Vorstellung, dass sie ihn verlieren könnte, hatten sie verändert. Sie war abgemagert und blass, wirkte viel älter, als sie war.
Heute jedoch fühlte sich alles, was damals passiert war, unwirklich an.
Maman war wieder die positive und fröhliche Frau wie in seiner Kindheit, und nicht selten wurden sie gefragt, ob sie Geschwister waren.
Sein Vater jedoch, der ohnehin immer mehr Zeit von ihnen getrennt als mit ihnen verbracht hatte, kam einfach nicht wieder.
Monatelang hatte Vincent gedacht, dass es daran lag, dass er krank geworden war, was seine Wut auf die Leukämie vergrößert und seinen Überlebenswillen zunehmend verkleinert hatte. Bis zu dem Gespräch mit Ethan, Clive und Vincent, als er heulend zusammengebrochen war und sich all seinen Schmerz von der Seele geredet hatte. Dieser Tag hatte alles verändert – auch wenn es ein langer Weg war. Viele Monate später waren er und seine Freunde als geheilt entlassen worden. Die Trennung von Clive, Lance und Ethan hatte er gehasst, obwohl er sich auf sein Zuhause freute. Wo sich so gut wie nichts geändert hatte. Leider. Denn die ständig wechselnden Hausgäste waren immer noch da.
Zu der Zeit war Vincent achtzehn und alt genug, um eigene Entscheidungen zu treffen. Er hatte sich in einen bis dahin ungenutzten Teil des riesigen Hauses, das der Mittelpunkt der Domaine Amblard war, zurückgezogen, wo er bis heute lebte. Sein Großvater, dem er wie alle männlichen Erstgeborenen in jeder zweiten Generation der langen Ahnenlinie der Amblards den Namen Vincent verdankte, hatte seinen Enkel überrascht und einen Architekten gerufen, und Vincent für den Umbau freie Hand gegeben. Das Einzige, wovon der alte Sturkopf jedoch weiterhin nicht hören wollte, war die Aufgabe des Projekts der Gastfreundschaft. Und daran hatte er festgehalten, bis ein erster Schlaganfall seine linke Körperhälfte beeinträchtigt und kurz darauf ein zweiter seine Bewegungsfähigkeit auf ein Minimum reduziert hatte. Sobald er zum Sitzen gezwungen war und somit nicht mehr draußen herumlaufen und den Großteil des Tages drüben in der Kellerei verbringen konnte, wurde ihm die unangenehme Nähe all dieser Fremden in seinem Haus bewusst.
Maman und Vincent sahen es ihm an – und zwinkerten einander hinter seinem Rücken zu, lachten stimmlos über die Grimassen und das Knurren des alten Mannes. Doch irgendwann wurde das Verhalten ihres Vaters sogar Maman zu viel, und sie beschloss, einfach keine weiteren Reservierungen mehr anzunehmen. Dennoch dauerte es noch einige Monate, bis die letzten Gäste, die schon lange zuvor reserviert hatten, endlich abreisten und seine Mutter den Großvater darüber informierte. Der hatte genickt und schließlich eine Frage gestellt: »Was machen wir jetzt mit den Croissants und dem Brot?« Seine einzige Sorge war der Bäckerjunge und der Bäcker. Der Erste, weil er für seine morgendlichen Lieferungen kein Trinkgeld mehr erhalten würde, und der Zweite, der ein paar Euro weniger verdienen würde. Und so hatte er darauf bestanden, dass sie zwar die Stückzahlen verringerten, jedoch niemals auf das ofenfrische Gebäck verzichten würden.
»Marmelade oder Honig?« Maman riss ihn aus seinen Gedanken.
Vincent blinzelte, entdeckte die Tasse mit dem dampfenden Milchkaffee vor sich, merkte erstaunt, dass er auf seinem Platz saß. Er schaute auf.
»Weder noch.« Er fischte ein Croissant aus dem mit einer Stoffserviette abgedeckten Brotkörbchen und hielt es hoch. »Das reicht mir.« Er ließ den Blick über den Tisch schweifen, sah zu ihr. »Nur die Zeitung hätte ich gern.«
Vivienne Amblard war ein Mensch, den andere als ruhig, in sich ruhend und ausgeglichen beschrieben. Wenn sie nicht lächelte, zeigten ihre Mundwinkel dennoch immer nach oben. Ihr Gesichtsausdruck war stets der einer zufriedenen Frau – aber er kannte sie seit seiner Geburt. Sobald sie den Blick senkte und dem seinen auswich, so wie jetzt, wusste er also, dass irgendwas nicht stimmte.
»Ich weiß nicht, wo sie ist«, erwiderte sie gespielt beiläufig, ohne ihn anzusehen.
»Maman!«
Sie schaute auf, zuckte mit den Achseln. »Der Bäckerjunge muss sie vergessen haben.«
Das war so, als ob sie sagen würde, dass Schweinen neuerdings Flügel wuchsen. Vincent starrte sie an. »Gib sie mir!«
»Lass uns doch einfach reden und das Frühstück genießen, Vincent.«
»Maman!«
»Was denn?« Sie funkelte ihn an. Ihre blaugrauen Pupillen, die je nach Wetter und Stimmung ins Graue oder Blaue tendierten, zuckten unruhig, ihre Augenlider flatterten.
Er legte das angebissene Croissant auf den Teller, die Handflächen daneben, beugte sich vor. »Sag du es mir.«
»Nichts, was soll sein?« Sie senkte den Blick.
Vincent schob seinen Stuhl zurück, stand auf. »Wo ist sie?«
Vivienne Amblard seufzte tief, umfasste ihre eigene Kaffeetasse mit beiden Händen, ohne aufzusehen. »Trink doch erst deinen Kaffee und iss etwas.«
»Maman!« Er hob nie die Stimme. Nie. Nur gab es ja normalerweise niemals einen Grund dafür. Nicht zwischen ihnen. Jetzt aber schon. Denn was auch immer seine Mutter vor ihm verbergen wollte, es stand in der Zeitung. »Wo ist sie?«
Sie seufzte tief, ihre Schultern sanken nach unten. Dabei sah sie zu ihm auf, streckte die Hand aus und deutete damit zum Herd. Nicht zu dem Ceranfeld. Auch nicht auf den auf Augenhöhe angebrachten Backofen, sondern auf den alten gusseisernen Ofen. Vincent durchquerte mit Riesenschritten den Raum, steuerte darauf zu, öffnete die Befeuerungsluke. Im Winter entzündeten sie das Holz darin täglich. Jetzt in der warmen Jahreszeit warfen sie Papierabfälle hinein und verbrannten diese erst, sobald nichts mehr reinpasste. Die Le Monde, die Zeitung, die der Bäckerjunge jeden Morgen mit dem Brot und den Croissants brachte, lag zusammengerollt obenauf. Vincent griff danach und entfaltete sie. Was auch immer er aufgrund des eigenartigen Verhaltens seiner Mutter erwartet haben könnte, es war nichts im Vergleich zu der Schlagzeile, die ihm von der Titelseite entgegenleuchtete.
Margaux Maminot erklärt ihren Rücktritt!
Seine Kehle wurde eng. Er spürte Schweißtropfen auf seiner Stirn. Seine Hände zitterten, als er Le Monde mit beiden packte, öffnete und sein Blick auf das Foto fiel.
Margaux saß zwischen dem Generaldirektor der Pariser Oper und der Tanzdirektorin, wie die Bildunterschrift erklärte, im Pressesaal des Palais Garnier. Der Tisch vor ihnen war mit einem bodenlangen Tuch verkleidet, weshalb nur die Oberkörper und Gesichter zu sehen waren. Ihres war ernst, der Blick undurchdringlich. Ihre Haare waren zu dem straffen Chignon zurückgebunden, den er schon gehasst hatte, als sie Kinder waren.
Damals, wenn sie sich nach dem Balletttraining nicht einmal die Zeit nahm, um sie zu öffnen, und von ihrem Elternhaus durch die Weinreben und über die abfallende Wiese zu dem Bach hinuntergelaufen war, der die Grenze zwischen dem Anwesen der Amblards und dem der Maminots bildete.
Und dann hatte sie ungeduldig auf der anderen Seite abwartend und mit einem strahlenden Lächeln darauf gewartet, dass er mit einem Satz über das schmale Gewässer sprang, seine Hände an ihren Hinterkopf legte, die Haarnadeln herauszog und das Haargummi entfernte, bis sie wieder seine Margaux war.
Das fröhliche Mädchen mit den grünen Augen und den weizenblonden Haaren, das für ihn immer die Schwester war, die er nicht hatte. Und er der Bruder, den sie nicht hatte. Bis zu dem Tag, an dem sich irgendwas veränderte und sie merkten, dass dieses Gefühl zwischen ihnen nicht geschwisterliche Zuneigung war, sondern ...
»Ich wollte nicht, dass du es so erfährst.«
Vincents Kopf flog herum zu seiner Mutter. »Seit wann weißt du es?«
Maman senkte stumm den Blick.
Er presste die Lippen zusammen und stürmte aus der Küche, Sekunden später aus dem Haus, eilte hinüber zum Verwaltungsgebäude der Domaine Amblard, unter dem tief im Sandstein der Montagne de Reims die jahrhundertealten Weinkeller lagen.
Damals...
Margaux 8, Vincent 10.Der Tag der ersten Audition.
»Du wirst dich nicht einmischen, Maurice! Margaux gehört mir!«
Margaux rollte sich noch kleiner unter dem Klavier in ihrem Proberaum zusammen und schloss ihre Augen. Nur einen winzigen Spalt ließ sie offen. Durch den sah sie die Hände ihrer Mutter mit den knallrot lackierten Fingernägeln, die sie links und rechts in ihre Mitte stemmte, dort, wo das Oberteil und der Rock ihres dunkelgrauen Kleides zusammengenäht waren. Ihre Fingerknöchel waren schneeweiß.
»Sie gehört dir nicht, Sophie. Unsere Kinder sind nicht unser Eigentum! Ab ihrer Geburt begleiten wir sie ein kurzes Stück auf ihrem Weg, bevor sie flügge sind und ihren eigenen Weg gehen. Wir können sie weder wie Hunde abrichten noch erwarten, dass sie ihr Leben auf unseren Träumen aufbauen.«
Die Stimme ihres Großvaters klang ganz anders als sonst. Nicht so, wie wenn Papi ihr von ihrem Vater, seinem Sohn, erzählte und sie sich an ihn kuschelte. Da sprach er ziemlich leise und schien ein wenig traurig. Immer noch, obwohl Margauxs Papa schon so lange tot war, dass sie sich nicht an ihn erinnern konnte. Doch sobald Papi das alte abgegriffene Foto aus seiner Hosentasche zog, das mit dem weißen Streifen in der Mitte, wo es zusammengefaltet war, es behutsam öffnete und mit einer zärtlichen Geste darüberstrich, seufzte er jedes Mal auf. Und dann lächelte er, was sie wusste, weil die Enden seines Schnurrbarts nach oben zeigten. Sie saß immer ganz ruhig da und wartete, gab ihm Zeit, bis er das Foto so hielt, dass sie es ansehen konnte.
»Ach, Maurice, welch weltfremde Ansicht! Aber was erwarte ich schon von dir? Du bist ein Mann, kannst das nicht verstehen. Nur eine Mutter, die ihr Kind neun Monate lang in sich heranwachsen fühlte und dann unter Schmerzen zur Welt gebracht hat, kennt die Wahrheit. Margaux gehört mir, und niemand weiß besser als ich, was für sie gut ist!«
Margaux drückte Fanny, die weiche Stoffpuppe, die ihr Papa am Tag ihrer Geburt für sie gekauft hatte, ganz fest an ihre Brust, wo ihr Herz so fürchterlich laut hämmerte, und presste die Lippen aneinander. Sie mochte es nicht, wenn Mutter und Großvater ihretwegen stritten.
»Du bist nicht in dir, Sophie!« Papi machte einen Schritt auf ihre Mutter zu. Das wusste Margaux, denn die Spitzen seiner alten Schuhe mit den Schlammspritzern waren nun ganz nah vor den schwarzen glänzenden Stöckelschuhen. »Du weißt nicht, was du dem Kind antust!«
»O doch, das tu ich. Das Allerbeste will ich für sie! Und seitdem sie zur Welt kam, waren wir dem Ziel noch nie näher, alter Mann! Du hast selbst gehört, was jedes einzelne der sieben Mitglieder der Kommission gesagt hat. Der Auswahlkommission der Eleven für die beste Ballettschule weltweit, wohlgemerkt, die der Opéra National de Paris! Margaux ist ausgesprochen talentiert, waren ihre Worte, sie muss gefördert werden!«
»Natürlich habe ich gehört, was sie gesagt haben. Ich bin ja nicht taub. Aber du hast offenbar nicht richtig hingehört, Sophie! Niemand von ihnen hat davon gesprochen, dass sie jeden Tag nach der Schule stundenlang proben muss. Sie ist doch erst acht, Sophie!«
»Schon, Maurice. Schon acht, nicht erst! Andere wesentlich weniger talentierte Kinder in ihrem Alter werden im Herbst mit der sechsjährigen Ausbildung an der berühmtesten Tanzschule der Welt beginnen, nur sie nicht!«
Ihre Mutter stieß einen wütenden Schrei aus und Margaux begann zu zittern.
»Mon Dieu, Sophie! Du tust ja so, als ob die Welt untergehen würde, nur weil Margaux zwei Zentimeter zu klein ist, um die Aufnahmekriterien zu erfüllen.«
Das hysterische Lachen ihrer Mutter jagte einen eiskalten Schauer durch Margauxs Körper.
»Zwei Zentimeter, Maurice! Ein Fingerbreit, genauso viel wie der Unterschied zwischen meinem rechten und linken Bein.« Ihre Mutter wurde lauter, ihre Stimme abgehackter. »Zwei verdammte Zentimeter, die meine Verdammnis waren. Wegen derer ich nicht tanzen konnte, weil nicht einmal die mieseste kleine Provinzballettschule mich akzeptieren wollte. Und jetzt das? Meine Tochter, die schon mit fünf besser tanzte als andere Kinder mit sieben und die mit acht Plié, Relevé und Sauté sauber und exakt ausführen kann, was viele Zwölfjährige nicht schaffen. Margaux ist mehr als nur geeignet, um als Elevin an der elitären Tanzschule der Pariser Oper aufgenommen zu werden!«
»Nein!«, erwiderte Papi mit donnernder Stimme. »Im Moment nicht. Sie muss noch ein wenig wachsen, um die Anforderungen der Körpergröße zu erfüllen, Sophie. Eins dreißig ist eben nicht die für eine Achtjährige erforderliche Mindestgröße von eins zweiunddreißig. Das ist eine unumstößliche Tatsache, genau wie die, dass Margaux größer werden wird, ohne dass du irgendetwas tun musst. Also mach keine Tragödie daraus, sondern sei froh, dass sie noch zumindest ein weiteres Jahr hier bei uns sein kann.«
»Zumindest?«
Ihre Mutter kreischte so laut, dass Margaux Fanny losließ und sich die Hände ganz fest auf die Ohren presste, um nichts mehr hören zu müssen.
Als sie endlich unter dem Klavier hervorkroch, waren ihre Augen vom Weinen verschwollen und das Tageslicht vor den Fenstern verschwunden. Es war zu spät. Sie konnte sich nicht mehr aus dem Haus stehlen und über den Hügel nach unten zum Bach laufen, wo Vincent auf sie wartete – sie schüttelte den Kopf –, gewartet hatte, denn um diese Zeit war er sicher schon enttäuscht heimgegangen. Zwei Tränen lösten sich aus ihren Augenwinkeln und kullerten über ihre Wangen. Sie wischte sie mit dem Handrücken der einen Hand weg und umklammerte mit der anderen Fanny noch fester.
Wenn sie Vincent nicht sehen konnte, wollte sie niemanden sehen.
Und da sie ihre Mutter heute so enttäuscht hatte, tröstete sie sich sicherlich mit einer Flasche Champagner und würde sich erst wieder an sie erinnern, sobald der Wecker frühmorgens um fünf Uhr für Margauxs Dehnübungen und die erste Trainingsstunde des Tages klingelte.
Margaux öffnete leise die Tür ihres Proberaums, achtete darauf, die Füße nicht auf die knarrende Diele aufzusetzen, und schlich lautlos über die Treppe nach oben in ihr Zimmer.
Kapitel 3
Margaux bemerkte die frische Brise erst, als ihr jemand eine Jacke um die Schultern legte. Sie war durch enge schmucklose Gänge und über steile Treppen, die keiner der Besucher des prunkvollen Palais Garnier jemals zu sehen bekam, immer weiter nach oben gelaufen und hatte die metallene Tür, die auf das Dach führte, aufgedrückt und sie vorsichtig wieder hinter sich geschlossen. Das hier war seit vielen Jahren ihr geheimer Lieblingsplatz. Ihr Rückzugsort. Nur hier, wo niemand sie sehen, beurteilen, kritisieren und nerven konnte, fühlte sie sich frei und konnte sie selbst sein. Das war schon so, seitdem sie mit fünfzehn zum ersten Mal im Corps de Ballet der Pariser Oper genau hier, in diesem Haus an der Place de l’Opéra, in Schwanensee getanzt hatte.
Überfordert war sie gewesen. Ungläubig. Und entsetzt.
Vor allem über sich selbst.
Sie hatte sich wochenlang so schrecklich geschämt, dass ihr Herz ständig wehtat. Sie hatte keinen Appetit und magerte so sehr ab, dass es den Professoren der Tanzschule auffiel, die ihre Mutter darauf ansprachen.
Sophie Maminot war ausgeflippt. »Wie kannst du nur, Margaux! Jetzt, wo du endlich erreicht hast, wofür du all die Jahre so hart trainiert hast, wirst du nicht riskieren, dass man dich wegen Untergewicht entlässt! Iss!«
Doch all das Baguette anstelle des wenigen Vollkornbrots, normale Nudeln anstatt von Vollkornreis und sogar die sonst absolut verbotenen mit Vanillecreme gefüllten Beignets änderten nichts an ihrem Zustand. Sie nahm nicht zu.
»Das ist nur das Wachstum«, hatte der Arzt der berühmtesten nationalen Ballettschule in Nanterre ihre Mutter beruhigt. Ihre Mutter, die ihr nicht von der Seite wich, nachdem sie sie mit gepackten Koffern im Wagen an ihrem ersten Schultag bei Unterrichtsschluss vom Lycée abgeholt und nach Paris gebracht hatte.
Weg aus ihrer Heimat, von ihrem geliebten Großvater, aus dem Haus, das für sie so viel mehr war als einfach nur das jahrhundertealte Gebäude, das den Mittelpunkt der Domaine Maminot bildete. So wie die Weinberge und Wiesen rundum. Und der Bach, an dessen Ufer ... Sie blinzelte die aufkommende Feuchtigkeit in ihren Augen weg.
»So schlimm, Margaux?«
Erst jetzt bemerkte sie rational, wer ihr seine Jacke umgelegt hatte – dabei hatte ihr Unterbewusstsein seinen vertrauten Geruch sofort erkannt. Sie liebte Elias wie einen Bruder.
Wären er und Elodie damals nicht in ihr Leben gestolpert, und hätten die Geschwister Ferron sich nicht so liebevoll um sie gekümmert wie um eine verlorene Schwester ... Margaux hätte nie die Kraft aufgebracht, zu bleiben und den Wünschen von Sophie Maminot gerecht zu werden. Ihrer ehrgeizigen und über Leichen gehenden Mutter, die angeblich immer nur das Beste für sie gewollt – und ihr das Herz aus dem Leib gerissen hatte.
Sie blinzelte erneut gegen die Tränen an, wandte den Kopf und erkannte Elias’ besorgten Blick.
»Du solltest nicht hier sein.«
Er lachte kurz auf. Es klang wie das Bellen eines heiseren Hundes. »Sagst ausgerechnet du? Du weißt doch, was geschieht, wenn sie dich hier erwischen.«
Jetzt war es an ihr aufzulachen. »Was denn? Meinst du damit, dass der Generaldirektor der Opéra National de Paris seine Danseuse Étoile wenige Tage vor ihrer Abschiedsvorstellung kündigen könnte? Soll er doch.« Sie nickte heftig und zuckte dabei mit den Schultern.
»Das meinst du nicht so.«
»Doch, mon cher, genau so meine ich es. Und weißt du was? Ich hätte diesem ganzen Theater schon längst ein Ende setzen sollen.«
»Auch das meinst du nicht.« Elias legte seine Hände auf ihre Schultern. »Manchmal bemerkst du einfach nicht, welch unwahrscheinliches Geschenk dir mit deinem Talent in die Wiege gelegt wurde, Margaux. Es gibt Abertausende kleine Mädchen, die davon träumen, irgendwann auf irgendeiner Opernbühne tanzen zu können. Unzählige von ihnen sind Töchter von Tänzerinnen oder von Orchestermusikern, sind von Geburt an von Musik umgeben und schaffen es trotz des jahrelangen Tanztrainings nicht in die École de Danse de l’Opéra, oftmals nicht einmal in eine Ballettschule eines kleinen Opernhauses in der Provinz. Und dich haben sie nicht nur aufgenommen, du hast als erste Elevin bereits zuvor im Corps de Ballet in Schwanensee getanzt!«
»Nachdem sie mir jahrelang die Aufnahme verweigert haben.«
»Aber nur, da die Kommission die rigorosen altersbezogenen Regeln bezüglich Körpergröße und Gewicht während der offiziellen Auswahlverfahren nicht übergehen konnte. Deine überragende Technik stand nie zur Diskussion – im Gegenteil. Doch das wusstest du bereits an dem Tag, an dem du als Fünfzehnjährige eingeladen wurdest, hier zu tanzen, obwohl du noch nicht einmal Schülerin der Ballettschule warst.«
»Nur, weil eine Grippewelle alle Tänzerinnen, die nicht auf Tournee in Japan waren, außer Gefecht gesetzt hatte.« Sie war es so leid, sich ständig zu wiederholen.
»Das ist ausgemachter Blödsinn, und du weißt das!« Elias strich sich mit der flachen Hand über die Haare und ihre Brust zog sich zusammen. Immer wenn er das tat, erinnerte er sie an ... Sie schüttelte den Kopf und blitzte ihren besten Freund an.
»Ja, du hast recht. Höchstwahrscheinlich verdanke ich diese Ehre der Tatsache, dass meine Mutter mit dem damaligen Tanzdirektor Sex hatte.«
»Margaux! Hör endlich auf damit, dir wehzutun! Selbst wenn es stimmen würde – und dafür gibt es keinen Beweis –, ist die Sache längst verjährt und war nach menschlichem Ermessen nie von Bedeutung. Du allein hast es geschafft, als jüngste Tänzerin der Geschichte zur Danseuse Étoile ernannt zu werden.«
»Aber nur, weil die Labat aufgrund ihres Alters gezwungen war, zurückzutreten. Und das hat sie mir bis heute nicht verziehen.«
Elias’ Pupillen verengten sich und das Braun seiner Iriden wurde dunkler. Goldene Funken glühten darin auf wie bei seiner Schwester Elodie, wenn sie wütend wurde. »Jekaterina Labat ist also der Grund, weshalb du einfach während der Probe die Bühne verlassen hast?«
»Ich war längst fertig und hatte keine Lust, sie dabei zu beobachten und ihr zuhören zu müssen, wie sie all die anderen mit ihren verbalen Tiefschlägen traktiert.«
Er senkte den Kopf und schaute auf Margauxs Füße. Die Schläppchen, eines der unzähligen Paare ihrer flachen weichen Tanzschuhe aus Kalbsleder, gegen die sie ihre Spitzenschuhe tauschte, wann immer sie konnte, waren der Beweis dafür, dass sie die Wahrheit sprach.
Elias’ Blick war sanfter und zugleich besorgt, als er wieder aufsah.
»Sie hat es bis zum Ende der Probe geschafft, jede Einzelne zu beleidigen«, meinte er leise.
»Und weder du noch sonst jemand hat irgendetwas gesagt oder getan, richtig?«
Margaux wusste, dass sie Elias Unrecht tat. Aber sie war es so leid, diese schreckliche Frau ertragen zu müssen, ohne etwas unternehmen zu können. Wäre sie nicht selbst ebenfalls der Tanzdirektorin unterstellt, hätte sie schon längst Initiative ergriffen. Doch auch die Primaballerina des Ballettensembles war nichts weiter als ein Rädchen, das wie in einem perfekt funktionierenden Uhrwerk lediglich gemeinsam mit allen anderen den Unterschied zwischen dem Erfolg und einem Debakel ausmachte.
Elias hob die Hände in einer hilflosen Geste. »Ich bin nur der musikalische Leiter, es steht mir nicht zu.«
»Doch!« Margaux streckte einen Arm aus und stach ihm mit dem Zeigefinger in die Brust. »Du könntest, wenn du wolltest. Aber du willst nicht, weil du Angst hast, dass sie sich an dir rächen könnte. Seitdem sie dich und Serge damals zusammen gesehen hat, um genau zu sein.«
»Das ist nicht der Grund«, erwiderte Elias halbherzig wie immer. »Es gab ja nichts zu sehen, woraus sie irgendwelche falschen Schlüsse hätte ziehen können.«
»Haha«, stieß Margaux bitter aus. »Die richtigen Schlüsse, meinst du, obwohl es nur eine Umarmung war. Diese Frau ist so bösartig, dass ihr jedes Mittel recht ist, um von ihren eigenen Schandtaten abzulenken.«
Sie senkte die Hand und lehnte sich mit dem Rücken an den steinernen Sockel der hoch über dem Dach aufragenden Kuppel. Vor ihr glänzten im nachmittäglichen Sonnenlicht die beiden vergoldeten riesigen Figurengruppen, die oberhalb der vorderen Fassade des Palais Garnier thronten. Das neobarocke Gebäude an der Place de l’Opéra war nicht zu Unrecht eines der Wahrzeichen von Paris und die sternförmig von hier ausgehenden Avenuen aus dieser Perspektive beeindruckend. Auf diesem Dach mitten im neunten Arrondissement, zu dem kaum jemand Zutritt hatte, hatte man das Gefühl, sich im Nabel der Welt zu befinden.
Margaux hatte nicht nur einmal während ihrer Karriere hier heroben für Filmaufnahmen getanzt – und würde es nie wieder tun. Doch anstatt Bedauern oder Nostalgie zu spüren, war da einfach nichts. Nicht der geringste Funke von Traurigkeit, auch nicht der Wunsch, die Vergangenheit festhalten zu wollen.
»Was wirst du jetzt tun?« Elias riss sie mit seiner Frage aus ihren Gedanken.
»Jetzt?« Sie zuckte mit den Achseln.
Elias verneinte mit einer Geste des Kopfes. »Das meinte ich nicht, Margaux, denn du wirst ja hoffentlich nicht vorhaben, die Nacht hier auf dem Dach zu verbringen, anstatt heimzugehen. Nein, eigentlich wollte ich wissen, ob du eine Entscheidung wegen deiner Wohnung getroffen hast.«
Eigentlich, lag ihr auf der Zunge, versuchst du nur, mich abzulenken, damit ich dir nicht ins Gewissen rede, dich endlich offiziell zu outen. Sie schluckte gegen den unbändigen Wunsch an, ihren Gedanken auszusprechen.
Jeder musste seine Entscheidungen selbst und in seinem Tempo treffen. Auch wenn es Jahre dauerte. Elias war unfähig, dazu zu stehen, dass er nicht der sogenannten gesellschaftlichen Norm entsprach, schwul war und seinen Lebenspartner immer noch vor der Öffentlichkeit versteckte. Er verletzte Serge damit und riskierte, ihn irgendwann zu verlieren, so sehr sie einander liebten. Aber vielleicht irrte sie sich – und außerdem ging sie das nichts an. Sie noch weniger als viele andere. Bei all den Fehlern, die sie in ihrem Leben gemacht hatte, saß sie in einem riesigen Glashaus. Einem mit unzähligen zerbrechlichen Scheiben rundum. Sie hatte wirklich nicht das Recht, mit Steinen zu werfen.
Margaux wandte den Blick von Poesie und Harmonie, den beiden in Gold getauchten Figurengruppen am Ende des Dachs, ab und ihrem besten Freund zu.
»Das hat keine Dringlichkeit, Elias. Ich bezahle weder Miete noch muss ich Angst haben, dass irgendwelche Pflanzen verdorren und absterben. Außerdem wäre es verrückt, wenn ich das Apartment verkaufen würde. Du weißt doch, in welchem Zustand es war, als ich es damals kaufte – gegen deinen und Elodies Rat.«
Elias’ Mundwinkel zuckten nach oben, die Lachfältchen an seinen Augenwinkeln vertieften sich. »Wir hatten unrecht.«
»Danke, dass du es endlich zugibst«, erwiderte sie schmunzelnd.
Er nickte leicht. »Ich bin froh, dass du beschlossen hast, die Wohnung zu behalten.«
»Warum?«
»Weil du somit einen Grund hast, immer wieder nach Paris zu kommen. Abgesehen davon wirst du die Champagne bald satthaben. Das pulsierende Leben der Großstadt gegen diese Hügellandschaft zu tauschen, wo es weit und breit nichts als Weinberge gibt, passt einfach nicht zu dir.«
Falsch. Paris passte nie zu mir, erwiderte sie in Gedanken. Die Rolle der umjubelten Primaballerina passte nie zu mir. Meine Haare zu straffen und zu glätten und in einem Chignon am Kopf festzutackern, passte nie zu mir. Das alles war der Traum meiner Mutter. Der, den sie nicht selbst verwirklichen konnte, weil ihr linkes Bein ein Fingerbreit länger als das andere war. Ihr Traum, den sie mich gezwungen hat, stellvertretend für sie zu leben, da sie nur mich hatte. Falls sie jemals glücklich darüber war, eine Tochter zu haben, kann ich mich nicht daran erinnern. Vielleicht hatte sie sich nach Papas viel zu frühem Tod verändert, doch wie soll ich das wissen, wenn ich nicht einmal mehr Erinnerungen an ihn habe? Ich war für meine Mutter stets nur Mittel zum Zweck, und als ich das allerhöchste Ziel erreicht hatte, sonnte sie sich in meinem Erfolg. Und sie würde es immer noch tun, wenn sie sich nicht ... Margaux seufzte tief und hörbar, merkte es jedoch nur, weil Elias nach ihrer Hand griff.
»Entschuldige, ich habe das nicht so gemeint. Manchmal vergesse ich einfach, dass du dort geboren bist.«
»Ich war glücklich, bevor ich nach Paris kam.« Die Worte kamen ungefiltert über ihre Lippen.
»Das klingt so, als ob du es hier nie gewesen wärst.« Elias sah sie erstaunt an.
»Nein, nein!« Sie hob beschwichtigend die Hände. »Es wäre eine Lüge, wenn ich das behaupten würde.« Margaux schüttelte leicht den Kopf, erwiderte dabei seine Geste und umschloss seine Finger mit Nachdruck, sprach weiter. »Aber die Karriere, auch eine derart unglaubliche wie meine, ist nur ein Teil von dem, was uns ausmacht, Elias. Wer den Fehler begeht, sich darüber zu definieren, hat ein falsches Selbstbild und hadert mit sich, sobald der Höhenflug endet, was für uns Tänzer eher früher als später der Fall ist. Unsere Tanzdirektorin ist das leibhaftige Beispiel dafür. Jekaterina Labat entspricht längst nicht mehr der Person, die sie in sich sehen will, und deshalb erträgt sie sich selbst nicht, was dazu führt, dass sie ihre Mitmenschen ausnahmslos hasst.«
Elias Ferron mit offen stehendem Mund und offensichtlichem Erstaunen auf dem Gesicht zu sehen, war ein rares Erlebnis. Um genau zu sein war das etwas, von dem Margaux sicher war, es nie erlebt zu haben.
»Entschuldige.« Sie seufzte auf. »Normalerweise behalte ich meine philosophischen Betrachtungen für mich. Vergiss, was ich gesagt habe.«
Sie entzog ihm ihre Hand, doch er griff sofort wieder danach, nahm sie zwischen seine, hob sie hoch und küsste sanft ihren Handrücken.
»Wenn ich auf Frauen stehen würde, hätte ich mich schon vor Jahren in dich verliebt, Margaux. Und falls nicht, dann spätestens jetzt. In dir steckt so viel sorgsam Verborgenes und Wundervolles, vor allem aber eine unglaubliche Feinfühligkeit, dass derjenige, dem du hoffentlich irgendwann dein Herz schenken wirst, der glücklichste Mann der Erde sein wird.«
Noch bevor er den Satz beendete, wusste sie plötzlich, was sie tun wollte. Nicht in naher Zukunft. Sondern sofort. Die anderen Tänzerinnen und Tänzer würden bis zur Premiere der neuinszenierten Giselle, die zugleich Margauxs Abschiedsvorstellung war, tagtäglich stundenlange Proben mit der Labat ertragen müssen. Sie hingegen konnte die nächsten Tage überall trainieren – und zwar allein, denn ihr Partner Didier Roy, der Danseur Étoile der Opéra de Montréal, konnte erst am Tag der Generalprobe anreisen.
Doch Didier und sie hatten die Choreografie der Giselle seit ihrer gemeinsamen Tournee durch sein Heimatland Kanada und den Osten der Vereinigten Staaten im kleinen Finger. In drei Monaten konnten routinierte Tänzer etwas, was sie derart oft geprobt und auf verschiedenen Bühnen getanzt hatten, nicht vergessen. Deshalb hatte Margaux dem Generaldirektor der Opéra National de Paris, dem die beiden Opernhäuser Opéra Bastille und Opéra Garnier unterstanden, nach ihrer Rückkehr aus Nordamerika vorgeschlagen, Didier Roy für die Premiere der Giselle zu verpflichten. Und zwar Wochen bevor sie ihn über ihren Rücktritt informierte und nachdem sie ihren kanadischen Tanzpartner noch vor der letzten gemeinsamen Vorstellung ihrer Tournee an der Met in New York gefragt hatte, ob er Lust dazu hätte. Didier hatte zugestimmt – und sie hatte sich ihm gegenüber geöffnet und erzählt.