Ziemlich kranke Männer - Hanna Simon - E-Book

Ziemlich kranke Männer E-Book

Hanna Simon

4,0

Beschreibung

Als Medizinische Fachangestellte kennt Anna sich bestens mit kränkelnden Männern aus und kann selbst ihrem Freund Béla helfen, der besonders schwere Symptome der Männergrippe zeigt. Als Annas Onkel überraschend stirbt, fährt sie mit Béla zur Beerdigung in die Pfalz. Dort stellt sich heraus, dass das Weingut ihres Onkels hoch verschuldet ist und die Zwangsversteigerung droht. Doch Anna gibt nicht so einfach auf und kann sich auf die Unterstützung der Dorfgemeinschaft verlassen, die sie herzlich aufnimmt. Und dann ist da noch der geheimnisvolle Manuel. So gar nicht wehleidig bringt er Anna völlig aus dem Konzept ...

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Über Hanna Simon

Hanna Simon, 1970 in Bielefeld geboren, arbeitete lange Zeit als Projektleiterin. Deswegen schafft sie es auch immer, die großen und kleinen Familienkatastrophen zu ignorieren, abzuwenden oder aufzufangen – und das meistens sogar fast perfekt. Mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen lebt sie in der Nähe von Frankfurt am Main.

Informationen zum Buch

Schatz, es ist nichts Ernstes, es ist nur tödlich …

Anna kennt sich bestens aus mit kränkelnden Männern. Als Medizinische Fachangestellte bekommt sie selbst die härtesten Fälle der »Männergrippe« in den Griff. Auch privat lässt sie das Thema nicht los, denn Freund Béla zeigt besonders hartnäckige Symptome. Voll von Anna umsorgt, lässt er es sich bei ihr gut gehen. Als Annas Onkel überraschend stirbt, fährt sie zur Beerdigung mit Béla im Gepäck auf dessen Weingut in der Pfalz. Das ist zum Leidwesen aller hoch verschuldet. Die Familie kann das Erbe nicht antreten und es droht die Zwangsversteigerung. Anna kümmert sich um alle und alles. Nur Béla fühlt sich vergessen in dem ganzen Chaos. Er ist empört, natürlich sterbenskrank und entwickelt sich zunehmend zum Klotz am Bein. Anna hat genug von Béla und seiner Männergrippe. Sie versucht hier schließlich ein Weingut zu retten. Zum Glück kann sie sich auf die Unterstützung der Dorfgemeinschaft verlassen, die sie herzlich aufnimmt. Und dann ist da noch der geheimnisvolle Manuel. So gar nicht wehleidig bringt er Anna völlig aus dem Konzept …

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Hanna Simon

Ziemlich kranke Männer

oder: Schatz, es ist nichts Ernstes, es ist nur tödlich

Roman

Inhaltsübersicht

Über Hanna Simon

Informationen zum Buch

Newsletter

1 Krankheit

2 Ansteckungsgefahr

3 Krankheitssymptom

4 Krankheitsverlauf

5 Inkubationszeit

6 Fieber

7 Kreislaufkollaps

8 Virusinfektion

9 Gliederschmerzen

10 Komplikationen

11 Rekonvaleszenz

Impressum

Für den Arzt oder Apotheker

1Krankheit(Funktionsstörung eines Organs, Körperteils oder des geistigen, seelischen Wohlbefindens)

Männer? Ich fand eigentlich immer schon, Männer sind eine gute Erfindung, wenn nicht sogar die beste Erfindung, seit es … also seit … ist ja auch egal. Sie sind eine gute Erfindung.

Obwohl, na ja, vielleicht sind Männer nicht wirklich eine Erfindung, weil niemand sie sich extra ausgedacht hat. Also wir Frauen, wir wären dann ja die Erfinder. Wir bauen zwar die Männer nicht, aber wir stellen sie doch irgendwie her oder brüten sie aus.

Also Erfindung ist vielleicht nicht der Begriff, den ich wirklich gesucht habe. Mal überlegen …

Wie könnte man Männer sonst umschreiben?

Entdeckung? Nein. Eine Entdeckung würde ich Männer nun nicht gerade nennen …

Männer sind halt …

Ja, was genau sind Männer eigentlich?

Was ich gerne bei so schwierigen Gedanken tue, ist, da ganz sachlich heranzugehen.

Also wir stellen uns einfach mal dumm und fragen: Was macht einen Mann aus?

Aus molekularbiologischer Sicht unterscheidet sich der Mann von der Frau durch das Chromosomenpaar XY in den Geschlechtschromosomen.

Hm. Das macht mich natürlich sehr nachdenklich, dass der Unterschied zwischen Mann und Frau wirklich nur so klein ist. So ein Chromosom ist echt winzig.

Ein kleines Chromosom für uns, eine große Auswirkung für die Menschheit. Ist es das, was Mister Armstrong damals auf dem Mond meinte?

Okay, vergessen wir diesen Gedanken einfach wieder. Irgendwie kommt man da nicht weiter mit Dummstellen.

Neuer Versuch: Männer sind groß. Und stark.

Gemessen an was? An Frauen?

Also gut, Männer sind groß oder klein. Sie haben Bart aber öfter mal nicht, sie sind klug oder strohdoof, sie sind …

Stoppstoppstopp.

Sackgasse.

Also Männer haben nun mal dieses Ding. Na, ihr wisst schon, einen Penis. So jetzt ist es raus. Penis. Das ist der Unterschied.

Wobei besagtes Teil das Verhalten eines Mannes nicht wirklich erklärt. Das Ding dürfte eigentlich nicht derart hinderlich sein, dass sein Träger sich deshalb merkwürdig verhält. Eher den Gang könnte es entscheidend verändern (weil ich mir das sehr störend vorstelle, immer so was vorne in der Hose zu haben, was so rumhängt), aber ob da gleich das ganze Verhalten drunter leidet? Oder sehe ich das zu streng?

Also das Tragen erklärt noch nichts.

Ich finde allerdings wirklich, dass Männer manchmal extrem merkwürdige Sachen machen. Auch gemeine.

Würdet ihr sagen, dass alleine mit dem Tragen eines nicht allzu großen Körperzusatzes im Schritt erklärbar wird, was Männer alles tun? Autorennen gucken, Bier aus Flaschen trinken, rülpsen, im Stehen pinkeln? Oder zum Beispiel Untreue? Oder schlichte Herzlosigkeit? Ignoranz und Überheblichkeit? Männerverherrlichung und Frauenverachtung?

Ich glaube, da muss entschieden mehr dahinterstecken als nur so ein Ding. Hoffe ich zumindest. Denn den ganzen Ärger mit Männern nur aus Versehen zu haben, weil die Natur gewürfelt hat – das wäre eine Enttäuschung. Ich wäre zufrieden mit einer Erklärung, in der es um so was wie einen Kurzschluss oder, noch besser, um eine Krankheit geht.

Vielleicht ist Mann eher eine ganze Lebenseinstellung. Ein Plan. Eine Lebensform?

Himmel! Warum kann man Mann nicht erklären?

Doch lieber wieder die Chromosomen rausholen?

Verlassen wir mal die rein sachliche Ebene und gehen über in den Gefühlsbereich.

Männer sind süß und sensibel und man muss ihnen immer durch den Tag helfen, und dafür muss man sie einfach liebhaben. Sie sind manchmal nützlich und manchmal eine Zeitverschwendung.

Na gut, diese Definition ist nicht belastbar. Was machen wir mit den komplett unsüßen Männern?

Versuchen wir es anders herum: Was sind Männer definitiv nicht?

Robust? Nein, auf keinen Fall. Sie sind eher schützenswert, ja genau. Männer leiden zum Beispiel manchmal an Schnupfen, und dann geht für sie aber auch gleich die Welt unter.

Das ist es! Die Männergrippe!

Beim Thema Krankheit treffen wir auf des Pudels Kern.

Während also die Süßen an Männerschnupfen leiden, warten wir Frauen verzweifelt auf ihren Rückruf, denken, die Männer hätten Schluss gemacht mit uns oder uns ganz und gar vergessen, befürchten, sie würden uns plötzlich hassen und eine andere lieben oder sonst was.

Und wenn sie dann, irgendwann, wieder anrufen und wir fragen, was denn los war, dann war es nur Schnupfen. Das freut uns aber nicht. Nicht, weil wir so kaltherzig sind, sondern weil das ja wohl eine absolute Frechheit ist! Nicht anzurufen wegen Schnupfen!

Und das macht uns natürlich fuchsteufelswild. Was bilden diese Männer sich ein? Und dann machen wir Schluss.

So gesehen, stimmt es: Wenn Männer nicht anrufen, bedeutet das, es ist Schluss. Bei Schnupfen besonders.

Damit ist der Weltuntergang geklärt. Das hilft uns aber jetzt bei der Definition Mann auch nicht weiter.

Wie ich zu dieser schwierigen, philosophischen Frage überhaupt komme?

Weil es wirklich ein Schnupfen war, die Männergrippe, die den Stein ins Rollen brachte.

2Ansteckungsgefahr(Risiko durch Eindringen, Verbleib und Vermehren von Krankheitserregern)

Ich habe in jenem Januar, mit dem meine Geschichte beginnt, in der Praxis von Allgemeinmediziner (also Hausarzt) Doktor Zobel gearbeitet. Das ist auch so ein süßer, sensibler Mann. Auch der konnte das mit dem Süßsein nicht so zeigen, er war nämlich oft schlecht gelaunt.

Das Wetter draußen hatte sich trotz Weihnachten noch nicht entscheiden können, den Winter in seiner ganzen, weißen Pracht zu zeigen. Es war grau, regnerisch und dunkel, egal um welche Uhrzeit. Es war, als habe das Wetter ebenfalls schlechte Laune. Die Bäume sahen alle aus wie tot (oder kurz davor), auf den Bürgersteigen lagen noch die Reste von den blöden Silvesterböllern (geschätzte Menge: 43.000 Tonnen, Kosten: ca. 103,6 Millionen Euro, häufigste Verletzung: kaputte Hand, weil der Böller als Mutprobe extra lange festgehalten wurde – kommen eigentlich nur Männer drauf). Die einzig Nüchternen auf den Straßen waren die fröhlich orangefarbenen Herren von den Stadtwerken Frankfurt mit ihren Kehrmaschinen.

Bei uns in der Praxis war am ersten Öffnungstag im neuen Jahr der Teufel los gewesen, denn über die Feiertage hatten sich offenbar alle verfügbaren Krankheitskeime unserer Patienten bemächtigt. Und die, die noch gesund waren, hatten zumindest Zweifel bekommen, ob es sie nicht auch bald erwischen könnte, und so waren gefühlt ALLE unsere Patienten auf einmal gekommen. Ohne Termin, versteht sich.

Es ist nicht so, dass ich mich nicht freue, unsere Patienten zu sehen, aber doch bitte nicht alle auf einmal!

»Anna? Anna? Wo sind Sie?«, brüllte mein Chef Doktor Zobel in einer Tour. Brüllen konnte er unglaublich gut. Ich vermute, ärztliches Brüllen ist ein Studienfach mit Master- oder Bachelorabschluss. Es gibt verschiedene Brüll-Gründe für einen Doktor. Bei meinem Chef waren es zum Beispiel, wenn der Herr Mediziner seine Brille nicht fand; wenn sein Drucker nicht machte, was er wollte, oder das Rezept von Walter Kleinschmöller gefressen hatte.

Im Grunde war es einerlei, weshalb Doktor Zobel brüllte, denn egal wie schnell ich in das Behandlungszimmer rannte, es hatte sich unter Garantie entweder erledigt oder es war eine weitere Katastrophe hinzugekommen, die die erste überlagerte.

Unser Chef war Mitte vierzig, und er führte eine wirklich gut gehende Praxis in der Innenstadt von Frankfurt, wobei er allerdings zum Quartalsende hin regelmäßig das große Heulen bekam. Weil er nach eigenen Angaben nicht genug Umsatz machte. Und dann mussten wir ein paar Patienten anrufen, um mit ihnen noch Termine zu machen. Dabei hatte Doktor Zobel eigentlich genug zu tun, weshalb er auch drei Arzthelferinnen beschäftigte. Und zwar Judith, Vicky und mich.

Selbstverständlich nennt man Arzthelferinnen nicht mehr Arzthelferinnen, genauso wenig wie Kindergärtnerinnen heute noch Kindergärtnerinnen sind. Man hat dafür jetzt ganz tolle andere Bezeichnungen.

Das alte, schmale Gehalt ist übrigens geblieben.

Also mein (schöner) Beruf heißt Medizinische Fachangestellte.

Genau, wir sind die, die bei jedem eurer Arztbesuche für die gute Stimmung im Vorzimmer, für die tolle Organisation im Behandlungsraum, für jede Terminvergabe und gerne auch für die unangenehme Spritze zuständig sind.

Wir sind auch die, die die schlechte Laune unseres Chefs aushalten, kleine Pannen ausbügeln müssen und das tägliche Chaos in einer Arztpraxis bändigen. Bei unserer Anstellung haben wir zugesagt, dass wir keine Scheu vor dem Kontakt mit anderen Menschen haben, dass wir pünktlich sind, im Notfall Blut sehen können, uns nie übel und nichts zu viel wird. Wir versprachen, stets auf Zack zu sein und abwechslungsreiche Aufgaben mehr als alles andere auf der Welt zu lieben.

Was uns allerdings nie, absolut nie jemand gefragt hat, war, ob wir Männergrippe heilen können.

Kein Wunder.

Denn Männergrippe kann eigentlich niemand heilen.

Wie gesagt. Wir waren zu dritt.

Judith war die Älteste und hatte schon zwei Kinder. Sie sah aber eigentlich nicht älter als wir aus, weil sie so herrlich lachen konnte. Sie hatte strohblondes Haar, ein Lachen wie aus einem Astrid-Lindgren-Buch und Hände, die fest zupacken konnten.

Vicky war klein und zart, mit langen, dunklen Haaren und langen Wimpern, die zwei herrlich blaue Augen einrahmten. Wenn ein Patient in Panik zu geraten drohte, musste Vicky ihn nur lange ansehen und der Verängstigte beruhigte sich wieder.

Und die Dritte im Bunde war ich. Anna Hälfer. Dreißig Jahre alt, seit zwei Jahren in einer Beziehung, Expertin dafür, wie man alles richtig macht, und gleichzeitig führend darin, es doch nicht richtig zu machen. Dazu ausgestattet mit einem für unsere Familie typischen Helfersyndrom. Das Hälfer-Helfersyndrom (siehe hierzu auch bald den Eintrag im Pschyrembel - DEM medizinischen Wörterbuch.) Ja, mit meinem Namen verhält es sich äquivalent zum Anatomiebuch von Mister Gray. Der gab ja bekanntlich den Namen für die Serie Grey`s Anatomy (aber halt mir e).

Wir drei waren sozusagen Doktor Zobels rettende Engel aus dem Vorzimmer, allerdings nicht in Weiß. Auf Wunsch von Doktor Zobels nerviger Frau mussten wir in aprikosenfarbenen Poloshirts die Praxis mit mobilen Farbtupfern verschönern.

Mein Chef war ein guter Arzt, ganz sicher, aber eben nicht ganz stressfrei in der Handhabung. Natürlich wäre es schön gewesen, wenn Doktor Zobel nicht so leicht aufzuregen gewesen wäre. Ja, ganz toll hätte es sein können, wenn er in der Lage gewesen wäre, etwas zartfühlender mit Personal und Patienten umzugehen, aber das Leben ist nun mal kein Schneckenschubsen.

Wenn Doktor Zobel zufrieden und somit friedlich seiner heilenden Arbeit nachging, war es unsere Aufgabe im Vorzimmer, die Termine abzustimmen, die Krankenakte parat zu halten, Unterlagen von anderen Ärzten entgegenzunehmen oder weiterzuleiten, den Schriftverkehr im Griff zu haben und vor allem, den Patienten zu umsorgen. Besonders dann, wenn das Wartezimmer voll und die Zeit lang wurde.

So weit der Plan.

Unsere Patienten waren im Großen und Ganzen ganz liebe Menschen, die mit ihren Sorgen und Gebrechen zu uns kamen, die ein bisschen Aufmunterung brauchten und denen wir ja auch in der Regel helfen konnten. Einfach ein paar Scherze gemacht, während man Herrn Schäfer das Blut abnahm, Frau Hindemitt den Schirm hinterher trug oder Frau Wagenknecht die Abrechnung der Krankenkasse erklärte.

Medizin ist wunderbar, aber ein paar freundliche Worte und ein paar liebe Gesten können Wunder bei der Unterstützung des Heilungsprozesses bewirken.

Sobald Doktor Zobels Stimmlage allerdings einen gewissen Härtegrad erreicht hatte, weigerten sich Judith und Vicky standhaft, in seine Nähe zu geraten, also blieb es immer an mir, dem erfolgreichsten und bekanntesten Allgemeinmediziner (nach Angaben seiner Frau) von ganz Frankfurt zu assistieren. In solchen zobelschen, medizinischen Stimmungstiefs war ich es, die das Rezept noch einmal ausdruckte, die Brille wiederfand, den verschütteten Kaffee aufwischte oder die plötzlich verschwundene Krankenakte hervorzaubert (meist aus der Ritze zwischen Tisch und Schrankwand).

Kein Problem.

Das machte ich gerne. Ich kann gut mit Menschen umgehen. Vielleicht sogar besonders gut mit den schwierigen und sensiblen. Ich mag es einfach, netten Leuten zu helfen. Ich habe mal gelesen, dass man deswegen nicht notgedrungen gleich ein guter Mensch sein muss, es ist einfach eine Art Hobby und das Gutsein nichts anderes als die Befriedigung eines egoistischen Bedürfnisses. Schade, ich bin also kein Engel.

Abgesehen von meiner Sozialkompetenz kannte ich die Namen aller Patienten und die meisten ihrer Krankheitsbilder und Diagnosen auswendig. Ich habe grundlegende technische Kenntnisse von Druckern, dazu (und darauf bin ich besonders stolz) verfüge ich über ein umfangreiches Wissen alle meteorologischen Phänomene Mitteleuropas betreffend, so dass man mit mir ein profundes Gespräch über das Wetter führen kann. Außerdem kann ich mir sensationell gut merken, was alles in unserem Alltag ungesund und umweltschädigend ist. Aber das nützt mir nichts, denn ich verzichte deswegen nicht unbedingt auf diese Dinge.

Nein, ich bin also auch kein blauer Engel.

Vicky war führend, was die Kenntnis von Peinlichkeiten seitens diverser Politiker betraf, vornehmlich jener, die westlichen Großmächten vorstanden. Und sie war über alle Verkehrsunfälle im südlichen Hessen und alle Flugzeugabstürze weltweit informiert.

Judith hingegen wusste alles über Promis und deren momentanes Liebesleben. Dazu brillierte sie mit regionalem Fachwissen, welches Geschäft wo in Frankfurt neu aufgemacht hatte und ob es sich lohnte, da hinzugehen.

Wir waren also das perfekte Team.

Wir konnten alles, wir waren immer da, immer adrett, immer gut gelaunt und wussten einfach alles: »Ach, Kindchen, wie heißen noch diese Pillen?« - »Meinen Sie, ich vertrage vielleicht keine Milchprodukte?« - »Wie komme ich am schnellsten zur Zeil« - »Was schenke ich meinem Gatten bloß zum Geburtstag?« - »Wie heißt denn noch der Laden da die Straße runter?« - »Wie wird das Wetter nächste Woche?« - »Ach, Kindchen, Sie wissen aber wirklich alles, zauberhaft«.

Echt wahr. So ging das den ganzen Tag.

Außer …

es ging um Männer.

Meine Güte, man kann ja nicht alles wissen! Wir verstanden kranke Männer nicht wirklich. Wir konnten sozusagen auf diesem schwierigen Spezialgebiet nur Symptome bekämpfen, nie die Ursache. Und da unsere Unkenntnis so immens war, betraf es nicht nur die kranken männlichen Patienten, sondern auch den behandelnden kranken Arzt und dessen schlechte Laune gleich mit.

Denn schlechte Laune ist auch irgendwie eine Krankheit.

Es steht fest: Der Liebe Gott schuf den Mann und dachte, der wäre perfekt - bis der die Grippe bekam. Nachdem der Liebe Gott einfach kein Gegenmittel gegen diesen Männerschnupfen finden konnte, erschuf ER ein Allheilmittel. Die Frau.

»Anna? Anna? Kommen Sie mal! Ich kann hier doch nicht alles alleine machen! Ich brauche Assistenz!«, brüllte also mein schlecht gelaunter Chef.

Leichter gesagt als getan, wenn man gerade einem nervösen Herrn Ehlert nur mühsam dazu überreden konnte, nicht ohnmächtig zu werden, während man ihm die Nadel in die Armbeuge bohrte. Judith übernahm den bleichen Patienten (Himmel, es sah so weiß aus, als hätten wir ihm sieben Liter Blut abgenommen!), und ich eilte freundlich lächelnd vorbei am Wartezimmer zu meinem Boss.

Ich war etwas überrascht, als der mich in das Behandlungszimmer bat, dort aber niemand saß. Der Doktor schloss eilig die Tür hinter mir.

»Anna!« Wenn er meinen Namen so energisch aussprach, klang es, als würde er Ebola den Krieg erklären. »Anna! Wie viele Patienten sind es noch?«

»Ich glaube drei. Frau Middelkötter, Herr Treiser und …«

»Ja, ja, so genau wollte ich es nicht wissen. Aber warum haben Sie nicht gleich heute Morgen dafür gesorgt, dass nicht so viele kommen? Sehen Sie denn nicht, was hier los ist?« Er breitete die Arme aus. Was alles heißen konnte.

Ich kannte das allerdings. Das waren Fangfragen. Ich sah mich alarmiert im Zimmer um.

Sauberer, aprikosenfarbenen Teppich und rechter Hand große Fenster mit den obligatorischen Vogelschutz-Aufklebern (damit die Tauben nicht alle naselang dagegenknallten – Frau Feldmann hätte deswegen beinahe einen Herzinfarkt bekommen). Daran anschließend eine Wand mit einem maßgefertigten Bücherregal, in dem furchteinflößende Fachbücher über Horrorkrankheiten aufgereiht waren. Davor standen fröhlich-bunte Fotos vom jüngsten Familienurlaub (Australienreise, ein Drama, weil er das falsche Hotel gebucht hatte). Judith hatte die Fotos von Sydney, natürlich mit der Oper darauf (kann man auch in einem Möbelhaus kaufen, aber egal) rahmen lassen müssen.

Davor ein Schreibtisch mit elegantem Bildschirm und Computer, dazu farblich passend der Drucker, dazwischen noch mehr Fotos von weiter zurückliegenden Mega-Urlauben (Phuket – »Thailand ist völlig überlaufen«, Cookinseln - »zum Schnorcheln sind da zu viele eklige Quallen«, Chichén Itzá - »völlig überbewertete Ruinen«. Ja, seine Frau hat immer was zu meckern). In der gegenüberliegenden Ecke des Behandlungsraums, wie nebensächlich, eine Personenwaage, eine Liege und eine kleine Umkleide mit aprikosenfarbenem Vorhang.

Alles wie immer. Alles sauber, sehr ordentlich, keine Krankenakte runter gefallen, und seine geliebte Yuccapalme, die er bereits in seiner Studentenbude in Düsseldorf gehabt hatte (diese Geschichte erzählt er stündlich), war vor kurzem erst von Judith umgetopft und mit einem farblich abgestimmten aprikosenfarbenen Übertopf (schweineteuer - weil Farbe als Übertopf doch eher ungewöhnlich) versehen worden.

Ich war nicht sicher, worauf der Doktor hinauswollte.

Mein Chef wurde ungeduldig und trommelte mit seinen schlanken Fingern auf die Tischplatte seines gigantischen Holztisches (sah aus wie ein Erbstück, war es aber nicht, sein Vater war Landwirt).

»Na, sehen Sie es denn nicht?« Er zeigte auf sein Gesicht. Genauer gesagt, er deutete auf seine Nase.

Doktor Zobel sah eigentlich gut aus, das musste man fairerweise zugeben. Dunkelhaarig, mit einem absolut topp gepflegten Hipsterbart (den wir natürlich alle albern fanden). Sein gutes Aussehen war praktisch, denn viele der weiblichen Patienten kamen deshalb freiwillig zu uns und nahmen seine direkte Art und vor allem seine Stimmungsschwankungen gern in Kauf.

Aber in jenem Augenblick meinte er definitiv nicht seinen Bart, sondern das, was sich oberhalb befand.

»Sie merken es jetzt selbst, Anna, oder?« Das sagte er immer. Und es war zum Verzweifeln, denn niemand, absolut niemand von uns wusste (ja ahnte nicht mal) in solchen Situationen (und schon gar nicht von selbst), was zum Kuckuck wir merken sollten!

»Ja, genau, Anna! Ich bin krank! Kra-hank!« Er sprach es aus, als wäre das Wort ihm fremd. »Sehen Sie das denn nicht? Meine Nase geht zu, ich spüre das! Und Halsschmerzen bekomme ich auch! Wozu habe ich Sie denn alle ausgebildet?«

Ja, wofür bloß, wenn wir nicht mal merken, dass seine arme, arme Nase in naher Zukunft verstopft sein wird?

Nun ja, die alte Leier. Darauf war ich aber damals nicht vorbereitet gewesen.

»Wahrscheinlich haben Sie mich angesteckt, Anna! Sie! Ja, Sie! Mit Ihrer Grippe! So geht das nicht!« Er schien außer sich. Als hätte Doktor Werth (eine Etage über uns – blutjunger Sportarzt und anerkanntermaßen sein Erzfeind) ihm gerade den Nobelpreis vor der schwer erkrankten Nase weggeschnappt.

Es traf natürlich zu, dass ich direkt vor Weihnachten eine ziemlich starke Erkältung hatte, die mein Chef allerdings nicht weiter schlimm gefunden hatte. Als ich anzufragen gewagt hatte, ob ich wenigstens ein paar Stunden früher heimgehen dürfte, weil ich mich echt nicht gut fühlte, hatte er mir eine unverkäufliche Probepackung Halstabletten zugeworfen und gemeint: »Wenn Sie krank sind, sind Sie hier ja wohl am besten aufgehoben.«

Und nun war er es, der eventuell eine aufkeimende Erkältung in sich trug.

Ach, Himmel, wie furchtbar. Wo bleibt bloß mein Mitleid, wenn ich es mal brauche?

Und wie ich ihn damals angesteckt haben sollte, da doch meine Erkältung schon 14 Tage zurück lag, ist mir bis heute ein Rätsel (die Inkubationszeit beträgt bei einer Grippe ein paar Stunden bis drei Tage. Nach Ausbruch der Influenza besteht die Gefahr einer Ansteckung etwa drei bis fünf Tage).

Ich bereitete mich dennoch sklavisch darauf vor, einen weltweiten medizinischen Notstand auszurufen. Vielleicht hatte er sich beim Golf mit Doktor Werth verkühlt (man verbringt als Arzt von Welt seine wertvolle Freizeit bevorzugt mit seinen medizinischen Erzfeinden – wahrscheinlich, um sie besser im Auge zu behalten)? Unsinn, Doktor Zobel spielte gar kein Golf, er spielte Tennis (Doktor Werth natürlich beides, eigentlich alles). Aber im Januar spielt man doch draußen kein Tennis, oder?

Na, das konnte ja heiter werden.

»Sollen wir die restlichen Patienten nach Hause schicken?«, erbot ich mich so vorsichtig wie möglich.

»Das geht doch nicht! Muss ich Sie an meinen Hippokratischen Eid erinnern!«

Ach ja, der wieder.

Bevor ich ärgerlich darüber werden konnte, dass er seine schlechte Laune an mir ausließ, machte er wieder so mit seinen Augen: Schau, ich bin ein armer, kleiner Junge.

Er hatte echt süße Augen, so ganz haselnussbraun und wirklich klug. Er seufzte und deutete damit an, dass die Lösung der prekären Situation nun wohl alleine an ihm lag.

»Also gut. Wenn es nicht anders geht. Ich schaffe das irgendwie, Anna. Aber nehmt doch etwas mehr Rücksicht auf mich«, säuselte er voll auf mein Mitgefühl abzielend. Und es klappte jedes Mal. Eigentlich konnte man ihm nicht lange böse sein. Hatte er jetzt wirklich angefangen, etwas zu krächzen?

»Soll ich Ihnen einen Tee machen, Herr Doktor?«

»Ja. Das wäre gut. Aber diesen einen, nicht den, den ich letztens hatte, den anderen. Und mit nicht so viel Zucker. Aber auch nicht zu wenig.« Er klopfte sich an den Bauch, der straff und wohlgeformt war. »Ich werde sonst zu dick.«

»Okay, mach ich.« Ich dachte wirklich, ich hätte die Situation gemeistert, da rief er (natürlich hatte ich die Tür zum Flur gerade geöffnet), laut und vernehmlich: »Aber besser Judith kocht mir den Tee, nicht dass Ihre Viren mich noch mehr belasten, Anna! Und kommen Sie bloß hier nicht mehr rein, bis Sie ganz gesund sind, Anna! Und schauen Sie, ob das Wartezimmer aufgeräumt ist, ich mag das nicht, wenn da so eine Unordnung herrscht, das fällt alles auf mich zurück, Anna. Und dann bitte, einfach mal mehr Rücksicht nehmen, ja, Anna? Das kann ich ja wohl verlangen, oder Anna?«

Bei so viel »Ge-Anna« konnte mir ganz schwindelig werden. Vicky machte später wieder ihre Witze darüber, dass Doktor Zobel einfach zu gerne meinen Namen aussprach.

»Na. Vielleicht liegt das daran, dass er klingt wie ›Anna‹-phylaktischer Schock. Was meinst du, Anna?« Und dann lachte sie auf ihre ansteckende Art.

Unsere medizin- induzierten Witze hatten das Niveau von Dr. House längst überboten (ich meine die Arztserie).

»Haben Sie gehört, Anna? Nicht mehr hier reinkommen!« Jetzt war Chef wieder mal beleidigt. Mist, ich hatte auf die Bemerkung mit dem Dicksein nicht angemessen reagiert (besser wäre gewesen: Sie und dick? Aber nicht doch! An Ihnen ist kein Gramm Fett!). Aber es war albern, kaum jemand hatte einen so perfekten Bauch wie er.

Außer mein Béla natürlich.

Ich trat tapfer mein Los tragend auf den Flur hinaus und schloss die Tür zum Behandlungszimmer hinter mir. Dann sah ich möglichst nicht allzu genervt in die Runde. Vicky verdrehte die Augen. Die alte Frau Middelkötter kicherte im Wartezimmer und winkte durch die Glaswand zu mir rüber.

Unser perfektionistisch veranlagter Arbeitgeber hatte erst vor einem Jahr die Wartezimmerwände durch Glas ersetzen lassen. Leider liefen Kinder und Hunde regelmäßig und ungebremst gegen diese zwar durchsichtige, aber brettharte Wand. Deswegen hatten wir immer Warnrufe auf den Lippen und Glasreiniger zur Hand. Vicky wischte gerade frische Fingerabdrücke fort. Unser Doktor hasste es, wenn das Glas schmutzig war. Besser wäre gewesen, hier auch Vogelsilhouetten draufzukleben, aber solange es die nicht in Aprikosenfarbe gab, wurde da wohl nichts draus. Wir waren wohl die einzige Praxis in Frankfurt, die sich ihre Patienten gleich selbst herstellte.

Frau Middelkötter winkte mich herbei. Sie hatte offenbar gerade einen Zeitungsartikel gelesen und wollte ihn mir zeigen.

»Der Herr Doktor ist gleich so weit. Judith, kümmerst du dich um das Gewünschte?«, rief ich halbherzig in die Runde und war kurz davor, richtig böse zu werden. Warum war er denn bloß immer so schnell beleidigt? Süße Augen hin oder her.

Judith hatte natürlich (wie alle anderen im Vorzimmer) seinen lautstarken Wunsch nach Tee und seine Absicht, mich und meine Viren für immer zu verbannen, überdeutlich vernommen.

»Brüllen kann er noch«, wisperte Vicky und versprühte extra zu viel Glasreiniger (wässrige Lösung versetzt mit etwas Ethanol, kann man auch selber machen). »Sein Hals ist offenbar noch nicht von seiner erschreckend schlimmen Erkältung beeinträchtigt.« Wir nickten uns zu.

Ich trollte mich ins Wartezimmer, während Judith eilig den Tee zubereitete. Sie wedelte nachdenklich mit zwei Teepackungen, um durch ein Gottesurteil herauszufinden, welcher wohl der richtige war. Aber das war im Grunde egal, weil sie wusste, dass sie sich in jedem Fall für den falschen entscheiden würde.

Frau Middelkötter griff nach meiner Hand. »Machen Sie sich nichts draus, Fräulein Anna. Männer sind so. Sie tun so, als wären Sie die Herren der Welt, aber in Wahrheit schaffen sie es nicht mal, ein Butterbrot zu schmieren, ohne sich zu schneiden«, sagte sie und strich mir mit ihrer spindeldürren Hand unfassbar zart über den Arm.

Gesten wie diese waren es, die diesen Job so unvergleichbar machten. Ich war sofort besänftigt.

Frau Middelkötter war weit über achtzig und eine ganz tapfere Frau. Sie fuhr für jeden Arztbesuch eine weite Strecke mit dem Bus. Was nicht genug war, denn den Heimweg versuchte sie zu Fuß zu gehen. »Man muss die Knochen am Laufen halten. Bloß ihnen nicht das Gefühl geben, sie dürften sich ausruhen!«, sagte sie dann immer, wenn wir sie überreden wollten, ein Taxi zu nehmen. In Wahrheit hatte sie kein Geld für die S-Bahn und schon gar nicht für ein Taxi.

»Machen Sie sich nichts draus. Sie sind eine ganz reizende, liebe Person, Anna! Ich fühle mich von Ihnen immer ganz, ganz prima versorgt.« Wie süß, dass sie dachte, ich würde hier für ihre medizinische Versorgung zuständig sein. Ich war ja nur die aprikosenfarbene Hilfe.

»Danke sehr. Das tut gut«, sagte ich wahrheitsgemäß und lächelte sie an. Da strahlte sie.

Durch besagte Glaswände würde Doktor Zobel, wenn er gleich wieder auf den Flur trat, leider sofort sehen können, dass ich ein Schwätzchen hielt. Und das war verboten. Es sei denn mit ihm, wenn er wieder von seiner Yuccapalme und seinem Studium erzählte. Oder wenn wir ihn feiern sollten, weil er trotz verstopfter Nase so tapfer seinen Dienst an der Welt auf sich nahm.

Daher schob ich (prophylaktisch eine Arbeit vortäuschend) die verrutschten Zeitungen auf dem großen Couchtisch in der Mitte des Wartezimmers zurecht, während ich noch ein bisschen in der Nähe von Frau Middelkötter blieb.

Die bunten Magazine waren das, was unseren lieben Doktor nämlich absolut aufregen konnte. Die mussten ganz akkurat ausgerichtet sein, als lägen sie in einem Möbelhaus als Dekoration aus. Ich schaute auch gleich nach den anderen Yuccapalmen. Allen ging es gut. Frau Middelkötter und ich unterhielten uns derweil über das Wetter.

»Im Februar wird es erst richtig kalt«, begann ich ein Kurzreferat über meteorologische Jahreszeiten in Mitteleuropa.

»Ja, richtig. Der Winter hat ja noch gar nicht begonnen, mein Kind.«

Da wurde auch schon wieder die Tür vom Behandlungszimmer aufgerissen.

»Anna! Wo bleibt mein Tee?«, schallte es beeindruckend über den Flur. In Rekordzeit hatte mein Chef Herrn Treiser behandelt und nach dessen schnellem Schritt zum Ausgang zu urteilen, würde ich sagen, es war eine Spontanheilung.

»Brauchte er kein Rezept?«, fragte Vicky vorsichtig und sah dem flüchtenden Patienten verwirrt hinterher.

Unser Chef machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Das war nichts. Nur Schnupfen. Herrgott, die Leute können sich ja auch mal selber einen Tee machen zuhause!«

Ja, schon, aber Herr Treiser war Privatpatient, den Tee würde sich mein Chef sicher nicht entgehen lassen.

»Ah«, machte Vicky und schaffte es gerade noch so, dem Ausruf einen Unterton von großer Bewunderung beizumischen, um nicht allzu skeptisch zu wirken. »Das haben Sie gut gemacht, Herr Doktor! Und das Wasser kocht gleich!« Vickys blaue Augen besänftigten ihn.

Doktor Zobel kam nun gemäßigten Schrittes an den Empfangstresen und nahm sich die nächste Krankenakte vom Stapel, um sie umsichtig zu studieren. Judith und Vicky postierten sich augenblicklich, wie dressierte Hunde, auf der anderen Seite und beobachteten ihn wortlos und große Bewunderung perfekt nachahmend. Immer aufnahmebereit für sein anspornendes Gemecker.

»Hier muss noch das Rezept eingetragen werden. Hier ist der falsche Stift benutzt worden, ist ja kaum lesbar. Was heißt das hier? Wer hat das denn gekritzelt?«

»Das waren Sie, Herr Doktor.«

»Ah, ich sehe. Ja. Stimmt schon.« Er räusperte sich. Aus der Teeküche hörte man den Wasserkocher seine verdammte Pflicht tun. Nämlich Wasser kochen.

Ich sah aus dem Wartezimmer heraus den dreien nachdenklich zu.

Unser sportlicher Chef war ganz in Weiß gekleidet, wie man sich den klassischen Arzt vorstellte.

Schlank, aktiv, entschlossen, dynamisch und vor allem kerngesund. Mein Chef trug seinen perfekten Allgemeinzustand so sichtbar zur Schau wie Augenärzte eine Brille.

Ich hatte mal gelesen, dass nur zwanzig Prozent der Augenärzte und dreißig Prozent der Optiker wirklich eine Brille brauchen, sie tragen extra Brillen mit Fensterglas, nur um auszusehen wie kranke Patienten. Sozusagen als Zielvorgabe. Als wollten sie sagen: So musst du aussehen. Weil sie halt allesamt nur den Verkäufer spielen. Genau das wäre ihre Aufgabe in unserer Gesellschaft, hatte in einer der Zeitungen gestanden. Und ich hatte gedacht, ihre Aufgabe sei Heilen oder Lindern.

Schade, dass ein Allgemeinmediziner eher keine Möglichkeit hatte, sein Ziel dergestalt zu veranschaulichen. Maximal gesund kann man wahrscheinlich nur »Oben ohne« anzeigen, um die volle Vitalität zu verkörpern. Na, das wäre was. Unser Chef hatte dahingehend ja durchaus seine Reize.

Schon gut. Keine Sexismusdebatte. Man wird ja noch mal träumen dürfen.

Wie gesagt: Wir alle spielen im Leben nur Theater. Ein nettes, ein nützliches Theater. Die Krankenschwester genauso wie das medizinische Fachpersonal allgemein. Und erst recht der Arzt. Der arbeitet nicht nur als Arzt, er spielt und verkörpert ihn fürwahr perfekt und mit Inbrunst. Der Heiler, der Wissende und Ermahner. Halbgötter in Weiß.

Privat waren die Doktor Zobels und Doktor Werths dieser Welt bestimmt alle ganz anders. Wahrscheinlich waren sowieso alle Männer gleich und wir Frauen eigentlich auch nur Männer.

Ein Kellner zum Beispiel benutzte bestimmte Floskeln: »Was darf ich Ihnen bringen? Hat es geschmeckt?«, als würde ihn das wirklich interessieren.

Und genauso ein Polizist oder die Frau von der Fleischtheke: »Fahrzeugpapiere, bitte!« - »Darf es etwas mehr sein?«

Immer wenn ich meinen Chef so ansah, war mir klar, dass er das mit dem Theaterspielen sogar sehr gut machte. So ganz »er selbst sein« konnte er wahrscheinlich gar nicht. Zumindest nicht hier. Vor uns.

»Anna«, flüsterte Frau Middelkötter im Wartezimmer neben mir, die immer noch meinen Arm hielt. »Lesen Sie das mal. Das ist so entzückend.«

»Aber gerne, was haben Sie denn da?« Ich nahm die aufgeschlagene Zeitschrift entgegen. Da ging die schwere Praxistür auf und ein großer Mann in Security-Uniform stürmte herein.

Maik.

Ein unglaublich gut aussehender Typ, Gattung: Bodyguard, Lebensretter, Traumtyp. Judith, Vicky und ich waren reinweg verliebt in ihn. Er hat die Statur eines Modellathleten. Dazu strohblond, grüne Augen und ein Grübchen im Kinn. Und immer ganz süß und charmant.

»Ich blute!« Er hielt den dreien seine Hand hin, die er mit einem Tuch umwickelt hatte.

»Auch das noch! Keine Flecken machen, bitte!«, rümpfte Doktor Zobel die Nase und stellte sich eindeutig aufrechter hin, reckte sogar das Kinn, um ein bisschen größer zu wirken (er wollte offenbar den Größenunterschied zu Maik minimieren).

»Los! Los! Ein Notfall, meine Damen! Dann komm rein, Maik!« Zu uns im Wartezimmer gewandt rief mein Chef. »Ich muss diesen Notfall vorziehen, es dauert einen Moment. Ich hab das schnell im Griff.«

Alles klar. Er musste kurz deutlich machen, dass Maik zwar riesig und muskelbepackt war, aber der Zobel hier das schlaue Köpfchen.

Irgendwie niedlich.

Judith und Vicky machten Schere, Stein, Papier, um auszuknobeln, wer bei Maik assistieren durfte. Es war Vicky. Sie grinste logischerweise, und wir waren natürlich neidisch. Als sie auf das Behandlungszimmer zuschritt, ertönte es gebieterisch: »Nein! Ich brauche Anna! Los, los!«

Ich stand noch bei Frau Middelkötter und musste ihr die Zeitung schnell zurückgeben.

»Ich lese den Artikel nachher, Frau Middelkötter!«, flüsterte ich. Sie lächelte verständnisvoll und nahm sie wieder an sich, als wäre es eine Kostbarkeit.

»Ja, beeilen Sie sich nur. Er wirkt hilflos. Sie brauchen immer die Mama im Notfall, ist es nicht so?«, lachte sie. Etwas irritiert (hatte sie mich gerade als Doktor Zobels Mama tituliert? Oder meinte sie, ich wäre die Mama von Maik?) lief ich los.

Maik saß bereits auf der Liege, die bei seiner Körpergröße eher wirkte wie eine Fußbank. Die Papierauflage war unter seinem strammen Popo hoffnungslos verrutscht und verknüllt.

Der riesige Patient sah mich angstvoll an, während Doktor Zobel Plastikhandschuhe überstreifte und diese dabei laut knallen ließ. Reiner Nervenkrieg.

»Ist es sehr schlimm?« Für Maik stand es außer Frage, dass es definitiv schlimm war, nur der Grad des Schlimmseins musste noch amtlich bestimmt werden. Ich lächelte ihn sanft an, definitiv zu mütterlich.

»Shit! Muss es genäht werden, Anna? Bekomme ich wenigstens eine Spritze?« Maik konnte nicht ertragen, wenn er blutete. Das Blut machte ihm dabei mehr zu schaffen als die Wunde an sich. Diese Blutphobie hielt diesen Baum von einem Mann selbstredend nie davon ab, sich andauernd zu verletzen. Maik war Geldtransporter-Fahrer. Warum man bei diesem Job andauernd in ein Messer lief, wussten wir nicht. Wir Mädels malten uns immer die tollsten Geschichten aus, wenn Maik mal wieder da war zum Verarztetwerden. Wir überlegten uns, ob er das Geld nur mit einem Buschmesser bewaffnet verteidigte oder so. Aber er war auch wirklich hübsch anzusehen, der ganze Mann.

Auch ich zog mir jetzt Handschuhe über, achtete aber darauf, dass es nicht bedrohlich wirkte. Mein Chef machte derweil skeptische Geräusche. »Ja, Maik, ich glaube, das müssen wir nähen!«, sagte Doktor Zobel mit einem süffisanten Unterton.

Das war gemein.

Natürlich musste das nicht genäht werden, aber es gefiel dem Doktor, den großen Mann von der Security in Panik zu versetzen.

Was für ein Frechdachs.

Ich hab übrigens mal gelesen, dass die Hand das Körperteil sein soll, das am häufigsten verletzt wird. Es gibt ja eine Menge Statistiken. Ich persönlich verbrühe mir allerdings eindeutig mehr den Mund, als dass ich mir in den Finger schneide, aber ich bin wohl einfach nicht repräsentativ. An zweiter Stelle in den Verletzungsstatistiken stehen die am weitesten von den Händen entferntesten Extremitäten, also Knöchel und Fuß. Ich bin mir nicht sicher, wie ich mir das vorstellen soll. Irgendwas scheint ja da bei uns Menschen bewegungstechnisch extrem aus dem Ruder zu laufen.

Im Behandlungsraum konzentrierte ich mich weniger auf die Unfallstatistik, sondern eher darauf, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, bei der Arbeit seinen Traummann zu finden.

Nein, nur Spaß. Ich hatte ja Béla. Ja, er heißt wie der Typ, der mich damals im Flötenkreis (ich Altflöte, meine Schwester Bassflöte) um den Verstand komponiert hatte: Béla Bartok. Furchtbar. Mein Vater saß bei den Flöten-Konzerten immer tapfer in der ersten Reihe und machte ein Gesicht, als würden ihm beide Schneidezähne ausgeschlagen.

»Wirklich? So schlimm?«, rief Maik besorgt aus und packte mich mit seiner unverletzten Hand am Arm. Ich legte sofort meine auf die seine. Maik war echt schnuckelig, wenn er so aufgeregt war. Dieser Schrank von einem Mann schaute mich so niedlich an, einfach zum Dahinschmelzen.

»Alles gut, Maik. Der Doktor macht nur Spaß. Doktor Zobel hat die Wunde gleich versorgt.« Ich warf meinem Chef einen strafenden Blick zu.

Mit großer Dankbarkeit und eindeutig unterwürfiger im Auftreten wendete sich der große Mann an seinen Retter.

»Ich vertraue Ihnen, Herr Doktor.« Wie schön, dass Doktoren einen Titel haben, da klingt es gleich noch viel devoter.

Ich säuberte amüsiert die nicht besonders tiefe Wunde und übergab den »Schwerverletzten« an meinen Boss weiter. Der hielt die eigenen Hände hoch wie in jeder gut recherchierten Arztserie (siehe dazu ER, Grey's Anatomy, Bettys Diagnose) und hatte selbstverständlich vorsorglich seinen Mundschutz angelegt. Damit es auch ja seine Wirkung nicht verfehlte. Tat es nicht. Maik schien das Atmen vergessen zu haben. Ich hatte Mitleid mit ihm, strich ihm über seinen ästhetisch definierten Oberarm und räumte alle Tücher und Utensilien, die ich benötigt hatte, zusammen. Mein Chef zeigte schon ungeduldig auf die Tür.

»Das frische Pflaster liegt bereit, Chef.«

»Danke Anna, ich mache hier weiter, Sie sagen noch mal im Wartezimmer Bescheid, dass der Notfall versorgt wurde und es gleich weitergeht!«

»Natürlich, Herr Doktor.«

Ich ging hinaus. Judith und Vicky standen feixend am Empfangstresen und winkten mich eifrig herbei. Klar, sie wollten alles genau wissen. Da Maik sich dieses Mal nur am Unterarm und der Hand geschnitten hatte, konnte ich nichts beschreiben, was uns noch nicht bekannt war. Wir waren leider noch nicht bis zu seinem Oberkörper vorgedrungen. Wir haben uns aber fest vorgenommen, irgendeinen Vorwand zu finden, dass er mal sein Shirt auszog. Vielleicht im Sommer.

»Zu schade!«, seufzten meine Kolleginnen und wir machten uns wieder an die Arbeit. Zumindest suchten wir welche, bevor uns Doktor Zobel beim Rumstehen erwischte. Also ging ich wieder ins Wartezimmer, um zu sehen, ob immer noch alle Zeitungen sauber aufgereiht dalagen.

Frau Middelkötter lächelte mich an und hielt die Zeitschrift von vorhin hoch.

»Männer sind so, Kindchen.« Es machte ihr nichts aus, dass noch ein Herr im Wartezimmer saß, der beim Zuhören einen ziemlich verschnupften Eindruck machte. Er war offenbar ein neuer Patient. Ich musste aufpassen, dass Judith die Krankenmappe richtig angelegt hatte, besser ich schaute noch mal drüber. Doktor Zobel konnte es nicht leiden, wenn die Daten nicht genau so eingetragen waren, wie er das wünschte. Und natürlich sehr sauber und nichts durchgestrichen oder verschmiert und bitte schön in der richtigen Kugelschreiberfarbe.

Frau Middelkötter hielt mir das Magazin energisch hin. Ich dachte erst, ich sollte sie für sie zurück auf den Tisch legen, aber dann lachte die alte Dame und zeigte mit ihrer arthritischen Hand auf einen schmalen Artikel.

»Das müssen Sie lesen, Kindchen. Über Männergrippe. Herrlich! Und so wahr. Es geht um jammernde, verletzte, kranke Männer. So zauberhaft beobachtet von der jungen Schreiberin! Das war früher schon so, und die Männer haben sich kein Stück geändert!« Frau Middelkötter lachte so ansteckend, dass ich mitlachen musste.

Der Artikel stammte aus meiner Lieblingszeitschrift (irgendwoher musste ich ja meine Weisheiten haben), die offenbar jetzt im Winter eine neue Rubrik eröffnet hatte.

»Männergrippe, nicht schlimm, aber leider tödlich!«, las ich vor. Judith und Vicky lauschten vom Tresen aus amüsiert.

»Woran merkt man, dass der Winter kommt? Richtig. Wir Frauen kaufen alle Geschenke. Auch für seine doofe Mutter …«

»Ja, genau! Wie bei mir zuhause.« Vicky schüttelte die Spardose mit dem Trinkgeld, um zu sehen, ob es sich lohnte, sie heute nach dem letzten Patienten zu leeren.

Ich las weiter laut vor: »Und was macht der Mann? Richtig. Er singt die Winterhymne. Die geht so: »Mimimimimi! Ich bin sooo kraaahaank!«

Frau Middelkötter klatschte in die Hand und lächelte, wobei ihr Gebiss leise knackte.

»Selbst das British Medical Journal …« Weiter kam ich nicht, da rief Vicky schon: »Hat das je einer gelesen?«

Ich lachte und fuhr mühsam fort: »… lässt sich herab, den Männern einen Freifahrtschein zum Jammern auszustellen. Das niedrige Östrogen und der höherer Testosteronspiegel wären schuld. Je männlicher unsere Kerle, desto mehr Testosteron und desto weniger Antikörper befinden sich in ihren Astralkörpern.«

»Nicht wahr, oder?« Judith war empört.

Zu Recht empört!

Sie kam eilig zu mir und las über meine Schulter hinweg weiter vor: »Er liegt auf der Couch? Jammert dir die Ohren voll? Er zitiert seine Grabrede, die sein bester Kumpel natürlich nur unter Tränen hervorbringen wird? Ehrlich jetzt? Und wir Frauen dürfen uns bei einer Spanischen Grippe mal zwei Minuten auf einen Hocker setzen, um zu schauen, ob die Sache mit den zweiundvierzig Grad Fieber vielleicht gleich wieder besser wird? …«

Vicky tat derweil kichernd am Tresen so, als würde sie Schüttelfrost haben und gleich zusammenbrechen. Der männliche Patient im Wartezimmer verkniff sich nur mühsam ein Husten und winkte ab, als wollte er sagen: Ja, stimmt ja, aufhören!

Wir lachten laut.

Frau Middelkötter ergriff meinen Arm erneut.

»Lassen Sie mich raten, Anna. Ihr Freund ist bestimmt genauso, oder?«

Ich dachte an meinen Béla. Nein, der war nicht so. Ach, Béla. Der Hübsche. Der Sportliche. Der Ehrliche! Ach! Seufzer! Der war supersportlich und wurde eigentlich nie krank und schnitt sich auch nie.

Heiteres Schweigen lag in Wartezimmer und Eingangsbereich. Bis die Tür vom Behandlungszimmer wieder aufsprang. Augenblicklich versteckten Judith und ich die Zeitschrift hinter unseren Rücken.

»Da bin ich wieder! Halb so schlimm!« Maik trat etwas wackelig auf den Flur. Er trug jetzt das großes Pflaster und bekam von seinem Retter jovial ein weiteres Pflaster in die Hand gedrückt, um bei Bedarf zu wechseln.

»Das wird schon gehen, ist ja nur ein Kratzer!«, sagte Maik und räusperte sich männlich. Jetzt, wo er sein Blut nicht mehr sehen musste, war er entspannter. Er stakste zum Empfangstresen, und wir Mädels fanden uns blitzschnell um ihn herum ein.

»Brauchst du ein Rezept, Maik?«

»Wird es gehen?«

»Wie fühlst du dich?«

»Oder eine Krankschreibung?«

Wir sahen hilfsbereit zu ihm auf, aber er winkte nur ab. Er brauchte nichts. »Ist ja nur ein Kratzer! Jetzt eskaliert mal nicht so, Mädels!«, betonte er noch einmal seine übermenschliche Tapferkeit. Ich fand das einfach süß, wie er auf seine Hand schaute und vorsichtig drüber strich, als wollte er sagen: »Ey, Kumpel, das stehen wir durch!«

Männer wie Maik haben es leicht mit uns Frauen, dachte ich in dem Moment, denn er sah nicht nur gut aus und hatte die obligatorischen, starken Schultern, sondern er zeigte mit solcherlei Aktionen, dass er uns brauchte. Ja, er brauchte uns. Uns Frauen. Und sei es nur als bedauerndes Publikum, das ihm für seine kindliche Tapferkeit zujubelte und bei Verletzungen sofort parat stand. Und natürlich ihn ein klitzekleines bisschen bemitleidete, wenn er das wollte.

Und wir waren da.

Und wir bemitleideten.

Und natürlich empfanden wir es als ganz großen Blödsinn, dass die Rollen so verteilt waren, aber wir machten dennoch mit. Mit Begeisterung, will ich zugeben. Zumindest bei Maik.

Männergrippe kann sehr sexy sein, oder?

Als Judith dicht neben ihn trat, streckte er wie im Reflex seine Hand aus, um sie ihr zu zeigen. Sie griff sanft danach und drehte sie, um das große, weiße Pflaster, das sein Handgelenk und einen Teil des Unterarms bedeckte, entsprechend zu würdigen.

»War der Schnitt sehr tief? Musste er genäht werden?«, fragte Judith. Natürlich nicht. Das konnte Judith selbst dann sehen, wenn sie zehn Meter entfernt gestanden und keine Brille aufgehabt hätte, aber die Frage war genau richtig. Für Maik. Er nickte ergriffen von sich selbst und der Gefahr, die er überstanden hatte.

»Ich hab dem Doktor gesagt, das wäre nicht nötig.« Maik war ja soooo tapfer.

»Ah, verstehe«, nickte Vicky. Und nun wurde sie mit einem Maik-Lächeln der Extraklasse bedacht.

Keine Frage, er war ein kleiner Junge, der liebe Maik, mehr nicht. Aber solange wir wussten, wie man sich entsprechend als kleine Mädchen benahm, klappte die Kommunikation – und wahrscheinlich alles andere auch.

»Möchtest du kurzfristig, einen Nachsorgetermin haben?«, fragte Judith clever, und wir nickten sofort eifrig. Mit diesem besorgten Blick natürlich. Das war ein guter Schachzug, denn so hätten wir unseren Maik dann bald wieder. Aber er winkte leider ab.

»Ach, nicht nötig. Ist ja nur ein Kratzer.« Mittlerweile hatte er das mit dem Kratzer so oft betont, dass selbst uns Zweifel kamen.

War er vielleicht wirklich tapfer?

Hatte der Schnitt doch eventuell lebenswichtige Organe beschädigt? Ach, Unsinn.

Alles an Maik erschien mir in dem Augenblick sehr männlich aber von einer süßen Zerbrechlichkeit, dass ich ihn am liebsten umarmt hätte.

Er war wie mein Béla. Der war genauso. Tapfer und doch so verletzlich.

»Oh, Maik, können wir noch irgendwas für dich tun?«, fragte Vicky hoffnungsvoll und schob eine Werbepackung Traubenzucker über den Tresen. Maik griff gierig danach und aß sofort davon.

»Ich muss jetzt weiterarbeiten«, sagte er schließlich, nachdem er das Mitleid gebührend ausgekostet hatte, und rührte sich nicht von der Stelle.

»Wird es denn gehen?« Wir lächelten ihn verliebt an.

Dann erschien dummerweise der Fachmann auf der Bühne.

»Ach, Maik. Immer noch da?« Doktor Zobel kam aus dem Behandlungsraum geschlendert und sah auf die Akte. Anders als sonst, wo er, wenn er mich suchte, einfach nur nach mir brüllte, nahm er sich die Zeit und kam ruhigen Schrittes zu uns herüber. Dabei reckte er eindeutig wieder das Kinn hoch, um größer zu wirken.

»Äh, ja, muss los. Danke noch mal, Herr Doktor.« Maik hob die verarztete Hand zum Gruß. Judith lief zur Tür, um sie zu öffnen.

Doktor Zobel sah streng hinterher, wie (und dass) der Security-Mann ging. Dann brummelte er deutlich sanfter: »Anna? Ich bräuchte Sie dann jetzt noch mal für Frau Middelkötter.«

Sieh an, dachte ich, triumphierend. Konkurrenz belebt nicht nur das Geschäft, es macht auch den Umgangston geschmeidiger.

»Gerne.« Ich griff die Akte von Frau Middelkötter und führte die alte Dame ins Behandlungszimmer.

»Wir wollen schließlich heute noch fertig werden und nach Hause«, grummelte der Doktor, immer noch von Maiks bloßer, wohlgeformter Anwesenheit beleidigt. »Was wollte der denn noch? Das war nur ein Kratzer.«

»Ja, das sagte er auch, Chef.« Ich grinste aus dem Fenster.

Frau Middelkötter war geplagt von allerlei Beschwerden. Manchmal fragte ich mich, wie eine so kleine, dünne Person überhaupt morgens die Kraft und den Willen fand, aufzustehen. Doktor Zobel untersuchte sie recht wortkarg, aber die alte Dame munterte ihn ab und zu auf, indem sie ihn als »junger Mann« bezeichnete und nach seiner Familie fragte. Erstaunlich war, wie deutlich ich erkennen konnte, wer hier wen um den Finger wickelte und wer eigentlich der Überlegene war. Der sportliche Akademiker oder die zerbrechliche alte Frau, die kaum Geld für die S-Bahn hatte?

Eindeutig Frau Middelkötter.

Doktor Zobel ließ mich - von derlei Erkenntnissen gänzlich unbeschwert - diverse Medikamente für die Patientin aufschreiben. Bei jedem Mittel sah sie ängstlich auf mich. Ich wusste, was sie fragen wollte, nämlich ob die Krankenkasse das zahlen würde. Ich nickte ihr zu, und sie war beruhigt.

Erstaunlich gut gelaunt hatte mein Chef die Untersuchung hinter sich gebracht und ließ sich anschließend noch ein paar saftige Kritiken von Frau Middelkötter gefallen, denn der Akademiker glaubte fest daran, dass das allesamt Schmeicheleien waren.

»Sie gefallen mir viel besser, wenn Sie ruhig und höflich sind, junger Mann!« - »Was haben Sie nur bei der Auswahl ihrer jungen Damen im Vorzimmer für Weitblick bewiesen, junger Mann! Das sind Goldstücke, behandeln Sie sie ja immer gut!« - »Ach, wenn Sie mal ein Lächeln zeigen, merkt man, dass Sie im Grunde ein wunderbarer, junger Mann sind, Herr Doktor.«

Er strahlte und antwortete: »Ja, vielen Dank! Und manchmal weiß ich wirklich nicht, was ich ohne Anna und die anderen jungen Damen machen sollte!«

Frau Middelkötter und ich nickten uns zu.

Es war herrlich.

Nach der Behandlung bekam Frau Middelkötter von uns Vorzimmerdamen immer (wenn Doktor Zobel nicht hinsah) ein paar Gratispackungen nicht verschreibungspflichtiger Medikamente. In der Regel hatte Vicky schon eine kleine Tüte zusammengestellt, über die sie sich bereits am Morgen von Frau Middelkötters Besuch mit uns Gedanken gemacht hatte. In die Tüte kam alles, was unsere Lieblingspatientin gebrauchen konnte. Und dazu noch Werbegeschenke der Krankenkassen wie Hustenbonbons, Nasendusche und Papiertaschentücher, aber auch Kugelschreiber, Schlüsselanhänger und Einkaufstaschen. Als hätten wir ihr einen Beutel Gold überreicht, ging sie dankbar damit zu Fuß nach Hause.

Wir hatten ihr wieder kein Taxi bestellen dürfen.

Nachdem Doktor Zobel den letzten Patienten behandelt hatte, kam er zu uns an den Empfangstresen, plauderte nun deutlich entspannter mit uns, bis sein Handy piepste und seine Frau ihn nach Hause beorderte. Zumindest vermuteten wir das immer, denn er sah dann bloß hektisch auf das Handy und rief: »Oh, ich muss los, sonst gibt es Ärger.«

»Na, endlich ist er weg«, grummelte Judith. »Anna, was ist jetzt mit der Silberhochzeit von deinen Schwiegereltern?«

Ich wurde rot. Die Vorstellung, Belá und ich wären verheiratet, war einfach zu schön. Und es klang auch so lässig.

»Bis jetzt hat er noch nichts gesagt. Ich fürchte, mein Schatz will da nicht hin.«

Judith verdrehte die Augen. »Ich befürchte ja eher, dass er zwei Minuten vorher verkündet, dass ihr doch hingeht.«

»Himmel! Ich hab nichts anzuziehen!«

»Ich leih dir gerne DAS Kleid.«

»DAS?« Ich sah sie voller Begeisterung an. Judith hatte sich nämlich vor kurzem ein Kleid gekauft, mit dem man auf einer Oscar-Verleihung auftauchen konnte.

Vicky lachte: »Das ist der Knaller! Damit haust du alle so um! Wie Judith die Familie ihres Mannes! Das ist ein Schwiegereltern-Umhau-Kleid!«

»Brauchst du auch Schuhe?«

»Nein, danke, die hab ich!« Ich fiel Judith um den Hals und wir schwatzten noch kurz darüber, wie anstrengend es ist, für die Eltern des Liebsten gut auszusehen, obwohl man diese Eltern meist gar nicht leiden konnte.

Ich schaute dann noch mal durch alle Räume und schaltete die Drucker in den Behandlungsräumen aus, leerte die Mülleimer, auch den in der Toilette. Während Vicky die Pflanzen goss, die Kaffeemaschine ausmachte und alle Fenster verriegelte, schloss Judith die Patientenkarten, die Kaffeekasse und die Medikamente ein. Wir überprüften, ob alle medizinischen Geräte ausgeschaltet waren und kein Wasserhahn lief.

Es war plötzlich so friedlich in der Praxis.

3Krankheitssymptom(Anzeichen für eine Erkrankung)

Es war wieder reichlich spät geworden und wir drei wussten, nur wenig von der Zeit, die wir länger in der Praxis blieben, um für den folgenden Tag alles tipptopp in Ordnung zu haben, wurde uns als Überstunden angerechnet. Das war nämlich schwierig. Dafür hätten wir einen Zettel ausfüllen und ihn unserem Chef persönlich vorlegen müssen. Wenn wir das machten, verzog er halb angeekelt, halb beleidigt das Gesicht. Es traf in tief, wenn wir einen finanziellen Vorteil daraus ziehen wollten, dass wir abends etwas länger blieben. Abends! Die Zeit, die er gerne einem privaten (sehr kostbar!) Schwätzchen mit uns widmete und in der er uns seine geschätzte, ungeteilte (unbezahlbar!) Aufmerksamkeit widmete.

Na ja. Wir hatten Doktor Zobel ja irgendwie wirklich gerne. Deswegen schrieben wir selten solche Zettel.

An jenem Abend, es war schon tiefschwarze Winternacht, ging es für mich endlich ab nach Hause. Endlich raus aus den weißen Hosen und dem aprikosenfarbenen Poloshirt plus Kittel und weit weg vom dem Geruch nach Desinfektionsmittel.

Ich zog mich in unserem Pausenraum um und schrieb Béla ein WhatsApp: »Schatz, ich hab endlich Feierabend! Soll ich was mitbringen?« Wie üblich war er nicht online und las meine Nachricht nicht, weil er wahrscheinlich gerade lernte. Oder duschte, nachdem er vom Sport gekommen war.

Okay, was am wahrscheinlichsten war: Er schaute Fernsehen oder YouTube.

So ganz ohne Hinweis darauf, was zuhause gewünscht wurde, machte ich mich sicherheitshalber noch zum Supermarkt auf. Um diese Zeit eine Herausforderung, denn in der Regel waren die Gemüseabteilungen dann schon wie leer gefressen und das Zusammenstellen der Zutaten für ein leckeres, gesundes und unkompliziertes Abendessen eine echte kulinarische Herausforderung. Ich überlegte. Zum Kochen hatte ich zwar keine Lust, aber ich würde was hinbekommen für Béla und mich. Wenn er das wollte. Mir reichte eigentlich eine Scheibe Brot, denn heute gab es noch mal viele Kekse und Schokolade von unseren Patienten, nachträglich zu Weihnachten.

Aber da war schon das nächste Problem. Vielleicht wollte Béla gar nichts mehr, weil er in der Mensa gegessen hatte, oder vielleicht war er auch gar nicht zuhause bei mir, weil er noch mit seinen Kumpels vom Sport in der Sportsbar vom Fitnessklub was trank.

Ich parkte vor einem der üblichen Supermärkte und linste neugierig auf mein Handy. Hurra, er war zuhause. Er schrieb mir gerade, wie ich oben in WhatsApp sehen konnte.

Ich wartete.

Er schrieb, war wieder online, schrieb wieder, wieder online. Dann erschienen endlich die Worte: »Kein Hunger.« Dazu ein Emoji, das schlechte Laune signalisierte, dieses kleine Gesicht, das aussieht, als wäre es zertreten worden. Eigentlich liebe ich diese Emoticons. Ohne die ist bei mir keine Nachricht vollständig. Ganz einfach weil man mit den kleinen Gesichtern oder Handzeichen schneller ausdrücken kann, was man meint, als es lang und breit zu beschreiben.

Wenn was gut lief oder begeisternd war: Daumen hoch.

Wenn man es nicht böse meinte oder aufmuntern wollte: Lachen.

Wenn man etwas nicht verstand oder unfassbar blöd fand: weit aufgerissene Augen.

Zornig: das Rote.

Und nun war Béla also schlecht gelaunt. Schlecht gelaunt war gar nicht gut.

»Armer Schatz. Stress?«, tippte ich schnell ein, als ich in den Supermarkt stürmte und mir einen Korb schnappte.

»Ja, war blöder Tag«, las ich vor dem leeren Gemüseregal.