Mutterleid –  Mutterglück - Gert Rothberg - E-Book

Mutterleid – Mutterglück E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Stella Vonberg stieg langsam zu der Burgruine Hellenstein empor. Dann schaute sie hinab in das liebliche Tal der Brenz. Ihr Blick streifte über die Dächer von Heidenheim, suchte das Haus, in dem sie mit den Eltern wohnte. Sie fand es im Gewirr der Dächer nicht und seufzte unwillkürlich laut auf: »Ich wollte, es gäbe das Haus nicht.« Stella erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Sie dachte an die Mutter, den kleinen Bruder Ruppi. Dem Gedanken an den Vater wich sie aus. Das Blut schoss ihr in das schmale braune Gesicht unter dem dunkelbraunen Haar. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Welches Haus meinst du?«, fragte da eine fremde Stimme neben ihr. Stella schaute die wohlbeleibte Unbekannte an, die leise neben sie getreten war. Unwillkürlich tat sie einige Schritte zur Seite. Da ihr Vater an allen anderen Menschen herbe Kritik übte, hatte sie das Vertrauen zu den Menschen verloren und verschloss sich auch jenen, die nett zu ihr waren. Die Unbekannte schien nicht zu merken, dass sie vor ihr zurückgewichen war. Sie rückte nach. »Du hast mir noch keine Antwort gegeben. Oder muss ich ›Sie‹ zu dir sagen?« »Ich bin erst zwölf«, erwiderte Stella leise.

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Sophienlust Extra – 65 –

Mutterleid – Mutterglück

Miras Ehe ist in einer tiefen Krise …

Gert Rothberg

Stella Vonberg stieg langsam zu der Burgruine Hellenstein empor. Dann schaute sie hinab in das liebliche Tal der Brenz. Ihr Blick streifte über die Dächer von Heidenheim, suchte das Haus, in dem sie mit den Eltern wohnte. Sie fand es im Gewirr der Dächer nicht und seufzte unwillkürlich laut auf: »Ich wollte, es gäbe das Haus nicht.« Stella erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Sie dachte an die Mutter, den kleinen Bruder Ruppi. Dem Gedanken an den Vater wich sie aus. Das Blut schoss ihr in das schmale braune Gesicht unter dem dunkelbraunen Haar. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Welches Haus meinst du?«, fragte da eine fremde Stimme neben ihr.

Stella schaute die wohlbeleibte Unbekannte an, die leise neben sie getreten war. Unwillkürlich tat sie einige Schritte zur Seite. Da ihr Vater an allen anderen Menschen herbe Kritik übte, hatte sie das Vertrauen zu den Menschen verloren und verschloss sich auch jenen, die nett zu ihr waren.

Die Unbekannte schien nicht zu merken, dass sie vor ihr zurückgewichen war. Sie rückte nach. »Du hast mir noch keine Antwort gegeben. Oder muss ich ›Sie‹ zu dir sagen?«

»Ich bin erst zwölf«, erwiderte Stella leise. Sie wagte es nicht mehr, sich weiter abzusetzen, denn die Fremde würde ihr wohl auf den Fersen bleiben. Sie glaubte, die Stimme des Vaters zu hören: ›Halte dir die Menschen vom Leib. Sie hängen sich an einen und kleben an einem wie Kaugummi, den man kaum noch loswird.‹

Die Fremde blieb unbefangen. »In diesem Alter sind die Kinder heute schon beinahe erwachsen. Ich rede aus Erfahrung. Ich bin Köchin in einem Kinderheim mit vielen Kindern. Auch solche deines Alters sind darunter.«

Sie plauderte von Sophienlust, von Frau von Schoenecker, von dem Tierheim Waldi & Co., von den Kindern. Stella hörte höflich zu.

Magda, die Köchin von Sophienlust, die einige Urlaubstage in Heidenheim verbrachte, unterbrach ihre Rede. Sie hatte während ihrer jahrelangen Tätigkeit gelernt, in den Gesichtern der Kinder zu lesen, und fühlte, dass dieses hübsche junge Mädchen verzweifelt war. Sie fragte nicht aus Neugier. Sie wollte helfen.

»Du hast vor etwas Angst?«

»Vor meinem Vater.«

»Warum? Hast du etwas angestellt?«

»Morgen wird mein Vater erfahren, dass ich im Gymnasium sitzengeblieben bin.«

»Das ist doch kein Unglück, Mädchen. Das ist schon vielen sehr gescheiten Leuten passiert.«

»Für meinen Vater ist es ein ganz großes Unglück.« Stella begann zu weinen. »Ich wage es nicht, heimzugehen.«

»Schlägt er dich vielleicht?«, empörte sich Magda.

»Nein! Er tut etwas viel Schlimmeres. Er spricht wochenlang nicht ein einziges Wort mit mir, wenn er sich über mich geärgert hat. Dann bin ich Luft für ihn.«

Magda fand das unerhört grausam. In ihrer burschikosen Art sagte sie, was sie dachte. »An deiner Stelle würde ich heimgehen und es dem Vater gleich sagen. Du solltest dich dafür entschuldigen, dass du faul gewesen bist, und ihm versprechen, dich zu bessern. Wenn er dann immer noch nicht mit dir redet, dann frage ihn, ob er immer der Erste in der Schule war. Frage ihn, ob er Halsweh habe und seine Stimme schonen müsse. Rede einfach. Dann wird er schon antworten.«

»Sie kennen meinen Vater nicht«, erwiderte Stella und wischte sich die Tränen aus den Augen. Plötzlich rannte sie davon und ließ Magda stehen, die ihr mit offenem Mund nachschaute.

Auch Magda machte sich nun auf den Heimweg in ihre Pension. Dabei dachte sie über das verängstigte Mädchen nach und kam zu dem Schluss, da kommen manche Leute und bedauern unsere Kinder, weil sie Waisen oder den Eltern unerwünscht sind. Doch wie gut haben sie es bei uns im Vergleich zu diesem netten Mädchen. Ich will Frau von Schoenecker von dem Mädchen erzählen.

*

Stella klingelte. Die Mutter öffnete die Wohnungstür, schaute Stella an und sagte: »Du wirst nicht versetzt?«

»Leider nicht, Mutti.«

Mira Vonberg nahm ihre Tochter in die Arme. »Ich weiß, dass du vor deinem Vater Angst hast. Ich werde dabei sein, wenn du es ihm sagst.«

Stella wusste, der Liebe der Mutter war sie sicher. Auf die Liebe des Vaters konnte sie jedoch nicht bauen. »Danke, Mutti!«

»Du musst verstehen, dass er sehr enttäuscht sein wird, Stella. Er möchte stolz auf dich sein, wie alle Väter. Aber ein Unglück ist es nicht.«

»Das sagte die Frau auch.«

»Welche Frau?«

Stella erzählte von der Begegnung oben auf dem Hellenstein. Mira Vonberg hörte ihrer Tochter aufmerksam zu. Sie wollte der Zwölfjährigen das Gefühl geben, dass die Niederlage, die Markus als Katastrophe empfinden würde, zwar traurig und ärgerlich war, aber dass es in Stellas Hand gegeben war, daraus zu lernen.

»Wenn du mit den Fäusten in die Luft schlägst, werden sich deine Muskeln nicht entwickeln, Mädchen. Wenn du aber Schweres mit ihnen hebst, wenn du gegen Widerspruch ankämpfst, werden sie stärker. Aber nun komm. Sage Ruppi guten Tag und kämme Wulli, der jetzt im Sommer zu viele Haare verliert. Ich bereite das Abendessen zu. Bis Vater heimkommt, können wir noch miteinander reden.«

Stella nahm den elf Monate alten Bruder auf die Arme und küsste ihn zärtlich. Zuerst war sie eifersüchtig auf ihn gewesen, denn vorher war die geliebte Mutti nur für sie allein dagewesen. Nun musste sie teilen. Aber sie durfte Ruppi windeln und füttern, fühlte sich als kleine Mama, begriff, dass er die Aufmerksamkeit und Fürsorge der Mutter mehr brauchte als sie, die Gymnastin. Aus der eifersüchtigen Ablehnung war inzwischen hingebungsvolle Liebe geworden.

Stella setzte Ruppi in das Ställchen zurück. »Nun darfst du zuschauen, wie ich Wulli kämme, Ruppi. Wenn du groß bist, darfst du es tun. Er wird dich genauso lieb haben wie mich.«

Sie rief nach dem Hund, der bellend angesaust kam. Er hatte sein Schlafkörbchen im Abstellraum hinter der Küche. Dorthin war er vom Vater verbannt worden. Stella lockte ihn auf den Balkon. Er sprang auf den Tisch und ließ sich widerstandslos striegeln und glätten. Sie spielte mit ihm, lobte ihn, gab ihm Fleischbröckchen als Belohnung. Doch als sie das Auto ihres Vaters unten vor dem Haus bremsen hörte, kam die Angst, die sie bei der Beschäftigung mit ihrem geliebten Hund vergessen hatte, zurück. Geh ins Körbchen, Wulli. Belle nicht. Vater wird heute nicht guter Laune sein.«

Als habe der Hund sie verstanden, klemmte er seinen Schwanz zwischen die Hinterbeine, trottete mit Hängeohren durch das Kinderzimmer, drehte sich unter der Tür noch einmal um und schaute sie traurig an.

»Du weißt doch, dass Vater dich nicht sehen will, armes Hundchen. Wenn er die Zeitung liest, komme ich zu dir, Wulli. Nun geh schon!«

Stella eilte ins Badezimmer, schrubbte sich die Hände, kämmte das Haar und half der Mutter beim Auftragen des Essens. »Es ist, als ahne Vater, was ihn erwartet. Er kommt heute früher heim als sonst, Mutti.«

Hastig sagte Mira Vonberg: »Weine nicht. Du weißt, Vater hasst das. Sei nicht trotzig und entschuldige dich. Gib keinesfalls ihm die Schuld, hörst du? Versprich, dass du im neuen Schuljahr sehr fleißig sein willst.«

»Ja, Mutti.«

Mira wusste, dass es nicht Stellas Schuld war, dass sie im Gymnasium versagte. Sie musste dem Vater ständig ihre Fähigkeiten beweisen, und er war ungeduldig, wenn sie eine Wissenslücke zeigte. Er zischte sie dann an. Manchmal saß er neben ihr bis nach Mitternacht, bis sie die Hausaufgaben fehlerfrei gelöst hatte. Jeden Abend, bevor Stella zu Bett gehen durfte, hielt er ihr denselben Vortrag. »Du musst es weiterbringen als ich. Du musst die Erste werden. Auch ich war der Beste, bis ich krank wurde, monatelang im Krankenhaus lag und so mein Abitur nicht schaffen konnte.

Mira wusste, dass es eine einfache Blinddarmoperation gewesen war, die seinen Schulweg nur für kurze Zeit unterbrochen hatte. Dieses Ereignis war seine Entschuldigung für sein mangelndes Talent. Er hatte später, nach der Volksschule, in die er zurückversetzt worden war, eine kaufmännische Schule besucht, mit eisernem Fleiß gearbeitet und war heute Speditionsleiter der Heidenheimer Schuhfabrik. Die Stellung war gut bezahlt. Er hatte fünf Untergebene. Seine Chefs lobten ihn, doch jene, die unter ihm standen, fürchteten ihn.

Mira hatte ihr Abitur als Drittbeste bestanden. Ihr Wunsch war gewesen, Tierärztin zu werden. Da hatte sie Markus kennengelernt, sich in ihn verliebt. Aus der Verliebtheit war Liebe geworden, gepaart mit Respekt vor seinem Fleiß, seiner spartanischen Lebenshaltung. Er war so ganz anders gewesen als die jungen Männer, die sie bis dahin gekannt hatte. Er besuchte keine Nachtlokale, tat das Tanzen als ungesunden Sport ab. Er bewegte sich lieber in der frischen Luft, wanderte – und sie wurde seine Begleiterin. Er lernte Englisch, sie half ihm dabei. Als sie ihren Eltern gesagt hatte, dass sie nicht studieren, sondern Markus Vonberg heiraten wolle, waren diese enttäuscht gewesen. »Wir haben nichts an ihm auszusetzen, Mira. Aber wäre es nicht besser, du würdest einen Beruf erlernen, der dich ernährt, wenn deine Ehe nicht halten sollte?«

Mira hatte damals gelacht. Wenn es einen treuen Mann gab, dann Markus. Sein Lebensziel war, eine Familie zu gründen, ein bürgerliches Leben zu führen, es zu etwas zu bringen.

Während Mira die Kirschsuppe in die Terrine füllte fiel ihr die seltsame Bemerkung ein, die ihr Vater kurz vor seinem Tod gemacht hatte. »Es gibt Menschen, die zu viele Tugenden haben, Mira. Sie sind mir unheimlich, denn aus den Tugenden können später Laster werden.«

Er hatte recht behalten, ihr gescheiter Vater. Aus Markus’ Ehrgeiz war Besessenheit geworden. Er kritisierte jeden, der über ihm stand, beneidete ihn. Sein einfacher Lebensstil war zur Pedanterie ausgeartet. Seine Abneigung gegen ein leichtsinniges Leben hatte sich in Selbstgefälligkeit gewandelt, in Philistertum, in Menschenverachtung. Er hatte keinen Freund, er wollte auch keinen. Er genügte sich selbst. Der Einzige, den er im Haus duldete, war Alban Sanders, der Mann, der sie einmal verehrt hatte. Mira dachte oft, dass Markus es genieße, dem ehemaligen Nebenbuhler immer wieder vor Augen zu führen, dass er den Sieg errungen habe.

Aber nun war Stella unterlegen. Mira riss sich zusammen, um der Tochter die innere Unsicherheit nicht zu zeigen. Sie lächelte sie an. »Nimm den Pudding aus dem Kühlschrank, Stella. Du weißt, dass Vater zu kühle Speisen nicht verträgt.«

Stella gehorchte. Dann betrat sie hinter der Mutter das Wohnzimmer.

Der Esstisch stand vor dem Fenster, eingerahmt von Grünpflanzen. Der Vater saß am Tisch, las die Zeitung. Als Mira und Stella eintraten, hob er den Kopf und schaute die Tochter an. »Nun, weißt du schon, wie du abgeschnitten hast? Ich hoffe als Erste, wie es sich für meine Tochter gehört.«

Stella schaute hilflos die Mutter an. Mira sagte ruhig: »Wir wollen erst essen, Markus.«

Er zog die Augenbrauen zusammen. »Da stimmt doch etwas nicht? Ich will eine klare Antwort.«

Mira schaute ihren Mann, den sie einmal sehr geliebt hatte, an. Aus der Liebe war inzwischen die Gewohnheit des Zusammenlebens geworden. Er war der Vater ihrer beiden Kinder. Die Gemeinschaft mit ihm war von Jahr zu Jahr schwieriger geworden. Aber sie hatte es gelernt, vor Widerständen nicht davonzulaufen. Sie hoffte, dass Markus im Laufe der Jahre wieder der Mann sein würde, den sie respektieren konnte.

»Du sollst sie haben, wenn du unbedingt darauf bestehst, Markus. Aber ich bitte dich, habe Verständnis für Stella.«

Markus sprang hoch und riss in seiner Erregung das Tischtuch mit. Teller, Gläser und Besteck klirrten auf den Teppich. Stella wich an das Büfett zurück, klammerte sich daran fest. Sie hörte im Nebenzimmer Ruppi in seinem Bett krähen und von weitem Wullis Winseln.

»Laß mich mit Vater allein«, bat Mira ruhig.

»Sie bleibt da!« Seine Stimme war so frostig, dass die Zwölfjährige plötzlich fror. »Willst du unsere Tochter zu einer feigen Memme erziehen?«

»Ich will ruhig mit dir sprechen, Markus.«

»Sie soll es mir selbst sagen. Die Wievielte bist du?«

Stella stieß sich vom Büfett ab. Mit dem Mut der Verzweiflung rief sie: »Nicht einmal die Letzte! Ich bin sitzengeblieben und muss die Klasse wiederholen.«

Es wurde still im Zimmer. Stella war es, als käme eine Lawine angerollt und begrübe sie unter sich. Sie hatte sich das manchmal in ihrer Fantasie vorgestellt, sich gefragt, wie den Armen, die am Ersticken waren, zumute sein musste. Nun rang sie selbst nach Luft, als sie das verzerrte Gesicht des Vaters sah.

»Sitzengeblieben? Meine Tochter sitzengeblieben? Diese Schande wagst du mir ins Gesicht zu sagen? Nächtelang habe ich mit dir gearbeitet. Meinen so dringend benötigten Schlaf habe ich für dich geopfert, dich gefördert …«

Mira hob beide Hände und unterbrach ihn: »Auch Stella, die mehr Schlaf braucht als du, hat zu wenig Schlaf bekommen. Nicht durch ihre Schuld, Markus.«

»Nun soll ich den Sündenbock spielen, Mira? Diese Rolle lass ich mir nicht anhängen. Wir wollen doch festhalten, dass unsere Tochter ein Versager ist. Sie kann nichts, sie ist zu faul, sie wird in der Gosse enden.«

»Das haben schon viele Väter behauptet und sich geirrt, Markus«, widersprach Mira. »Stella wird die Klasse wiederholen. Sie wird dir versprechen, dass sie …«

»Ich verzichte auf jegliches Versprechen. Sie wird in die Volksschule zurückkehren. Ich bin nicht mehr an ihr interessiert. Habt ihr das verstanden? Beide?«

Sie hatten. Die Mutter ebenso wie die Tochter. Stella ging aus dem Zimmer, mit hochgezogenen Schultern. Sie flüchtete zu Wulli, ihrem Liebling, in die Abstellkammer. Sie kauerte sich neben ihm nieder, umhalste ihn, weinte. »Sei du nur froh, dass du kein Mensch bist und nicht zur Schule musst, Und noch froher kannst du sein, dass du nicht weißt, wer dein Vater ist.«

Wulli leckte ihr zärtlich das Gesicht, winselte an ihrem Hals, und Stella fühlte sich ein wenig getröstet. Sie hörte das Schmettern der Tür im Wohnzimmer. Lautlos schlich sie hinaus auf den Gang, sah den Vater im Kinderzimmer verschwinden. Sie hörte ihn mit Ruppi, seinem elf Monate alten Sohn, der kein Wort verstehen konnte, sprechen.

»Nun muss ich meine ganze Hoffnung auf dich setzen, Rupprecht. Ich habe dir den Namen ›Der Ruhmglänzende‹ absichtlich gegeben. Du wirst ihm keine Schande machen, mein Sohn. Deine Schwester erhielt den Namen Stella, ›Der Stern‹. Sie sollte ein Stern werden. Aber sie ist ein Nichts, ein Unstern, ein Pfahl in meinem Fleische. Wir werden vergessen, dass sie existiert.«

Stella schlich zu ihrem Hund zurück. »Nun will er mir auch noch Ruppi nehmen. Wie froh bin ich, dass ich weiß, dass Mutti mich lieb hat, auch wenn ich ein Nichts bin.«

*

An diesem Abend wartete Mira sehnsüchtig darauf, dass ihr Mann endlich einschlafe. Markus wälzte sich von einer Seite auf die andere. Mira wusste, wie sehr es in ihm wühlte, dass er sie am liebsten anschreien würde. Aber er ­behandelte auch sie wie Luft. Er hatte sich ausgezeichnete Manieren zugelegt, wandte diese aber nur vor Fremden an, denen er imponieren wollte. Früher war er auch ihr gegenüber ein vollendeter Kavalier gewesen, und sie hatte die Fassade nicht durchschaut.

Endlich kam aus seinem Mund ein leises Pfeifen, dem wenige Sekunden später ein kräftiges Schnarchen folgen würde. Mira wartete mit angehaltenem Atem, dann schlüpfte sie aus dem Bett und ging auf Zehenspitzen in das Fremdenzimmer. Nach Ruppis Geburt hatte sie es für Stella eingerichtet. Seine Bestimmung, Gäste aufzunehmen, hatte es sowieso nie erfüllen müssen. Markus hatte keine Gäste in der Wohnung geduldet.

Mira hörte das verhaltene Weinen, setzte sich auf Stellas Bett und nahm den Kopf ihres Kindes zärtlich zwischen ihre Hände. »Weine dich ruhig aus, Stella. Ich habe gesehen, dass du deinen Vater belauscht hast.«

»Er will mir den Bruder wegnehmen, Mutti.«

Mira beruhigte das verstörte Kind. »Niemand kann euch beide trennen, wenn ihr selbst es nicht wollt.«

»Ruppi ist noch so klein und versteht nichts, Mutti.«

»Dann kann er doch auch nicht verstehen, was Vater zu ihm gesagt hat, Stella. Benutze deinen Verstand. Ich weiß, dass du intelligent genug bist, um später zu studieren. Dein Vater hat Fehler gemacht, ich auch. Das passiert allen Eltern, denn wir sind nicht vollkommen. Ich werde darauf bestehen, dass du in Zukunft mehr Schlaf bekommst.«

»Ich brauche ihn nicht mehr, Mutti.

Ich muss doch in die Volksschule zurück. Da brauche ich mich nicht anzustrengen.«

Mira holte tief Luft. Sie war entschlossen, um Stellas Zukunft willen jeden Kampf mit Markus auszufechten. Sie selbst hatte keinen Beruf erlernt, weil sie geheiratet hatte. Ihre Tochter sollte einmal nicht in derselben Abhängigkeit wie sie leben.

»Du wirst im Gymnasium bleiben, Stella. Denke an das, was ich heute Abend gesagt habe. Die Kraft erstarkt nur, wenn man Widerstände zu überwinden hat. Wir müssen alle irgendwann Niederlagen einstecken und verkraften. Der eine früher, der andere später. Du darfst jetzt nicht aufgeben.«

»Ich bin ein Nichts, ein Unstern, ein Pfahl in seinem Fleisch, hat Vater zu Ruppi gesagt.«

»Im Zorn sagen wir manches, was wir später bereuen, Stella.« Es sollte überzeugend klingen, aber Mira fühlte selbst, dass sie die Kraft, Markus zu verteidigen, verloren hatte. Sie wusste nur, sie würde nie und nimmer zulassen, dass er Stellas Selbstbewusstsein völlig zerstörte. Es war ihre Pflicht, zu ihrem Kind zu halten gegen den uneinsichtigen, von falschem Ehrgeiz besessenen Vater, der sein eigenes Versagen dadurch vergessen wollte, dass er sich an den Erfolgen der Tochter weidete, sich in ihrem Glanz sonnte. »Auch wenn du das Abitur nicht schaffen solltest, was ich nicht glaube, Stella, ­werde ich dich lieben. Ich will, dass du ein guter, hilfsbereiter und toleranter Mensch wirst. Ein Mensch, der andere versteht, ihre Schwächen schont und ihre Vorzüge hervorhebt. Du liebst Kinder und Tiere. Du bist manchmal trotzig, aber nie rachsüchtig. Ich bin zufrieden mit dir, Stella.«

Das Mädchen umschlang die Mutter. »Wie kommt es nur, dass ich bei dir immer das Gefühl habe, ich kann alles, Mutti? Wenn aber Vater neben mir sitzt, fällt mir das, was ich vorher gewusst habe, nicht mehr ein. Bei den Prüfungen in der Schule war mir immer, als würde er dabei sein und denken, sie ist zu dumm, sie kann es nicht, sie fällt durch. Kannst du mir das erklären?«

Mira hätte es ihr erklären können, aber alles in ihr wehrte sich dagegen, den Vater vor der Tochter herabzusetzen. Vielleicht sieht er nach dieser Erfahrung ein, dass er Stella falsch behandelt hat, hoffte sie. Wenn man von einem Menschen viel hält, spornt man ihn an, sein Bestes zu geben. Denkt man schlecht von ihm, erschlaffen seine Kräfte, und er wird mit der Zeit wirklich schlecht.

»Sei mir nicht böse, aber ich möchte dir das einmal ausführlich erklären, wenn wir nicht so müde sind wie heute Abend, Stella.«

Mira wünschte Stella eine gute Nacht und legte sich lautlos neben ihren schnarchenden Mann. Sie lag wach, bis die Vögel mit ihrem Morgenkonzert begannen. Als der Himmel sich rosig färbte und einen schönen Sommertag ankündigte, wurde ihr ein wenig leichter ums Herz. Markus wird sich zusammennehmen, wenn ich ihn darum bitte, dachte sie.

*