Mütter sind auch nur Menschen - Hanna Simon - E-Book

Mütter sind auch nur Menschen E-Book

Hanna Simon

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Beschreibung

Marie und ihre Freundinnen haben es geschafft, ihren Nachwuchs ohne größere Schäden durch die 1. Klasse zu bringen. Eigentlich Zeit, sich jetzt einmal wieder um das eigene Leben zu kümmern – vor allem wenn es um die Liebe geht, liegt hier einiges im Argen. Oder ist Romantik etwa retro? So scheint es zumindest Jakub, Maries Freund und Patchwork-Partner zu sehen, denn in ihrem Beziehungsalltag hat sich vor allem eines eingeschlichen: Routine, Fußball und offengelassene Zahnpastatuben. Zu allem Übel ist da auch noch Constantin, ihr Ex aus München, der jede Gelegenheit nutzt, ihr wieder nahe zu sein. Gut, dass wenigstens die vier Frauen zusammenhalten! Doch dann droht Katrin in die 24/7-Helikopter-Mutti-Falle zu tappen, während Marie sich nicht entscheiden kann zwischen Jakub und Constantin. Da tritt plötzlich ein dritter Mann in ihr Leben. Dummerweise ist er genauso attraktiv und genauso unerreichbar wie Constantin – oder etwa nicht? Das Kleeblatt Marie, Alexa, Katrin und Olivia geht in die zweite Runde!

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Über Hanna Simon

Hanna Simon, 1970 in Bielefeld geboren, arbeitete lange Zeit als Projektleiterin. Deswegen schafft sie es auch immer, die großen und kleinen Familienkatastrophen zu ignorieren, abzuwenden oder aufzufangen – und das meistens sogar fast perfekt. Mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen lebt sie in der Nähe von Frankfurt am Main.

Informationen zum Buch

Marie und ihre Freundinnen haben es geschafft, ihren Nachwuchs ohne größere Schäden durch die 1. Klasse zu bringen. Eigentlich Zeit, sich jetzt einmal wieder um das eigene Leben zu kümmern – vor allem wenn es um die Liebe geht, liegt hier einiges im Argen. Oder ist Romantik etwa retro? So scheint es zumindest Jakub, Maries Freund und Patchwork-Partner zu sehen, denn in ihrem Beziehungsalltag hat sich vor allem eines eingeschlichen: Routine, Fußball und offengelassene Zahnpastatuben. Zu allem Übel ist da auch noch Constantin, ihr Ex aus München, der jede Gelegenheit nutzt, ihr wieder nahe zu sein. Gut, dass wenigstens die vier Frauen zusammenhalten … Doch dann droht Katrin in die 24/7-Helikopter-Mutti-Falle zu tappen, während Marie sich nicht entscheiden kann zwischen Jakub und Constantin. Da tritt plötzlich ein dritter Mann in ihr Leben. Dummerweise ist er genauso attraktiv und genauso unerreichbar wie Constantin – oder etwa nicht?

Das Kleeblatt Marie, Alexa, Katrin und Olivia geht in die zweite Runde!

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Hanna Simon

Mütter sind auch nur Menschen

Roman

Inhaltsübersicht

Über Hanna Simon

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Danksagung

Impressum

Für den perfekten Aufschlag

1

»Der heilige Georg und der Drachen«

(Öl auf Leinwand, um 1560, Jacopo Tintoretto)

»Wie war das?« Marie starrte die blonde Frau, die so fordernd vor ihr stand, entsetzt an. Die sah aus, als wäre sie eine Premiumkundin und dürfte sich alles erlauben, was sie wollte. Marie vergaß dabei, ihr den Becher Kaffee zu reichen.

»Sie haben ganz richtig gehört.« Nun nickte die Frau zufrieden und störte sich nicht daran, dass einige Leute sich schon umdrehten. »Ich erwarte von den Lehrern nicht nur Vermittlung von Allgemeinwissen, sondern auch von umfassenden Englisch- und Mathematikkenntnissen, dazu sollte bei den Schülern sehr bald eine große Wortgewandtheit im Deutschen erkennbar werden. Schließlich bezahlen wir Eltern Schulgeld und das nicht zu knapp.« Die Frau nahm mit einer merkwürdig gezierten Handbewegung den Kaffeebecher und hob dann den Zeigefinger.

Marie war sprachlos. Sie strich sich ihre langen, dunklen Locken nach hinten.

Auf dem schönen Schulhof der altehrwürdigen Grundschule spendeten ein paar alte Linden Schatten vor der heißen Sommersonne, die Blätter rauschten und einige Vögel tschilpten vor sich hin. Marie hörte in einiger Entfernung einen Bus hinter der alten Backsteinmauer vorbeifahren, die das Schulgelände zur Straße hin abschloss. Was für ein friedlicher Ort das war, hier im Herzen Berlins, ideal, um zu lernen, fand sie.

Marie seufzte kurz.

Was allerdings störte, war definitiv diese Mutter.

»Ich werde ein Auge darauf haben! Und ich bin nicht die Einzige!« Sie zeigte mit großer Geste über den Schulhof, dorthin, wo die übrigen Eltern standen, die schon voller Freude auf ihre Kinder warteten, die heute eingeschult wurden.

Marie war fasziniert davon, wie diese Erwachsenen das Gebäude anstarrten. Als meinten sie, gleich würde sich ein fauchender Drache aus dem großen Schornstein erheben, mit ihren Kinder in seinen Klauen. War Marie vor einem Jahr auch so verängstigt gewesen am ersten Schultag ihres Kindes, ihres Florians? Vermutlich.

Sie versuchte, mit einem Blick abzuschätzen, was das für Eltern waren. Waren es normale Eltern wie sie selbst: etwas unsicher, ja, fast etwas traurig darüber, dass der sprichwörtliche Ernst des Lebens für ihre Kinder begann?

Oder waren die überspannt, ehrgeizig und wussten grundsätzlich alles besser?

Marie wandte sich wieder zu der blonden Frau, die vor ihr und dem wackeligen Tisch stand, auf dem liebevoll arrangiert Kaffeebecher, Milch, Löffel und ein paar bunte Servietten lagen, dazwischen ein paar Kaffeeflecken.

Definitiv gehörte diese Frau zu der zweiten Kategorie Eltern.

Marie drehte den Schlüssel an der roten Geldkassette auf und zu. Auf und zu. Sie wartete darauf, dass die Frau endlich bezahlte und – was viel wichtiger war - endlich ging.

»Da drüben gibt es auch Kuchen. Und Saft!«, versuchte Marie, die Frau loszuwerden.

»Hören Sie mir überhaupt zu?«, fragte die erbost und hatte immer noch den Zeigefinger erhoben.

»Ich? Nein«, sagte Marie wahrheitsgemäß. Sie hätte dieser hyperengagierten Mutter auch gar nicht zuhören können, denn die Liste an Forderungen, die sie da erhob, war länger als das momentan an der Schule kursierende Verzeichnis an glutenhaltigem Essen. Außerdem hasste Marie erhobene Zeigefinger wie die Pest.

»Das macht dann eins siebzig für den Kaffee. Mit den Erlösen des Kaffee- und Kuchen-Verkaufs finanziert die Klopstock-Grundschule die Anschaffung eines neuen Turngerätes.« Marie zeigte in die entsprechende Richtung, wo die Turnhalle stand.

»Ich habe irgendwo dazu auch eben noch ein paar Flyer gehabt, aber die hat wahrscheinlich der Wind verweht.« Marie lächelte aufmunternd, aber die Frau vor ihr ging nicht darauf ein.

»Hinten gibt es auch einen kleinen Basar, aber es ist nicht viel los. Die neuen Eltern haben anderes im Kopf, als etwas zu kaufen.« Marie wies noch einmal vage zu einem reichlich bebilderten Infoboard, das sich neben dem Kaffeestand befand, um zu zeigen, dass das Geld sinnvoll angelegt sein würde.

»Wie war das?«

»Turngerät«, wiederholte Marie und wusste längst, dass die Frau das nicht so gemeint hatte.

»Nein, das vorher!«, kam es spitz.

»Eins siebzig!«

Die Frau holte Luft für eine weitere Ermahnung, doch sie ließ den Zeigefinger sinken und gab fürs Erste auf. Zugegeben, sie war ausgesprochen hübsch, was Marie in diesem Augenblick jedoch nicht besänftigen konnte. Die Haare waren offenbar wirklich blond oder sie hatte einen ausgezeichneten Friseur. Sehr weiblich war sie und dabei erstaunlich zierlich. Außerdem war diese Frau alarmierend hyperaktiv. Sie fuchtelte nicht nur sehr übertrieben mit den Armen herum und bewegte ihre Hände so, als legte sie großen Wert darauf, dass man ihre Ballettausbildung erkannte, nein, sie redete auch einfach so viel. Und so viel Blödsinn! Das kam erschwerend hinzu.

Marie war eigentlich nicht so forsch. Und Schlagfertigkeit war sowieso nicht ihre Stärke. Und wenn doch, dann nie den Menschen gegenüber, bei denen es ihr wichtig gewesen wäre.

Marie sah an ihrem fleckigen T-Shirt hinunter. Sie hatte sich eben mit Kaffee bekleckert. Obwohl sie Turnschuhe trug, taten ihre Füße vom Rumstehen schon weh. Die Ballerina vor ihr trug ein Designerkleid und elegante hochhackige Schuhe.

»Schulgeld! Ich sage nur immer wieder Schulgeld!«

»Aha, Schulgeld«, wiederholte Marie kraftlos.

Was glaubte diese Furie eigentlich, wo sie war? Auf einem Heidi-Klum-Entscheidungstag von GNTM – Germany's next Top Mother? Wo man als Mother noch mal alles geben musste? Denn am Ende konnte es nur eine geben?

Sie waren hier auf dem Schulhof einer süßen, kleinen Berliner Grundschule!

Marie sah sich verstohlen zum großen Schild an der Stirnseite des altehrwürdigen Backsteingebäudes um. Ja, definitiv war dies die Schule, die ihr Sohn besuchte.

Was redete diese Mutter da bloß? Und warum? Wie von so einer Art Elite-Akademie! Und was das angetretene Lehrer-Korps leisten musste! Hatte diese Frau vielleicht irgendetwas extrem falsch verstanden, als die ihr Kind hier angemeldet hatte?

Und richtig. Die blonde Mutter referierte, nun mit neuem Elan, im gleichen Stil weiter.

Marie sah über ihre Schulter zu ihren Freundinnen, die sich kaum halten konnten vor Lachen.

Da der größte Ansturm auf Kaffee und Kuchen vorbei war, hatten sich ihre zwei Freundinnen um die schwangere Katrin gesetzt. Die lag in einem Liegestuhl im Schatten eines kleineren Baums. Olivia, genannt Oli, und Alexa saßen auf dem kleinen, sorgfältig gepflegten Rasenstückchen zu ihren Füßen und sahen aus wie wachsame Hütehunde.

Alexa und Oli winkten zu Marie rüber und hatten jedes Wort mitangehört. Katrin schlief.

Natürlich nahmen ihre Freundinnen, Mütter wie sie, diesen Unsinn, den die Frau da von sich gab, nicht ernst.

Offenbar glaubte diese blonde Ballettbarbie-Mutter, dass Kinder nach Abschluss der ersten Klasse an dieser Schule schon bereit für das erste Staatsexamen sein sollten.

Marie schaute die Frau wieder an, in der Hoffnung, ihr Gespräch würde sich bessern. Marie öffnete mindestens zweimal den Mund, um durch einen cleveren Einwand den Redefluss ihres Gegenübers zu bremsen. Doch Fehlanzeige. Marie strich sich ihre Locken hinters Ohr und räusperte sich.

Irgendwas musste ihr doch einfallen?

Ballettbarbie holte tief Luft, als verlöre sie langsam die Geduld mit Marie. »Das ist doch ganz einfach, gute Frau. Sie als Lehrerin an dieser renommierten Gottlieb-Friedrich-Klopstock-Privatschule haben auch die Aufgabe, den Charakter meines Kindes zu formen …«, kam es ungebremst aus dem Lippenstiftmund. Marie hasste es, mit Gute Frau tituliert zu werden.

»Friedrich Gottlieb!«, sagte Marie daher plötzlich und auch ein bisschen zu laut. Endlich. Die Frau kam aus dem Sprachfluss. Dem Himmel sei Dank!

»Wie bitte?«

»Friedrich Gottlieb Klopstock. Nicht Gottlieb Friedrich.« Marie wusste, dass das albern war, aber sie wollte einfach, dass diese Frau aufhörte zu reden.

Sie hatte Pech.

»Wie auch immer … dann eben Gottfried Dingens. Ich meinte eben nur: Pünktlichkeit, Höflichkeit, solche Dinge. Das müssen Sie den Kindern beibringen!«

Endlich kam Hilfe!

»Hallo, Sie! Sorry, meine Dame, aber unsere Marie ist keine Lehrerin. Und vielleicht sollten Sie sich um die Erziehung Ihres unpünktlichen Nachwuchses dann doch wirklich selbst kümmern. Oder frühzeitig an Verhütung denken!« Alexa hatte sich erbarmt und trat energisch dazwischen. Sie hatte sich flink aus dem Gras erhoben und war mit ein paar Schritten zu ihnen herübergekommen. Es war deutlich zu erkennen, dass Alexa sich das Lachen nur mühsam verkniff, und ihr dunkelblonder Pagenkopf schwang dabei fröhlich hin und her.

»Nur mal zur Info: Wir hier sind die Mütter der zweiten Klasse, die anlässlich der Einschulung der Kleinen ein bisschen Kaffee auf dem Schulhof verkaufen. Und wir sind mit dieser Schule, so wie sie ist, sehr zufrieden. Ziemlich durchschnittliche Mütter, aber irgendwie schaffen wir es doch, den eigenen Kindern das mit der Pünktlichkeit und Höflichkeit selbst beizubringen.«

»Wie bitte?« Ballettbarbie vollführte eine merkwürdige Drehung ihres rechten Armgelenks und war endlich soweit, ihren Monolog sein zu lassen. »Keine Lehrerin? O Gott, das hoffe ich auch langsam, so wie die hier reden.«

Die Frau zeigte geziert auf Marie und machte dabei ein Gesicht, als hätte sie Läuse in einen Frisiersalon getragen.

Marie war entsetzt.

»Moment mal! Was soll das heißen? Als berufstätige Mutter habe ich sicher nicht so viel Zeit wie Sie, aber die Erziehung meines Kindes würde ich niemals alleine den Lehrern überlassen. Wie käme ich dazu! Das ist mein Kind! Und meine Aufgabe!«, entgegnete Marie. Sie merkte, wie lahm das klang, aber sie war wie paralysiert von dem Redeschwall der Frau.

»Sagen Sie bloß, Sie haben einen Beruf? Einen echten Beruf? Ach Himmel. Wo leben wir denn? Sie sollten sich sozial und gesellschaftlich engagieren! Beruf! Himmel!« Die Neue war offensichtlich ein entschiedener Gegner davon, dass Mütter berufstätig waren.

»Sicher habe ich einen Beruf. Einen sehr schönen sogar. Ich bin Gemälderestauratorin«, sagte Marie trotzig und ärgerte sich sofort über sich.

Warum hatte sie sich gerechtfertigt?

Und warum sollte sie nicht arbeiten dürfen?

Warum sollte sie nur Mutter sein und ihr sonstiges Leben aufgeben?

»Gemälderestauratorin? Ehrlich? Sie hübschen alte Schinken aus dem Museum wieder auf?« Die Frau schien das zu amüsieren.

Marie schluckte grimmig. Das, genau das, durfte man zu ihr nicht sagen. Ihr Beruf war ihr heilig. Er war es, der ihrem Leben eine gleichbleibende, positive Struktur gab. Einen echten Halt, um eine gute Mutter zu sein, ja, um überhaupt sie selbst zu sein, in einem Leben, in dem ein Tag nie so war wie der nächste. Schöne Tage, natürlich, mit einem wunderbaren Kind, aber das war ohne Gebrauchsanleitung geliefert worden. Und leider auch ohne Kompass für das Auffinden von Pfaden für unerfahrene Mütter.

»Ich stelle mir das grauenhaft vor, wenn man sich zwischen Kind und Beruf nicht entscheiden kann.« Ballettbarbie hob das spitze Kinn.

Marie wünschte sich, eine von Hieronymus Boschs furchteinflößenden Höllengestalten käme aus dem Erdreich gekrochen und würde der Ziege in den Allerwertesten treten.

Wie konnte diese Frau nur so was sagen! Nie würde sie sich gegen ihr Kind entscheiden.

Für kein Kunstwerk der Welt.

»Nein, gute Frau, den Horror übernehmen andere, ich kann dich beruhigen.« Nun war auch Olivia hinzugetreten, um Marie zu Hilfe zu kommen.

Olivia, vollbusig und mit beeindruckender Blondhaarturmfrisur, war sehr groß und trug in der Regel so hohe Absätze, dass alle Frauen schon ihre schiere Anwesenheit fürchteten. Olivia hatte einen polnischen Akzent, sprach also das R sehr rollend und das H wie Ch aus. Außerdem spielte sie zu gerne mit dem Vorurteil, das aufkam, wenn jemand ihren Akzent hörte. So duzte sie jeden, von dem sie glaubte, er würde das hassen. Und besonders beeindruckend war, dass sie jede Diskussion im Handumdrehen sprachlich wie auch argumentativ locker aushebeln konnte.

Ballettbarbie sah erschrocken zu Olivia hoch und betrachtete ihre Frisur, in deren Mitte eine rosa Spange saß. Olivia hatte eine ausgesprochene Vorliebe für Pink. Wie ihre Tochter. Sie trug ein extrem kurzes Kleid und eine extrem große Handtasche in derselben Signalfarbe.

»Wie heißt du, Schätzchen?« Olivia griff über den Tisch und schüttelte die freie Hand der perplexen Mutter.

»Ich? Ich bin Helena! Warum wollen Sie das wissen?« Sah das nur so aus, oder war die Frau bereits in Panik?

Alexa verschluckte sich an ihrem Kaffee, den sie sich gerade eingeschenkt hatte, und wisperte: »Armes Troja.«

Marie konnte wieder lachen.

Olivia machte das, was sie immer gerne tat, den Gegner verwirren und dann überrumpeln: »Helene? Wie die Fischer? Witzig, ein bisschen siehst du auch so aus. Nur singt die immerzu, aber du scheinst ja immerzu zu reden. Nun beruhige dich mal wieder. Wir sind lauter Mütter, die wissen, wie das Kaninchen läuft. Dein Kind wird heute eingeschult?«

»Kaninchen? Gibt’s hier Kaninchen?« Die schöne Helena konnte es nicht fassen, dass jemand sie ungefragt an der Hand gepackt und noch dazu so geschüttelt hatte, dass sie Angst um ihre zarten Gelenke haben musste. Nun war sie wie in Schockstarre.

»Helena. Mit A. Nicht mit Fischer«, sagte sie kraftlos.

»Oli, du meinst Hase. Wie der Hase läuft.« Alexa war die einzige Person auf der Welt, bei der eine Korrektur klang wie ein Kompliment.

Olivia grinste siegessicher. Und Marie fühlte sich gerächt.

»Na, du freust dich sicher, uns kennengelernt zu haben, was?« Olivia hatte die erste Runde eindeutig gewonnen. Doch diese Helena schien nicht der Typ zu sein, der schnell aufgab. Sie suchte einen sicheren Stand und sog tief die Luft ein, Kinn hoch. »Dann wisst Ihr Mütter ja Bescheid. Dann kann ich ja offen reden: Lehrer tun ja bekanntlich gar nichts heute. Im Gegenteil, die schicken sehenden Auges unsere Kinder in den Bildungsuntergang. Außerdem wird nicht darauf geachtet, wer noch so in die Klasse gesteckt wird. Diese Gleichmacherei ist furchtbar. Elite ist doch das Natürlichste auf der Welt. Na ja. Ob ihr das, ähem, Sie, das auch so sehen, weiß ich nicht. Aber ich sehe das so. Man muss da aufpassen. Ich halte alles andere für gefährlich. Unbegabte, alleinerziehende Unterschicht, sage ich nur.«

»Bildungsuntergang? Unterschicht? Was redest du?« Olivia tat mal wieder so, als würde sie die Worte nicht verstehen, und sah zu Alexa. Die verdrehte die Augen und winkte ab.

»Alleinerziehend? Was ist daran so verwerflich?«, wisperte Marie wie unter Schock und wurde nun doch sehr ärgerlich. Sie trat einen Schritt vor, wobei sie mit dem Oberschenkel gegen den Tisch stieß.

»Wie war das?«

»Haaalt, hiergeblieben, Marie.« Olivia packte sie am Arm.

Marie ließ sich festhalten, entsetzt darüber, wie blank ihre Nerven lagen.

So bin ich doch nicht wirklich, oder? Warum rege ich mich so auf? Ruhig! Ganz ruhig.

Marie mochte Schule nicht. Früher hatte sie sie wegen der Hausaufgaben nicht gemocht, jetzt wegen der blöden Mütter. Diese Mutter war genauso hysterisch wie die, die sie in der Klasse ihres Sohnes Florian um sich hatte. Nervtötende Helikoptermütter, die, statt ihren Kindern ein eigenes Leben zuzugestehen, lieber selbst das Leben ihrer Sprösslinge in die Hand nahmen und es selbst lebten.

Statt darüber zu reden, was dem Kind guttat, redete man darüber, was dem Kind schadete. Zucker, Handys, Sonnenlicht. Diese überehrgeizigen Frauen forderten, dass ihre Kinder gleich bei der Geburt mindestens dreisprachig aufwuchsen, Geige, Klavier und Computerprogrammiersprachen beherrschten und mindestens Professor in Oxford wurden.

Wie viele dieser Mütter würden wohl gerne im Unterricht neben ihrem eigenen Kind sitzen? Um all das zu überprüfen, dem ihre Kinder ausgesetzt wurden.

Schätzungsweise hundert Prozent. Hundertzehn Prozent, um sicherzugehen. Da durfte kein falsches Wort gesprochen werden.

Außerdem, was sollte überhaupt für eine Lebensaufgabe sein, das Kind ständig dazu zu ermahnen, das Beste zu sein?

Wozu das Ganze?

Marie nahm einen der Becher, um mit irgendwas ihre Hände zu beschäftigen. Es bestand sonst die Gefahr, dass sie hier jemanden würgen würde.

Und Pippi Langstrumpf und Kalle Blomquist standen bei denen wohl nur zur Dekoration im Kinderzimmer. Niemals dürften die Kinder zu Quergeistern erzogen werden. Freiheit war schön, aber nicht in der Kindheit.

Auch die Hausaufgaben würden Eltern wie diese am liebsten selbst machen. Besonders PowerPoint schien es ihnen angetan zu haben, wie Marie aus Florians Klasse wusste. Was da an Präsentationen in der Schule gezeigt wurde, war meistens so professionell, dass selbst ein blinder Nacktmull erkennen konnte, dass sie nicht von den Kindern erstellt worden waren.

Wozu das Ganze?

Marie wartete, bis Olivia ihren Arm losließ. Dann stürmte sie um den Tisch herum auf Helena zu: »Ich kann nicht fassen, wie Sie es geschafft haben, in diesen wenigen Minuten so ein dummes Zeug geredet zu haben! Haben Sie sich denn mal selbst zugehört? Wie war das? Lehrer arbeiten schlecht, sagen Sie? Wie kommen Sie dazu, so etwas Dummes zu behaupten!« Sie war jetzt im Frontalangriffsmodus, was die Neue sichtlich beeindruckte. Die trippelte ein paar Schritte zurück und stieß gegen einen Aufsteller zum Thema Handyverbot auf dem Schulhof. Marie kochte buchstäblich vor Ärger. Ihr war danach, irgendwas ganz heftig zu Boden zu werfen. Glücklicherweise fiel ihr noch ein, dass sie eben in der Schulküche bemerkt hatten, dass Becher hier Mangelware waren. Also ließ sie sich klaglos von Olivia entwaffnen.

Martin, der junge Verlobte von Alexa, kam mit einem Plastikkorb gespülter Löffel und Becher und betrachtete entsetzt Maries Beinahe-Randale.

Alexa übernahm.

»Sag mal Helena, ist dir vielleicht nicht gut von der vielen Sonne? Du siehst nicht gut aus.« Bevor Marie weiterreden konnte, hatte Alexa sie elegant zur Seite gedrängt und nickte ihrem Freund beruhigend zu. »Nicht aufregen, Marie. Und nicht so laut. Denk an unsere Katrin!«

Die drei Freundinnen sahen zu Katrin, die auf dem Liegestuhl etwas abseits friedlich schlief. Ihr Babybauch wölbte sich beeindruckend.

Sie sah so süß aus. Sie war das perfekte Bild einer Mutter. Der Entbindungstermin war in wenigen Tagen. Zwillinge. Was hatte sie um ihre Kinder gekämpft! Und was würde sie noch um sie kämpfen! Und MIT ihnen!

Marie lächelte augenblicklich besänftigt bei diesem Anblick.

»Ruhig, Marie. Du darfst das nicht so persönlich nehmen. Du bist eine ganz tolle Mama. Wir sind alle ziemlich perfekt als Mamas. Na ja. Ausnahmen gibt es immer«, Olivia tätschelte Marie auf die Wange und sah dann die neue Mutter herausfordernd an.

Marie als Alleinerziehende war ziemlich oft überfordert mit dem, was das Leben ihr so bot, hier in Berlin. Ohne ihre drei Freundinnen Olivia, Alexa und Katrin, samt ihren Männern und Kindern, die sie seit ziemlich genau einem Jahr kannte, wäre sie längst aufgeschmissen.

Wieso, zum Kuckuck, gab es so viele Mütter, die glaubten, sie wüssten ganz genau, wie das Leben ihrer Kinder auszusehen hätte!

»Das, was die da so lauthals von den Lehrern verlangt hat, ist kompletter Unsinn. Wir sind da ja ganz deiner Meinung, Marie! Hör einfach nicht hin.« Alexa gab sich keinerlei Mühe, zu flüstern. Ihr war es generell egal, was andere dachten von ihr.

»Darf ich da mal was zu sagen?«, erschallte es plötzlich. Und für einen Augenblick schien es, als würde die kleine Szene auf dem Schulhof einfrieren.

Es war der Auftritt der Queen of Education. Der Hüterin des Kreidegrals, der Herrin der Hausaufgabenhefte, der Königin der Elternbeiräte: Schulelternbeirätin Frau Carola Rasenfeld, Mutter von fünf Kindern. Die nach eigenen Angaben bestorganisierte Mutter der Welt. Handyhasserin, Zuckerpolizistin und in Fragen der Ernährung (sie trug Kleidergröße 36) offenbar der Meinung, man könnte sich eine Woche locker mit einer Karotte und einem Glas Grünkohl-Smoothie am Leben erhalten.

Diese Frau, für die das Wort Nervensäge erfunden worden war, war im vergangenen Schuljahr der personifizierte Schulhorror in Tüten gewesen.

»Oh, nicht noch die!«, rief Alexa und streckte die Hände ringend zum Himmel. Schon alleine für diese Geste liebte Marie sie. Die drei Freundinnen sahen augenblicklich zu Katrin, die nur wenige Meter neben dem wackeligen Verkaufstisch friedlich auf ihrer Liege unter der Linde weiterschlief. Ihr Babybauch bewegte sich sanft bei jedem Atemzug. Wäre jetzt ein Schmetterling auf ihm gelandet, es hätte das Bild kaum friedlicher machen können. Der Beschützerinstinkt aller Freundinnen war geweckt. Nur Martin stand etwas nutzlos herum und interessierte sich augenscheinlich nur für sein Handy.

»Junger Mann! Ich habe Sie doch eben schon ermahnt bezüglich der Schulordnung zuwiderlaufenden Handynutzung auf dem Schulgelände!«, donnerte die Rasenfeld. Das Auftauchen der Erzrivalin versetzte Martin, aber auch die drei Freundinnen in eine routinierte Alarmbereitschaft.

Martin hielt das Smartphone schnell hinter seinen Rücken.

Frau Rasenfelds Gesicht sah aus wie die personifizierte Tornadowarnung, dann erhellte es sich wie ein Sonnenstrahl über einer Blumenwiese, als sie sich dieser Helena zuwandte:

»Ich höre gerade, dass Sie neu hier an unserer Schule sind? Mein Name ist Rasenfeld, Carola Rasenfeld. Und Sie sind …?«

»Helena Troka.«

»Die heißt wirklich Helena Troja?«, fragte Olivia erstaunt an Marie gewandt.

»Keine Ahnung, ich bin noch völlig beeindruckt, dass die Rasenfeld offenbar das Essen ganz aufgegeben hat. Schau, wie dünn die ist!«, wisperte Marie.

Carola Rasenfeld war eine der bestgekleideten Frauen in Berlin. Das musste man ihr lassen. Aber egal, was sie trug, es sah immer kalt und abweisend aus. Ihr obligatorischer praktischer Businesslook gipfelte in einer Kurzhaarfrisur, die selbst bei einem Orkan nicht verwuschelte. Sie hatte ihre Haarfarbe von Rot in Noch-mehr-Rot geändert. Kein graues Haar zu erkennen. Dazu trug sie eine Brille, die Elton John als »zu auffällig« abgelehnt hätte.

Die blonde Ballettbarbie lachte spitz. »Aber sicher heiße ich so! Durch die auffällige Ähnlichkeit mit dem Namen Troja kam meine Mutter ja erst auf den Namen Helena. Die schöne Helena.« Sie zeigte auf sich.

Alexa ächzte laut.

»Schon klar.« Marie seufzte. Plötzlich erschien ihr selbst die Rasenfeld erträglicher als diese Blondine.

Frau Rasenfeld wirkte irgendwie vertrocknet neben der runden Blonden. Außerdem wirkte die Schulelternbeirätin generell etwas abgespannt vom ewigen Kampf gegen die Bildungslöcher. Diese Helena sah frisch und erschreckend vital, geradezu kampfbereit aus.

»Wo ist bloß ein Holzpferd, wenn man es mal braucht …«, brummte Alexa. »Letztens erst hab ich wunderschöne Prachtausgaben vom Homers Ilias geliefert bekommen!« Alexa konnte in absolut jeder Situation an Bücher denken.

Frau Rasenfeld, die offenbar instinktiv spürte, dass eine Schwächung ihrer Macht in der Luft lag und sie womöglich die Zügel aus der Hand genommen bekam, versuchte sich als großzügige Gastgeberin.

»Das hier sind vier sehr spezielle Mütter unserer Schule, Frau Troka. Sie finden sich noch nicht so zurecht in der Welt der Bildung. Das hier ist Olga. Aus Polen.«

Frau Rasenfeld sagte immer Olga zu Olivia. Das sollte wohl witzig sein.

»Das hier ist Marie Krause. Oh, schon wieder hab ich den Doktor vergessen. Was macht eigentlich der Vater Ihres Kindes? Ach, ich will da ja keine Wunden aufreißen. Und das ist Alexa mit dem kleinen Buchladen. Aber dem Buchhandel geht es ja leider nicht mehr so gut, nicht wahr?«

Alexas wunderschöner Buchladen und noch mehr Alexas Belesenheit und die damit verbundene elegante Schlagfertigkeit, hatten Frau Rasenfeld schon oft geärgert.

»Und wie Sie schon sagten, liebe Frau Troka …«, führte sie mit ihrer schnarrenden Stimme aus.

»Sagen Sie doch Helena«, fiel ihr die Neue ins Wort. Etwas, das die Rasenfeld hasste.

»Oh, gerne. Ich bin die Carola.« Sie rümpfte die Nase.

Die beiden umarmten sich, als hätten sie Angst, sich schmutzig zu machen, und gaben sich Luftküsschen.

»Ich breche gleich zusammen«, zischelte Olivia.

»Pest und Cholera verbrüdern sich.« Alexa legte sich die Hand auf die Augen.

»Himmel hilf. Das kann man ja nicht mit ansehen!« Marie begann, die frisch gespülten Löffel und Kaffeebecher, die Martin angeliefert hatte, laut klirrend auf dem Tisch zu verteilen.

Ein angenehmer Wind fuhr über den Schulhof. Die großen Linden rauschten. Es hätte so schön und so süß werden können, dieser besondere Tag für die Kinder! Klar, solche Elterndienste sind öde, aber mit ihren Freundinnen zusammen wäre wahrscheinlich auch Zwiebelschälen witzig gewesen!

Derweil steigerten sich die neuen besten Freundinnen Helena und Carola in ihr neues gemeinsames Lieblingsthema hinein: »Also diese vier – sagen wir mal - schwierigen (sie dehnte das Wort, als wäre es ansteckend) Mütter hier am Kaffeestand sind wirklich Teil des Problems. In welche Klasse kommt dein Kind, Helena?«

»In die 1a.«

»Oh, sehr ärgerlich. Dann hast du JüL mit der Klasse ihrer Kinder. Mit der 2a«, erklärte Frau Rasenfeld, und ihre Stimme signalisierte tiefe Betrübnis.

»Verstehe. Aber ich bin dennoch sehr begeistert von JüL.« Ballettbarbie machte mit beiden Armen eine seltsame Kreisbewegung.

Oh, JüL. Marie wusste selbst nach einem Jahr immer noch nicht genau, was das überhaupt war.

»Ja, selbstverständlich. JüL ist großartig, Helena.« Frau Rasenfeld klatschte vor pädagogischer Begeisterung in die Hände. »Ich habe einige Infoblätter dazu, die kann ich dir später noch geben. Die habe ich in meinem Büro.«

Es gab zwei Dinge, die Frau Rasenfeld mehr liebte als alles andere auf der Welt: Das waren Infoblättchen und ihr Büro, was einfach nur ein Tisch in einer Ecke des Lehrerzimmers war.

»Ich bin ein absoluter Fan vom Jahrgangsübergreifenden Lernen, Carola! Ich sehe ganz klar die Vorteile der Jahrgangsmischung.«

»Ach, wie schön. Ich hab mir das gleich gedacht, Helena, dass ich da eine Schwester im Geiste vor mir habe!« Die beiden lachten dümmlich und lächelten, als würden sie in eine Zitrone beißen.

Es war klar. Die beiden engagierten Hypermütter konnten sich ganz offensichtlich nicht ausstehen, aber freuten sich doch, in der jeweils anderen eine Mitstreiterin gefunden zu haben.

Gerade als Frau Rasenfeld weitersprechen wollte, ergriff Helena resolut das Wort: »Die Kinder erlernen von älteren Kindern Rituale und Regeln, das ist doch ein phantastischer Ansatz. Und ältere Kinder geben ja so eine starke Orientierung!«, schwärmte sie, und Marie glaubte zu erkennen, dass die Rasenfeld vor Verzückung rot wurde.

Oder wurden die beide doch noch beste Freundinnen?

»Das können aber manche Mütter einfach nicht verstehen, Helena. Die verstehen das Prinzip Leistung gar nicht.«

»Bitte?«, rief nun Katrin vom Liegestuhl herüber und versuchte, die Decke, die Alexa ihr auf die Beine gelegt hatte, wegzustrampeln. Sie versuchte sogar sich aufzusetzen, was etwa so aussah wie ein Käfer, der auf dem Rücken lag und mit den Beinen strampelte.

Olivia war mit wenigen Schritten bei ihr.

»Oh, wie entzückend! Ein Babybauch!« Helena lief um den Kaffeetisch herum und drang so in den inneren Verteidigungsring der vier Freundinnen ein. Die beobachteten das mit Sorge und postierten sich augenblicklich um Katrins Liegestuhl herum.

»Hallöchen! Ich bin Helena. Wie die von Troja (sie lachte affektiert). Mutter von …« Sie streckte ihre perfekt manikürte Hand aus.

Alexa trat dazwischen. Sie konnte nicht verantworten, dass jemand Fremdes ihre schwangere Freundin anfasste.

»Lass mich raten. Von Achill?« Alexa als Leseratte konnte man mit griechischer Mythologie nicht so schnell aus der Fassung bringen.

»Oh nein! Nicht doch!« Helena lachte eingeübt, da sie es offenbar gewohnt war, darüber Scherze zu machen. Sie strich sich durch ihr Haar. Sie sah, und das brachte Marie auf die Palme, wirklich ausgesprochen gut aus. »Mein Sohn heißt Philippos!«

»Philippos? Du meinst Philipp?«, wiederholte Katrin und schien auf einem imaginären Zettel, auf dem sie Namen für ihre Zwillinge notiert hatte, gerade einen energisch zu streichen.

Olivia, die neben Marie stand, mischte sich laut ein. »Hast du den Kaffee schon bezahlt, Helena aus Troja? Das macht dann …« Sie überlegte kurz, lächelte plötzlich und sagte: »Fünf Euro für den Kaffee! In bar bitte schön. Ist etwas teuer, ich weiß, aber ist für einen guten Zweck.«

Bei diesem gigantischen Preis für einen Kaffee zuckte Helena zusammen.

»Wie viel?«

»Der Kaffee im Zug kostet auch so viel!« Marie grinste.

»Das können Sie aber nicht wirklich machen, das ist Wucher! Ein Kaffee … vorhin sagten Sie doch noch …«, versuchte Helena es verzweifelt.

»Fünf Euro fünfundzwanzig. Das Geld kommt natürlich alles den Sportgeräten zugute! Frau Rasenfeld kann dir dazu ja noch ein Kilo Infozettel reichen!« Alexa hielt die Hand auf, die Helena ungläubig anstarrte. Langsam zog sie sich zurück, weg von Katrin. Sie war irritiert. Nicht nur, weil die simple Nachfrage sie gerade fünfundzwanzig Cent mehr kostete.

Frau Rasenfeld hatte gar nicht erst gewagt, Katrin zu nahe zu kommen, denn seit letztem Jahr hatten diese vier Mütter ihr gezeigt, dass man sich besser nicht zu intensiv mit ihnen anlegen sollte. Oder sich zumindest immer einen Fluchtweg offenlassen musste.

»Ich hab da noch mal eine Frage, Troja. Du erwartest also, dass dein Kind, für das du keine Zeit hast, warum auch immer – arbeiten tust du doch bestimmt nicht? –, hier in der Schule erzogen wird?«, fragte Olivia mit einem maliziösen Unterton.

Bei dem Thema Erziehung war die Neue dann wieder voll da.

»Aber sicher doch! Und nein, Zeit habe ich nicht. Ich arbeite für eine Stiftung.«

Marie überlegte, was das für eine Stiftung sein konnte. Irgendwas Elegantes, Teures, Nutzloses. Erbsensuppe bei den »Tafeln« austeilen garantiert nicht. Wenn diese Frau Erbsensuppe aß, dann nur welche mit Lachsstreifen darin und Kaviarhäppchen dazu.

Marie ärgerte sich über den Groll, der in ihr aufkam. Konnte ihr doch egal sein, wie die Frau lebte.

»Stiftung? Wie hübsch! Das macht dann fünf Euro fünfzig.« Alexa hielt ihre offene Hand der zutiefst irritierten Frau wieder unter das spitze Kinn. Alexa ließ sich durch nichts abschütteln, wenn sie sich erst mal verbissen hatte.

»Oh.« Die Neue hielt inne, griff dann eilig in ihr Portemonnaie, sah sehnsüchtig auf die Bio-Milchflasche, die auf dem Verkaufstisch stand, sagte aber nichts und bezahlte endlich. Dann erst sagte sie energisch: »Ja, also, um noch mal auf das Thema Erziehung zurückzukommen, unser Philippos ist etwas direkt, würde ich mal sagen. Aber das kennt man ja von Hochbegabten.« Helena sah auf Marie, schüttelte dann wie im Reflex den Kopf und wandte sich an Frau Rasenfeld. »Wollen wir uns noch ein wenig unterhalten, Carola? Von Ihnen habe ich ja nur Gutes gehört. Und ich würde sehr gerne von den Geräten hören, die ich da gerade mit diesem stolzen Kaffeepreis unterstütze.« Helena floh fast vor den vier Freundinnen zur Rasenfeld hinüber, die weiterhin einen gewissen Sicherheitsabstand gewahrt hatte. Vor allem zu Olivia. Angesichts der nahezu zärtlichen Verbrüderung der Neuen mit ihrer schulischen Erzfeindin blickten sich Alexa und Marie an und verdrehten die Augen.

»Dann ist das ja schon mal klar.«

»So ein nerviger Mist. Rasenfeld bekommt Verstärkung aus Troja«, wisperte Marie und sah durchaus mit tiefer Zufriedenheit, dass die beiden sich schwer verunsichert von dem Verkaufsstand entfernten. Aber nur langsam, tuschelnd und immer wieder zu ihnen zurückblickend, wahrscheinlich, um sicherzugehen, dass keine von ihnen sie verfolgte. Wahrscheinlich fürchteten sie sich am meisten vor Olivia.

»Jetzt haben wir zwei von der Sorte!«, seufzte Marie.

»Pappilappi. Das wurde ja auch schon langweilig mit der Rasenfeld«, kicherte Olivia. Sie legte Alexa und Marie sanft die Hände auf den Rücken. Olivias Akzent, ihre tiefe, selbstbewusste Stimme und die Art, wie sie die Dinge anpackte, waren Weltklasse. Aber auch zum Fürchten. Alexa und Marie grinsten.

Die große Polin wandte sich an die sich langsam zurückziehende Frau Rasenfeld und ihre neue Verbündete.

»Ihr beiden! Geht ihr zwei mal schön die Infoblätter anschauen. Dahinten bei den Mülltonnen seid ihr ungestört!«, posaunte Olivia hinter den beiden Hypermüttern her.

»Bitte?«

»Nicht hinhören, Helena.« Frau Rasenfeld war allerdings längst nicht so entspannt, wie sie tat.

»Aber …« Helena brauchte eine ganze Weile, um zu verstehen, dass sie offenbar uneinnehmbares Gebiet betreten hatte und dass es hier Mütter gab, die ganz anders tickten als sie. Und nicht gleich klein beigaben, nur weil sie die Bühne betrat.

Marie strich Olivia dankbar über ihren Arm.

»Wir wünschen uns einen Achill. Und was bekommen wir? Eine überkandidelte Helena. So ein Pech.« Alexa atmete durch.

Frau Rasenfeld in ihrem perfekt geschnittenen Kleid und den hochhackigen Schuhen griff mittlerweile Ballettbarbie unter den dünnen Arm. »Wir unterhalten uns lieber woanders. Wo wir ungestört sind.«

»Ja, bei den Mülltonnen. Das ist eure Keimkomponente!«, rief Olivia nickend.

»Oli!«, prustete Marie.

»Keimkomponente? Was soll das sein, Carola?«

»Nicht hinhören«, entgegnete diese spitz.

»Unsere Oli meint: Kernkompetenz. Und ich will es so sagen, sie hat immer recht«, legte Alexa nach und bedeutete den beiden mit einer Geste, dass Olivia starke Oberarme hatte.

Die Frauen warfen weitere, beunruhigte Blicke über ihre Schultern, schauten etwas panisch in ihre Kaffeebecher (hatten sie Angst, vergiftet zu werden?) und zogen eilig von dannen.

2

»Verkündigung«

(Tempera auf Holz, 1489, Sandro Botticelli)

»Wer war das denn?«, fragte Katrin müde. Sie schien sich von dem Zwischenfall erholt zu haben und war kurz davor, wieder einzunicken. Es war definitiv zu heiß dafür, zwei Babys mit sich herumzutragen.

Alexa, Marie und Olivia gingen eilig zu ihr hinüber und lächelten sie wie auf Kommando freundlich an. Das Lächeln hatte offenbar therapeutischen Charakter, wie Marie fand, denn Katrin schien den Zwischenfall augenblicklich zu vergessen.

»Keine von uns.« Olivia machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Wie geht es dir, Katrin?«

Alexa orderte ihren jungen Verlobten zum Verkaufstisch. Er sollte jetzt übernehmen, was er widerwillig tat, denn er starrte intensiv auf seinem Handy – jetzt, wo Frau Rasenfeld weg war und von ihr keine nervigen Ermahnungen zu erwarten waren.

Die Schwangere lag etwas schief auf ihrem Liegestuhl. Trotz Sommer hatte sie die Decke wieder auf ihre Füße gezogen, und ihr beeindruckender Babybauch türmte sich gigantisch auf. Auf dem Boden, um den Liegestuhl herum, lagen Berge von Kinderzeitschriften, Erziehungsratgeber und Schwangerschafts-Besserwisser-Bücher.

»Wie hat sie das Zeug denn nun wieder organisiert?«, fragte Alexa besorgt, griff sich den bunten Papierstapel und lief damit schnurstracks Richtung Papiercontainer.

Olivia und Marie setzten sich auf den Boden neben den Liegestuhl und hielten ihre Gesichter in den kleinen Windhauch, der gerade aufkam.

»Heute gibt es wieder keinen Regen.« Marie knotete ihren Pferdeschwanz neu und erwischte wieder nicht die störrischen Strähnen vorn an den Schläfen.

»Nein, sieht nicht danach aus«, seufzte Olivia und pustete in ihr beeindruckendes Dekolleté. Katrin war schläfrig, aber sie zog unter ihrem Po ein weiteres kleines Heftchen hervor. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich zu wenig oder zu viel Obst gegessen habe. Zu viel kann auch schädlich sein, wisst Ihr? Und Allergien verursachen!« Katrin sah unglücklich aus. Sie war zierlich und schlank. Dieser Eindruck wurde selbst durch die Schwangerschaft mit den Zwillingen merkwürdigerweise nicht gestört. Ihre feinen, glatten, hellblonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Und stellt euch nur vor, da hat in unserer Straße jemand seit einer Woche ein Baugerüst aufgestellt. Sicher wollen diese Nachbarn ihr Haus streichen lassen. Wenn ich nun die Dämpfe einatme? Die Babys! Was mute ich denen zu?« Katrin, die sonst so Ruhige, Gefasste, stand kurz vor der Geburt –und was noch anstrengender war: kurz vorm Durchdrehen.

Der Entbindungstermin war in der kommenden Woche.

Marie, Olivia und Alexa samt ihren Männern hatten während der schwierigen Zeit der Schwangerschaft hautnah mitgelitten, und die drei Freundinnen waren mit zu allen Kursen gepilgert, die die verunsicherte Katrin sich ausgesucht hatte.

Eigentlich hatten die Freundinnen gedacht, sie damit zu beruhigen, aber Katrin war der Inbegriff des bösen Beipackzettels, auf dem alle nur erdenklichen Nebenwirkungen standen. Dabei war das nicht ihre erste Geburt! Sie müsste eigentlich viel entspannter sein.

»Beruhige dich, Süße! Du hast alles gegeben, was die Zwillinge brauchen. Du bist die beste Mutter der Welt. Definitiv«, sagte Marie vorsichtig.

Alexa, die vom Altpapiercontainer zurückkam und nur einen kurzen Blick benötigte, um zu sehen, dass Katrin sich schon wieder mit »Paniklektüre«, wie sie es nannte, beschäftigte, war weniger zartfühlend: »Verdammt, Martin! Du solltest doch aufpassen auf unsere Katrin! Sie soll so was nicht lesen. Hab ich schon tausendmal gesagt. Aber was machst du? Du glotzt nur in dein doofes Handy!« Sie entriss ihrem jungen Verlobten das Smartphone und machte Anstalten, es in den Mülleimer zu donnern. In dem Augenblick piepste das Ding. Alexa schob sich ihre Brille zurecht und drehte das Display zu sich. Sie war sichtlich erstaunt, über das, was sie da erfuhr.

»Bitte? Du schreibst dir mit – Jakub? Du? Mit Jakub? Ihr redet nie miteinander, selbst wenn ihr den ganzen Tag zusammenhockt und Playstation zockt!« Alexa zog die Augenbrauen hoch und schaute über ihre Brille hinweg ihren Martin an. »Und worüber redet ihr da? Über eure Spielstände? Na, das hätte ich ja noch verstanden, aber offenbar …« Sie hielt das Display so, als wollte sie es allen auf dem Schulhof zeigen, in Wahrheit wollte sie nur, dass ihre Freundinnen auf eine absolute Ungeheuerlichkeit gefasst waren.

»Du und Jakub, ihr schreibt einander …«, sie machte eine dramatische Pause, »… über Constantin?« Es war immer wieder bemerkenswert, wie schnell Alexa einen Text zu lesen und zu verstehen in der Lage war. Kein Wunder, sie war buchsüchtig.

Ja, buchsüchtig.

Ihre Freundinnen waren nicht sicher, ob das nicht schon schädliche Ausmaße angenommen hatte. Zumindest kriminelle, so viel war klar.

»Wie war das?« Marie bekam fast einen Schluckauf vor Schreck.

»Ah, jetzt wird es spannend!«, sagte Olivia und lachte ihr herrlich lautes Lachen.

Katrin machte ein leises Brummgeräusch. Ob sie wach war oder wieder schlief, war dem nicht zu entnehmen.

Marie, die sich eigentlich nicht gerne neugierig zeigte und lieber allen Menschen ihre Privatsphäre ließ, konnte nicht umhin, das Handy zu greifen und sich selbst einen Überblick zu verschaffen.

»Wirklich! Das glaub ich nicht! Martin, warum schreibst du dir mit meinem Freund über meinen Exfreund?«

»Äh, ja, äh.« Mehr kam nicht. Martin hielt sich an dem wackeligen Verkaufstisch fest, und die Becher klirrten leise.

Das Handy piepste erneut.

»Und was ist jetzt?«, fragte Olivia trocken. Sie hatte kein Problem damit, Martins Nachrichten laut zu diskutierten.

Marie hatte sich das Handy erkämpft und zeigte Alexa den Text.

»Nee, das glaub ich nicht, Martin!«

»Was ist los?« Katrin war zwar völlig übermüdet, aber wieder wach genug, um sich das nicht entgehen zu lassen.

Marie quiekte auf. »Jetzt schreibt auch noch Constantin! Martin? Erklär jetzt sofort, warum ihr drei euch schreibt!« Marie war so verwundert, dass sie sich das Handy von Martin ohne Weiteres wieder abnehmen ließ.

»Immer spannender!«, grinste Olivia, richtete sich zur ganzen Größe auf und postierte sich strategisch günstig hinter Martin, um ihm über die Schulter zu schauen. Der war davon sehr irritiert.

»Ja, das ist so …« Der junge Mann kratzte sich am Kopf.

»Na, da bin ich gespannt, Jungchen«, sagte Alexa streng. Martin lächelte sie verliebt an.

Alexa wurde sofort milde. Das kannten die Freundinnen bislang gar nicht an ihr. Aber die Hochzeitsvorbereitungen hatten sie augenscheinlich ein wenig romantisch werden lassen. Sie beteiligte sich zwar kaum an dem ganzen Dekokram und Liebes-Schnickschnack, wie sie es nannte, aber es tat ihr gut, dass Martin ihr auf diese Weise einen roten Teppich ausbreitete. Daher war Alexa so sanft.

»Aber Martin, mein Schatz, du solltest dich besser von Constantin fernhalten. Der ist eine Nummer zu groß für uns alle. Du solltest lieber in dem Restaurant anrufen und fragen, ob für unsere Hochzeit alles klar ist. Du liebst doch diesen Quatsch mit den Servietten und den Menükarten und was nicht alles …«

»Oh, ja, ich hab mich jetzt für das Rosendeko entschieden. Aber englische Rosen, die mit den vielen Blättern, weißt du. Und ich habe seidene Hussen gefunden, mit kleinen Herzen eingewebt. Das sieht unfassbar gut aus!«

»Wie süß von dir.« Alexa hatte sich tatsächlich ablenken lassen. Olivia und Marie sahen sich erstaunt an.

»Aber was ist denn jetzt mit Constantin?«, schaltete sich Katrin ein. Sie war die Einzige, die Constantin immer und überall willkommen hieß, während Alex und Olivia und vor allem Marie selbst ihn zwar sehr mochten, ja, geradezu anbeteten, aber seine eher destruktive Wirkung auf Maries Privatleben fürchteten.

»Ja, ach, Constantin, ja, das ist so …«

»Soweit warst du schon eben gekommen, Martin«, sagte Oli trocken, verschränkte die Arme vor der Brust und tippte nervös mit ihren hochhackigen Schuhen gegen einen Blumenkübel (von denen es seit der letzten Rasenfeld-Aktion: Unsere Schule soll grüner werden, plötzlich eine Menge gab). Oli sah durchaus amüsiert aus.

Martin sah sich kurz erschrocken zu ihr um.

»Ja, äh. Oh, Kundschaft! Na, so was!« Martin war definitiv völlig überfordert mit der geballten Mütterpower und zeigte daher erleichtert auf den Mann auf der anderen Seite des Kaffeeverkaufstisch, um voller Inbrunst den plötzlich erschienenen Kunden zu bedienen.

Marie runzelte die Stirn.

Die Freundin scharrten sich etwas enger um Katrins Liegestuhl, damit nicht alle zuhören konnten.

»Also, Mädels? Vorschläge? Warum genau schreibt sich Martin mit meinem Freund Jakub?«

Marie fühlte sich etwas kraftlos, und die Erkenntnis, dass das Kernproblem ihres momentanen Lebens, nämlich Constantin (und Vater ihres Sohnes) und ihr nicht ganz einfacher Lebensgefährte, sie auf diese ungeahnte Weise heute auch noch umschwirrten, machte sie geradezu mutlos.

Ihr Ex war leider nicht so wie andere Standard-Ex. Die waren ja in der Regel blöd und fies und man konnte froh sein, nie mehr etwas von ihnen zu hören. Aber Constantin war wundervoll. Außerdem noch: beliebt, aufmerksam, männlich, großartig. Die Auflistung seiner positiven Eigenschaften könnte Tage dauern.

Nur leider war Constantin McLean kein Mann, der eine Beziehung, geschweige denn ein Familienleben, führen konnte. Selbst, wenn er es gewollt hätte. Es war das Einzige, was er nicht konnte. Er war frei und ungebunden.

Und Maries Freund Jakub, ihr Nachbar, war zwar absolut wundervoll, aber leider die zweite Hälfte ihres Lebensproblems. Jakub Krzysztofczyk war alleinerziehender Vater, in Berlin geboren von polnischen Eltern, liebevoll, etwas umständlich und damit umwerfend hilfsbedürftig, aber auch sehr männlich und, ja, sehr, sehr ansehnlich. Blond, jungenhaft, sportlich und unfassbar schöne Augen.

Marie wurde das Herz schwer, als ihr klar wurde, wie tief sie in der Patsche saß mit diesen beiden Männern. Denn die beiden hassten sich gegenseitig aus voller Inbrunst.

Und das machte sie traurig.

Es war nicht so schlimm wie Liebeskummer, nein, das nicht. Sie wollte allerdings nichts lieber als eine unkomplizierte Liebe. Ja, das war ihr größter Wunsch. Unkompliziert. Nicht dauernd alles zeitlich regeln, Kummer heilen, Streit schlichten, Eifersucht abwehren, beleidigte Eitelkeiten umsorgen, Beziehungen reparieren müssen. Warum bekamen sie drei das nicht hin? Was war falsch mit Marie und ihrem Leben?

Und dann war da auch noch Florian. War nicht irgendwas falsch im Leben einer Mutter, wenn das eigene Kind das geringste organisatorische Problem darstellte? Das war doch nicht normal!

»Süße? Alles in Ordnung? Martin hat das bestimmt nicht böse gemeint. Vielleicht ist das völlig harmlos. Männer denken nicht nach. Sie merken nicht, dass eine gewisse Loyalität ab und zu mal ganz angebracht wäre.« Alexa strich Marie mit einem Finger über die Wange.

»Ich würde aber trotzdem gerne wissen, warum er sich mit Jakub schreibt. Und vor allem auch mit deinem wundervollen Ex«, meinte Katrin nachdenklich. Sie suchte mit einer Hand den Rasen unter ihrem Stuhl ab, wo sie ihre Zeitschriften vermutete.

»Ja. Ich auch. Ich gucke mal, ob ich ihm das Handy noch mal klauen kann«, schlug Olivia vor. Aber sie sagte es leise, denn Katrins Augenlider klappten schon wieder zu. So ging die große Blondine auf Zehenspitzen die paar Schritte zum Kaffeetisch, was sehr witzig aussah.

Marie dachte an Jakub. Ein halbes Jahr war sie jetzt mit ihrem süßen Nachbarn zusammen. Er war der Traum einer jeden alleinerziehenden Mutter. Er war nicht nur witzig, charmant und klug, er wusste auch, was es bedeutet, die alleinige Verantwortung für Kinder zu haben. Seine eigenen Kinder, Adam und Natalia, waren zauberhaft; sein kleiner Sohn der beste Freund ihres Florian, und seine süße Teenager-Tochter Natalia war im Grunde mit Marie befreundet. Das zwischen ihnen war weniger eine Tochter-fast-Stiefmutter-Beziehung als eher eine Ältere-Freundin-jüngere-Freundin-Sache.

Perfekt also!

Und dann war er auch echt charmant, süß, ja einfach ein Traum. Der ganz leichte polnische Akzent, der seiner Stimme etwas sehr Männliches gab …

Marie seufzte, als sie an ihn dachte.

Wenn da nur nicht diese Sache wäre, die alle Paare mit Kindern irgendwann vor eine logistisch, soziale, psychologische und erotische Komplettkatastrophe stellte.

Der Sex.

Das Problem damit war:

Es gab keinen.

Man war zwar das perfekte Elternpaar, aber man war kein Liebespaar mehr. Man hatte die Kinder so weit im Fokus, dass man als Elternteil selbst ganz und gar vom Radar verschwunden war. Man war quasi ein körperloses Wesen, das sich ab und zu mal an die Leibeswünsche erinnerte, zu deren sorgfältiger Erfüllung aber keine Anstrengung mehr unternommen wurde.

Das Paar, das aus einem Nur-Jakub und einer Nur-Marie bestand – das gab es nicht mehr. Es gab keinen Freiraum. Entweder war ein Kind krank, unglücklich verliebt oder es war Gewitter. Mann und Frau waren nie alleine.

Das hält man vielleicht ein paar Wochen aus, aber irgendwann ist es zu viel.

Es herrschte also großer Frust im Nachbar-Paradies.

Und Marie hatte große Sehnsucht nach Jakub. Es war, als wäre er auf großer Reise und weit weg von ihr.

Alexa und Olivia scrollten sich durch Martins Handy-Dialoge mit seinen Kumpels, Marie lehnte ihren schwer gewordenen Kopf währenddessen an Olivias Schulter. Katrin war eingenickt, dann schreckte sie ein wenig hoch, griff sich eine Zeitung, die sie offenbar unter ihrem Körper versteckt gehalten hatte, und raschelte damit herum. »Ach, ich sehe mir solche Fotos immer so gerne an. Schaut mal.« Katrin wunderte sich nicht, dass ihre Freundinnen neben ihrem Liegestuhl dicht gedrängt auf ein Handy starrten. Und dass auf der anderen Seite des Liegestuhls Martin beleidigt brummelte.

»Schaut doch mal! Diese Royals. Schaut euch nur an, wie schön die Kate immer aussieht. Und das Baby, seht nur!« Katrin wedelte sich mit der Zeitung Luft zu, während sie darin las – was komisch aussah.

Woher zum Kuckuck hatte sie nur diese Unmengen an Zeitschriften? Hatte sie einen geheimen Lieferservice aufgetan?

Immerhin waren es keine Babybücher mehr. Die regten sie nur auf.

»Was für eine Kate?«, fragte Alexa irritiert und zeigte dabei energisch auf das Display, was Olivia mit einem Augenrollen kommentierte.

»Aber Alex! Kate! DIE Kate! Die schöne Frau von dem englischen Kronprinzen. Die sah schon zwei Stunden nach der Geburt ihrer Kinder so toll aus. Hier ist ein Foto, schaut!« Katrin schien Tränen in den Augen zu haben. »Und ich sehe so furchtbar aus! So furchtbar.«

Olivia packte die Zeitung und warf sie über eine Hecke, die das kleine Rasenstückchen begrenzte. Es war zu hören, dass sie da offenbar einen ahnungslosen Passanten getroffen hatte. Oli störte das nicht.

»Nun hör endlich auf! Mach dich nicht verrückt, Katrin! Süße, du bist doch unsere kleine Prinzessin«, säuselte Olivia und strich zur Verdeutlichung die kleine Decke, auf der Katrin lag, glatt.

»Diese blöden Promis!«, brummelte Marie.

»Ja, die gaukeln der Welt das nur vor! Und wir fühlen uns dann alle schlecht, weil wir nicht so ein Leben wie die führen. Dabei leben die ganz furchtbar. Immer fotografiert, immer verfolgt. Grauenhaft«, warf Alexa energisch ein. Sie war diejenige in ihrer Gruppe, die Katrin am nächsten stand und sie immer ein vor der Welt wenig beschützte.

»Und Drogen! Aber die haben eben auch das Geld dafür!«

»Oli!«

»Ich mein ja nur!«

»Ob die jemals richtig glücklich verliebt sind?«, fragte Marie vorsichtig, und die Blicke ihrer Freundinnen richteten sich sofort höchst besorgt auf sie.

Marie wusste, dass ihre Freundinnen immer ein wenig Sorge hatten um sie. Sie neigte ein wenig zu Liebeskummer. Irgendwie war es, als wollte das mit den Männern nie so ganz klappen.

»Ob die Promis heimlich so Zeitungen haben wie wir? So mit Fotos von normalen Menschen?«, fragte Alexa eilig.

»Was seid ihr für Freundinnen! Ich will noch die Fotos von der Hochzeit von Harry und Meghan angucken!«

»Nix da!« Olivia drückte Katrin sanft zurück in den Stuhl. Das fehlte noch, dass sich die kugelrunde Schwangere mit der superschlanken, royalen Braut (ach, das Kleid war aber wirklich schön gewesen!) von Prinz Harry verglich!

Ein neues Thema musste her. Das Handy war ausgelesen, und man gab es dem schmollenden Besitzer zurück.

Sie suchten offenbar alle nach einem neuen Thema.

»Oli, was ich dich schon seit letzter Woche fragen wollte: Wo ist eigentlich dein Freund?« Marie meinte den reizenden jungen Mann, der bei Oli gelebt und immer ganz entzückend auf die Kinder aufgepasst hatte, der kein Wort Deutsch sprechen konnte, aber immer zur Stelle gewesen war, wenn man ihn brauchte.

Oli war keine Frau für traditionelle Beziehungen. Nach zwei Scheidungen lebte sie mit dem Mann zusammen, den sie gerade um sich haben wollte. Ob jung, alt, reich, arm, hübsch oder hässlich.

»Oh, hab ich nicht gesagt? Hab ihm vor zwei Wochen freigegeben.«

»Wofür hast du ihm freigegeben?« Katrin schreckte hoch. Alexa wollte sie stützen, aber Katrin zeigte energisch an, dass sie das nicht wollte.

»Von mir natürlich, Schätzchen.«

»Von dir?« Die drei Freundinnen sahen Olivia entsetzt an. Katrin legte schützend ihre Hände um ihren gigantischen Bauch. Selbst Martin, der sich am Kaffeestand langweilte, weil niemand mehr Kaffee haben wollte, starrte die große Blonde erschrocken an.

Oli sagte das so leicht dahin. Aber das Erschreckende war, sie meinte das auch so leicht.

»Ja, ich habe es geschlossen. Er ist so jung. Er soll mal eine Frau in seinem Alter probieren.«

»Geschlossen? Du meinst, du hast Schluss gemacht?«

Olivia winkte ab. Es machte ihr nichts aus. Sie war so, das war nicht gespielt.

»Ich brauch mal ein bisschen Zeit für mich. Männer sind so zeitintensiv.«

»Und bist du traurig?«, fragte Marie.

»Traurig? Pappilappi! Es ist nichts Ernstes, es war doch nur ein Mann!«

Marie nickte etwas beklommen. Alexa lachte lauthals.

»Außerdem haben wir ja bald die Hochzeit von Alexa und Martin. Das macht mir mehr Spaß, als einem Mann hinterher zu räumen!« Olivia strahlte.

Alexa strahlte zurück, war aber augenblicklich genervt, weil Martin wieder auf sein Handy starrte.

»Was schreibst du meinem Freund denn jetzt?«, brummte Marie.

»Äh.«

»Sag schon.«

»Na ja.«

Alexa stellte sich vor Martin und sah ihn ernst an. Er ergab sich sofort. »Ich soll Jakub Bescheid sagen, wenn Constantin auftaucht.«

»Warum?«

»Weil er dann sofort anrückt.«

»Himmel! Klingt ja dramatisch!« Olivia lachte. Vielleicht wollte sie Marie ablenken. Klappte nicht.

Marie machte den Mund auf. Und dann wieder zu. Dazu fiel ihr nichts ein.

Katrin übernahm:

»Wie? Warum sollte Constantin kommen? Sein Sohn ist schon in der zweiten Klasse, er wird heute überhaupt nicht eingeschult«, sagte Katrin. »Marie hat mit ihm Schluss gemacht und ist mit Jakub überglücklich. Warum sollte einer der beiden Männer zur Einschulung auftauchen?«

Marie wurde rot, drehte sich zum Verkaufstisch um und begann als Übersprungshandlung, die Löffel zu sortieren. Eine Weile sagte keine der Freundinnen was, sie sahen nur verstohlen auf Katrin, deren müde Augen sich schon wieder schlossen.

»Sag, Marie! Was ist los? Mit Jakub?« Olivia stand dicht neben ihr. Auch Alexa war plötzlich bei Marie und griff sie am Arm, um das sinnlose Aufreihen der Kaffeelöffel zu unterbinden.

»Und wieso Constantin? Was ist los? Hast du Constantin irgendwie Hoffnung gemacht?«

»Ich? Nein. Ich bin mit Jakub glücklich!« Maries Kopf schien schier zu platzen vor Röte.

»Gelogen!«

»Und dazu noch sehr schlecht gelogen. Was ist los?«

»Aber du betrügst Jakub nicht, oder?«

»Niemals. Wirklich nicht!« Marie sagte die Wahrheit.

»Sag, was los ist.«

»Ja. Sag schon, mit uns kannst du über alles reden.« Olivia schob Marie zurück in die Nähe von Katrins Liegestuhl. Marie musste sich zu Füßen der Hochschwangeren setzen und wurde dann umringt.

»Ist das hier ein Freiluft-Gerichtssaal? Ich hab nichts Falsches gemacht!«

»Um so besser! Also, raus damit.«

»Ach, Schätzchen, ein bisschen Fremdgehen hat aber noch keiner Beziehung geschadet, wenn man es richtig macht.«

»Oli!«

»Nein. Ich hab nicht … Ich habe nur … Oh, Mann. Ich hab vielleicht ein kleines bisschen meinem Ex gegenüber angedeutet, dass es mit Jakub nicht so dolle läuft gerade.«

Die beiden Freundinnen nickten aufmunternd, damit sie weitersprach.

»Na ja. Es ist einfach so … Wie soll ich das sagen … wir haben nie Zeit für, für, na, für uns eben so.« Marie verknotete ihre Finger derart ineinander, dass sie kurz überlegte, ob der Knoten je wieder zu lösen wäre. »Es kommt immer was dazwischen, ihr wisst schon. Kind schläft nicht. Und wenn es schläft, ist man selbst komplett ausgeknockt. Oder es ist plötzlich Gewitter. Da bekommt das Kind Angst, die nur in Mamas Bett erträglich bleibt. Oder … keine Ahnung. Tja. Und Jakub ist deswegen schon ziemlich gefrustet, und ich bin auch gefrustet, weil Jakub gefrustet ist.«