Muschelgrab - Regine Kölpin - E-Book

Muschelgrab E-Book

Regine Kölpin

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Beschreibung

Siri entdeckt nach der Beerdigung ihrer Mutter einen Brief und erfährt, dass sie adoptiert worden ist. Kurz darauf finden Kinder im Bunker von Wangerooge Hinnerk Heiken ermordet auf. Kommissar Rothko, den Siri um Hilfe bei der Suche nach ihrer leiblichen Mutter bittet, begreift bald, dass beide Fälle etwas miteinander zu tun haben. Er stößt auf eine Mauer des Schweigens und auf ein Geheimnis, das mit der Schneekatastrophe 1979 zu tun hat. Was weiß die Clique von Hinnerk Heiken wirklich? Als schließlich Siri verschwindet, ist höchste Eile geboten.

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Regine Kölpin

Muschelgrab

Inselkrimi

Zum Autor

Regine Kölpin ist 1964 in Oberhausen geboren, lebt seit dem 5. Lebensjahr an der Nordseeküste und schreibt Romane und Geschichten unterschiedlicher Genres. Sie ist auch als Herausgeberin tätig und an verschiedenen Musik- und Bühnenproduktionen beteiligt. Außerdem hat sie etliche Kurztexte publiziert. Regine Kölpin ist verheiratet mit dem Musiker Frank Kölpin. Sie haben 5 erwachsene Kinder, mehrere Enkel und leben in einem kleinen Dorf an der Nordsee. In ihrer Freizeit vereisen sie gern mit ihrem Wohnmobil, um sich für neue Projekte inspirieren zu lassen. Dabei haben sie auch Usedom entdeckt und lieben gelernt. Ihre Lesungen gestaltet die Autorin oft mit dem Gitarrenduo »Rostfrei«. Mehr unter www.regine-koelpin.de

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Mörderische Mecklenburger Bucht (2017)

Mörderisches Usedom (2017)

Das verlorene Kind – Kaspar Hauser (2016)

Wer mordet schon im Wattenmeer? (2014)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2011 im Leda-Verlag)

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © lichtsicht / photocase.de

ISBN 978-3-8392-6488-1

Stipendium Tatort Töwerland

Die ersten vier Kapitel des Romans sind im Rahmen des Krimistipendiums Tatort Töwerland auf Juist entstanden.

Ich bin vielseitig inspiriert worden, hatte so viel Ruhe, dass ich mit Freude an diesem Roman arbeiten konnte.

Ich bedanke mich an dieser Stelle ganz herzlich bei dem Organisator Thomas Koch von der Buchhandlung Koch für die tolle Betreuung und Unterstützung.

Ein weiterer Dank gilt Uda Haars vom Friseursalon Haars, die mir während des Stipendiums die gemütliche Ferienwohnung und die Sauna zur Verfügung gestellt und mir für die Lesung einen tollen Haarschnitt verpasst hat. Ich durfte mich all die Zeit wie zu Hause fühlen.

Und ein Dank geht an das Hotel Atlantic und das tolle Team dort. Ich habe grandios gegessen und bin so herzlich aufgenommen worden, dass ich auch dieses Hotel nur empfehlen kann.

Februar 1979

Das Letzte, was sie in ihrem Leben sieht, ist Schnee. Sie siehtden Tanz der Flocken, der von lautem Tosen und Dröhnen des Windes begleitet wird. Es ist kein seichter Reigen, der sich vor ihrem Auge abspielt, es ist der Schneesturm, der genau zu dem passt, was gerade mit ihr geschieht. Sie stirbt. Inmitten des Gebrülls. In dieser dreckigen Höhle. Sie würden sie irgendwo verschwinden lassen. Niemand soll erfahren, was sie getan haben.

Mit dem Rauschen des Windes wird sie in die Hölle fahren oder sonst wohin. An das Leben im Himmel glaubt sie nicht. Sie hat Fehler gemacht. Viele Fehler und am Ende einen zu viel. Sie hat die andere unterschätzt, sie nicht ernst genommen. Das war der größte Irrtum. Der, der ihr jetzt das Leben nimmt.

Der Frau ist kalt, ihre Haut ist fahl und sie zittert. Es gibt für sie kein Entrinnen mehr und sie weiß nicht einmal, ob sie entrinnen will. Vielleicht ist es gut so, dass es mit ihr ein Ende nimmt. Die Frau sucht nach ihrer Kette, die sonst ihren Hals schmückt. Immer wieder tastet sie über die Haut. Es gibt keinen Zweifel: Die Kette ist weg.

Der Atem der Frau geht schneller. Wo ist ihre Kette? Wo die Muscheln, die daran hängen? Warum nur ist ihr das in diesem Augenblick so wichtig?

Dumpf kriecht eine Erinnerung in ihr hoch. Sie denkt an den Ruck und dass dabei ihr Kopf nach vorn geschnellt ist. Es hat wehgetan, aber das ist kein neues Gefühl für sie. Sie kennt den Schmerz, den das Leben verursacht. Sie kennt das Gefühl von harten Händen auf ihrer Haut. Das Gefühl, das alles andere tötet und einen absterben lässt. Das man zulässt, weil es Macht gibt. Macht über die Erbärmlichkeit der Männer. Es gibt nicht einen, der wirklich gut zu ihr war. Das mussten alle spüren, sie hat sie kollektiv leiden lassen. Einen nach dem anderen. Einmal verraten, immer verraten. Der Dolch, der ihr die tiefe Verletzung zugefügt hat, sitzt fest und tief, lässt die Wunde immer weiterbluten. Nie ist sie zu heilen.

Dafür mussten sie zahlen. Alle. Jetzt ist es schiefgegangen. Total schief.

Sie hat es provoziert, die Gefahr in Kauf genommen. Wollte etwas erleben, das Sein, die Macht einfach genießen. Es war ein Fehler. Ein Fehler, der sie jetzt hier dahinsiechen lässt, ihre Seele aus dem Körper zieht. Sie stirbt. Obwohl sie eigentlich den Rest ihres Lebens Salsa tanzen wollte. Salsa am Rand des Vulkans, nie auf sicherer Fläche. Das ist ihr schon klar gewesen von Beginn an.

Nun ist sie ausgerutscht. Ein tödlicher Fehltritt. Sie hat es gewusst.

Sie stirbt, obwohl das Leben ihr Ziel war. Leben, singen, alles möglich machen, was ihr gefiel. Als Trost für die erlittene Schmach hatte sie es allen zeigen wollen.

Sie stirbt, allein in diesem Loch in den Dünen, die immer mehr vom Schnee gepudert werden. Sie sehen aus wie Eisberge, aus denen ab und zu ein Halm schaut. Ihre Seele wird bald eins sein mit dem Wind, dem Sand und dem Schnee.

Sie tastet mit der Hand über den harten Boden, spürt den Dreck. Hört dieses Lied, das schon die ganze Zeit dudelt. »Bright eyes, burning like fire«.

Unter ihrem Kopf ist es warm, die Lache wird größer. Das warme Nass verlässt ihren Körper, es schwächt sie, das Wort »ausbluten« bekommt eine neue Dimension. Sie merkt, wie ihre Kräfte schwinden. Sterben. So fühlt es sich an.

Ihr Zeigefinger erhascht die harte Spitze einer Muschel, umfängt die Glieder der Kette. Trotz ihrer schwindenden Kräfte zieht sie sie zu sich hin. Bis auf die eine sind alle Muscheln fort. Fort wie bald ihre Seele, die jede Sekunde stärker darauf drängt, sich zu verabschieden. Die Zeit verrinnt, zerrinnt, beginnt neu.

Die Frau ist sehr müde. Sterben ist ein komisches Gefühl. Sie hat keine Angst. Die hört irgendwann auf, wenn man die Realität akzeptiert hat.

Ein letzter kalter Wind streift über das Gesicht. Sie fährt mit der Zunge über die blauen Lippen, die schon halb erfroren sind. Ja, sie wird gehen und Fragen hinterlassen. Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Und sie wird ein Stück von sich selbst hier lassen. Trotzdem wird sie vergessen sein, weil niemand je nach ihr suchen wird. Vergessen, wie jede einzelne Flocke, die draußen um diese Höhle herumtanzt und einfach eines Tages dahinschmilzt.

1. Herzmuschel – Cerastoderma (cardium) edule

Die Herzmuschel ist eine häufige Muschel der Nordsee. Sie gräbt sich nicht tief ein, kann aber in mehreren Hundert Metern Wassertiefe leben, existiert jedoch am liebsten dort, wo Ebbe und Flut herrschen. Sie ist ungefähr drei bis vier Zentimeter breit und hat eine geriffelte Oberfläche. Wenn es den Tieren bei der nächsten Flut nicht rechtzeitig gelingt, sich einzugraben, sterben sie, werden an den Strand gespült und sind verloren …

Als der Sand auf den Sargdeckel fiel, hörte es sich dumpf an. Siri kämpfte mit den Tränen, schluckte den immer wieder nach oben drängenden Kloß hinunter. Hanna war tot. Sie hatte keine Mutter mehr. Es blieben noch so viele Dinge ungesagt. Wie jedes Mal, wenn jemand starb.

Hannas Grabstelle lag am hinteren Teil des Friedhofes, kurz bevor der Zaun das Areal von den Dünen abgrenzte. Mit erhobenem Kopf nahm Siri die Beileidsbekundungen entgegen. Und sie schluckte die Wut über manche Bemerkung herunter, die ihr deutlich machte, dass Hannas Freundinnen ihr das Fortgehen von der Insel aufs Festland nicht verziehen hatten.

Sie würde auch jetzt wieder verschwinden. So rasch es ging, Wangerooge wieder verlassen. Auf sie wartete Elmar. Sie hatte ein neues Zuhause. Außerhalb der Enge.

Siri war kein Mensch, der auf so wenigen Kilometern Erde, vom Meer umgeben, auf Dauer glücklich werden konnte. Zu eng war ihr der Radius, zu eng die Beziehungen der Menschen untereinander. Eigentlich wunderte es sie, dass sie so dachte, weil sie doch hier aufgewachsen war. Trotzdem hatte Siri schon als kleines Mädchen davon geträumt, dass ihr Flügel wachsen sollten, dass sie einfach abheben und davonfliegen würde. Sie sah sich hoch über den Wolken schweben und manchmal hatte sie davon geträumt, dass sie es war, die die Wolken zu den Gebilden formte, die den Himmel so interessant machten.

Als sich schon alle Trauergäste in Richtung Dorf verabschiedet hatten, stand Siri noch immer vor dem offenen Grab und blickte auf die vereinzelten Rosen, die sich auf dem Sargdeckel verteilt hatten. Das schwarze Haar umwehte ihr Gesicht, verfing sich an ihren trockenen Lippen. Siri rührte sich nicht, ließ das Spiel des Windes zu. Sie war wie gelähmt.

Ihr wurde schmerzhaft bewusst, wie wenig Nähe sie zu Hanna Gerken empfunden hatte. Ihr war das Wort »Mutter« nie über die Lippen gekommen. Ihre Beziehung zueinander war immer mehr von Pflichtbewusstsein als von Liebe geprägt gewesen. Siri mochte Hannas Geruch nicht, sie war oft genervt von ihrer hektischen Betriebsamkeit, die ihr Zuhause unbehaglich machte. Siri kam sich meist eher vor, als wohne sie in einem Bienenstock. Sie mochte die kräftigen Hüften, die stämmigen Oberarme nicht, Hannas Haut war trocken gewesen und spröde. Siri fragte sich, warum ihr diese Dinge jetzt so deutlich wurden. Es zeugte von Gefühlskälte, so etwas gerade an einem solchen Tag zu denken, dem Tag des endgültigen Abschieds.

Eine Böe wehte Siri das Haar erneut aus dem Gesicht. Von nebenan drang ein dumpfer Ton an ihr Ohr. Kurz darauf ertönte ein metallisches Klicken. Siri wandte ihren Kopf, trat einen Schritt zurück und sah, wie die Plastikgießkannen, die auf einem Gestell aneinandergereiht waren, gegeneinanderschlugen. Neben den Kannen befand sich eine Wasserstelle, an deren Hahn das Schild Kein Trinkwasser angebracht war. Jedes Mal, wenn eine Windböe es erreichte, meldete es sich zu Wort.

Eine Weile lauschte Siri den dunklen Tönen, die sich mit dem immer wiederkehrenden hellen Klicken abwechselten, als seien es die Geräusche, die sie sich zukünftig merken müsse, wenn sie an Hanna dachte.

Sie warf noch einmal einen Blick auf das offene Grab, über das sich bereits eine dünne Sandschicht gelegt hatte. Der Inselwind hatte mit seiner Arbeit begonnen.

Siri plante, ihr Elternhaus schräg gegenüber des Inselgymnasiums möglichst schnell zu verkaufen. Es würde hoffentlich nicht zu schwer sein, dafür einen Käufer zu finden, schließlich lag es günstig.

Siri fror und hoffte, bald alles hinter sich zu haben. Sie hasste Beerdigungen, und wenn sie direkt etwas damit zu tun hatte, erst recht.

Die anschließende Kaffeetafel hatte sie im HotelHanken­ gebucht. Die anderen Gäste würden dort sicher schon auf sie warten.

Im Hotel war die Atmosphäre familiär und gemütlich. Das Restaurant war mit vielen Details ausgestattet, die dem Raum so etwas wie eine Wohnzimmeratmosphäre gaben. Im kleinen Saal reihten sich alte Schreibmaschinen neben antiken Waagen und anderen ausgesuchten Dingen. Siri wusste, dass sich im Nebenraum die Drehorgel von Curt Hanken befand. Darauf saß ein großer Stoffaffe.

Wie oft hatte sie als Kind seinem Spiel mit großen Augen gelauscht und von den Jahrmärkten auf dem Festland geträumt, wo es riesige Karussells mit ebensolcher Musik gab. Siri liebte die Drehorgel.

Sie seufzte auf. Wenn sie zur Kaffeetafel rechtzeitig im Hotel sein wollte, musste sie sich beeilen. Mit raschen Schritten eilte sie der Beerdigungsgesellschaft hinterher.

Es duftete nach frischem Kaffee, als Siri das Hotel betrat. Die warme Luft tat ihr gut. Sie setzte sich an die Stirnseite eines der Tische, kaute auf dem Kuchen herum. Insgeheim hoffte sie, die Tür würde sich öffnen und Curt Hanken würde mit seiner Melone oder dem Schlapphut heraustreten und zu spielen beginnen. Irgendeins der Stücke, die sie als Kind so unglaublich gemocht hatte. Siri würde versöhnt werden mit all ihren traurigen und bitteren Erinnerungen, die ihr ein schlechtes Gewissen bescherten. Die Insulaner waren eigentlich ein so nettes Volk, warum zum Teufel konnte sie sich hier einfach nicht zu Hause, sich wie eine von hier fühlen?

Siri nippte am Kaffee, den sie stets schwarz trank. Das bittere Gefühl passte zu ihren Empfindungen.

Glücklicherweise blieben die meisten nicht lange, keiner schien Interesse daran zu haben, sich lange mit Siri zu unterhalten. Sie wusste, dass sie ihnen arrogant und abgehoben vorkam. Sie, die fremde Siri, die der Insel schon so lange den Rücken gekehrt hatte.

Als auch die Letzten gegangen waren, gönnte sie sich einen Spaziergang am Strand. Das war etwas, was sie in der Form auf dem Festland nicht hatte. Diese Weitläufigkeit, die schönen Dünen im Hintergrund und das Tosen des Meeres, das jeden Tag sein Lied in unterschiedlichsten Tonlagen sang, ganz wie der Wind es vorgab. Jedes Mal, wenn sie einen Blick über die Dünen warf, überkam sie kurz das Gefühl der Wehmut, die Furcht, einen Fehler damit gemacht zu haben, dass sie gegangen war. Sie hatte schließlich auch viele nette Menschen verlassen, Menschen, die ihr Trost und Zuflucht gegeben hatten, wenn sie sich allein gefühlt hatte. Jetzt waren auch die ihr fremd geworden.

Siri wohnte seit Jahren in Wilhelmshaven, aber seit dem Bau des Jade-Weser-Ports gab es nicht einmal mehr einen schönen Sandstrand. Der Geniusstrand war nur ein Tribut­, den die Gegend für den Hafenausbau gezahlt hatte.

So schön es am Südstrand mit dem Helgoland-Kai auch war: Es fehlte der Sand, es fehlte diese unglaubliche Freiheit, die sie fühlte, wenn sie über das weite Meer sehen konnte. Und ihr fehlten vertraute Menschen. Auch Elmar war ihr nie wirklich nahgekommen, sosehr er es auch immer wieder versuchte.

Siri sog die Luft tief ein. Wangerooge war schön, eigentlich ein Paradies. Für alle anderen.

Sie ließ ihren Blick über die Nordsee schweifen. In der Ferne schoben sich ein paar Tanker in Richtung Horizont, würden sich irgendwann mit ihm vereinen und dann aus dem Blickfeld verschwinden. Das Meer schillerte heute braun-grau, hatte nicht das Blau, mit dem es im Sommer sonst oft glänzte. Die Wellen rollten recht träge an den Strand. Ein paar Möwen tummelten sich am Spülsaum, stritten um ein vergessenes Brötchen.

Siri lief von der Uferpromenade direkt zum Wasser, störte sich nicht an dem Sand, der sofort in ihre Schuhe rieselte. Sie atmete die klare Herbstluft tief ein. Die Saison neigte sich dem Ende, nur ein paar Unermüdliche kämpften gegen den Wind. Sie sahen alle gleich aus. Allwetterjacken, die Kapuzen tief über die Augen gezogen und bunte Rucksäcke auf dem Rücken, die ihre Körperhaltung bestimmten. Siri hatte einen langen Mantel an, dazu einen roten Schal, den sie dreimal um ihren Hals gewickelt hatte. Sie wirkte nicht wie eine Touristin, eher wie eine Frau, die nur aus Versehen ihren Fuß auf die Insel gesetzt hatte und nun zusehen musste, wie sie möglichst rasch wieder von hier verschwand.

Sie wandte sich nach Westen, hatte so den Wind schräg von vorn. Ihr Tuch zog sie tiefer in die Stirn, denn wenn er ihr zu scharf ins Gesicht blies, hatte das für sie immer fürchterliche Kopfschmerzen zur Folge.

Allzu oft würde sie nun nicht mehr auf die Insel kommen, wenn sie alles verkauft hatte. Vielleicht nie mehr.

Nie mehr war eine endgültige Aussage. Siri wunderte sich, dass sie der Gedanke nicht erschreckte.

Gemeldet hatte sich kaum jemand nach ihrem Fortgang. Siri glaubte aber nicht daran, dass ihr wirklich alle böse waren. Hier mussten eben alle hart und oft rund um die Uhr an sieben Tagen der Woche arbeiten. Keine gute Voraussetzung, um Freundschaften zu pflegen, zwischen denen eine neunzig Minuten dauernde Bahn- und Schiffsfahrt und etliche Kilometer auf dem Festland lagen. Eine Freundschaft, die über zwei Welten ging und deshalb nur selten aufrechterhalten werden konnte.

Siri bückte sich und hob eine kleine Herzmuschel auf, fuhr mit der Fingerkuppe über die geriffelte Oberfläche. Sie mochte Muscheln, konnte nie am Strand entlanglaufen, ohne eine aufzuheben. Wenn eine Muschel eine besonders schöne Färbung hatte, nahm Siri sie mit und bewahrte sie in der Schublade ihres Nachtschrankes auf.

Dort befand sich ein kleines Zigarrenkästchen mit ihrer Sammlung. Niemals würde Siri sich davon trennen. Muscheln waren so besondere, so schöne Tiere des Meeres. Siri bezeichnete sie gern als Schätze. Das Muschelsuchen, das würde sie vermissen, wenn sie endgültig ging. Bei keiner anderen Tätigkeit war es so leicht, den Kopf freizubekommen. Aber sie konnte ja auch nach Hooksiel oder in die anderen Küstenbadeorte zum Sammeln fahren. Allerdings gab es nur hier am Spülsaum diese große Vielfalt.

Siri warf einen Blick auf die Uhr. Sie sollte jetzt nach Hause gehen und sich etwas ausruhen. Am Schwimmbad wendete sie und lief auf der Strandpromenade zurück. Jetzt wehte der Wind schräg von hinten, schien immer stärker aufzufrischen.

Am Café Pudding ging sie die Zedeliusstraße hinunter, bog an der Apotheke in die Charlottenstraße ab. Am Frischemarkt kaufte Siri noch ein Netz Orangen, vielleicht würde ihr der süßlich bittere Geschmack guttun.

Am Inselgymnasium machte sie kurz halt, betrachtete die Fahnen, die im Wind flatterten, und ließ ihre Blicke an der Fassade des roten Backsteingemäuers emporwandern. Sie war gern hier zur Schule gegangen. Die Erinnerung daran schmerzte Siri.

Sie kam sich vor wie eine Verräterin, denn das Lernen in diesem Haus war definitiv eine der schöneren Erinnerungen ihrer Kindheit. Die kleinen Klassen boten genug Raum, um auch Querköpfen wie Siri Halt und Liebe zu geben. Wenn doch einmal jemand über Siri gelästert hatte, war das den Lehrern nicht lange verborgen geblieben und von ihnen rasch unterbunden worden. In der Schule hatte Siri stets das Gefühl gehabt, Luft zu bekommen, was bestimmt auch daran lag, dass sie schon als Kind äußerst wissbegierig gewesen war.

Siri seufzte tief, dachte an die Zeit außerhalb des Unterrichts, verdrängte die Erinnerung aber sofort. Sie machte ihr Angst. Immer wieder hämmerten sich Worte durch ihren Kopf, zerschlugen alle guten Gedanken, die Siri zwischendurch gekommen waren. Sie setzte sich wieder in Bewegung und verschwand rasch im Haus.

Dort empfing sie ein leicht muffiger Geruch. Es war, als habe sich der Tod auch bereits in die Möbel, die alten Gardinen und die Teppiche gefressen. Siri riss alle Fenster auf, um diesen Mief loszuwerden.

Doch damit wurde sie das Gefühl der Vergänglichkeit nicht los. Es war nicht nur die Tatsache, dass Hanna nie mehr zurückkommen würde. Da war noch etwas anderes, das Siri Angst machte. Etwas, das ihr ganzes Leben bestimmt hatte und von dem sie nun sicher war, dass es mit diesem Haus, mit Hanna zu tun hatte. Fast war es, als flüsterten die Möbel miteinander, als streife mit dem Wind der Nordsee ein kalter Hauch durchs Haus, der sich nie mehr verflüchtigen würde.

*

Sören und Martin waren in der Wangerooger Heide unterwegs.

Sören kämpfte sich durch die Rosen, ignorierte die stacheligen Fangarme der Büsche, die sich in seinen Pullover und seine Hosen krallten, als wollten sie ihn daran hindern, dass er weiter in den Dünen nach den alten Bunkern suchte. Vorhin war auf dem nahe gelegenen Friedhof noch eine Beerdigung gewesen, doch nun war es still. Gerade ritten zwei Mädchen auf einem Norweger und einem Haflinger vorbei, aber sonst verirrte sich jetzt nicht so rasch jemand hierher.

Martin war ein ganzes Stück kleiner als Sören und er lief jedes Mal Gefahr, dass ihm einer der stacheligen Äste ins Gesicht traf, wenn sie hinter seinem Freund wieder zusammenschlugen.

»Ich habe keine Lust mehr«, rief er Sören zu. »Die sind doch alle gesprengt, da gibt es keine Eingänge mehr. Und wenn, dann sind sie zugewachsen!«

Sören antwortete nicht, sondern stapfte verbissen weiter. »Die haben hier nach dem Krieg Feten gefeiert, da können doch nicht alle kaputt gewesen sein!«

»Heile sind nur die im Dorf, denke ich«, rief Martin und schaute interessiert einem Falken zu, der mit den Flügeln rüttelnd über ihm in der Luft verharrte. »Da haben sie damals doch auch Kartoffeln gelagert.«

Sörens Kopf tauchte aus den Büschen auf. Er hatte einen blutigen Kratzer an der Stirn. »Den haben sie für Besucher umgebaut, da können wir doch nichts machen. Wir brauchen einen Piratenunterschlupf. Hier oder noch näher am Meer.«

»Den für Besucher meine ich auch nicht. Ich rede von dem hinter dem alten Krankenhaus.«

Sören runzelte die Stirn. »Da ist ein Bunker?«

Martin nickte und in dem Augenblick ging ihm auf, welch fatalen Fehler er damit gemacht hatte, diesen Bunker zu erwähnen. Er wusste es auch nur, weil sein Vater davon gesprochen hatte.

Sören gab seine vergebliche Suche in den Dünen sofort auf. »Zeig, wo der ist!«, befahl er. »Los, das muss ich mir ansehen!«

Nur widerwillig kam Martin Sörens Aufforderung nach. Sie gingen durch die Charlottenstraße zurück, bogen dann vor der Inselschule links zum alten Krankenhaus ab. Sie durften dort nicht entlang, es war Privatgelände, aber wenn sie von der Meerseite her gekommen wären, hätten sie über die Zäune der dahinterliegenden Häuser klettern müssen und das wäre noch auffälliger gewesen.

»Wenn das unsere Unterkunft werden soll, müssen wir uns einen besseren Zugang suchen«, sagte Sören, der sich immer wieder zum alten Krankenhaus umsah, ob sie auch keiner beobachtete. Aber es blieb ruhig und sie wurden rasch von den Dornenbüschen verschluckt. Es war fast unmöglich, sich hindurchzukämpfen. Die Büsche standen hier noch höher als in den Dünen. Mit viel Mühe konnten sie einen kleinen Trampelpfad entdecken, dem sie aufwärts folgten.

»Da darf man sowieso nicht rein, Sören!«, versuchte Martin seinen Freund davon abzuhalten, weiterzugehen.

»Wenn man immer nur das täte, was man darf, wäre das Leben verdammt langweilig, du Schisser!« Sören kämpfte sich unermüdlich durch das Dornengestrüpp, das sich immer wieder in seinen Anziehsachen verhakte. »Da könnten wir ein fantastisches Versteck haben. Das Ding ist so gottverlassen und vergessen, da kommt doch keiner drauf, wenn wir unseren Stützpunkt dort einrichten.«

Martin folgte ihm mit kleinen Schritten. Ihm war nicht wohl dabei, in den Bunker hineinzugehen, fürchtete er sich doch vor Ratten und fetten schwarzen Spinnen, die es darin sicher zuhauf gab. Aber das durfte man vor Sören nicht zugeben, dann hätte man auf ewig verloren.

»Der andere Bunker ist doch auch zu, wieso sollte man in den nun gerade reinkommen? Bestimmt hängt dort auch ein Schloss vor dem Gitter.« Martin sagte das, weil er hoffte, dass es so war.

»Blöde Frage, Kleiner. Weil das andere ein Besucherbunker ist, der unter Denkmalschutz steht. Den haben sie hübsch weiß angepinselt und alle Räume mit Schildern versehen, damit man sich vorstellen kann, wie das damals abgegangen ist.« Sören hielt kurz an, drückte mit dem Ellenbogen ein besonders dickes Dornengestrüpp beiseite. Er musterte das Gemäuer, das sich vor ihnen auftat. »Das hier ist ein Luftschutzbunker, anders als der Besucherbunker dort unten. Die sehen nur von draußen gleich aus mit ihren komischen Einbuchtungen an der Mauer. Außerdem war es doch dein Einfall, hierherzukommen.«

Martin schwieg beeindruckt. Sören kannte sich aus, es war sinnlos, dagegen anzuquaken. Er zog doch ohnehin immer den Kürzeren.

»Gleich haben wir es geschafft. So bewachsen, wie das hier ist, war ewig keiner mehr darin. Ein super Versteck!« Sören sah sich anerkennend zu Martin um. »Klasse Idee von dir!«

Martins Knie wurden weich. Er fürchtete sich davor, in dieses alte Gemäuer einzusteigen. Er hatte Angst vor dem Dreck, vor der Dunkelheit, vor allen möglichen Tieren, dass es dort bestialisch stank. Und dass man dort während des Krieges vielleicht einen Toten vergessen hatte.

Trotzdem stolperte Martin hinter Sören her. Er umklammerte seine Taschenlampe, als wäre sie der einzige Halt, der ihm noch blieb.

Die erste Tür war tatsächlich verschlossen. Ein Eisentor versperrte den Weg und auch Rütteln und Schieben war zwecklos. In Martin keimte so etwas wie Hoffnung auf.

Sören war vom Entdeckungsfieber gepackt, wollte unbedingt in den Bunker hinein. Er trat ein paar Schritte zurück auf den Trampelpfad und tastete sich weiter. »Jeder Bunker dieser Größenordnung hat zwei Eingänge«, belehrte er Martin. »Hab mal so eine Führung durch den anderen mitgemacht.«

Martin wurde immer kleinlauter. Hätte er seinem Freund bloß nichts erzählt. Er wäre längst zu Hause und würde einen warmen Kakao trinken, den seine Mutter ihm immer hinstellte, wenn er vom Spielen zurückkam. Jetzt wurde es schon dämmrig und er stand vor diesem schwarzen Eingang und sein Freund würde gleich von ihm verlangen, dass er ihm dort hinein folgte. Ganz selbstverständlich, so, als sollte er mit ihm in sein Zimmer gehen.

Die andere Tür war tatsächlich offen. Hier hing nur ein rostiges Gittergebilde zur Tarnung vor der Tür, das Schloss war schon vor langer Zeit aufgebrochen worden. Man hatte es wie zum Spott an den oberen Rahmen gehängt.

Sören war nicht zu stoppen. Er betrat den Vorraum sofort, Martin klebte ihm vor lauter Furcht am Rücken. »Hier dürfen wir gar nicht sein«, flüsterte er in einem letzten Versuch.

Sören hörte gar nicht hin, sondern fingerte seine Taschenlampe aus der Hosentasche. Noch während er das tat, stolperte er über etwas. »Autsch!«, rief Sören und knipste das Licht an. Zu seinen Füßen lag ein merkwürdiges, recht großes Eisenstück mit einem Propeller. »Wow«, grinste er. »Sieht aus wie ein Riesenventilator!«

Martin sah gar nicht hin. Er fürchtete noch immer, dass ihm gleich eine große Ratte am Bein kleben würde.

Sören war ohnehin schon einen Raum weiter gegangen und leuchtete mit wachsender Begeisterung auf mehrere ineinander gestapelte Blechwannen. »Darin haben sie meinen Opa gebadet.« Er klopfte vorsichtig gegen das Metall. »Bestimmt hat er in einer von denen gelegen, ich spüre so etwas.«

Das interessierte Martin überhaupt nicht. Er wollte hier raus und zwar so rasch es ging.

Er griff nach Sörens Ärmel. »Riechst du das auch?«

Sören hob die Nase in die Luft. »Hm«, antwortete er, ging aber vorsichtig weiter. Der Strahl der Taschenlampe huschte über den Boden. Sören musste jeden Schritt ausleuchten, damit er nicht gegen irgendetwas stieß, das achtlos in den Bunker hineingeworfen worden war.

»Das riecht hier doch komisch«, wiederholte Martin.

Mit jedem Schritt schlug den Jungen ein seltsamer Mief entgegen. Es war ein süßlich penetranter, ekelhafter Geruch, der fast einen Würgereiz verursachte. Martin drehte den Kopf zu Seite, versuchte flacher zu atmen. »Ich geh keinen Schritt weiter, das stinkt«, sagte er.

Sören ignorierte die Bemerkung, hielt sich ein Taschentuch vor die Nase und murmelte etwas wie der Geruch verginge sicher gleich, wenn man sich daran gewöhnt habe. Er tastete sich im Schein des Lichts weiter in das Innere des Bunkers, leuchtete den linken Raum aus. Plötzlich raschelte es. Martin hielt die Luft an, als etwas Weiches sein Bein streifte. »Eine Ratte!«, stieß er aus, machte sich vor Angst ganz steif. Doch kurz darauf hörte er ein durchdringendes Maunzen.

»Das war eine Katze, du Schisser!«, lachte Sören. Er ließ den Lichtkegel an den grauen Wänden auf- und niedergleiten. Der ganze Bunker war voll gestellt mit altem Gerümpel. »Da steht sogar ein Rasenmäher. Marke Rosttot!«

Martin glaubte alte Bettgestelle zu erkennen, war sich aber nicht sicher, ob es welche waren. In der Ecke des einen Bunkerraumes befand sich ein Holzlattierung, daneben waren dicke Tampen aufgerollt.

Sören war hellauf begeistert. »Echt super! Wenn wir hier unseren heimlichen Treffpunkt aufbauen, dann sind wir wirklich völlig ungestört. Wir räumen ein bisschen auf, und dann wird es richtig gemütlich, das kannst du mir glauben.«

In diesem Teil des Bunkers war der Gestank von eben lange nicht so penetrant. Trotzdem hing Martin der süßlich schwere Geruch noch in der Nase. Ähnlich hatte es mal gerochen, als seine Maus ausgebüxt war und er sie eine Woche später tot am Boden einer großen Vase gefunden hatte.

Da Sören noch viel zu sehr damit beschäftigt war, jeden Winkel auszuleuchten, dachte Martin, es könne nicht schaden, zumindest vorübergehend wieder etwas Tageslicht zu tanken, zumal seine Taschenlampe den Geist aufgegeben hatte. Er tastete sich rückwärts zum Ausgang. Auf der Schwelle sah er etwas glitzern. Er hob es auf und hielt einen Ring in der Hand. Er war silbern mit dunklen Mustern und sah billig aus. Fast wie aus einem Automaten. Martin ließ ihn in der Hosentasche verschwinden.

Vor der Tür warf er einen Blick auf die Wohnhäuser mit ihren Balkons, die den Bunker rückwärtig säumten. Zur anderen Seite lag im Dünental das alte Krankenhaus in seinem Weiß. Es schien alles in Ordnung zu sein, nichts war passiert, obwohl sie in dieses gespenstische Gebäude hineingegangen waren. Die Welt draußen war noch in Ordnung.

Um sich abzusichern, warf er noch einen Blick über die Dünenlandschaft, die sich friedlich wie eh und je präsentierte. Ein paar Möwen hatten ihren Weg nach Hause noch nicht gefunden und segelten lautlos im Wind. Hin und wieder durchbrach der Ruf eines anderen Seevogels die Stille. Gleich hinter den Häusern hörte er das Meer an den Strand rollen. Ein normaler Herbsttag in den Dünen der Insel. Martin bekam trotzdem eine Gänsehaut. Er wollte diesen Bunker nicht mehr betreten. Um nichts in der Welt. Es würde etwas Böses geschehen, wenn er es tat. Martin war sich ganz sicher. »Komm lieber wieder raus, Sören«, rief er in die Räume hinein.

Doch von seinem Freund war nichts mehr zu hören. Er schien ganz und gar eingetaucht in diese neue Welt. Sören liebte Orte, an denen man sich gruseln konnte, Orte, die nicht für jeden zugänglich waren. Er hatte so viele Dinge über alte Schlösser, Burgen und Bunker gelesen, dass es ihm ganz natürlich erschien, auch welche in der Wirklichkeit aufzusuchen. Der grausame Gestank schien ihn nicht zu stoppen.

»Wo steckst du?« Martin reckte seinen Kopf tiefer in das Gemäuer, wartete aber, ob er wirklich weiter hineingehen musste. Als er erneut keine Antwort bekam, wagte er doch noch einen ersten Schritt. Es blieb weiter still, Martin traute sich gar nicht, noch einmal zu rufen. Er tastete sich Schritt für Schritt in den Eingangsbereich des Bunkers hinein, sah aber kaum mehr als den nächsten halben Meter. Er begann zu würgen, weil es dermaßen unangenehm roch. Warum nur störte Sören dieser Gestank nicht?

Es wurde sofort dunkel, als er den ersten Raum betrat. Je tiefer er sich an den Wänden entlangtastete, desto mulmiger wurde ihm. Martin konnte die Hand vor Augen nicht sehen. Vorhin waren sie links in dem Raum gewesen. Doch da war alles still. »Sören?«, raunte er. »Sören, wo steckst du?« Martins Stimme klang arg verloren in der Dunkelheit. Er fürchtete sich, wie er sich noch nie in seinem Leben gefürchtet hatte.

Mit klopfendem Herzen tastete er sich an den Blechwannen vorbei in den rechts dahinter liegenden Raum. Er stieß gegen etwas aus Eisen, das aus der Wand ragte. »Sören?«, fragte er wieder. Martin rieb sich den schmerzenden Kopf, lauschte in das Dunkel. Der Gestank hüllte ihn förmlich ein. Er übergab sich, danach ging es etwas besser. »Sören?«, fragte er wieder, doch er erhielt keinerlei Antwort.

Martin tastete sich vor, stieß mit dem Fuß gegen Sörens Taschenlampe, die kurz aufleuchtete und gleich wieder verlosch. Sein Freund hockte neben etwas, das Martin nicht erkennen konnte.

*

Kommissar Rothko schnappte sich den Stapel Briefe, die im Büro der Dienststelle gestapelt lagen. Er musste ein bisschen Ordnung reinbringen, bald würde wieder ein Kollege zu ihm auf die Insel kommen und er wollte nicht den Eindruck hinterlassen, er habe nicht gearbeitet. Kollege Kraulke sollte es dieses Mal nicht sein, hatte man ihm gesagt. Wenigstens etwas. Als der nach dem letzten Fall seine Koffer gepackt hatte, war es gewesen, als beginne für Rothko ein neues Leben. Der grausame Mord an den Jungen war geklärt, Kraulke wieder in Wilhelmshaven – und die Kaffeemaschine in der Wohnung funktionierte tatsächlich, nachdem Rothko sie einer gewaltigen Entkalkungsaktion unterzogen hatte. Ob das ökologisch der richtige Weg war und ob das, was sich nun in die Kanne ergoss, gesundheitlich zu vertreten war, hinterfragte er lieber nicht. Hauptsache, er hatte das schwarze Gesöff in der Tasse, ohne dafür zum Bäcker oder in ein Café laufen zu müssen.

Dass es hier in der Dienststelle an Cappuccino mangelte, daran hatte er sich gewöhnt. Auf den Milchschaum konnte er verzichten, auf die schwarze Brühe darunter leider nicht. Allein der Gedanke verursachte ihm ein Gemisch aus Magenschmerzen und schlechter Laune.

Rothko beschloss, die Briefe in der Wohnung zu öffnen. Es war ohnehin Mittagszeit, er musste sich nicht mehr unten in der Dienststelle aufhalten. Er ging nach oben in seine Miniküche, füllte das Pulver in den Filter, gab Wasser in den Behälter. Danach stellte er die Maschine an. Schon beim Betätigen des Schalters gab sie ein leises Glucksen von sich. Er fand, das sei ein gutes Zeichen, deutete es fast als guten Willen der Maschine, ihm von nun an sein wohlverdientes Gebräu zu kochen. Mit einem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht nahm Rothko das beginnende Durchlaufen des Wassers zur Kenntnis, sog den Duft des frischen Kaffees ein.

Was hatte er ein Glück, hier auf der Insel zu sein und das wirkliche Leben nur noch schemenhaft wahrnehmen zu können, weil von jetzt an zwischen Mord und Totschlag und allen Bösartigkeiten der Welt das Wattenmeer mit der Nordsee lag!

Rothko wollte die Zeit, bis der Kaffee durchgelaufen war, nutzen, um die Post zu öffnen. Er hatte sie auf die Kiefernkommode gleich neben dem Kücheneingang gelegt. Nun griff er nach dem Stapel Briefe und nahm sie mit in sein Zimmer. Durch die sechs Dachfenster strahlte die Sonne und stimmte ihn fröhlich. Er ließ sich rücklings aufs breite Bett fallen, starrte in den Himmel und sah den Wolken zu, die rasch über den Himmel fegten.

Nach einer Weile umfing ihn ein unangenehmer Geruch, der auf eigenartige Weise an schmelzendes Gummi und verbranntes Plastik erinnerte. Rothko hastete in die Küche. Aus seiner so gut entkalkten Maschine fauchte und qualmte es. Dann folgte eine Flamme, die sich kurz in Richtung Decke flüchtete und schließlich ermattet in sich zusammensackte.

Fast schien es, als räche die Kaffeemaschine sich für die Behandlung, die ihr der Kommissar hatte zuteil werden lassen. Rothko fluchte und zerrte den Stecker heraus. Es stank bestialisch. Er wedelte mit den Briefen hin und her, öffnete das Fenster.

Das alles war ein schlechtes Zeichen. Kein Kaffee war immer ein schlechtes Zeichen. Wie sollte seine Welt ohne existieren? Alle gute Laune war verflogen.

Als der Geruch wieder annehmbar war, warf Rothko die defekte Kaffeemaschine in die Mülltonne. Er würde weiter seinen Cappuccino, seinen Latte Macchiato oder auch nur den einfachsten Kaffee woanders einnehmen müssen. Das Leben war ungerecht. Auch ohne Mord.

Dann setzte er sich wieder auf die Bettkante und begann, die Briefe aufzuschlitzen.

Es waren die üblichen Rechnungen und Werbebriefe. Eben der Papierkram, der in der Inseldienststelle so auflief. Zwei Briefe stachen ihm besonders ins Auge. Als er den ersten öffnete, war er gleich ein wenig versöhnlicher gestimmt. Man hatte ihm tatsächlich zwei Kaffeemaschinen bewilligt. Eine fürs Büro und eine für die Dienstwohnung. Ein Staubsauger stehe ihm aber nach wie vor nicht zu, da der Boden wischbar sei und er ihn auch fegen könne.

Na immerhin, er würde sich zwei Kaffeemaschinen kaufen können. Der Betrag, dem man ihm zugestand, war allerdings lächerlich gering, so dass es nur für die einfachen Geräte reichen würde. Aber besser als nichts.

Der andere Brief trug die Handschrift seiner Frau.

Erst dachte er, es sei mal wieder einer ihrer Beschwerden, weil er nur alle paar Tage anrief. Meist schimpfte sie per E-Mail, aber hin und wieder schickte sie ihm auch diese Sinnkarten mit irgendwelchen vorgefertigten Sprüchen, die auf schöne Landschaften, vorwiegend mit Strandmotiven, Bächen oder Blumen mit Gartenbank gedruckt waren. Er hatte diese Botschaften als Weiberkram immer einfach so hingenommen. Dieses Mal schien aber keine Karte im Umschlag zu stecken.

Er zog den Brief heraus, faltete ihn auseinander. Dann stockte ihm doch der Atem. Er hatte nicht gedacht, dass sie so reagieren würde, obwohl er selbst oft genug mit dem Gedanken gespielt hatte, seine Ehe zu beenden. Nun hatte seine Frau die Scheidung eingereicht. Da sie schon über ein Jahr getrennt wohnten, wäre das nur pro forma, schrieb sie. Außerdem möge er sich bitte damit abfinden, dass sie derzeit bereits eine andere Beziehung habe, sie wäre folglich nicht umzustimmen.

Rothko ließ die Hand mit dem Brief sinken. Er war siebenundvierzig Jahre alt und tatsächlich bald ein geschiedener Mann. Es fühlte sich an, als tanze ein Messer durch seinen Bauch.

Im Prinzip würde sich für ihn nichts ändern. Er lebte seit Jahren für sich allein. An den letzten Sex mit seiner Frau konnte er sich kaum noch erinnern. Doch es war schon etwas anderes, an so etwas wie Trennung nur zu denken, als es wirklich zu tun. Für einen Augenblick war er versucht, den Telefonhörer in die Hand zu nehmen, seiner Frau Liebesschwüre hineinzusäuseln, wollte sie irgendwie umstimmen. Aber dann hielt er inne, atmete tief ein. Vielleicht war es besser so. Er war jetzt ein freier Mann, brauchte sich für nichts in der Welt mehr zu rechtfertigen und viele Dinge würden nun leichter. Doch noch während er das dachte, fühlte er eine Träne die Wange herunterrinnen. Er, der coole Kommissar, weinte. Er weinte, weil er all die Jahre nicht um seine Frau gekämpft und ihre Liebe leichtfertig verspielt hatte. Immerhin hatte sie es fünfzehn Jahre mit ihm ausgehalten. Er, Rothko, war nun allein.

Er legte den Kopf auf den Tisch und ließ seinen Tränen freien Lauf.

*

Siri hatte sich einen Tee gekocht und saß mit unter den Po geschobenen Füßen auf dem Sessel. Sie hatte nie viel von der friesischen Teezeremonie gehalten, hasste es, aus den kleinen Tassen zu trinken, die einem allenfalls mit einem winzigen Schluck den Mund füllten. So hielt sie einen großen Becher zwischen den Händen und trank ihn langsam leer. Immer wieder ließ sie ihren Blick über die düstere Schrankwand aus Eiche gleiten. Wie jedes Mal beschlich sie dabei dieses bedrückende Gefühl, das nicht erklärbar war, aber sie von Kindesbeinen an belastet hatte. Sie würde froh sein, wenn sie dieses Haus los wäre, weil sie nie hierher gehört hatte, so paradox das auch klang.

Siri seufzte laut auf. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie sich jetzt um ein paar Dinge kümmern musste, wenn sie es schaffen wollte, übermorgen pünktlich zum Dienst im Krankenhaus zu erscheinen.

Hanna hatte ihr keine persönliche Nachricht hinterlassen, dazu war am Ende wohl keine Zeit mehr gewesen. Siri wusste allerdings, dass es auch unter anderen Umständen nicht anders gewesen wäre. Hanna Gerken war keine Frau, die Gefühle zeigte oder die in irgendeiner Form zum Ausdruck brachte, was sie wirklich dachte. Für sie war nur wichtig gewesen, dass die Fassade stimmte. Kein Lächeln war ehrlich genug gewesen, um als echtes Lächeln wahrgenommen zu werden, kein Wort über die Tiefe hinausgegangen, die gerade notwendig gewesen war.

Siri hatte in dieser Welt geschwebt, nie die Beine auf den Boden bekommen. Sie war immer unwichtiger gewesen als der Schein, der die Familie Gerken umgab. Waren Freundinnen im Haus, wurde sie von einer Flut aus Liebe und Zuneigung fast ertränkt. War sie mit Hanna allein, begegnete die ihr mit einer solchen Distanz, dass Siri fröstelte.

Siri war es auf dem Festland besser gegangen, weit fort von dieser Scheinwelt. Das Leben mit all seinen Facetten war die bessere Alternative. Sie war allein gut klargekommen und seit sie Elmar hatte, war es noch besser geworden. Auch wenn es nicht die große Liebe war, die sie sich erträumt hatte. Aber Elmar war zuverlässig, ein guter Liebhaber und überaus einfühlsam. Was konnte man mehr erwarten.

Siri fiel auf, dass er sich seit gestern nicht mehr gemeldet hatte. Noch während sie das dachte, merkte sie, dass sie ihn vermisste, konnte sich aber dennoch nicht durchringen, ihn anzurufen.

Sie öffnete die Schranktüren. Alles war voll gestellt mit mehreren Sorten Porzellan, Vasen, Tischtüchern und so vielen Gläsern, dass Hanna ganz Wangerooge zum Umtrunk hätte einladen können.

Auch hier umfing sie wieder der Geruch nach Alt, Süß und Penetrant. In der letzten Tür befand sich eine offene Packung Weinbrandbohnen, dahinter eine verschlossene Metallkassette.

Siri griff nach der dahinterstehenden Vase und hörte schon beim Anheben, dass darin ein Schlüssel klimperte. Das Versteck war typisch für Hanna.

Siri steckte den Schlüssel ins Schloss. Der Deckel der Kassette sprang fast lautlos auf. Auf einem Stapel Papier lag ein Lederband, an dem eine kleine, fast weiße Herzmuschel befestigt war. Siri nahm sie vorsichtig in die Hand, strich darüber, erfühlte jede einzelne Lamelle. Ob es ihre eigene Vorliebe für Muscheln war, die sie so fesselte, wusste sie nicht. Aber sie spürte eine Verbindung zu der Kette, die sie nicht erklären konnte. Das Leder der Schnur war arg abgeschabt, als wäre die Muschel oftmals hin- und hergeschoben worden. Oder als hätten sich auch noch andere Anhänger daran befunden.

Die Hand, die die Kette umschloss, wurde spürbar warm. Dann nahm Siri den Stapel Papier heraus. Ihr Herz schlug heftig. Es war, als täte sie etwas Verbotenes. Etwas, was sich nicht gehörte. Das Papier brannte förmlich unter ihren Fingern.

Siri konnte sich gar nicht daran erinnern, diese Kassette je in ihrem Leben gesehen zu haben. Es war, als habe Hanna sie kurz vor ihrem Tod dorthin gestellt, damit ihre Tochter in jedem Fall daraufstoßen würde. Siri war sich ganz sicher: In diesem Schrank hatte die Kassette all die Jahre nicht gestanden. Hanna musste es ungeheuer wichtig gewesen sein, dass Siri sie fand.

Sie faltete das oberste Stück Papier auseinander, konnte das Zittern ihrer Hände nicht verhindern. Siri war sich sicher, dass der Inhalt dieses Schreibens ihr Leben verändern würde.

*

»Sören!« Martin tickte seinen Freund an der Schulter an. Der reagierte gar nicht. Dann kickte er mit der Fußspitze erneut gegen die Taschenlampe, die mit einem Mal wieder schwach zu leuchten begann und deren Strahl ihren Schein gegen die Bunkerwand warf. Martin zitterte, mochte Sören hier aber auch nicht allein lassen, sosehr es auch stank und ihm immer wieder einen starken Würgereiz bescherte. »Sören«, wiederholte er. »Was ist?«

Noch immer bekam er keine Antwort. Aber zumindest begann sein Freund leise zu schluchzen. Die Schultern zuckten, als Martin seine Handfläche darauflegte. Gerade als er noch einmal fragen wollte, was denn los sei, übergab Sören sich. Er würgte, als sei es das Beste, alles aus sich herauszuspucken. Als er fertig war, sprang er auf, schubste Martin gegen die Bunkerwand und rannte an ihm vorbei in Richtung Ausgang.

Martin wusste gar nicht, wie ihm geschah. Er fasste an seinen Ellenbogen. Er hatte sich an der Wand gestoßen.