Mütter und Söhne - Kai Biermann - E-Book

Mütter und Söhne E-Book

Kai Biermann

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Söhne müssen sich von ihren Müttern abnabeln, um ihre Rolle als Mann zu finden. Wie kann eine Mutter diese schwierige und schmerzhafte Phase entspannt überstehen? Wie gelingt es dem Sohn, gelassen damit umzugehen?
Brigitte Biermann hat mit dreizehn Müttern gesprochen, Kai Biermann befragte deren Söhne: Einige haben Drogen genommen, andere sind haltlos durch die Gegend gezogen, einer ist im Knast gelandet, einer wollte sich umbringen, aber andre haben sich auch bequem im "Hotel Mama" eingerichtet. Mit all dem mußten die Mütter fertig werden, mußten lernen, die Eigenarten und oft ungewöhnlichen Lebenswege ihrer Söhne zu respektieren, sie zu lieben, ohne sie einzuengen oder sich selbst zurückzusetzen.
Aus Gesprächen mit Experten über typische Probleme dieser facettenreichen Beziehung haben die Autoren praktische Ratschläge abgeleitet, wie man auch in dieser konfliktgeladenen Zeit gut miteinander auskommen kann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 338

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Brigitte und Kai Biermann Mütter und Söhne

Brigitte und Kai Biermann

Mütter und Söhne

Wege zu einem entspannten Miteinander

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von März 2003) © Christoph Links Verlag – LinksDruck GmbH Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 440232-0 Internet: www.christoph-links-verlag.de; [email protected] Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von Herbert Schulze Lektorat: Heike Olbrich, Andernach Satz: Marina Siegemund, Berlin

ISBN 978-3-86284-223-0

Inhaltsverzeichnis

Warum wir dieses Buch gemacht habenVorwort von Brigitte Biermann

Warum ich gemeinsam mit meiner Mutter ein Buch machen wollteVorwort von Kai Biermann

Rebellion

Sophia: »In der Pubertät war Jakob zum Kotzen«

Jakob: »Man kann sich nicht ewig gut mit seinen Eltern verstehen«

Dagmar: »Mich trieb die Sorge, dass er uns völlig verloren geht«

Sid: »Diese Distanz hat tatsächlich Nähe geschaffen«

Dipl.-Psych. Michael Meyer-Krebs: Reden oder Schweigen – Jungen grenzen sich auch verbal ab

Söhne auf der Suche

Katharina: »Wichtig ist, dass er zurechtkommt«

Dirk: »Ich habe gegen das System rebelliert, nicht gegen meine Eltern«

Maria: »Er braucht wohl sehr lange, um herauszufinden, was er will«

Jamal: »Seitdem ich von ihr unabhängig bin, verstehen wir uns viel besser«

Brigitte: »Ich bin froh, dass mein Sohn schwul ist«

Oliver und Kevin: »Mutter ist richtig aufgeblüht«

Dipl.-Päd. Isolde Schaugg: Warum es Müttern schwer fällt, den Lebensweg ihres Sohnes zu akzeptieren

Sorgenkinder

Evelin: »Es tut unglaublich weh, wenn der eigene Sohn in die falsche Richtung rennt«

Olaf: »Ich kann nichts an meiner Vergangenheit ändern, aber ich kann daraus lernen«

Renate: »Wir haben ein Leben vor Aids und eins danach«

Torsten: »Ohne meine Mutter wäre ich gestorben«

Melanie: »Es war früh klar, dass Mike anders ist als andere Kinder«

Mike: »Ich will kein Muttersöhnchen sein«

Dipl.-Psych. Dagmar Häuser: Wenn Söhne aus dem Ruder laufen

Leben ohne Vater

Christine: »Ich hatte nie das Gefühl, wegen Peter auf irgendwas verzichten zu müssen«

Peter: »Mein Vater hatte bei mir nie einen Auftritt«

Elisabeth: »Alexander war immer mein Kind, nur meins«

Alexander: »Ein Vater hat mir immer gefehlt«

Dipl.-Päd. Isolde Schaugg: Allein erziehende Mütter

Angst vor Trennung

Regina: »Eine bewusste Abnabelung gab es bei uns nicht«

Tom: »Ich habe permanent das Gefühl, mit ihr in Kontakt zu sein«

Johanna: »Wir haben keine Geheimnisse voreinander«

Detlef: »Wenn ich mit jemandem reden will, rufe ich meine Mutter an«

Dipl.-Päd. Theo Gilbers: Ablösung und Trennung

Gehen und Wiederkommen

Gundula: »Kinder müssen sich wohl abgrenzen«

Raoul: »Sie hat Muttertierängste, aber das ist okay«

Viktor: »Heute denke ich viel an meine Mutter«

Dipl.-Psych. Wolfgang Bergmann: Loslassen und dabei glücklich sein ist eine Lüge

Interview mit Brigitte und Kai Biermann: »Heute akzeptieren wir uns, wie wir sind«

Adressen

Danksagung

In der erotischen Liebe vereinigen sich ein Mann und eine Frau, die bisher getrennt waren. Im Verhältnis der Mutter zu ihrem Kind ist es umgekehrt, da müssen sich zwei Wesen, die bisher eins waren, trennen. Das muss die Mutter nicht nur dulden, sie muss es sogar wünschen und fördern, darum ist es die schwierigste Form der Liebe. Hier bedeutet Geben soviel wie Hergeben.

Christine Brückner

(Aus: Das glückliche Buch der a.p.)

Mom, ich weiß, dass wir hin und wieder viel miteinander gekämpft haben, aber das bedeutet nicht, dass ich dich nicht liebe.

Marshall Mathers III., genannt Eminem

Warum wir dieses Buch gemacht haben

Es tut gut, mit Müttern über Söhne zu reden. Wir müssen nicht erst Floskeln austauschen, um zum Thema zu kommen. Für viele Frauen ist die Liebe zu ihrem Sohn die haltbarste, strapazierfähigste, längste, uneigennützigste.

Vielleicht hat diese Beziehung auch eine erotische Komponente, haben wir doch bei der Aufzucht des Knaben einen Mann im Blick, wie wir ihn uns als Partner wünschen: sensibel und stark, partnerschaftlich und familientauglich, offen und selbstbewusst. Konflikte mit dem Heranwachsenden sehen Mann-Frau-Konflikten sehr ähnlich. Nur dass wir Mütter, wenn es zwischen uns knirscht, die Schuld häufig bei uns suchen, wir wollen zwar immer perfekt sein, ganz besonders perfekt aber in Bezug auf unsere Kinder. Behauptete jemand, ich sei eine schlechte Journalistin, würde ich mich zwar heftig grämen; sagte man mir jedoch, ich sei eine schlechte Mutter, würde ich energisch protestieren.

Nur ist das mit der Erziehung so anstrengend! Welcher Sohn entspricht schon dem Idealbild seiner Mutter: spielt Klavier und Tennis, macht zielstrebig das Abitur, lernt oder studiert, findet ohne Umwege eine nette Frau, mit der er dann gut erzogene Kinder hat, auf die man als Großmutter seine Liebe und Fürsorge ausdehnen kann. Nein, sie rauchen und saufen, nehmen Drogen, ziehen sich peinliche Klamotten an, umgeben sich mit Typen, die wir nicht in unser Wohnzimmer lassen würden, brechen die Schule ab. Manche sind schwul, womit man sich ja abfinden kann, aber die Enkelfrage hat sich für deren Mütter damit erledigt. Söhne können sich erlauben, was wir keinem Mann an unserer Seite durchgehen lassen würden: uns terrorisieren, unsere ästhetischen Ansprüche beleidigen, unsere Pläne durcheinander bringen. Dennoch kann nichts unsere Liebe erschüttern. Wir werden furchtbar sentimental beim Gedanken an die entzückenden Babys, die unsere Söhne mal waren. Und mit Geschichten wie: Wisst ihr noch, wie Philipp mit seiner Kinderschere aus Omas Gummibaum ein Fingerphilodendron gemacht hat, öden wir bei Familienfesten die gesamte Gesellschaft an. Wir haben die Kinderzimmer ertragen, die niemals anders aussahen, als sei gerade eingebrochen worden. Wir sind kollabiert vor Wut, weil diese Bengel pampig, störrisch, faul und taub waren. Ihretwegen haben wir nächtelang nicht geschlafen, und mit ihren rebellischen Aktionen haben sie uns fast um den Verstand gebracht. Bis wir irgendwann begriffen haben: Sie wehren sich doch nur gegen unsere kuhwarme Sorge. Sie wissen doch selbst nicht, wohin mit ihrer Kraft und ihren Weltverbesserungsideen. Und eines Tages ist aus unserem kleinen Prinzen ein Mann geworden. Im besten Fall so einer, wie wir ihn uns gewünscht haben. Oder jedenfalls so ähnlich. Die Protokolle in diesem Buch beweisen es.

Natürlich sind wir bei unserer Suche nach Gesprächspartnern auch auf Mütter und Söhne gestoßen, die nicht mehr miteinander reden können oder wollen. Aber die wollten oder konnten auch mit uns nicht reden.

So handeln also die folgenden Geschichten von Frust, Stress und Ärger, von Ängsten und schlechtem Gewissen. Dennoch sind es letztendlich gute Nachrichten.

Es war die Idee meines Sohnes, mit mir ein Buch über Mütter und Söhne zu machen. Schöner hätte er mir seine Zuneigung nicht beweisen können. Die Arbeit hat mir viel Freude gemacht; zum einen, weil mein Sohn mein kritischster und fairster Kollege ist. Zum anderen, weil ich nichts auf der Welt aufregender und verblüffender finde als menschliche Beziehungen.

Vielleicht helfen die hier gesammelten Erfahrungen, anderen Müttern Mut zu machen: Der Aufbruch der Söhne aus unserer Obhut in ein selbstständiges Leben ist meist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Brigitte Biermann

Warum ich gemeinsam mit meiner Mutter ein Buch machen wollte

Ich habe ewig gebraucht, um von meiner Mutter loszukommen. Allein der Auszug aus ihrer Wohnung hat Monate gedauert: Nichts mit »Mum, ich gehe jetzt« – »Viel Spaß, Kind, und zieh dich warm an.« Sogar meiner affenliebenden Mutter war klar, dass ihr einziges Kind irgendwann das Haus verlassen muss. Einfach hat sie es ihm deswegen aber nicht gemacht. Sie wollte immer einen selbstständigen Sohn. Dass der, um dies zu werden, aber Mami verstoßen muss, fand Mami gar nicht toll.

Als ich dann endlich weg war, brauchte ich erst einmal eine Pause von all der erdrückenden Liebe, also verhängte ich eine Kontaktsperre. Ich wollte nicht zum Essen kommen und nicht besucht werden, ich wollte keine Hilfe im Haushalt und schon gar keine besorgten Telefonate darüber führen, ob ich mich richtig ernähre. Auch wenn ich mir die Haare in der Küchenspüle waschen musste, in dem Chaos keine Unterhose mehr fand und meine Ernährung tatsächlich bestenfalls einseitig war, habe ich mich in meiner neuen Wohnung und meinem neuen Leben so richtig wohl gefühlt.

Laut gestritten haben wir uns wegen dieser erzwungenen Distanz nie, doch Mutter war so tief verletzt, wie es nur Mütter und Geliebte sein können. »Dass das eigene Kind so herzlos ist ...« Doch weil meine Mutter eine kluge Mutter ist, sah sie irgendwann ein, dass diese Trennung nicht schön, aber notwendig war.

Heute verstehen wir uns wirklich gut, so gut, dass ich Lust hatte, mit ihr ein Buch über die Beziehung von Müttern und Söhnen zu machen und damit natürlich auch über unsere. Hätte ich vorher gewusst, dass es länger als ein Jahr dauern wird und dass ich die gleichen Vorwürfe zu hören bekomme wie im Alter von fünfzehn, ich hätte mir das noch einmal überlegt.

Das Buch ist fertig. Wir reden immer noch miteinander, und wir haben beide viel dabei gelernt. Zum Beispiel, dass die Beziehung zwischen Müttern und Söhnen niemals wirklich vorbei ist und dass es auch nichts ändert, wenn man ein Buch darüber schreibt – ich werde wohl noch mit sechzig Jahren von ihr zu hören bekommen, dass ich faul, schlampig und ungehobelt sei.

Und noch etwas haben wir erfahren: Alle Mütter und alle Söhne, die wir trafen, haben oder hatten miteinander Probleme, Streit und Ärger. Trotzdem fanden sie irgendwie wieder zueinander. Diese Beziehung scheint wirklich etwas Besonderes zu sein, und sie scheint fast alles auszuhalten. Das ist sehr beruhigend.

Kai Biermann

Rebellion

»In der Pubertät war Jakob zum Kotzen«

Sophia, 42, Frankfurt am Main

Die ersten sechs Jahre meines Lebens habe ich auf so einem Äppelkahn verbracht. Meine Eltern sind Binnenschiffer, sie haben Kies von Frankreich nach Deutschland, vom Elsass nach Rotterdam und weiß der Teufel, wohin noch, transportiert. Während der Schulzeit lebte ich bei meiner Großmutter, ich hatte totales Heimweh nach meinen Eltern. Dass ich die Ferien sehr ausgedehnt habe, stieß glücklicherweise bei meinen sehr großzügigen Lehrern auf Verständnis. Nach der Volksschule bin ich sofort zurück aufs Schiff und ein Jahr als Matrose mitgefahren. Aber dann wurde mir das zu fad. Eines war klar: Zurück zu dieser Großmutter wollte ich nicht. Also hat meine Mutter mit mir eine Wohnung gesucht, in der ich mit vierzehn oder fünfzehn Jahren allein wohnen durfte. In einer Phase, in der die Kinder gegen die Eltern revoltieren, hat niemand geguckt, wann ich ins Bett gegangen bin, ob ich das Zimmer aufgeräumt oder die Wäsche gewaschen hab, geschweige, dass mir jemand zu essen gegeben hat. All das hat später mein Verhältnis zu meinem Sohn total beeinflusst. Als der Jakob in die Pubertät kam, stand ich dem fassungslos gegenüber – ich hatte keinen Fundus, auf den ich in irgendeiner Form hätte zurückgreifen können. Bei mir war alles anders, als hätte es diese Phase nicht gegeben.

Natürlich hab ich mir damals selber Regeln aufgestellt, erst die Mittlere Reife nachgemacht, dann das Abitur. Kurz vor dem Abi wurde ich schwanger mit Jakob, da hab ich das Gymnasium gewechselt, weil der Kindesvater mein Klassenlehrer war. Wir haben das heimliche Verhältnis dann bald legitimiert. Ich war neunzehn und habe wohl einen Vaterersatz gesucht, er war fünfzehn Jahre älter und prädestiniert für diese Rolle. Das Schwierige war nur, dass ich langsam erwachsen wurde und er das nicht mehr aushalten konnte. Als der Jakob knapp zwei war, haben wir uns getrennt, das war sehr unschön. Mein Mann wollte nämlich, dass der Jakob bei ihm lebt, und ich wollte genau das, was ich nicht hatte: eine Familie, ein Kind. Der Streit ums Sorgerecht ging durch alle Instanzen, mit psychologischem Gutachten und allem Drum und Dran. Ich hatte keine guten Karten: Studentin, kein Einkommen – der Kindesvater dagegen Oberstudienrat. Einmal hat er sogar den Jakob entführt. Als ich mit der Polizei bei ihm ankam, saß der Jakob da am Tisch, hat irgendwas gegessen und wusste gar nicht, wie ihm geschieht, als ich ihn weg holte. Das tut mir heute noch in der Seele weh. Aber dem Jakob wäre es dort nicht gut gegangen; sein Vater ist ein Mensch, der niemanden akzeptieren kann, der sich neben ihm entwickelt.

In dieser Zeit kam einmal eine Gerichtspsychologin zu uns nach Hause, eine potthässliche Frau mit dicker Brille, hinter der die Augen riesengroß aussahen. Der Kleine stand neben mir in der Tür und sagte: Warum bist du so hässlich im Gesicht? Ich habe um mein Leben geredet, um diesen Eindruck wieder gut zu machen. War aber auch selber so geplättet von diesem Aussehen, dass ich Jakob halt nicht zurechtgewiesen habe. Und in dem Gutachten hieß es dann, das Kind spräche aus, was ich denken würde.

Nach zwei Jahren Nervenkrieg hat mir das Oberlandesgericht endlich das Sorgerecht zugesprochen. Ich studierte Pädagogik, und der Jakob war in einem privaten Kindergarten, später in der Uni-Kita. Ich hab den Kleinen mitgeschleppt zu Feten und Ausflügen. Er war super pflegeleicht; wenn er müde war, hat er sich hingelegt und geschlafen. Finanziell ging es uns eigentlich ganz gut. Ich bekam ein bisschen Unterstützung von meinen Eltern, Unterhalt vom Kindesvater und hab nebenbei legasthenische Kinder betreut, was damals relativ gut bezahlt wurde. Heute denke ich, es war einerseits für den Jakob toll, weil er viel miterlebt hat. Andererseits musste er schon viel aushalten. Ich war ja noch auf der Suche nach meinem Leben, hab für ihn nicht so viel Zeit gehabt. Ja, ich denke, er ist zu kurz gekommen.

In der Uni-Kita habe ich den Richard kennengelernt, der auch einen Sohn hat. Felix ist ein Jahr jünger als Jakob, die beiden Kinder waren grundverschieden: Jakob eher offen und tollpatschig, Felix ein hochsensibler Junge.

Wir haben bald geheiratet. Richard und seine Ex-Frau hatten sich auf das Modell des Wechselns geeinigt: Felix hat acht Tage bei uns gewohnt, dann acht Tage bei seiner Mutter. Jakob fand es zwar toll, einen Bruder zu haben, aber es gab keine Normalität, sondern immer die besondere Situation: Felix ist da. Das war für alle problematisch. Ein Beispiel: Auf der Küchenbank hat acht Tage lang der Jakob rumgefläzt. Dann kam der Felix, und wir mussten sagen, komm, Jakob, rutsch mal ein bisschen, der Felix will doch auch noch da sitzen. Und der Jakob hat erst mal sein Revier verteidigt. Es war Stress, aber ich glaube, den größten Stress hat der Felix gehabt. Wenn dann noch der Richard an Jakob herumkritisiert hat, hab ich mich wie eine Löwin vor ihn gestellt, und der Streit war da. Für Richard war dieses Arrangement die einzige Möglichkeit, mit seinem Kind zu leben, das er natürlich sehr liebt. Ich aber habe als Kind selbst dieses Hin und Her erfahren und Zeter und Mordio geschrien, denn kaum, dass ich mich gewöhnt hatte, musste ich wieder weg. Kinder wollen gerne da bleiben, wo sie sind. Und so hat Felix eines Tages für sich entschieden, er wolle das nicht mehr.

Als Jakob in die Pubertät kam, wurde es ganz grauenhaft. Er ist ja ein sehr lieber Mensch, aber da war er zum Kotzen. Er hat nichts ausgelassen, was meinen Adrenalinspiegel hochtrieb und die Nerven strapazierte bis zum Zerreißen. Bis er zwölf war, gab es überhaupt keine Probleme. Ich hätte ihm ein Nikolauskostüm anziehen können, er wäre damit in die Schule gewackelt. Er war nie ein Überflieger, sondern normal begabt, hatte Einsen und Zweien. Aber mit der Pubertät war Schluss mit lustig. Er wurde Punk. Ich kriegte einen Herzkasper, als er mit einem total schiefen Irokesenschnitt ankam, wie gerupfte Hinkel. Den färbte er dann grün, gelb, rot. Und von da an ging keine Demonstration mehr ohne Jakob. Immerzu rief irgendjemand an, weil Jakob eingekesselt worden war. Zutiefst empört über herrschende Verhältnisse, saß er dann in der Zelle, aus der ich ihn auslösen musste. Er kümmerte sich um die Armen und Entrechteten, das große Problem war nur, dass er die dann hier abgeliefert hat.

Die erste war Kitty. Die meinte, sie könne doch ein bisschen bei uns bleiben, weil sie schon acht Wochen auf der Straße lebte. Was willst du sagen, wenn so ein Mädel da steht, total süß und lieb und bunt. Deren Mutter fand es dann auch super, dass die Kitty nun bei uns war. Und weil die Kitty noch nie im Ausland war, haben Jakob und sie so lange gebettelt, bis wir sie mit genommen haben in unsere Urlaubshütte in Italien. Als wir mit diesen beiden Paradiesvögeln dort einfielen, haben uns die Leute nachgeguckt, als wären wir eine Gauklerfamilie. Nach zehn Tagen war ich so fertig, dass ich ihre Mutter angerufen und das Kind ins Flugzeug nach Frankfurt gesetzt habe.

Jakobs nächstes Opfer, Nadja, war ein unglaublich kluges Mädchen, aber leicht borderline. Mit der verschwand er häufig, und ich habe sie in irgendwelchen alten Lagerhallen aufgegabelt. Das war grauenhaft. Ich hab ihretwegen mit dem Jakob irrsinnige Kämpfe gehabt. Im Nachhinein fand ich erstaunlich, dass er nicht mit den Mädchen geschlafen hat, er hat sich wirklich nur um die gekümmert. Irgendwann war er endgültig verschwunden. Nach zwei Tagen bin ich total panisch geworden. Es war schließlich ein Scheißmilieu, in dem er sich bewegt hat, und du fürchtest doch, dass er jetzt was mit Drogen anfängt. Mit einem Freund von Jakob bin ich nachts Frankfurts Niederungen abgefahren, die Kinder waren und blieben weg. Grauenhaft, er war doch erst fünfzehn! Und dann bin ich zur Polizei gegangen und hab eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Da kommst du dir vor wie ein Versager: Dein Kind haut ab. Dazu diese irrsinnige Angst um ihn. Aber die Beamten auf der Wache waren sehr nett. In der vierten Nacht, die Nerven waren total runter, rief ein Polizist an, er sprach Ur-Berliner Dialekt: Wir haben Ihren Sohn und seine Freundin aufgegriffen, sperren sie für eine Nacht ein, holen Sie ihn ab? Klar, am nächsten Morgen um elf stand ich in Berlin auf der Wache und sagte, ich möchte Jakob abholen. Was, den Verrückten? Ob ich mir gut überlegt hätte, den wirklich mitzunehmen. Inzwischen hatte ich Nadjas Mutter kennengelernt, die ihre Tochter auch gesucht und mir eine Vollmacht mitgegeben hatte. Die Polizisten haben gesagt, wir lassen die beiden noch ein bisschen schmoren und erzählen Ihnen erst mal, was passiert ist: Die Kinder wollten abhauen in die große, weite Welt. Und wo ist die? Klar, in Berlin, am Bahnhof Zoo. Dort haben sie einen Punk kennengelernt, dessen Mutter in einem noblen Segelclub am Wannsee putzte. Der Punk an sich hält ja auf Reinlichkeit, also sind sie nachts dort eingebrochen. Sie wurden festgenommen, als sie unter der Dusche standen. Das Problem waren nur die Klamotten, die fünf Tage an den Kindern geklebt haben. Sie stanken wie nasse Füchse. Ich war froh, dass mein Auto ein Schiebedach hatte. Und heilfroh, den Jakob wieder zu haben. Ich glaube, er hat diese Zeit relativ gut überstanden.

Vor zwei Jahren ist der Jakob hier ausgezogen. Einerseits fand ich das super gut. Der Jakob hat ja die Schule geschmissen nach der zwölften Klasse und nur das Fachabitur gemacht. Seitdem arbeitet er in einer Druckerei, weil er das Gefühl genießt, etwas mit den Händen zu machen. Allerdings hat er nur nachts geschafft. Ich aber muss um halb sieben aufstehen, weil ich einen Tagjob habe – als Lehrerin, Mediatorin und Drehbuchautorin. Wenn er nachts um eins hier einfiel und in der Küche rumorte, weil er Hunger hatte, war das sehr anstrengend. Unsere Wohnung ist nicht so riesig, wir schlafen neben der Küche und sind dann immer wach geworden. Da war es ganz schön zu sehen, jetzt zieht er aus, macht ja auch seinen Job, ist einundzwanzig, das reicht. Auf der anderen Seite ist der Jakob der Mensch, mit dem ich am längsten in meinem Leben zusammengelebt habe, mit keinem Menschen habe ich so viele Jahre verbracht wie mit ihm. Das war schon komisch, als er ging.

Der Jakob hat sich unglaublich toll entwickelt. Richard und ich hatten vor ein paar Jahren ziemliche Probleme miteinander, und ich hatte mich in einen anderen Mann verliebt. Da hat der Jakob sehr positiv agiert. Er war eben nicht auf meiner Seite. Auch wenn ich wütend war, hat er lange mit mir geredet und versucht, die Lage von einer objektiven Sicht aus zu betrachten. Es war ihm total wichtig, dass Richard und ich miteinander reden und zusammenbleiben. Da hab ich auch gemerkt, dass Jakob ein erwachsener Mann geworden ist.

Wenn er mit seiner Freundin Knatsch hat, kommt er an, und wir reden und versuchen zu gucken, wie man was verändern kann. Über so was redet er mit mir. Wenn er in seiner Wohnung Fußball sieht und das erste Tor fällt, klingelt hier das Telefon, und Richard und er bereden dann diesen Torschuss.

Ich finde Männer gut, die über sich und ihre Gefühle reden können. Jakob kann das. Auch wenn er damit in einem Moment anfängt, in dem es mir überhaupt nicht passt, weil ich mit meiner Kollegin eigentlich hier an einem Drehbuch arbeiten will – wenn er kommt und reden will, reißt er uns raus und schwätzt. Und das ist dann auch gut so.

Ob er mir gefällt? Man müsste dem Kerl mal die Haare schneiden, und eine Rundumerneuerung würde auch nichts schaden. Aber schöne Augen hat er, und sehr nett lächeln kann er. Am tollsten finde ich an meinem Sohn, dass er so ein lieber und offener Knuddel ist. Er hat eine sehr sensible Art. Er ist auch ein Egoist, aber er schafft es immer wieder zu sehen, wenn jemand in Not ist. Wir haben eine ziemlich herrische alte Tante, ich kriege schon vor jeder Familienfeier einen geschwollenen Hals. Der Jakob sagt dann, reg dich nicht auf, sie ist schon sehr alt, und so oft sehen wir sie doch nicht. So was mag ich total gerne an ihm. Und er hat Zivilcourage. Er hält es nicht aus, wenn irgendwas ungerecht ist, da geht er sofort dazwischen. Das habe ich ihm wohl vorgelebt, ich kann ja auch nicht den Mund halten.

Wenn er nur endlich seinen schlauen Kopf einsetzen würde. Der Felix hat früher mal gesagt: Ich sitze in der Schule und lerne und lerne, und der Jakob geht einmal hin und dann erklärt er mir das. Er weiß, dass Bücher was Gutes sind, dass man sich Rat holen kann aus Büchern, dass man die Welt über Bücher erfahren kann. Aber er bleibt lethargisch in seiner Druckerei. Im Moment ist das vielleicht für ihn okay, aber dieses Gewerbe ist ja nicht unbedingt expandierend. Was passiert, wenn die dichtmachen? Aber das kriegt er dann wohl auch für sich geregelt.

»Man kann sich nicht ewig gut mit seinen Eltern verstehen«

Jakob, 21, Frankfurt am Main

Meine Mutter hat mich mehr oder weniger allein erzogen. Meine Eltern haben sich endgültig getrennt, als ich zwei oder drei Jahre alt war. Vater, das ist für mich ein ganz komischer Begriff, weil ich nie mit einem aufgewachsen bin. Ich verbrachte zwar jedes zweite Wochenende bei ihm, bis ich dreizehn oder vierzehn war, aber Vater ist ganz anders als ich. Er ist Lehrer an einem kaufmännischen Gymnasium; ich kam aus der Punkecke. Und ich hatte immer den Eindruck, dass er schlecht damit umgehen kann, dass ich das älteste seiner Kinder bin und auch noch in der Stadt aufwuchs. Er lebt auf dem Dorf, dort wo Leute hinziehen, die keine Lust mehr auf die Stadt haben, ein Vorort halt. Wir haben uns immer über Kleinigkeiten in die Wolle bekommen, zum Beispiel über die Sprache: Scheiße – das ist für mich ein normales Wort, ich käme nie darauf, dass es ein Schimpfwort sein könnte. Er fand es furchtbar schlimm. Auch übers Kiffen haben wir ewig diskutiert. Irgendwie ist unser Verhältnis dann auseinander gegangen, nicht im Streit. Wir wollten beide nicht streiten, es hat sich auseinander entwickelt. Wir sind einfach zu verschieden. Heute weiß ich nicht, ob ich das schade finde, aber eine Zeit lang habe ich es bedauert.

Das Verhältnis zu meiner Mutter war auch lange schwierig, im Großen und Ganzen finde ich es aber normal. Inzwischen würde ich sogar sagen, dass wir eine gute Beziehung haben. Früher war es, na ja ... Als ich noch bei ihr wohnte, war es eine Mischung aus WG und Mutter-und-Sohn-Beziehung. Die Rollen waren nie so ganz klar verteilt, und ich fand es immer irgendwie komisch. Wir wohnten zwar in der gleichen Wohnung, aber wir hatten zum Beispiel komplett andere Tagesabläufe. In den letzten Jahren war ich tagsüber eigentlich nie da. Ich hab zwar meinen Anteil an der Miete und meine Rechnungen bezahlt, aber wirklich gleichberechtigt war ich trotzdem nie. Ich empfand zwischen meinem Leben draußen und meinem Leben zu Hause immer einen Widerspruch. Ich ging arbeiten, habe Kohle verdient und fühlte mich erwachsen. Doch wenn ich nach Hause kam, war ich wieder das Kind. Damit bin ich überhaupt nicht klargekommen. Es war, als hätte ich zwei verschiedene Leben. Auf der einen Seite stehe ich an der Druckmaschine und bin dafür verantwortlich, dass am nächsten Tag wieder vierzigtausend Leute ihre taz bekommen. Dann gehe ich nach Hause und bin das kleine Kind, das sich dafür rechtfertigen soll, dass es nach der Arbeit in der Kneipe noch ein Bier zu viel getrunken hat. Sie ist auf einem Schiff aufgewachsen und musste dadurch ziemlich früh erwachsen werden und ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Das wollte sie mir auf gar keinen Fall zumuten. Ich empfand mich immer drei Jahre älter, als ich war, und sie hat mich drei Jahre jünger gesehen. Irgendwo dazwischen war die Realität, aber deswegen haben wir uns regelmäßig missverstanden. Ich fühlte mich zwar durchaus ernst genommen von meiner Mutter, doch die letzte Entscheidung lag nie bei mir. Es ist eben was anderes, ob man sich von Erwachsenem zu Erwachsenem unterhält oder von Mutter zu Kind. Solange ich das Kind war, konnte ich mein Leben nicht selbst bestimmen und hatte dafür auch nicht die Verantwortung. Wenn ich nichts eingekauft habe, dann ist nichts im Kühlschrank, gut. Das ist mein Ding. Aber solange ich im Hinterkopf immer die Mama habe, auf die ich mich im Zweifel verlassen kann, bin ich für mein Leben nicht voll verantwortlich. Das ist einerseits natürlich angenehm, aber es hat mich auch wahnsinnig gekratzt. Jetzt wohne ich wieder mit jemandem in einer WG, aber es funktioniert ganz anders, wir sind gleichberechtigt, es ist unsere Wohnung, und jeder ist für seinen Kram zuständig. Vielleicht ist es mit mir auch etwas schwieriger, weil ich einen großen Freiheitsdrang habe. Ich will für mich selber entscheiden können. Wenn ich das nicht kann und auch nicht gezwungen bin, mich mit den Konsequenzen meines Handelns auseinander zu setzen, fühle ich mich, als wäre ich in einem luftleeren Raum. Ich kann es nicht richtig ausdrücken, aber das Problem habe ich nicht nur mit meiner Mutter. In der Schule hatte ich auch immer das Gefühl, fremdbestimmt zu sein, deswegen habe ich sie auch nicht fertig gemacht. Ab einem gewissen Punkt brauche ich das Gefühl, dass die Entwicklung abgeschlossen ist – erst dann weiß ich, da ist der Anfang, da ist das Ende. Diesen Abschluss gab es für mich erst, als ich ausgezogen war. Da war mir dann klar, wer ich bin und was ich will. Es war einfach an der Zeit auszuziehen.

Einerseits ist meine Mutter wahrscheinlich froh, dass ich gegangen bin. Auf der anderen Seite hat es ihr aber auch nicht gepasst, das weiß ich. Ich war ja zwanzig Jahre lang immer da und ein Teil von ihrem Leben. Es ist für sie genauso komisch wie für mich. Mir hat hinterher manchmal sogar der Streit gefehlt, weil es einfach zu unserem Leben dazugehörte. Wir sind beide sehr aufbrausend, und ich fühlte mich immer unterlegen. Es war nicht einfach, mit meiner Mutter zu streiten, weil sie eine sehr spitze Zunge hat. Mit dreizehn oder vierzehn fiel es mir sehr schwer, mich gegen sie zu wehren. Zum Schluss, kurz bevor ich auszog, haben wir dann nicht mehr so viel gestritten. Früher war es ziemlich heftig. Es lag wahrscheinlich daran, dass mein Leben anders war, als sie sich das wünschte. Ich bin eine Weile lang ziemlich durchgedreht, habe ein bisschen zu viele Drogen genommen und nicht mehr so ganz die Realität gesehen. Oft war mir alles scheißegal. Einmal bin ich nach Berlin abgehauen, dann war ich mal drei, vier Wochen in Bad Soden verschollen ... Ich bin ziellos durch die Weltgeschichte gerannt und habe irgendetwas gesucht ...

Begonnen hat alles mit so einem diffusen Ökoding. Anfang der Neunziger gab es diese Greenpeace-Welle und viele Greenteams, bei denen habe ich als Zehnjähriger mitgemacht. Doch das war letztlich total frustrierend, ich hatte schnell das Gefühl, dass sich niemand wirklich für die Umwelt interessiert und dass den Politikern die Welt scheißegal ist. Ich begann mich mehr und mehr für die Welt zu interessieren, und was ich sah, waren der Golfkrieg und die Brandanschläge von Mölln und Lübeck. Also bin ich zu den ersten Demos gegangen und kam dadurch mit einer bestimmten politischen Ecke in Berührung. Bei den Demos habe ich mich mit Leuten angefreundet, die ähnlich dachten wie ich, die auch irgendeinen Weg suchten, etwas zu verändern. Dass meine Eltern selbst aus dieser Öko-Ecke kamen, empfand ich allerdings eher als Problem. Dadurch war es für mich viel schwieriger, mich abzugrenzen, und mich abzugrenzen war mir wichtig. Später hat sich das noch gesteigert, ich wollte unbedingt provozieren, mit dem ganzen Punk und so. Am liebsten wollte ich alle provozieren, dabei war das gar nicht so einfach. Früher musstest du dir nur lange Haare wachsen lassen und einen Bart, und du warst ein Bürgerschreck. Meine langen Haare haben niemanden mehr interessiert, also habe ich sie mir grün gefärbt, aber das schockierte auch keinen. Dann bin ich mit ’nem Iro rumgelaufen, aber niemand interessierte sich dafür. So bin ich immer extremer geworden. Dabei hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, dass irgendetwas in der Welt furchtbar falsch läuft, dass alles ganz anders sein müsste, viel besser. Weil die Welt aber nicht besser wurde, habe ich gesagt, es ist eh alles scheiße, da können wir es auch kaputtmachen. Ich sah nur noch das Negative und fand, dass die Welt immer schwärzer und schwärzer wurde. Der Weltuntergang hatte für mich eigentlich schon stattgefunden. Sogar der Wind wehte damals in die falsche Richtung. Aber gleichzeitig machte es auch einfach Spaß – vierzig Leute, die mit ausgestrecktem Arm durch die Kosmetikabteilung bei Hertie rennen und hinter ihnen klirrt es nur. Und dann abhauen und sich drei Stunden später wieder treffen und die Hucke zusaufen und daran freuen, wie toll man ist. Das fand ich lustig. Diese Gruppenerlebnisse haben eine sehr eigene Wirkung. Irgendwann ging es dann nur noch um die absolute Freiheit, um diesen Begriff der Anarchie.

Zu dem Zeitpunkt habe ich mich als diffuse Guerilla oder so betrachtet, die mit kleinen Nadelstichen die Leute ärgert. Das Gefühl war schon Klasse, und ich konnte mich auch noch für gefährlich halten, für einen Staatsfeind. Ich wollte einfach alles anders machen. Ich kann das schlecht erklären, es war das Bedürfnis, weiter zu gehen als die eigenen Eltern. Denn ich wollte zwar gegen sie oder eben gegen meine Mutter rebellieren, dabei habe ich aber viel gesagt und getan, was ihr selbst nicht unbekannt war. Sie hatte ja auch gegen den Staat demonstriert und hatte als 68er ein ähnliches Umfeld wie ich. Das wollte ich damals aber gar nicht sehen, das durfte gar nicht sein, weil es eben die Eltern waren. Es konnte nichts anderes geben als meinen Lebensstil. Und das musste ich natürlich auch jedem sagen, das war ganz wichtig. Am liebsten wäre ich mit einem Schild rumgelaufen, auf dem steht, ihr seid alle Scheiße. Da war schon viel Arroganz dabei, und es war unausgegoren und unrealistisch, aber ich habe nie darüber nachgedacht, was hinterher kommt, und mir auch nie die Mühe gemacht zu differenzieren. Alles wurde zu meinem kleinen Privatkrieg und je sinnloser der wurde, umso mehr habe ich gekämpft. Die RAF fand ich natürlich auch Klasse, weil sie kämpfte und auch so furchtbar böse war. Und mit dem RAF-Stern auf der Jacke konnte ich endlich auch schockieren. Heute kann ich über die meisten Sachen nur noch lachen. Aber damals war mir das todernst und irgendwann war ich soweit, dass niemand mehr wirklich an mich rankam. Ich war so dicht, dass ich nichts mehr mitbekam. Ich wollte auch gar nichts mehr mitkriegen. Wahrscheinlich ist bei mir im Kopf einiges durcheinander geraten, vor allem Musik und Leben. Musik ist eigentlich eine Kunstform, aber ich habe die Aussagen darin wörtlich genommen.

Mutter war damals nur hilflos. Ich bin mir bis heute nicht sicher, was sie von dieser Zeit mitbekommen hat und was nicht. Meine Drogen-Erfahrungen hat sie aber auf jeden Fall miterlebt. Darüber wurde dann auch diskutiert, aber, na ja, da habe ich eher Halbwahrheiten gesagt, aus sieben Mal koksen wurde dann ein Mal. Über vieles davon konnte ich mit ihr nie reden. Ich wollte es gar nicht. Man kann sich nicht ewig gut mit seinen Eltern verstehen. Aber auch wenn ich total dichtgemacht habe, Schnittstellen gab es schon mit ihr. Und eigentlich meinte sie es ja gut, das wusste ich immer. Doch das Beste, was sie für mich wollte, war nicht das, von dem ich glaubte, dass es gut für mich ist. Sie wirft mir zum Beispiel heute noch vor, dass ich faul sei und meine Möglichkeiten nicht nutze. Womit sie nicht nur Unrecht hat. Doch ich empfinde das wieder nur als die Diskussion, ob ich so alt bin, wie ich mich fühle, oder so jung, wie sie glaubt. Ich denke, ich bin schon einundzwanzig und muss mein Leben selbst regeln. Sie meint, ich bin erst einundzwanzig, und sie müsse mir noch helfen. Dabei waren die Regeln, die sie mir beigebracht hat, alle total vernünftig. Das sind Werte, die ich so heute auch wieder beachte. Aber vielleicht war alles zu vernünftig. Vielleicht musste ich mich erst mal an der Realität austesten. Ich habe das wohl gebraucht. Ich glaube aber, so richtig verloren hat sie mich nie.

»Mich trieb die Sorge, dass er uns völlig verloren geht«

Dagmar, 52, Berlin

Es kostete viel Kraft, Sid, dieses anstrengende, leidenschaftliche Kind, zu bändigen. Unser Zweiter, der eineinhalb Jahre jünger ist, war viel pflegeleichter. Sid war noch kein Jahr alt, hatte hohes Fieber, ich saß mit ihm beim Arzt, da blieb er nicht, wie alle anderen Babys, brav auf meinem Schoß, sondern robbte rotglühend auf allen vieren durch das Wartezimmer. Im Trotzalter schmiss er sich hin, lief blau an und schrie. Immer wollte er beschäftigt werden. Aber das hab ich gern getan. Ich dachte, die wildesten Fohlen werden die besten Pferde. Gleichzeitig ist er hochsensibel. Ein halbes Jahr, bevor er in die Schule kam, war er furchtbar aufgeregt. Er begann, an den Fingernägeln zu knabbern und hat eine Zeit lang ins Bett gemacht. Das hörte nach den ersten Schultagen wieder auf, als er wusste, wie es läuft. Und dann zeigten sich seine Talente. Zu Weihnachten, also nach vier Monaten Lernen, las er die ersten Bücher. Er malte nie Kopffüßer, hat diese Phase einfach übersprungen, malte gleich Körper. Und sobald er alle Buchstaben kannte, begann er, Gedichte zu schreiben. Einmal schenkte er mir zu Weihnachten ein Märchen, das er geschrieben hat, ein richtiges Märchen mit einer logischen Handlung.

Seine wilde, ich-bezogene Art schlug relativ zeitig um in Vernunft. Nicht, dass er ein Musterschüler wurde, aber als er elf war, konnte man vieles vernünftig mit ihm klären, während Gleichaltrige noch wie Kleinkinder rumhampelten. Über Kleinere hat er seine Flügel ausgebreitet und sie beschützt, das war niedlich.

Sids Pubertät und die Wende fielen zusammen, er musste also äußere und innere Veränderungen zugleich verkraften. Die Vorstellung von einem Leben, das durchgeplant war bis zur Rente, stimmte plötzlich nicht mehr. Als Sid in die neunte Klasse ging, drifteten die meisten seiner Mitschüler ab nach rechts. Mein Sohn lief in die andere Richtung, und zwar in ziemlichem Tempo. Er wurde Punk, sehr bunt und extrem: Ließ sich Löcher ins Ohr stechen, was ja etwas abwegig ist für einen Jungen, dann musste auch noch ein Ring in die Nase. Er trug diese komischen zerfetzten Klamotten, eigenartige Frisuren, Hahnenkämme. Aus den engen Kumpels waren Rivalen geworden, es ging ganz hart Rechts gegen Links. Sie haben ihm nur deshalb nichts getan, weil sie ihn kannten und schätzten. Und wir hatten in dieser besonderen Zeit mit uns zu tun, waren nicht, wie die Jahre zuvor, imstande, ihm irgendwelche Lebensweisheiten nahe zu bringen. Ich bin Juristin und in meinem Job geblieben, wenn auch mit Kämpfen und Ungewissheiten. Mein Mann hatte viel größere Schwierigkeiten, unter denen er sehr gelitten hat.

Etwa ein Jahr nach der Wende hat mir Sid ein dickes Büchlein mit selbst geschriebenen Gedichten und Geschichten in die Hand gedrückt. Die Themen? Liebe und Gesellschaft. Seine erste große Liebe hatte er, da war er noch nicht vierzehn, und er wollte sie unbedingt heiraten. Dann wurde es ihm doch zu eng. Über die Mühe, sich von ihr zu trennen, hat er geschrieben, über seine Schuldgefühle, über die zweite Liebe, die ihn verlassen hat. Er hat sich den Verlust der Freunde von der Seele geschrieben, über die gesellschaftlichen Verhältnisse reflektiert, die er in Frage stellte. Schließlich schien früher alles gut und gerecht, jetzt sah er, dass vieles auf Lügen aufgebaut gewesen war. Dass er mir dieses Büchlein gab, habe ich als unglaublichen Vertrauensbeweis empfunden. Ich war sehr beeindruckt von seiner Art, sich auszudrücken, und konnte dadurch erst richtig begreifen, was in ihm vorgegangen war. Denn nach außen hat er es nicht getragen. Er hat es durch Schreiben verarbeitet. Nein, darüber diskutiert haben wir nicht. Ich wusste nun, wie es um ihn steht, und er wusste, dass ich es weiß, und das war gut so. Meinem Mann habe ich das Buch nicht gezeigt, Sid hatte es ja mir gegeben, und es war was ganz Intimes.

Meinem Mann hat es schon was ausgemacht, dass sein Sohn so schrill rumlief. Mir nicht, das Leben ist eben bunt. Allerdings hab ich Sid gesagt, dass er komisch angesehen und anders eingestuft wird, als er ist. Die Leute, die ihn von früher kannten, gaben mir zwar zu verstehen, dass er für sie der nette Junge geblieben ist, mit dem sie sich vernünftig unterhalten können. Mich trieb eher die Sorge, dass er uns völlig verloren geht.

Auf dem Gymnasium war es schon schief gegangen. Er hat das Probejahr nicht geschafft, für Ostschüler galt damals ein Jahr statt ein halbes Probejahr. Sid hat es zu lax genommen und die Lehrerin nicht den Mut gefunden, uns rechtzeitig zu warnen, weil Sid doch so sensibel sei. Das hab ich ihr sehr übel genommen. Gerade einem sensiblen Kind sollte man doch behutsam und rechtzeitig den Weg weisen.

Sid war überhaupt nicht bereit, etwas zu machen, wozu er keine Lust hatte, worauf er nicht eingestellt war. Er wollte studieren, er ist ein Intellektueller, will schreiben, lesen, Musik machen. Durch Zufall hörte ich von der Fachschule für Sozialpädagogik. Dafür ist nur der Realschulabschluss erforderlich. Es gab also kein Lehrlingsgeld, auf das viele angewiesen waren. Und es wurden Fächer angeboten, für die Sid sich interessierte: Deutsch, Fremdsprachen, Sozialkunde, Psychologie, Kunst, Musik. Also hab ich ihm gesagt, zieh über dein Totenschädel-Shirt was Neutrales, geh dahin und bewirb dich. Damals waren Sids Haare gerade knallrot. Daran ließ sich schwer was ändern. Aber ich hatte die Hoffnung, dass Leute, die mit Pädagogik und Psychologie zu tun haben, toleranter sind als andere Lehrherren. Es hat geklappt, und wir waren sehr froh. Sid hat Gitarre spielen gelernt, mit seinen Schreibkünsten brilliert. Hat sogar ein Kindermusical geschrieben, das vor der ganzen Schule aufgeführt worden ist. Ich war sehr stolz auf ihn. In dieser Zeit hörte er auch damit auf, sich die Haare bunt zu färben.

Noch als er auf dieser Schule war, ist er von uns weggezogen. Wir haben sehr beengt gewohnt, zu viert auf nicht mal sechzig Quadratmetern. Zu DDR-Zeiten hatten wir keine Chance, eine größere Wohnung zu bekommen. Und nach der Wende waren die Jungen fünfzehn und siebzehn Jahre alt, da hatte es nicht mehr viel Sinn, eine größere Wohnung zu suchen, in der jeder Junge ein eigenes Zimmer hat. Für mich und meinen Mann reicht ja der Platz. Eines Tages fragte also Sid, ob wir was dagegen hätten, wenn er sich eine eigene Wohnung suchte, seinetwegen müssten wir nicht umziehen. Er war ziemlich erstaunt, dass ich zugestimmt, nicht gekrallt habe. Schließlich kann ich ihn nicht mit Gewalt halten. Er ging und kam ohnehin, wann er wollte, und ich hab mir Gedanken gemacht, wenn er nicht rechtzeitig zu Hause war, also wollte ich lieber nicht mehr so genau wissen, was er treibt. Wir hatten über alles geredet, er wusste um die Gefahren, mehr kann man nicht machen. Wichtig ist ja, im Gespräch zu bleiben. Wenn Jungs ihren eigenen Weg gehen, muss man sehr aufpassen, dass man keine falschen Töne anschlägt und sie sich verschließen. Das geht los, wenn sie dreizehn, vierzehn Jahre alt sind, aber die wilde Zeit kommt später.