Mutti, ich brauche dich - Gert Rothberg - E-Book

Mutti, ich brauche dich E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Zärtlich streichelte Gisela Gärtner über das Köpfchen des schwarzen Kätzchens, das sich fest an ihren Pullover krallte. »Nun beruhige dich endlich, Musch«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Der Doktor tut dir doch nichts.« Aber das Kätzchen Musch schien ihr keinen Glauben zu schenken. Es rief kläglich »miau!« und krallte sich nur noch fester in den dünnen Sommerpulli der jungen Frau. Dr. Hans-Joachim von Lehn stand neben dem Behandlungstisch in seiner Tierarztpraxis und hielt eine aufgezogene Spritze in der Hand. »Gegen Staupe musst du dich schon impfen lassen, kleine Musch«, sagte er lächelnd. »Dein Frauchen meint es doch nur gut mit dir, wenn sie dich herbringt.« Musch blickte den Mann im weißen Kittel an und antwortete kläglich: »Miau.« »Ja, ich weiß, hier riecht es gar nicht gut für dein feines Näschen«, entgegnete Hans-Joachim lachend. »Aber es muss nun mal sein.« Entschuldigend wandte sich Gisela an den Tierarzt: »Ich habe Musch erst vor ein paar Tagen von einer Nachbarin bekommen. Sie hatte sich schon ganz gut eingelebt, aber es scheint ihr nicht zu passen, dass ich sie schon wieder in ein fremdes Haus bringe.« »Tierkinder gleichen darin den Menschenbabys«, antwortete Hans-Joachim ernst.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Sophienlust Extra – 60 –

Mutti, ich brauche dich

Kann Gisela der verzweifelten Kleinen helfen?

Gert Rothberg

Zärtlich streichelte Gisela Gärtner über das Köpfchen des schwarzen Kätzchens, das sich fest an ihren Pullover krallte. »Nun beruhige dich endlich, Musch«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Der Doktor tut dir doch nichts.«

Aber das Kätzchen Musch schien ihr keinen Glauben zu schenken. Es rief kläglich »miau!« und krallte sich nur noch fester in den dünnen Sommerpulli der jungen Frau.

Dr. Hans-Joachim von Lehn stand neben dem Behandlungstisch in seiner Tierarztpraxis und hielt eine aufgezogene Spritze in der Hand. »Gegen Staupe musst du dich schon impfen lassen, kleine Musch«, sagte er lächelnd. »Dein Frauchen meint es doch nur gut mit dir, wenn sie dich herbringt.«

Musch blickte den Mann im weißen Kittel an und antwortete kläglich: »Miau.«

»Ja, ich weiß, hier riecht es gar nicht gut für dein feines Näschen«, entgegnete Hans-Joachim lachend. »Aber es muss nun mal sein.«

Entschuldigend wandte sich Gisela an den Tierarzt: »Ich habe Musch erst vor ein paar Tagen von einer Nachbarin bekommen. Sie hatte sich schon ganz gut eingelebt, aber es scheint ihr nicht zu passen, dass ich sie schon wieder in ein fremdes Haus bringe.«

»Tierkinder gleichen darin den Menschenbabys«, antwortete Hans-Joachim ernst. »Die sind auch zuerst misstrauisch, wenn sie einen weißen Kittel sehen. Man kann es ihnen ja nicht einmal verdenken. Woher sollen sie denn wissen, dass die Männer in den weißen Kitteln es nur gut mit ihnen meinen? Selbst Erwachsene haben ja mitunter Angst vor dem Arzt.«

»Besonders vor dem Zahnarzt«, ergänzte Gisela lachend und setzte das sich heftig sträubende Kätzchen auf den Behandlungstisch.

Hans-Joachim holte aus einem Schubfach ein Wollbällchen und legte es direkt vor Musch auf den Tisch. Fasziniert betrachteten die blauen Katzenaugen das Spielzeug. Musch hielt nun ganz still.

Auf diesen Moment hatte der junge Tierarzt gewartet.

Er gab Musch die Spritze in das Hinterbeinchen. Als das Kätzchen erschreckt zusammenzuckte, sagte er tröstend: »Schon vorbei, meine Kleine. Nun bleibst du wenigstens gesund. Ich hoffe, dass du mich nicht in gar zu schlechter Erinnerung behältst.«

Gisela nahm das Kätzchen wieder auf den Arm. »Ich hoffe sehr, dass Musch nun gesund bleibt«, bemerkte sie mit einem leisen Seufzer. »Ich hatte schon einmal eine junge Katze. Sie war nicht geimpft – und prompt wurde sie krank. Als sie starb, habe ich geweint wie ein kleines Kind.« Die letzten Worte hatte sie mit kaum vernehmlicher Stimme gesagt.

Hans-Joachim nickte ernst. »Ich weiß, so ein Tier wächst einem mit der Zeit ans Herz. Wenn es stirbt, ist das beinahe so, als ob man einen lieben Freund verloren hätte.«

Mit der gleichen leisen Stimme wie zuvor fuhr Gisela fort: »Ich bin den ganzen Tag allein. Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und ein Manuskript verfasse, dann ist das Kätzchen das einzige Lebewesen in meiner Nähe.«

»Sie schreiben Romane?«, fragte Hans-Joachim überrascht.

»Nein, Drehbücher«, entgegnete die junge Frau ernst. »Für den Film. Oder fürs Fernsehen. Was gerade gebraucht wird. Ein ziemlich anstrengender Beruf, weil ich meist unter Zeitdruck stehe. Musch ist gerade die richtige Gefährtin für mich. Sie ist leise und stört mich nicht bei der Arbeit. Bei einem Hund sähe das schon anders aus.«

»Da kann ich ein Wörtchen mitreden«, entgegnete Hans-Joachim schmunzelnd. »Unsere Hunde veranstalten mitunter einen wahren Höllenlärm. Dabei könnten Sie bestimmt nicht schreiben.«

Gisela presste ihr Kätzchen fester an sich und sagte erschreckt: »Mein Gott, ich halte Sie hier auf, und draußen sitzt das ganze Wartezimmer voller Leute.«

»Die kommen schon noch dran«, meinte Hans-Joachim optimistisch. »Wiedersehen, kleine Musch. Oder besser nicht ›auf Wiedersehen‹. Sagen wir lieber, lass es dir gut gehen.«

»Die Rechnung, Herr Doktor?«, fragte Gisela.

»Schicken wir Ihnen zu, Frau Gärtner.« Er gab Gisela die Hand.

Die junge Frau verließ das Sprechzimmer des Tierarztes. Draußen vor dem Haus blieb sie einen Augenblick stehen und überlegte. Dort drüben, das langgestreckte Gebäude, das war bestimmt das Tierheim, von dem sie schon so viel gehört hatte. Ob sie es sich einmal ansehen sollte?

Es war niemand da, den sie um Erlaubnis fragen konnte. Aber Gisela war sicher, dass der nette Tierarzt nichts gegen eine kurze Besichtigung einzuwenden haben würde. Also nahm sie Musch auf den anderen Arm und machte ein paar Schritte auf das Tierheim zu. Da sah sie plötzlich unter einem blühenden Baum einen Kinderwagen stehen. Im Nu hatte sie das Tierheim vergessen. In ihre schönen blaugrauen Augen war ein sanfter Schimmer getreten. Behutsam näherte sie sich dem Wagen. Sie ging auf Zehenspitzen, als fürchte sie, das Baby zu erschrecken.

Endlich war sie bei dem Wagen angelangt. Sie beugte sich darüber und betrachtete entzückt das Baby, das sie mit seinen großen braunen Augen anlachte. »Mir scheint, du freust dich über meinen Besuch«, sagte sie lächelnd.

Das Baby strampelte mit den Beinchen und streckte beide Hände nach ihr aus.

Unglücklich sagte die junge Frau: »Ich möchte dich ja schrecklich gern auf den Arm nehmen, aber vielleicht wäre das deiner Mutti gar nicht recht, mein Herzchen.«

Doch nicht von einer wutentbrannten Mutter wurde Gisela zurechtgewiesen, sondern von einem wunderschönen Langhaardackel, der sich neben den Wagen stellte und sie empört anbellte. Unwillkürlich machte Gisela drei Schritte rückwärts. »Ich tu deinem Liebling doch gar nichts«, verteidigte sie sich. Da hörte sie vom Haus her eine Frauenstimme rufen: »Waldi, willst du wohl sofort ruhig sein?«

Waldi ließ traurig den Schwanz hängen und schaute die junge Frau in den Blue Jeans, die eben aus dem Haus kam, mit vorwurfsvollen Blicken an. Er hatte Peterle doch bloß bewachen wollen.

Lachend sagte Andrea zu Gisela: »Sie dürfen es Waldi nicht übel nehmen. Er verteidigt Peterle wie seine eigenen Kinder und scheint in jedem harmlosen Besucher einen herzlosen Entführer zu wittern.«

»Das ist sein gutes Recht«, entgegnete Gisela mit leiser Stimme. »Nur, ich habe Kinder so schrecklich gern. Als ich den Wagen hier stehen sah, konnte ich einfach nicht widerstehen. Ich musste nach dem Baby schauen.«

Andrea entdeckte den sehnsüchtigen Ausdruck in Giselas Augen. Sie streckte die Arme aus und sagte ruhig: »Geben Sie mir Ihr Kätzchen. Ich halte es. Und Sie können inzwischen mit Peterle spielen. Er freut sich immer über Besuch. Ganz besonders, wenn ihn der Besuch auf den Arm nimmt. Wie es meine Brüder und die Kinder von Sophienlust auch immer tun.«

Mit andächtigem Gesicht nahm Gisela das Baby auf den Arm. Vorsichtig streichelte sie Peterles feine Härchen, die in der Sonne glänzten.

»Sie sollten heiraten«, schlug Andrea in ihrer impulsiven Art vor. »Und selbst Kinder haben.«

»Sie haben recht.« Gisela nickte. »Ich bin verlobt, aber mein zukünftiger Mann will keine Kinder haben. Obwohl ich mir so sehr welche wünsche. Am liebsten ein halbes Dutzend.«

»Dann würde ich mir aber einen anderen Mann suchen«, erklärte Andrea energisch. »So, wie Sie aussehen, kriegen Sie bestimmt an jedem Finger zehn. Zehn Männer, meine ich. Einen Mann, der sich nichts aus Kindern macht, hätte ich niemals geheiratet.«

Nachdenklich antwortete Gisela: »Sie haben gewiss recht. Ich sollte Eberhard wirklich nicht heiraten.« Dann legte sie das heftig protestierende Peterle in seinen Wagen zurück und nahm Musch wieder auf den Arm. »Vielen Dank, Frau von Lehn, dass ich Ihr Baby mal auf dem Arm halten durfte«, sagte sie mit traurigem Gesicht.

»Kommen Sie doch öfter her!«, rief Andrea spontan.

Aber da hatte sich Gisela bereits zum Gehen gewandt. Die nette junge Frau brauchte nicht zu sehen, dass ihre Augen feucht geworden waren. Ein junges Kätzchen war eben doch nur ein schlechter Ersatz für ein eigenes Kind.

*

Gisela bewohnte ein kleines Reihenhaus am Rande von Bachenau. Sie hatte es von ihrem ersten selbst verdienten Geld erworben. Allerdings musste sie noch Hypotheken abtragen. So viel verdiente man nun mal nicht als Drehbuchautorin, um ein Haus kaufen zu können, ohne Schulden zu machen.

Aber Gisela war sehr stolz auf diesen Besitz. Sie hatte das Haus mit hellen, freundlichen Möbeln aus Skandinavien ausgestattet. In jedem Raum gab es außerdem schöne dicke Berberteppiche.

Zufrieden betrachtete die junge Frau den Vorgarten, in dem es jetzt im Frühling blühte und duftete, als habe hier jemand gleich zehn Parfümflaschen auf einmal ausgegossen. Sie setzte das Kätzchen auf die Erde. »So, jetzt darfst du wieder rennen«, sagte sie lächelnd.

Musch ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie schoss durch den Vorgarten davon. Obgleich sie erst acht Wochen alt war, untersuchte sie bereits höchst interessiert jedes Loch in der Gartenerde in der Hoffnung, dass dort eine Maus geradewegs vor ihre Pfötchen spaziere. Bis jetzt hatten sich diese Erwartungen allerdings noch nicht erfüllt.

Schmunzelnd schaute Gisela dem kohlschwarzen Kätzchen mit dem weißen Fleck auf der Brust nach. Dann wandte sie sich dem Briefkasten zu, der neben der schmalen Gartenpforte angebracht war.

Als erstes nahm sie die Zeitung heraus. Anschließend eine Reihe Reklamesendungen und ganz zum Schluss einen rechteckigen Briefumschlag. Giselas Anschrift stand darauf. In krakeligen Buchstaben geschrieben. In Buchstaben, wie sie ein Kind malt. Oder wie sie ein kranker Erwachsener mit zitternder Hand schreibt. Gisela fühlte, wie ihr Herz plötzlich bis in die Kehle klopfte. Sie drehte den Umschlag um. Auf der Rückseite stand die Adresse ihrer Schwester Ursula.

Ursula … Seit über sechs Jahren hatte Gisela nichts mehr von ihrer Schwester gehört. Nun schrieb sie ihr. Aus Heidelberg.

Gisela riss sich zusammen und lief mit raschen Schritten ins Haus. Im Wohnzimmer ließ sie sich in einen der breiten Sessel fallen und riss den Umschlag mit zitternden Fingern auf.

Ein einzelner Briefbogen fiel ihr entgegen. Auch er war mit den gleichen krakeligen Schriftzügen bedeckt. Doch der Brief war kurz.

Liebe Gisela! Es geht mir sehr schlecht. Kannst Du mich nicht einmal besuchen? Ich brauche Deine Hilfe.

Deine Ursula. Sonst nichts. Keine Mitteilung, ob Ursula krank war oder sich in wirtschaftlicher Not befand. Daran, dass ihre Schwester in Bedrängnis war, zweifelte Gisela keinen Augenblick. Sonst hätte Ursula sich gewiss niemals an sie gewandt – nach allem, was damals vor sechs Jahren vorgefallen war.

Vor Giselas Augen stand plötzlich wieder die Vergangenheit auf. Knapp zweiundzwanzig Jahre war sie damals alt gewesen. Ihr erstes Drehbuch hatte ihr frühen Ruhm eingebracht. Aber das war es nicht gewesen, was ihr Herz damals mit Glück erfüllt hatte. Sondern ihre Liebe zu Manfred Rodrian.

Es war von beiden Seiten Liebe auf den ersten Blick gewesen. Bereits vier Wochen nach der ersten Begegnung hatten sie sich verlobt. Und Gisela hatte im siebenten Himmel geschwebt. Ein Vierteljahr später hatten sie heiraten wollen.

Doch dann hatte Manfred Giselas jüngere Schwester kennengelernt. Ursula war damals gerade achtzehn gewesen. Mit schulterlangen blonden Haaren, riesigen veilchenblauen Augen und einer sehr grazilen Figur.

Manfred war von Ursula hingerissen gewesen. Und Ursula hatte seine Gefühle wohl erwidert. Denn sie war mit ihm auf und davon gegangen. Manfred hatte Gisela noch einen kurzen Brief geschrieben und sie darin um Verzeihung gebeten für alles, was er ihr angetan hatte. Dann hatte sie nichts mehr von den beiden gehört. Weder von ihrer Schwester noch von ihrem ehemaligen Verlobten. Ob Manfred Ursula geheiratet hatte?

Gisela drehte den Umschlag um. Nein, Ursula Gärtner stand da. Demnach war ihre Schwester nicht Manfreds Frau geworden. Obgleich sie es sich doch so sehr gewünscht hatte.

Was Ursula wohl in der Zwischenzeit erlebt haben mochte? Aber das würde sie ja bald erfahren. Denn selbstverständlich würde sie die Bitte ihrer Schwester befolgen und nach Heidelberg fahren.

Gisela trug ihrer Schwester längst nichts mehr nach. Schließlich war Ursula damals fast noch ein Kind gewesen. Sie war auch noch zur Schule gegangen. Ein halbes Jahr später hätte sie ihr Abitur machen sollen. Aber dazu war es dann nicht mehr gekommen.

Gisela selbst hatte dagegen Karriere gemacht. Und das hatte sie nicht zuletzt Manfred und der eigenen Schwester zu verdanken. Denn nach der Entlobung damals hatte sie sich Hals über Kopf in die Arbeit gestürzt und wie eine Besessene geschrieben, um nur ja nicht mehr nachdenken zu müssen. Das hatte sich schließlich in klingender Münze bezahlt gemacht. Allerdings hatte sie bald darauf Stuttgart verlassen und war hierher nach Bachenau gezogen. Sie hatte nicht immer wieder durch jene Straßen laufen wollen, in denen sie einmal so glücklich gewesen war.

Hier in Bachenau erinnerte sie nichts an Manfred und an ihr einstiges Glück. Hier hatte sie einen neuen Anfang machen können. Später hatte sie dann Eberhard Mensching kennengelernt und sich mit ihm verlobt. Vielleicht würde sie an seiner Seite das Glück erleben, das sie damals verloren hatte. Ihr einziger Kummer war, dass Eberhard keine Kinder haben wollte, sie selbst sich dagegen mindestens ein halbes Dutzend wünschte. Aber vielleicht würde sich Eberhard doch noch umstimmen lassen, wenn sie erst einmal verheiratet waren.

Gisela faltete den Briefbogen zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück. Dann ging sie in das nebenan liegende Arbeitszimmer, nahm den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer in Karlsruhe.

Eine tiefe Männerstimme meldete sich: »Mensching.«

»Du, Eberhard«, sprudelte Gisela hastig hervor. »Aus unserer Verabredung heute Abend kann leider nichts werden. Ich habe einen Brief von meiner Schwester erhalten.«

»Ich denke, von der hast du seit Jahren nichts mehr gehört«, entgegnete die Männerstimme am anderen Ende verwundert.

»Ja, das stimmt. Aber es muss irgendwas passiert sein. Ursula bittet mich jedenfalls dringend, zu ihr nach Heidelberg zu kommen. Ich werde selbstverständlich hinfahren.«

Ohne großes Bedauern in der Stimme erklärte Eberhard Mensching: »Geht in Ordnung. Lass wieder von dir hören, wenn du zurück bist. Ich besuche dich dann.«

Als Gisela mit nachdenklichem Gesicht den Hörer auf die Gabel zurücklegte, spürte sie einen feinen Schmerz in der Herzgegend. Eberhard schien es kein bisschen leid zu sein, dass aus ihrer Verabredung an diesem Abend nichts werden konnte. Zum ersten Mal fragte sich Gisela, ob ihr Verlobter sie überhaupt liebe. Oder hatte er sie nur haben wollen, weil sie eine bekannte Autorin war? Und nicht gerade schlecht aussah?

Gisela wusste keine Antwort auf diese Frage. Das quälte sie sehr. Sollte sie zum zweitenmal eine Enttäuschung erleben? Dann würde sie nie mehr zu einem Mann Vertrauen fassen können. Das wusste sie genau.

Gisela erhob sich rasch und lief hinaus in den Garten. »Musch!«, rief sie laut. Und dann noch einmal: »Musch, komm her!«

Aber von dem Kätzchen war weit und breit nichts zu sehen. Erst als Gisela es heftig in den Blättern eines Busches rascheln hörte, wusste sie, wo Musch steckte. Sie saß unter dem Busch auf der Lauer und hoffte, irgendwann einmal einen Vogel fangen zu können.

Gisela rannte über den kurz geschorenen Rasen, bückte sich und holte Musch unter dem Busch hervor.

»Miau!«, beschwerte sich Musch empört.

»Ein andermal darfst du wieder hier draußen auf Vogeljagd gehen«, versprach Gisela ihrem Kätzchen. »Aber heute muss ich dich leider ausquartieren.«

Giselas Nachbarin, eine alte Dame mit weißen Haaren, wunderte sich nicht wenig, als sie die junge Frau mit dem Kätzchen auf dem Arm vor ihrer Tür stehen sah. »Nanu, hat sich Musch nicht anständig betragen?«, erkundigte sie sich bestürzt.

»Musch war sehr brav«, versicherte Gisela hastig. »Aber ich muss leider heute wegfahren. Meine Schwester hat mir geschrieben. Ich fürchte, sie ist krank geworden. Würden Sie Musch noch einmal für einen Tag in Pflege nehmen?«

»Aber natürlich«, sagte die alte Dame freundlich. »Geben Sie das Prachtstück nur her. Eines ihrer Geschwister ist ja noch bei mir. Mit dem kann Musch unterdessen spielen.«

Ein wenig erleichtert kehrte Gisela in ihr Häuschen zurück. Ihre Reisetasche hatte sie schnell gepackt. Da sie vermutlich nicht lange in Heidelberg bleiben würde – das konnte sie sich schon aus zeitlichen Gründen nicht leisten –, beschränkte sie sich auf ein Nachthemd und das Reisenessesaire.

Gisela stellte die Reisetasche auf den Rücksitz ihres Volkswagens und ließ sich hinter dem Steuer nieder. Wenn sie sich beeilte, konnte sie in einer guten Stunde in Heidelberg sein, überlegte sie. Da fiel ihr ein, dass sie die Adresse ihrer Schwester nicht mehr wusste. Sie stieg wieder aus, rannte noch einmal ins Haus zurück und holte den Briefumschlag. Jetzt konnte sie die Fahrt endlich antreten.

*

Es dauerte tatsächlich nur gerade eine Stunde, bis Gisela den Stadtrand von Heidelberg erreicht hatte. Doch dann musste sie ein paarmal anhalten und sich erkundigen, wo die Kastanienallee lag. Schließlich war sie am anderen Ende des schönen alten Städtchens angelangt. Von dem Schloss war hier nichts mehr zu erblicken. Dafür hatte man einen sehr reizvollen Blick auf das silberne Band des Neckars, das sich durch die grüne Ebene schlängelte.

Mit dem Brief in der Hand stieg Gisela aus dem Wagen und ging ein Stück die ruhige Vorortstraße entlang. Hier gab es nur kleine Häuser, die in winzigen Vorgärten lagen. Nummer zehn. Hier musste Ursula wohnen.

Gisela blieb stehen und schaute hinüber zu dem etwas windschief aussehenden Häuschen. Der Verputz war bereits an verschiedenen Stellen abgefallen, die Fensterläden waren geschlossen. Ein paar davon hingen recht wackelig in den Angeln. Sehr viel Geld schien Ursula nicht zu besitzen, wenn sie in einem solchen Haus wohnen musste.

Auch der kleine Vorgarten sah recht ungepflegt aus. Die Disteln und der Schachtelhalm standen kniehoch zwischen verwilderten Rosenstöcken.

Skeptisch schaute Gisela auf das verlassen wirkende Haus. Ob Ursula vielleicht gar nicht daheim war?

Sie drückte auf die Klingel, die sich gleich neben der Gartentür befand. Im Haus erklang ein schepperndes Geräusch. Doch sonst rührte sich nichts.

Gisela versuchte es noch einmal. Aber niemand ließ sich blicken. Ursula schien tatsächlich nicht daheim zu sein.

Ein wenig hilflos blickte sich Gisela um. Vielleicht konnte ihr eine Nachbarin sagen, was mit Ursula los war? Sie wollte die Fahrt doch nicht ganz umsonst gemacht haben.

Gisela ging ein paar Schritte weiter. Der Nachbargarten sah sehr viel gepflegter aus als der ihrer Schwester. Üppig blühten dort Osterglocken und Tulpen, dazwischen Schlüsselblumen und Hyazinthen.