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Mysterium E-Book

Federico Axat

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Beschreibung

Der Thriller-Bestseller aus Argentinien wurde zum internationalen Phänomen und erscheint in 35 Ländern. Als der erfolgreiche und todkranke Geschäftsmanns Ted McKay beschließt, sich selbst das Leben zu nehmen, bekommt er Besuch von einem Fremden, der ihn überredet, einen Mord zu begehen. Er willigt ein – und findet heraus, dass ihm sein Auftraggeber etwas Wichtiges verschweigt. Ted beschließt, die ihm verbleibende Zeit zu nutzen, um das Geheimnis des Fremden zu ergründen. Doch wie kann man die Wahrheit finden, wenn die eigene Welt eine einzige Lüge ist? "Ein grandioses Nervenspiel. Denken Sie an die Filme von Hitchcock, an ›Shutter Island‹ und an die Fernsehserie ›Lost‹. Man kann es nicht mehr aus der Hand legen." La Vanguardia

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Mysterium

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Fingering the steel

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And his heart he could feel was beating

Beating, beating, beating,

Oh, my love ...

U2, Exit

ERSTER TEIL

1

Ted McKay wollte sich gerade eine Kugel in den Kopf jagen, als jemand stürmisch an der Tür klingelte.

Er wartete. Solange jemand draußen stand, konnte er unmöglich abdrücken.

Hau ab, wer immer du bist.

Wieder klingelte es, dann schrie ein Mann: »Machen Sie die Tür auf, ich weiß, dass Sie mich hören können!«

Die Stimme drang so klar und deutlich zu ihm, dass Ted kurz daran zweifelte, ob sie real war.

Er sah sich um, als suchte er in der Einsamkeit des Arbeitszimmers nach einem Beweis dafür, dass tatsächlich jemand geschrien hatte. Sein Blick fiel auf seine Finanzbücher, die Monet-Reproduktion, den Schreibtisch ... und den Brief, in dem er Holly alles erklärte.

»Machen Sie bitte auf!«

Ted hielt die Browning nach wie vor wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt, allmählich wog sie schwer in seiner Hand. Sein Plan würde nicht funktionieren, wenn der Kerl da draußen den Schuss hörte und die Polizei verständigte. Holly und die Mädchen waren in Disney World, und er würde nicht zulassen, dass eine solche Nachricht sie so weit weg von zu Hause erreichte. Das kam nicht infrage.

Der Fremde war inzwischen dazu übergegangen, gegen die Tür zu hämmern.

»Nun machen Sie schon! Ich gehe hier nicht weg, bis Sie mir aufmachen!«

Die Pistole begann zu zittern. Ted legte sie auf seinen rechten Oberschenkel. Mit der anderen Hand fuhr er sich durchs Haar und verfluchte den Fremden an der Tür. Ob das ein Vertreter war? Hier in der Nachbarschaft waren sie nicht gern gesehen, schon gar nicht, wenn sie so dreist auftraten.

Das Rufen und Klopfen verstummten für einige Sekunden, und Ted hob die Waffe erneut an die Schläfe.

Er dachte schon, der Mann habe aufgegeben und sei gegangen, als ein Trommelfeuer aus Klopfen und Rufen ihn eines Besseren belehrte. Doch Ted würde nicht aufmachen, auf keinen Fall. Er würde warten. Früher oder später würde der unverschämte Kerl schon verschwinden.

Da erregte etwas auf dem Schreibtisch seine Aufmerksamkeit: ein gefaltetes Blatt Papier, das so ähnlich aussah wie sein Abschiedsbrief an Holly, nur dass darauf nicht der Name seiner Frau stand. War er so blöd gewesen, einen seiner Entwürfe nicht in den Papierkorb zu werfen? Während der Mann draußen an der Tür weiterhin herumpolterte, tröstete er sich mit dem Gedanken, dass diese unerwartete Unterbrechung auch etwas Gutes haben würde. Er faltete das Blatt auf und las, was dort geschrieben stand.

Er erstarrte. Es war seine eigene Schrift. Doch er konnte sich nicht erinnern, diese beiden Sätze geschrieben zu haben.

 

MACH DIE TÜR AUF.

DAS IST DEIN LETZTER AUSWEG.

 

Hatte er das in einem Zusammenhang geschrieben, an den er sich nicht mehr erinnerte? Beim Spielen mit Cindy oder Nadine vielleicht? Er fand keine Erklärung für diese Notiz, nicht in dieser absurden Situation, da ein Wahnsinniger die Tür einzurammen drohte. Doch es musste eine Erklärung geben, natürlich musste es das.

Mach dir nur weiter was vor.

Die Browning in seiner rechten Hand wog eine Tonne.

»Machen Sie endlich auf, Ted!«

Erschrocken zuckte er zusammen. Hatte der Mann seinen Namen gerufen? Ted pflegte keinen engen Umgang mit seinen Nachbarn, aber er meinte ihre Stimmen zu kennen, und diese Stimme hatte er noch nie gehört. Er stand auf und legte die Pistole auf den Schreibtisch. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als nachzusehen, wer da vor der Tür stand. Letztlich war es ja kein Weltuntergang. Wer immer dieser unverschämte Kerl auch war, er würde ihn schnell abwimmeln und ins Arbeitszimmer zurückkehren, um seinem Leben endlich ein Ende zu setzen. Er hatte es seit Wochen geplant, da würde er sich von einem impertinenten Vertreter nicht im letzten Moment abhalten lassen.

Mit einer raschen Handbewegung kippte er den Stiftehalter um, in dem er einige Minuten zuvor den Schlüssel zwischen Büroklammern und anderem Krimskrams verwahrt hatte. Er nahm ihn und betrachtete ihn verwundert wie jemand, der unverhofft etwas wiederfindet. Eigentlich hätte er tot in seinem Bürostuhl liegen sollen, mit Schmauchspuren an der Hand und Pulverdampf in der Luft.

Wer sich das Leben nehmen möchte – und sei er noch so wild dazu entschlossen –, den stellen die letzten Minuten auf eine harte Probe. Ted glaubte, diese Probe gerade bestanden zu haben. Die Vorstellung, sie gleich noch einmal durchlaufen zu müssen, war entsetzlich.

Verärgert ging er zu der Tür, die zum Wohnzimmer führte. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete. Wut wallte in ihm auf, als er den Zettel sah, den er selbst dort angeklebt hatte. Es war eine Warnung an Holly. Schatz, auf dem Kühlschrank liegt ein Ersatzschlüssel. Sorg dafür, dass die Mädchen draußen bleiben. Ich liebe Dich. Es klang grausam, aber Ted hatte alles sorgfältig durchdacht. Er wollte nicht, dass seine Töchter ihn so sahen, hinterm Schreibtisch, mit einem Loch im Kopf. Andererseits erschien ihm das Arbeitszimmer der beste Ort, um zu sterben. Er hatte ernsthaft überlegt, ob er sich in den Fluss stürzen oder irgendwohin fahren und sich vor einen Zug werfen sollte, aber war zu dem Schluss gelangt, dass die Ungewissheit es seinen Lieben noch viel schwerer machen würde. Besonders Holly. Sie musste ihn sehen, mit ihren eigenen Augen sehen, da war er sich sicher. Sie brauchte … den Schock. Sie war jung und schön und würde noch mal von vorne anfangen können.

Wieder klopfte es draußen.

»Ich komm ja schon!«

Das Klopfen verstummte.

Mach die Tür auf. Das ist dein letzter Ausweg.

In dem schmalen Fenster neben der Tür sah Ted die Umrisse des Besuchers. Langsam, fast schon provokant, durchquerte er das Wohnzimmer. Er betrachtete alles ganz genau, so wie gerade eben den Schlüssel zum Arbeitszimmer. Den riesigen Fernseher, den Tisch für fünfzehn Personen, die Porzellanvasen. Auf seine Art hatte er sich von jedem einzelnen dieser Gegenstände verabschiedet. Und trotzdem war er noch immer da, der gute alte Ted, und schlich wie ein Geist durch sein eigenes Wohnzimmer.

Er blieb stehen. War das womöglich seine Version des Lichts?

Kurz verspürte er das verrückte Bedürfnis, ins Arbeitszimmer zurückzugehen und zu überprüfen, ob er in sich zusammengesackt, tot, hinter seinem Schreibtisch saß. Er streckte den Arm aus und strich mit den Fingern über die Lehne des Sofas. Das Leder war kalt und zu real, um das Produkt seiner Fantasie zu sein. Aber konnte er sich da wirklich sicher sein?

Schließlich öffnete Ted die Haustür. Abgesehen von seinen schlechten Manieren, hatte der junge Mann, der dort stand, alles, was einen erfolgreichen Vertreter ausmachte. Er war Mitte zwanzig, trug eine makellose weiße Hose mit einem Schlangenledergürtel und ein bunt gestreiftes Poloshirt. Eigentlich sah er eher aus wie ein Golfspieler, nur der abgewetzte Aktenkoffer in seiner rechten Hand passte nicht so recht zu seiner Aufmachung. Er hatte blonde Haare, die ihm bis auf die Schultern fielen, blaue Augen und ein schamloses Lächeln, das dem von Joe Black in nichts nachstand. Ted konnte sich gut vorstellen, dass Holly oder irgendeine Nachbarin sich von einem solchen Beau alles Mögliche andrehen ließ.

»Tut mir leid, ich kaufe nichts«, sagte Ted.

Das Lächeln wurde breiter.

»Oh, keine Angst, ich will Ihnen nichts verkaufen«, antwortete der Typ, als wäre dieser Gedanke vollkommen abwegig.

Ted spähte über die Schulter des Fremden hinweg. Vor dem Gebäude parkte kein Auto, und auch entlang des Sullivan Boulevard nicht. Es war nicht sehr heiß an diesem Nachmittag, aber eine solche Strecke zu Fuß zu gehen hätte bei diesem unverschämt gut aussehenden Kerl Spuren hinterlassen müssen. Und warum sollte er so weit entfernt parken?

»Nicht erschrecken«, sagte der Mann, als könnte er Gedanken lesen. »Mein Geschäftspartner hat mich hier abgesetzt, um in der Nachbarschaft keinen Verdacht zu erregen.«

Dass er einen Komplizen erwähnte, ließ Ted kalt. Bei einem Raubüberfall zu sterben wäre ehrenvoller, als sich die Kugel zu geben.

»Ich habe zu tun. Sie entschuldigen.«

Ted machte Anstalten, die Tür zu schließen, aber der Mann streckte den Arm aus und drückte dagegen. Seine Haltung wirkte nicht feindselig, eher lag in seinen Augen ein flehender Blick.

»Mein Name ist Justin Lynch, Mr. McKay. Wenn ich …«

»Sie kennen meinen Namen?«

»Wenn ich eintreten dürfte, könnte ich Ihnen alles erklären. Es dauert keine zehn Minuten.«

Kurz sahen sich beide schweigend an. Ted würde diesen Mann auf keinen Fall reinlassen, das stand schon mal fest. Andererseits musste er zugeben, dass seine Neugier geweckt war. Schließlich setzte sich die Vernunft durch.

»Tut mir leid. Sie kommen im falschen Augenblick.«

»Sie irren sich, der Augenblick …«

Ted machte die Tür zu. Die Worte drangen nur noch gedämpft, wenn auch gut hörbar zu ihm.

»… ist genau richtig.«

Ted blieb an der Tür stehen und horchte, als wüsste er bereits, dass noch etwas kommen würde.

Und so war es auch. Lynch sprach nun lauter, damit Ted ihn hören konnte.

»Ich weiß, was Sie mit der Neunmillimeter vorhatten, die Sie im Arbeitszimmer auf den Schreibtisch gelegt haben. Und ich verspreche Ihnen, dass ich nicht versuchen werde, Sie davon abzuhalten.«

Ted machte die Tür wieder auf.

2

Ted hatte seinen Selbstmord sorgfältig geplant. Es war keine impulsive Entscheidung gewesen, die alles dem Zufall überließ. Er gehörte nicht zu der Sorte Selbstmörder, die sich betont ungeschickt anstellten, weil sie eigentlich um Hilfe riefen. Das hatte er zumindest bis eben geglaubt. Denn wenn er so sorgfältig vorgegangen war, wie konnte es dann sein, dass dieser Lynch davon wusste? Der Besucher mit dem breiten Lächeln und den perfekten Gesichtszügen kannte das exakte Kaliber. Und den Ort, an dem er die Waffe abgelegt hatte. Dass Ted sich das Leben im Arbeitszimmer nehmen wollte, war naheliegend, er mochte letztlich geraten haben, doch Lynch schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein.

Sie saßen einander gegenüber. Ted hatte ein Gefühl, das er gut kannte: das leichte Frösteln, das vom Adrenalin herrührte, und die damit zusammenhängende erhöhte Konzentration, die nötig war, um den Gegner zu bezwingen. Er hatte seit Jahren kein Schach mehr gespielt, aber dieses Gefühl war noch immer sehr vertraut. Es war angenehm.

»Dann hat Travis Sie also beauftragt, mich zu observieren«, sagte er.

Lynch, der seinen Aktenkoffer auf den Tisch gestellt hatte und ihn gerade öffnen wollte, hielt inne und sah ihn verblüfft an.

»Ihr Geschäftspartner hat nichts damit zu tun, Ted. Darf ich Sie Ted nennen?«

Ted zuckte mit den Schultern.

»Ich sehe bei Ihnen keine Fotos von Nadine und Cindy«, sagte Lynch, den Blick auf den Inhalt des Aktenkoffers gerichtet. Er schien etwas zu suchen.

Tatsächlich gab es im Wohnzimmer kein Foto seiner Familie. Ted hatte sie alle entfernt. Ein Rat: Wenn du dich umbringen willst, räum die Fotos deiner Lieben weg. Ein Selbstmord plant sich leichter, wenn man nicht ständig von ihnen beobachtet wird.

»Lassen Sie gefälligst meine Töchter aus dem Spiel.«

Lynch lächelte ihn strahlend an und hob die Hände.

»Nur ein bisschen Smalltalk, um Ihr Vertrauen zu gewinnen. Ich habe die beiden auf Fotos gesehen und weiß, dass sie gerade mit ihrer Mutter in Florida sind. Sie besuchen dort ihre Großeltern, nicht wahr?«

Der Satz hätte auch aus einem Mafiafilm stammen können. Wir wissen, wo deine Familie ist, also spiel hier nicht den Schlaumeier. Doch Lynch schien wirklich nur freundlich sein zu wollen.

»Ich habe Sie reingelassen. Allein das zeugt von einem gewissen Vertrauen.«

»Freut mich.«

»Was wissen Sie sonst noch über meine Familie?«

Lynch löste eine Hand von dem Aktenkoffer und machte eine wegwerfende Geste.

»Oh, nicht viel. Wir mischen uns nur so weit wie nötig ein. Ich weiß, dass sie am Freitag zurückkommen, was uns drei Tage gibt, um unsere Angelegenheiten zu regeln. Zeit genug.«

»Unsere Angelegenheiten?«

»Ganz recht.«

Lynch holte zwei dünne Mappen hervor und legte sie auf den Tisch. Den Aktenkoffer schob er beiseite.

»Ted, haben Sie schon mal daran gedacht, einen Menschen zu töten?«

Der Kerl kam ja schnell zur Sache!

»Sind Sie Polizist? Falls ja, hätten Sie sich ausweisen müssen.«

Ted erhob sich. Wahrscheinlich waren jede Menge üble Fotos in diesen Mappen. Man verdächtigte ihn also eines Mordes und hatte ihn observieren lassen, und sein Plan, sich umzubringen, war das entscheidende Puzzleteil, um ihn zu überführen. Deshalb hatte Lynch so dreist Einlass verlangt. War er vom FBI?

»Ich bin kein Polizist, Ted. Bitte setzen Sie sich wieder.«

»Ich will, dass Sie sofort mein Haus verlassen«, sagte er und zeigte zur Tür, als wüsste Lynch nicht, wo der Ausgang war.

»Soll ich wirklich gehen, ohne dass wir darüber gesprochen haben, woher wir von Ihren Selbstmordplänen wissen?«

Der Typ war gut, denn tatsächlich wollte Ted genau das wissen.

»Sie haben fünf Minuten«, sagte Ted, setzte sich aber nicht.

»Gut«, sagte Lynch. »Ich fasse mich kurz. Also, ich arbeite für eine Gruppe, die daran interessiert ist, dass Leute wie Sie Leute wie die hier kennenlernen«, sagte er und legte seine Hand auf die Mappen. »Wenn Sie gestatten, öffne ich jetzt eine dieser Mappen, damit wir einen Blick hineinwerfen können. Sie sind intelligent und werden schnell begreifen.«

Lynch schlug eine Mappe auf, drehte sie in Richtung Ted, der immer noch mit den Händen in die Hüften gestemmt dastand, und schob sie zur Mitte des Schreibtischs.

Das erste Blatt war die Kopie einer Polizeiakte. Oben in der Ecke steckten Fotos, eines von vorne aufgenommen, eines im Profil. Sie zeigten einen etwa zwanzigjährigen Mann, brauner Teint, die Haare nach hinten gekämmt und gegelt. Er blickte provozierend in die Kamera, das Kinn leicht erhoben, die hellen Augen weit aufgerissen.

»Sein Name ist Edward Blaine. Bisher wurde er für kleinere Delikte verurteilt, Diebstahl, Körperverletzung und dergleichen«, erklärte Lynch und blätterte um. »Doch diesmal soll er seine Freundin ermordet haben.«

In einem hatte Ted sich nicht geirrt: Die Mappen enthielten tatsächlich üble Fotos. Er sah die Aufnahme einer toten Frau, die in einem Schlafzimmer zwischen Bett und Schrank auf dem Boden lag. Ihr nackter Oberkörper wies mindestens sieben Stiche auf.

»Ihr Name ist Amanda Herdman. Blaine hat ihr Drogen besorgt, wurde schließlich ihr Liebhaber, aber nach Aussage von Freunden haben sie sich die meiste Zeit gestritten. Als man die Frau tot in ihrer Wohnung auffand, nahm ihn die Polizei sofort fest. Er gestand, dass er mit Herdman Streit hatte, aus Eifersucht, aber er leugnete, sie erstochen zu haben. Wollen Sie hören, wie es ausgegangen ist? Man konnte ihm nichts nachweisen. Sie mussten ihn laufen lassen.«

Ted hatte sich gesetzt. Er konnte den Blick nicht von den Fotos lösen. Lynch blätterte um. Es folgten einige Detailaufnahmen: Amandas geschwollenes Auge, tiefe Schnittwunden in der Brust, zahlreiche Hämatome.

»Er war unschuldig?«, fragte Ted verblüfft.

»Das Schwein war so schlau, sie nicht mit Fäusten zu schlagen, und natürlich wurde die Mordwaffe nicht gefunden. Im ganzen Haus waren Fingerabdrücke von ihm, nur nicht auf der Leiche.«

»Dass er den Streit zugegeben hat, war doch praktisch ein Geständnis.«

»Die Verteidigung führte an, er habe die Aussage unter Druck gemacht, was in gewisser Weise stimmte und was auch nachgewiesen werden konnte. Entlastet hat ihn letztendlich der Todeszeitpunkt. Laut dem Experten der Staatsanwaltschaft wurde Amanda zwischen sieben und zehn Uhr abends ermordet. Für diesen Zeitraum gab es mehrere Zeugen, die aussagten, sie hätten Blaine in einer Spelunke namens Black Hat gesehen. Offensichtlich hatte er sich alle Mühe gegeben, dass möglichst viele Leute sich an ihn erinnerten. Es gibt über dreißig vertrauenswürdige Augenzeugen und außerdem Filmaufnahmen der Überwachungskameras auf dem Parkplatz.«

Ted blätterte um. Es kamen weitere Fotos von Herdmans Leiche zum Vorschein, außerdem einige Textdokumente mit handschriftlichen Unterstreichungen.

»Sie verstehen?«

Ted nickte.

»Woher wissen Sie, dass es Blaine war?«

»Die Organisation, die ich vertrete, verfügt über sehr gute Informanten. Ich spreche nicht von Kriminellen, von denen lassen wir lieber unsere Finger. Ich spreche von Anwälten, Richtern, Gerichtsdienern, die wissen, wenn an einem Mordfall etwas faul ist. Nun, und wir sorgen dafür, dass ... Zweifel ausgeräumt werden. Was Blaine betrifft, gibt es eine äußerst simple Erklärung. Wir haben einen Spezialisten gefragt, wie man die Bestimmung des Todeszeitpunkts zuverlässig manipulieren kann. Wie er uns erklärt hat, ist die Grundlage der Bestimmung die Messung der Körpertemperatur am Tatort. Die abnehmende Körpertemperatur einer Leiche nennt man ...«

»Ich weiß«, unterbrach ihn Ted. »Ich schaue auch CSI.«

Lynch lachte.

»Dann komme ich gleich zum Punkt. Als wir den Tatort aufsuchten, fanden wir schnell die Erklärung. Unter der Wohnung von Amanda Herdman befindet sich eine Großwäscherei. Das Hauptrohr der Lüftung verläuft direkt unter der Stelle, an der die Leiche lag. So wurde sie warm gehalten, und der Temperaturabfall erfolgte langsamer als normal.«

»Sprich: Der Typ hat sie zu einem früheren Zeitpunkt getötet.«

»Genau. Sechs bis acht Stunden früher. Der Mord fand nicht abends statt, sondern mittags, bevor Blaine in die Bar ging.«

»Und, wurde der Fall neu aufgerollt?«

»Eine Berufung wurde abgelehnt und das Urteil ratifiziert. Wir machen dem Gerichtssystem keine Vorwürfe. Es ist kaum zu vermeiden, dass immer mal wieder ein Mistkerl durch die Maschen schlüpft. Der umgekehrte Fall kommt traurigerweise ebenfalls vor. Aber man sollte beides nicht gegeneinander aufrechnen, finden Sie nicht auch?«

Mehr musste Ted nicht hören.

»Sie wollen also, dass ich Blaine töte?«

Lynch lächelte und zeigte eine Reihe perfekter Zähne.

»Ich habe es ja gesagt, Ted, Sie sind ein intelligenter Mensch.«

3

Vor dem Kühlschrank blieb er stehen. Mit einem Magneten in Apfelform war daran ein Foto von Holly befestigt, das er zu entfernen vergessen hatte. Die Mädchen hatten die Ränder mit Glitzeraufklebern verziert. Das Bild zeigte Holly am Strand, wie sie aus dem Wasser kam, in dem roten Bikini, der lange Zeit Teds Lieblingsbikini gewesen war. Sie lachte und hatte ihren Kopf zur Seite gedreht, ihr langes blondes Haar flatterte im Wind. Das Foto war genau in dem Moment aufgenommen worden, als das eine Bein hinter dem Knie verschwand, sodass die Gesetze der Schwerkraft nicht mehr zu gelten schienen.

Das Foto hing schon seit Ewigkeiten dort. Ted betrachtete es und überlegte, was ihn eigentlich in die Küche geführt hatte. Er fasste das Foto an der Ecke an und löste es vom Kühlschrank. Fast konnte er Holly lachen hören, und kurz darauf sah er sie weinend und schreiend auf der Türschwelle stehen. Wie konnte er ihr nur so etwas antun?

Er öffnete eine Schublade und legte das Foto zu den dort verstauten Utensilien, die ihm fremd vorkamen.

Im Kühlschrank waren noch zwei Flaschen Bier. Er nahm sie mit einer Hand am Hals, schob mit dem Fuß die Tür zu und lehnte sich an die Arbeitsplatte. Lynch war noch immer im Wohnzimmer. Ihm etwas zu trinken anzubieten war eine spontane Idee gewesen, die er inzwischen bereute. Ted musste kurz allein sein, um nachzudenken. Als der Fremde ihm den Vorschlag unterbreitet hatte, war ihm ein unerklärliches Kribbeln durch den Körper gegangen. Er war kein Befürworter von Selbstjustiz oder behauptete dies zumindest, wenn er gefragt wurde. Doch wenn sich am Schießstand die Kartonfigur auf ihn zubewegte und er auf den Kopf zielte, malte er sich manchmal aus, dass er einen der Bösen abknallte, einen Typen, der irgendein verabscheuungswürdiges Verbrechen begangen hatte. Ted nickte vor sich hin. Lynch mochte kein Vertreter im eigentlichen Wortsinn sein, doch er hatte Ted geschickt einen Köder hingeworfen, damit er ernsthaft über sein Angebot nachdachte.

Er starrte auf den Magneten in Apfelform. Jetzt, wo Hollys Bild nicht mehr dort hing, konnte er klarer denken. Lynchs Idee war verlockend. Wenn Ted einen Schurken tötete, würden Holly und die Mädchen in ihm einen Rächer der Gerechten sehen und keinen Feigling.

Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, hatte er die verrückte Idee, Lynch könnte gegangen sein oder, schlimmer noch, er könnte sich alles nur eingebildet haben.

Doch Lynch war noch da, saß vor den beiden Mappen am Tisch. Er stand auf, um die Flasche entgegenzunehmen, die Ted ihm anbot, und dankte ihm mit einem Nicken. Er nahm einen langen Schluck.

»Woher haben Sie davon gewusst?«, fragte Ted und setzte sich.

»Von dem Selbstmord?«

Ted nickte.

»Die Organisation hat ihre Methoden, Ted. Aber ich weiß nicht, ob es klug ist, Sie einzuweihen.«

»Ich finde, das wäre das Mindeste, wenn ich einen Menschen töten soll.«

Lynch überlegte.

»Heißt das, Sie sind dabei?«

»Es heißt gar nichts. Im Augenblick will ich nur wissen, woher Sie davon erfahren haben.«

»Also schön.« Lynch nahm einen weiteren Schluck und stellte die Flasche auf den Tisch. »Wir rekrutieren unsere Kandidaten aus zwei verschiedenen Personengruppen. Die erste Gruppe liefert uns die meisten Kandidaten, sie sind aber leider nicht immer zuverlässig. Wir arbeiten mit Psychologen zusammen, die unsere Sache unterstützen und die uns über potenzielle Fälle informieren. Uns ist klar, dass die Psychologen damit teilweise gegen die Schweigepflicht verstoßen, andererseits zwingen wir niemanden zu irgendetwas. Wir treten an die Personen heran, so wie ich in Ihrem Fall, und unterbreiten unser Angebot. Lehnt der Kandidat es ab, verschwinden wir, ohne Spuren zu hinterlassen. Wie ich gestehen muss, war meine Kontaktaufnahme in Ihrem Fall etwas ungestümer als sonst. Ich hatte Angst, nun ja, ich könnte zu spät kommen.«

»Haben Sie mich observiert?«

»Nicht direkt. Wenn ich einen Kandidaten zu Hause aufsuche, sehe ich mich erst einmal auf dem Grundstück um. In Ihrem Fall wussten wir zwar, dass Ihre Frau und Ihre Töchter auf Reisen sind, aber es kann immer mal vorkommen, dass wir unerwartet auf einen Angehörigen oder einen Bekannten treffen oder auf einen Hund, der keine Besucher mag. Während ich also ums Haus geschlichen bin, um sicherzustellen, dass die Luft rein ist, habe ich durchs Fenster gesehen und dabei beobachtet, was Sie gerade tun wollten.«

»Aha, also haben Sie mich doch observiert.«

»Tut mir leid. Wir tun alles, um uns so wenig wie möglich einzumischen.«

»Und die zweite Art von Kandidaten?«

»Ah, genau. Sehen Sie, Ted, viele Leute sind der Organisation dankbar und fühlen sich in ihrer Schuld. Dazu gehören auch viele der erwähnten Psychologen. Meistens handelt es sich jedoch um …«

»Personen, die in enger Beziehung zu den Opfern standen.« Ted deutete auf die Mappen.

Lynch schien ein Mensch zu sein, der Dinge lieber andeutete, als sie direkt auszusprechen. Er wirkte gequält. »So ist es«, bestätigte er und wechselte dann rasch das Thema. »Und jetzt lassen Sie mich erklären, was sich in der anderen Mappe befindet.«

Lynch schob die Mappe mit dem Fall Blaine beiseite und schlug die andere auf, die wesentlich dünner war. Obenauf lag das Farbfoto eines Mannes, der an Deck eines Bootes stand. Er war um die vierzig und trug eine Rettungsweste. In der Hand hielt er eine Angelrute mit einem ungewöhnlich großen Fisch.

»Wer ist das?«

»Der Mann heißt Wendell, vielleicht haben Sie schon mal von ihm gehört. Er ist ein bekannter Unternehmer.«

»Sagt mir nichts.«

»Ist auch besser so.«

Ted legte das Foto zurück. Die Mappe enthielt noch einige maschinengeschriebene Blätter und einige Landkartenausschnitte mit handschriftlich notierten Adressen. Wenig Material im Vergleich zur anderen Mappe.

»Wen hat der Mann umgebracht? Seine Frau?«

»Wendell ist nicht verheiratet. Und er hat auch niemanden umgebracht. Er ist nicht wie Blaine, er ist wie Sie.«

Ted zog die Augenbrauen hoch.

»Auch er wollte sich das Leben nehmen«, erklärte Lynch. »Und auch er weiß, was er seinen Angehörigen damit antun würde. Der Deal sieht also folgendermaßen aus, Ted. Sie töten Blaine. Sie verhelfen damit der Gerechtigkeit zum Sieg, und die Familie von Amanda Herdman findet ihren Seelenfrieden. Zum Dank werden Sie Teil einer Kette, deren letztes Glied zurzeit Wendell ist. Sie wären der Nächste.«

Ted dachte kurz nach und begriff.

»Nachdem ich Blaine getötet habe, muss ich auch Wendell töten.«

»Richtig. Er weiß es schon und wartet auf Sie. Und genauso werden Sie später hier auf das nächste Kettenglied warten. Überlegen Sie es sich, Ted. Denken Sie daran, dass es für Ihre Familie einen gewaltigen Unterschied bedeutet, ob ein Unbekannter bei Ihnen eingebrochen ist und Sie erschossen hat oder ob Sie sich das Leben ...«

»Es reicht.«

»Ich weiß, dass Sie längst alles durchdacht haben.« Lynch machte eine beschwichtigende Geste. »Zum Beispiel, dass es besser ist, sich das Leben zu nehmen, als spurlos zu verschwinden. Doch jetzt eröffnet sich Ihnen die einmalige Chance, ermordet zu werden und als Opfer des Schicksals in Erinnerung zu bleiben. Überlegen Sie nur, wie leicht Ihre Töchter darüber hinwegkommen werden. Ich weiß nicht, ob Ihnen das bekannt ist, aber viele Kinder, besonders wenn sie noch klein sind, erholen sich nie von …«

»Schluss jetzt! Ich hab’s kapiert.«

»Und, wie entscheiden Sie sich?«

»Ich brauche noch ein bisschen Zeit. Immerhin hat Wendell niemandem etwas getan ...«

»Hören Sie, Ted. Ich habe das hier schon öfter gemacht. Von dem Deal profitieren alle – auch Wendell, der in diesem Moment in seinem Haus am See darauf wartet, dass Sie ihm seinen letzten Wunsch erfüllen.«

»Warum kümmert ihr euch nicht selbst darum?«

Lynch ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sein Lächeln bewies die Richtigkeit seiner Worte: Er hatte diese Art von Gespräch schon häufig geführt, wusste auf jede Frage eine Antwort und beschränkte sich darauf, wie ein Telefonverkäufer einen auswendig gelernten Text herunterzuleiern.

»Wir sind in dieser Geschichte die Guten, Ted. Wir glauben, dass jemand, der mordet, sterben muss. Und wir tun nichts weiter, als diejenigen, die das System ausgetrickst haben, mit denen in Verbindung zu bringen, die ihr Leben für eine gerechte Sache hergeben wollen. Wir haben Sie ausgewählt, Ted. Das ist Ihre große Chance. Es ist auf jeden Fall Ihre letzte Chance, da bin ich sicher.«

Ted senkte den Blick. Aus seiner Hosentasche lugte der Zettel hervor, den er auf dem Schreibtisch gefunden hatte. Er erinnerte sich nicht einmal daran, dass er ihn eingesteckt hatte. Er zog ihn heraus und faltete ihn auf.

DASISTDEINLETZTERAUSWEG, las er.

Lynch hatte praktisch die gleichen Worte verwendet.

4

Edward Blaine war Single und lebte in einem Einfamilienhaus in einer relativ guten Wohngegend. Seine Nachbarn hassten ihn. Mit seiner rücksichtslosen Art hatte er alle gegen sich aufgebracht. Blaine war für sie Abschaum, und das Schlimmste: Der Mann schien sich in seiner Rolle pudelwohl zu fühlen, jedenfalls provozierte er jeden, der ihm über den Weg lief, mit seiner Spiegelglasbrille und seinem selbstgefälligen Grinsen. Sie hatten versucht, mit ihm zu reden, aber nichts hatte gefruchtet. Wie ein trotziges Kind legte Blaine es darauf an, jeden in Verlegenheit zu bringen, der auf ihn zuging und ein vernünftiges Wort mit ihm reden wollte. Er hielt sich an keine Regel des Miteinanders, nicht, was den Garten anging, und nicht, was seinen Hund Magnus betraf, einen furchterregenden Rottweiler, der stundenlang an der Kette lag und jeden anbellte, der in seine Nähe kam. Laute Partys mit ohrenbetäubendem Motorradgeknatter und voll aufgedrehter Musik waren gang und gäbe. Es kam des Öfteren vor, dass er im Vollrausch Prostituierte mit nach Haus schleppte und sie später rausschmiss. Dann standen sie halb nackt auf dem Bürgersteig und warteten auf ein Taxi.

Als bekannt wurde, dass er des Mordes angeklagt war, jubelten viele und rissen sich geradezu darum, das skandalöse Treiben ihres berühmt-berüchtigten Nachbarn zu bezeugen. Nur bedauerlich, dass Blaine die Frau nicht bei sich zu Hause getötet hatte. Wie gern hätte man zu Protokoll gegeben, die Schüsse gehört zu haben, was ihn gewiss endgültig hinter Gitter gebracht hätte. Denn niemand bezweifelte, dass Blaine der Mörder der armen Frau war. Die Nachbarn feierten schon im Voraus, was für sie eine ausgemachte Sache schien: Edward Blaine würde vor Gericht kommen und des Mordes an Amanda Herdman für schuldig befunden werden. Besser hätte es für sie nicht kommen können.

Doch der Staatsanwalt musste ihn wieder laufen lassen, weil er ein wasserdichtes Alibi hatte. Verschiedene Zeugen hatten den Widerling zur Tatzeit in einer Bar gesehen, und auch mehrere Überwachungskameras bestätigten, dass Blaine nicht der Täter sein konnte. Die Nachbarn waren skeptisch, und manch einer fragte sich, ob es dem Schwein vielleicht gelungen war, das Justizsystem auszutricksen. Vielleicht hatte er einen Zwillingsbruder.

Wie auch immer. Eins stand jedenfalls fest: Jetzt hatten sie es nicht mehr nur mit einem ekelhaften Kerl zu tun, sondern auch noch mit einem möglichen skrupellosen Mörder. Viele dachten darüber nach wegzuziehen.

Während Ted an einem abgelegenen Tisch eines Schnellrestaurants einen Hamburger verdrückte, las er den Bericht durch, den Lynch ihm gegeben hatte. Niemand würde Edward Blaine vermissen, dachte er. Er, Ted, würde einfach durch den Vordereingang ins Haus spazieren können. Jeder durfte ihn sehen. Die Nachbarn würden dichthalten. Er prägte sich alle Fakten ein, die er benötigte, zum Beispiel, dass Blaine einen Zweitschlüssel unter dem Fußabtreter versteckte. Der Hund stellte ebenfalls kein großes Hindernis dar.

Während er an seinem Hamburger kaute, legte er sich einen simplen Plan zurecht. Verwundert stellte er fest, dass die Angelegenheit ihn praktisch komplett von seinen eigenen Problemen und Sorgen ablenkte. Die Fotos von Amanda Herdman und einige abstoßende Details aus Blaines Vergangenheit und Gegenwart trugen dazu bei, dass Ted tatsächlich den Wunsch verspürte, diesen Mann zu töten. Er begriff nun, was Lynch gemeint hatte, als er von den Lücken des Rechtssystems sprach. Es war ein erhebendes Gefühl, eine solche Lücke füllen zu können.

Nachdem er bei Blaine eingedrungen war, stieg er in den Schrank des Gästezimmers im Erdgeschoss und machte es sich zwischen mehreren Schuhkartons leidlich bequem. Auf der Unterseite des Regals über ihm leuchtete ein neonfarbener Buzz-Lightyear-Aufkleber. Ted stellte sich das Kind vor, das ihn dorthin geklebt und sich dann eingeschlossen hatte, um sein phosphoreszierendes Schimmern zu bestaunen.

Vier Stunden später kam Blaine nach Hause. Bevor sich Ted versteckt hatte, hatte er die Räumlichkeiten inspiziert und konnte sich nun ein Bild davon machen, wo Blaine sich jeweils aufhielt. Blaine betrat das Haus durch die Garage. Er scherzte mit jemandem am Telefon. Danach duschte er. Es bestand die unwahrscheinliche Möglichkeit, dass Blaine an diesem Abend noch ausgehen würde, aber das beunruhigte Ted nicht sonderlich. Dann würde er eben auf ihn warten. Er saß schon seit Stunden in dem Schrank und konnte so lange dort sitzen bleiben, wie es nötig war. Gelegentlich nickte er ein.

Ted ging noch einmal seinen Plan durch, der jeden Hollywoodproduzenten enttäuschen würde. Er sah keine Konfrontation vor, keinen Rachemonolog und schon gar keine Drohung irgendwelcher Art. Ted würde warten, bis Blaine eingeschlafen war, aus dem Schrank schlüpfen und den Kerl liquidieren, ohne dass er überhaupt aufwachte. Was auch seine barmherzige Seite hatte.

Als Ted das nächste Mal auf seinem Handy nachsah, war es halb zehn. Blaine saß im Wohnzimmer, sah fern. Er schimpfte ab und zu lauthals über den Kandidaten einer schwachsinnigen Quizshow. Was der Abend noch bringen würde, war unklar. Es konnte sein, dass Blaine noch ausging, es konnte aber auch sein, dass er noch Besuch bekam oder ins Bett ging. Plötzlich geschah etwas Unvorhergesehenes. Ted bemerkte es noch vor Blaine und spitzte die Ohren. Trotz des künstlichen Beifalls und der schrillen Stimme des Moderators war es zu hören. Draußen im Vorgarten hatte Magnus zu jaulen begonnen. Ted verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Die Dosis, mit der er den Hund betäubt hatte, war zu niedrig gewesen.

Jetzt verstummte der Fernseher. Nach einer Weile ging die Haustür auf und dann wieder zu. Anschließend begann Blaine zu telefonieren. Zunächst konnte Ted nicht hören, was er sprach. Doch dann tigerte Blaine im Wohnzimmer umher, bis seine Stimme immer deutlicher zu vernehmen war und das Undenkbare geschah: Er betrat das Gästezimmer, in dem Ted sich versteckt hielt, schaltete das Licht an und machte die Tür hinter sich zu. Ted hatte die Schranktür einige Zentimeter offen stehen lassen, und nun war es zu spät, um sie zu schließen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Nur wenige Meter entfernt schritt Blaine ungeduldig auf und ab und lauschte dem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung.

»Wenn ich’s dir doch sage, Tony, Magnus wurde betäubt, er kann sich kaum rühren. Man hat ihm irgendwas verabreicht. Wenn das einer dieser verfluchten Nachbarn war, dann kann er sich auf was gefasst machen. Was? Nein, hab ich noch nicht.« Blaine hielt inne, setzte sich mit dem Rücken zum Schrank aufs Bett. Er klang jetzt ruhiger. »Du hast recht, Tony. Ich überprüfe, ob alles an Ort und Stelle ist. Natürlich. Ich ruf dich gleich wieder an. Ciao.«

Ohne das Licht auszumachen, verließ er den Raum.

Zweimal konnte Ted einen Blick auf ihn werfen, als Blaine vorsichtig über den Flur schlich. Beim zweiten Mal meinte Ted in seiner Hand etwas aufblitzen zu sehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er auch das Gästezimmer genauer unter die Lupe nehmen würde. Ted holte das Messer aus der Jacke, mit dem er ihn im Schlaf hatte erstechen wollen. Auge um Auge, dachte er.

Wenige Minuten später stand Blaine tatsächlich auf der Schwelle und hatte eine Waffe in der Hand. Ted war überzeugt, dass Blaine ihn entdeckt hatte, dass er direkt zum Schrank geblickt und bemerkt hatte, dass die Tür nur angelehnt war. Doch Blaine setzte sich wieder mit dem Rücken zu ihm aufs Bett und nahm das Telefon, das er dort abgelegt hatte.

»Hallo, Tony. Alles an seinem Platz. Ja, wollte dir nur kurz Bescheid geben. Ich finde schon noch raus, wer das war. Aber erst morgen. Ich bin todmüde. Ich hab seit zwei Tagen nicht geschlafen. Natürlich. Hab ich doch gesagt. Keine Sorge. Ciao, Tony.«

Dann verließ er das Zimmer wieder. Diesmal machte er das Licht aus.

Ted steckte das Messer nicht wieder ein. Ob es eine Falle war? Warum hatte Blaine den Schrank nicht durchsucht? Er zwang sich, dreißig Minuten zu warten, um sicherzugehen, dass der Hausherr auch wirklich schlief.

Mit äußerster Behutsamkeit öffnete er die Schranktür. Dann schlich er auf den Flur und ging in Richtung Treppe zum Obergeschoss. Von draußen fiel nur spärliches Licht herein. Magnus jaulte nicht mehr, und es fuhren auch keine Autos auf der Straße. Ein Stolpern, jedes noch so geringe Geräusch, konnte ihn verraten. Vorsichtig stieg er die Treppe hinauf, hielt sich so eng wie möglich an der Wand, damit keine Stufe knarrte. Der schwierigste Teil war geschafft. Im oberen Stockwerk lag überall Teppich.

Blaines Schlafzimmer befand sich am Ende eines schmalen Flurs. Als Ted den Kopf hineinsteckte, sah er deutlich Blaines Gestalt unter dem weißen Laken. Durchs Fenster fiel das Licht der Straßenlaterne. Ted umklammerte den Griff des Messers, machte einen Schritt in das Zimmer und hob den Arm, als …

»Keine Bewegung, sonst puste ich dir den Kopf weg.«

Die Stimme kam von hinten. Im Nacken spürte Ted den Lauf einer Pistole, dann wurde er vom Licht geblendet. Als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, verwandelte sich der vermeintliche Blaine auf dem Bett in ein Kissen.

Das ist deine Chance, dreh dich um und wirf das Messer nach ihm. Wenn er dir eine Kugel in den Kopf jagt, kriegst du, was du wolltest, oder? Deinem Gehirn dürfte es egal sein, welche Kugel es zerfetzt.

In seiner Hosentasche steckte immer noch der Zettel aus seinem Büro. Das ist dein letzter Ausweg.

»Messer fallen lassen«, sagte Blaine. »Sehr schön. Nicht umdrehen. Und Pfoten hoch.«

Wie es aussah, würde es immerhin einen hollywoodreifen Dialog geben.

Ted war nicht nervös. Dass Blaine nicht sofort geschossen hatte, konnte nur bedeuten, dass er nachdachte. Vermutlich fragte er sich, wer der Kerl war, der ihn umbringen wollte. Außerdem war er sich bewusst, dass eine Leiche bei sich im Haus das Letzte war, was er jetzt gebrauchen konnte. Ganz zu schweigen von einem Schuss, der die Aufmerksamkeit der Nachbarn erregen würde. Ted wunderte sich, wie viele Gedanken ihm durch den Kopf gingen, als wäre dies die normalste Situation der Welt. Er kam sich vor wie ein Filmheld. Und während er all diese Überlegungen anstellte, begriff er, dass er keine Lust hatte, von diesem Typ ins Jenseits befördert zu werden. Es hatte etwas Empörendes, dass ausgerechnet Blaine sein Mörder sein sollte. Jetzt, wo er wehrlos dastand, eine Pistole im Nacken, wurde es ihm erst richtig bewusst. Lynchs Bedingungen zu akzeptieren und von einem Unbekannten getötet zu werden, um vielleicht das Leid seiner Familie zu lindern, mochte noch angehen – aber Blaine? Vielleicht tat der Überlebensinstinkt sein Übriges. Vielleicht.

»Du hast mich gesehen, stimmt’s?«, fragte Ted mit fester Stimme. »Als du reingekommen bist, hast du mich sofort gesehen.«

»Wer hat dich geschickt?«

»Wie kommst du darauf, dass mich jemand geschickt hat?«

»Wenn dich keiner geschickt hat, knall ich dich sofort ab. Wenn du mir sagst, wer es war, lebst du ein bisschen länger. Lebend kommst du hier jedenfalls nicht mehr raus.«

»Das ist aber kein guter Deal für mich.«

Ted drehte sich ganz langsam um.

»Nicht umdrehen, hab ich gesagt!«

Ted hielt inne.

»Tut mir leid, aber du musst dir unbedingt mein Gesicht anschauen. Wir beide kennen uns nämlich.«

Ein kurzes Zögern.

»Deine Stimme kommt mir nicht bekannt vor.«

»Ich weiß. Aber wenn du mein Gesicht siehst, wirst du’s begreifen. Glaub mir.«

Jetzt hatte er ihn. Wie ein Fisch hing er an der Angel, er musste ihn nur noch aus dem Wasser ziehen. Blaine war neugierig, würde sich auf Teds Gesicht konzentrieren, sein Gehirn würde mit einem Problem beschäftigt sein, für das es keine Lösung gab.

»Okay«, sagte Blaine. »Dreh dich um. Aber ganz langsam! Und lass die Hände oben.«

Ted begann sich langsam umzudrehen, die Arme halb erhoben. Ein simpler Trick. Blaine würde sich auf sein Gesicht konzentrieren, was Ted den Bruchteil einer Sekunde verschaffen würde, den er brauchte, um in die Jackentasche zu greifen und die Browning hervorzuziehen. Blaine bemerkte das Manöver erst, als sich Ted, die Waffe auf Brusthöhe, endgültig umdrehte und abdrückte, alles in einer fließenden Bewegung, ohne zu zögern. Es war ein gewagter Schuss, mit gebeugtem Arm und aus einer unbequemen Höhe, und trotzdem traf Ted Blaine mitten in die Stirn. Der Knall zerriss die Stille der Nacht. Diese Kugel war für mich reserviert, dachte Ted, während Blaine zusammensackte wie eine Marionette, deren Fäden man gekappt hatte.

Ted sah zu, wie Blaine noch einige Male zuckte, bevor er reglos liegen blieb. Dann zog er ein Foto von Amanda Herdman aus der Hosentasche und legte es Blaine auf die Brust.

In diesem Moment schreckte ihn ein Geräusch im Wohnzimmer auf. Er war nicht sicher, was genau er gehört hatte. Vielleicht das Rücken eines Stuhls. Er steckte die Browning zurück in die Tasche und hob sein Messer auf. Dann ging er den Flur entlang zum Treppengeländer und spähte nach unten. Was er sah, verblüffte ihn so sehr, dass es seinen natürlichen Reflex, sich zu verstecken, außer Kraft setzte. Mitten im Wohnzimmer stand ein schlanker Schwarzer in einer grauen Hose und einer Art Laborkittel. Er sah Ted an, als hätte er genau gewusst, dass er in diesem Moment dort auftauchen würde. Und er grinste auf unheimliche Art.

»Hallo, Ted«, sagte der Mann mit tiefer Stimme. Zum Gruß hob er die Arme und zeigte die rötliche Innenfläche seiner Hände.

Dass er seinen Namen kannte, verwunderte Ted nicht sonderlich. Neuerdings schien das bei Unbekannten der Normalfall zu sein.

Ted stieg langsam die Treppe hinunter, ohne seinen Blick von dem Fremden zu lösen.

»Arbeiten Sie für die Organisation?«, fragte er, als er unten ankam. Er lehnte sich ans Geländer, die eine Hand an seiner Browning. Etwas sagte ihm, dass dieser Mann keine Bedrohung darstellte.

Draußen rührte sich nach wie vor nichts. Es war auch noch zu früh, als dass die Polizei eintreffen konnte. Magnus spürte offenbar, dass Fremde im Haus waren, denn er jaulte von Zeit zu Zeit auf. Wusste er, dass sein Herrchen tot war? Konnte ein Hund Blut auf eine solche Entfernung wittern? Wahrscheinlich ja. Jetzt bellte er ein paarmal.

»Wer zum Teufel sind Sie?«

Der Mann lächelte.

»Ich bin Roger.«

»Roger und wie weiter? Nur Roger? Ihr Kollege hat mir wenigstens seinen Nachnamen genannt.« Ted rieb sich mit dem Rücken seiner freien Hand über die Stirn. »Hören Sie, ich weiß nicht, was Sie hier zu suchen haben, aber die Polizei kann jeden Moment eintreffen. Oben liegt ein toter Mann, und draußen lungert ein alarmierter Rottweiler herum. Ich mach jetzt lieber die Fliege.«

Nun sah Roger ihn fast väterlich an.

»Haben Sie nicht zugehört?«, insistierte Ted.

»Warum setzen wir uns nicht ins Wohnzimmer und unterhalten uns ein bisschen?«

Verblüfft sah Ted ihn an. Was wollte dieser Kerl? Warum spionierte er hinter ihm her?

»Sind Sie verrückt? Haben Sie den Schuss nicht gehört?«

»Das war Blaine, nicht wahr?« Er klang fast gelangweilt.

»Ja. Wer denn sonst?«

»Hast du ihn erschossen?«

Der Kerl musste den Schuss doch gehört haben. Ted antwortete nicht.

»Zum Glück hattest du die Pistole«, sagte Roger.

»Man muss auf alles vorbereitet sein.«

Ted fragte sich, warum er nicht einfach wegging. Etwas an der Art, wie dieser Kerl redete, hielt ihn zurück, sein hypnotisch ruhiger Tonfall.

»Handschuhe trägst du auch«, sagte Roger und zeigte auf Teds Hände. »Und du hast ein Messer dabei. Und eine Pistole, für alle Fälle. Hast du den Hund betäubt?«

Roger nickte anerkennend mit dem Kopf.

»Sie wollten doch, dass ich ihn töte, oder?«, empörte sich Ted.

»Hast du diesmal ein Foto auf die Leiche gelegt?«

Diesmal?

»Ja.« Ted gab auf. So kamen sie nicht weiter. Er hatte keine Ahnung, ob und warum der Mann ihm nachspioniert hatte. Oder vielleicht besaß er auch eine Kristallkugel. Es war ihm egal. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mister Roger, werde ich jetzt gehen. Okay? Ich an Ihrer Stelle würde ebenfalls verschwinden.«

Ted begab sich zur Tür. Aber etwas stimmte nicht. Durch ein kleines Sichtfenster in der Tür sah er, wie jemand den Garten verließ und über die Straße zu einem parkenden Auto rannte. In diesem Moment warf eine Straßenlaterne Licht auf die Gestalt. Dieses gestreifte Poloshirt kannte er. Es war Lynch.

Das Auto wurde gestartet und raste davon.

Warum überwachten sie ihn?

Ted drehte sich zu Roger um und forderte eine Antwort, ohne die Frage überhaupt ausgesprochen zu haben. Der Schwarze zuckte mit den Schultern.

5

Das Opossum hatte sich den Gartentisch ausgesucht, um das amputierte Bein zu verschlingen. Beim Betreten der Veranda hatte es den Bewegungsmelder ausgelöst, sodass in dem Lichtkegel das schaudererregende Schauspiel gut zu sehen war.

Ted stand an der Verandatür und betrachtete ungläubig, wie das Tier seine spitzen Zähne in das tote Fleisch rammte. Die künstlich wirkenden Augen starrten gleichgültig ins Leere, während es die rosafarbene Haut von Hollys Bein riss. Ted wusste genau, dass es Hollys Bein war, obwohl alles – von den Zehen bis zu der Schnittwunde unterhalb des Knies – blutbesudelt war. Er brauchte kein Muttermal oder etwas dergleichen. Er hatte dieses Bein so oft gestreichelt, hatte es so oft geküsst. Er würde es überall erkennen, sogar im Traum. Dieses verfluchte Opossum fraß Hollys Bein! Ted schlug mit der flachen Hand an die Scheibe. Das Opossum drehte kurz den Kopf, sah zu der Gestalt hinter dem Glas, schien sich aber nicht bedroht zu fühlen. Seine Schnauze war rot verschmiert, wie von Schminke. Als seine Neugier befriedigt war, rammte es wieder seine Zähne in das Bein. Ted hämmerte noch einmal an die Scheibe, doch diesmal rührte sich das Tier nicht.

In diesem Moment hörte er den Ozean. Der Atlantik war mehrere Kilometer entfernt und von hier aus unmöglich zu hören, aber das war jetzt auch egal. Ted schaltete das Außenlicht ein, und tatsächlich, da draußen – in seinem Garten – lag das Meer. Der sanft abfallende, waldige Hang, an dem er morgens die Wirtschaftsbeilage las, hatte sich in eine brausende, schäumende Wassermasse verwandelt. Am sandigen, mit Geranien bewachsenen Ufer stand Holly, starr wie eine Wachsfigur. Das Opossum hatte bereits ein großes Stück Wade herausgebissen, sodass die hell schimmernde Rundung des Knochens zu sehen war. Holly trug den roten Bikini – Teds Lieblingsbikini –, streckte die Arme zur Seite und neigte den Körper leicht nach links. Die Haare schienen neben ihrem Kopf zu schweben, als ruhten sie auf unsichtbaren Händen. Trotz des fehlenden Beins machte Holly ein fröhliches Gesicht.

Ted öffnete die Verandatür. Das Opossum verzog sich ans hintere Ende des Tisches. Offenbar war es jetzt doch beunruhigt von Teds Anwesenheit, wenn auch nicht beunruhigt genug, um vom Fressen abzulassen. Erwartungsvoll saß es da, zusammengekauert, die Zähne bleckend, bereit zur Flucht. Ted machte eine abrupte Bewegung, die aber nichts half, also suchte er in der Umgebung nach etwas, mit dem er das Tier verscheuchen konnte. Neben dem Grill lag ein Holzkasten, den er sofort wiedererkannte. Obwohl er hätte überrascht sein müssen, weil er den Kasten seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte, kam es ihm ganz natürlich vor, ihn jetzt hier, als Erwachsener, zufällig zu entdecken. Er ging hin und hob ihn hoch, als wäre er eine Reliquie – was er in gewisser Weise auch war. Wenn man ihn öffnete, ergaben Deckel und Boden ein vollständiges Schachfeld. Innen war er mit grünem Samt ausgekleidet, und jede Figur hatte ihren Platz. Ted nahm einen Bauern und schleuderte ihn in Richtung des Opossums. Aber er traf nicht. Wie war es möglich, dass er dieses elende Vieh aus nicht einmal zwei Meter Entfernung verfehlte? Er warf eine weitere Figur, diesmal mit mehr Kraft, als nötig gewesen wäre. Wieder daneben. Beide Würfe hatten etwas, das ihn zutiefst verstörte. Die Geschosse beschrieben eine Kurve, deren einziger Zweck es zu sein schien, das Opossum kurz vor dem Aufprall zu verfehlen. Ted gab sich nicht geschlagen und schleuderte wie ein Besessener eine Figur nach der anderen nach dem Tier. Das Opossum musste bemerkt haben, dass die physikalischen Gesetze zu seinen Gunsten verzerrt waren, denn es kehrte träge zur Mitte des Tisches zurück und labte sich wieder an seinem Festschmaus. Der kräftige, rötliche Schwanz schlängelte sich wie eine Viper an seinem haarigen Körper. Ted hatte um die hundert Mal geworfen – immer daneben –, als er endlich aufgab und das Kästchen fallen ließ. Ein Blick auf den Boden bestätigte ihm, dass darin alle Figuren an ihrem Platz waren.

Er sah zu Holly, wollte ihr sagen, dass es ihm leidtat, dass er sein Möglichstes versucht hatte, damit sie ihr Bein wiederbekam. Was für ein Ehemann war er nur, dass er die Bedürfnisse seiner Familie nicht erfüllen konnte? Er fühlte sich elend, war den Tränen nahe, doch dann begriff er, dass es einen Ausweg gab. Warum war er nicht gleich darauf gekommen! Sein rechter Arm wurde immer schwerer, bis sich seine Hand schließlich um den Griff der Browning legte. Er führte die Pistole vor sein Gesicht und betrachtete sie fasziniert. Mit geradezu theatralischer Langsamkeit richtete er sie mit beiden Händen auf das Opossum. Er kostete den Moment vor dem Schuss aus. Das Tier hatte den Kopf gehoben, als ahnte es, dass sein Ende nahte. Die Kugel schlug in seinem Rücken ein, der explodierte wie ein mit Blut und Eingeweiden gefüllter Luftballon. Ted ließ die Pistole fallen und ging, den Blick auf Hollys Bein gerichtet, zum Tisch. Er nahm es in beide Hände wie ein Chirurg, der ein Organ verpflanzen will. Jetzt, da er es aus der Nähe betrachten konnte, stellte er fest, dass es am Ende, genau wie er vermutet hatte, einen Gewindebolzen aufwies. Alles würde gut werden. Er musste nur zu Holly gehen und das Bein wieder anschrauben. Er würde ein guter Ehemann sein.

Er stieg die beiden Stufen der Terrasse hinunter und hob den Blick. Holly stand immer noch da, doch jetzt befand sich zwischen ihr und ihm ein riesiger, gelb glänzender Rahmen, dessen unterer Rand rund fünfzig Zentimeter über dem Boden schwebte. Ted wusste, dass er problemlos über den unteren Rand hinwegklettern konnte, doch er hielt eine Sekunde inne, bevor er es tat. Zehn Meter hinter Holly wogte das Meer, und sein Wunsch, ihr das Bein zurückzugeben und sie in den Arm zu nehmen, war kaum auszuhalten. Er hob sein eigenes Bein an und schwang es über das Hindernis. Kurz hatte er das verrückte Gefühl, er würde nicht hinüberklettern können, aber es gelang ihm problemlos. Solange er den Rahmen nicht berührte, war alles okay. Nachdem er hinübergeklettert war, stand er vor einem weiteren Rahmen, der diesmal grün war. Er wiederholte sein Manöver, und als er den Blick hob, sah er, dass Holly immer noch zehn Meter entfernt stand und auf ihn wartete, und da war ein weiterer Rahmen, ein roter diesmal, und dahinter ein violetter. Ted musste nicht einmal mehr hinsehen, um die Hindernisse zu überwinden, er tat es unbewusst, den Blick nach vorn gerichtet, auf Holly, erst einen gelben, dann einen himmelblauen, »ich komme, Schatz«, weitere zehn Meter, dann einen Rahmen, der so schwarz war wie die Nacht, »Holly«, Ted ging nun nicht mehr, er rannte, sprang über die untere Leiste der Rahmen hinweg wie ein Hürdenläufer, immer weiter, Holly, immer weiter, Holly …

Der letzte Rahmen verschluckte ihn und spuckte ihn mit einem Schrei irgendwo aus.

Er lag auf dem Sofa.

Erschrocken setzte er sich auf und tastete sein Bein ab. Es war noch da. Hatte er geträumt, dass ihm ein Bein fehlte? Die Erinnerung an den Traum verflüchtigte sich bereits. Er starrte ins Dunkel des Zimmers, dann auf sein zerknittertes Hemd und die unbequeme Jeans, die er trug. Dann stand er auf und ging, ohne recht zu wissen, warum, zu der Tür, durch die man auf die Seitenveranda gelangte. Dort blieb er eine ganze Weile stehen und betrachtete den Hang, der sich in der Schwärze der Nacht verlor. Als er näher an die Scheibe trat, aktivierte der Bewegungsmelder die Scheinwerfer, und Tisch und Stühle wurden in Licht getaucht. Schlagartig stand ihm das Bild eines Frauenbeins vor Augen. Hatte er geträumt, dass Holly ein Bein fehlte? Lächelnd machte er sich eine Notiz, um es ihr am Nachmittag zu erzählen. Er fragte sich, wie spät es sein mochte. Instinktiv sah er zu seinem Handgelenk, aber seine Armbanduhr war nicht da.

Da durchbrach eine Erinnerung wie ein Pfeil die barmherzige Decke des Vergessens, die sein Bewusstsein hatte ausbreiten wollen. Abrupt sah er zum Sockel des Grills. Das Schachspiel war nicht mehr da, aber die Erinnerung war gestochen scharf. Er hatte einen Albtraum gehabt, in dem Holly ein Bein fehlte, aber es war dieses Schachspiel, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.

6

Wenn er seinen Abschied von dieser Welt schon hinauszögerte, dann konnte er genauso gut sein alltägliches Leben wiederaufnehmen, und dazu gehörten die Besuche bei seiner Therapeutin Laura Hill. Irgendwie freute er sich darauf, denn sein Verhältnis zu ihr war mit der Zeit immer besser geworden. Sein Hausarzt hatte ihn damals überwiesen. Ted wäre niemals von sich aus zur Therapie gegangen, aber Dr. Carmichael hatte darauf bestanden und so lange auf ihn eingeredet, bis er sich dazu bereit erklärt hatte. »Jemand, der mit so etwas konfrontiert ist, Ted, braucht Beistand«, hatte er gesagt. Ted hatte es übersetzt als: Jemand, der einen inoperablen Tumor im Kopf hat, wird früher oder später überlegen, ob er sich nicht die Kugel gibt. Und Dr. Carmichael hatte recht behalten.

Streng genommen war es nicht so, dass der Tumor inoperabel war, aber dass die Sache gut ausging, war in etwa so wahrscheinlich, wie aus dreißig Metern einen Korb zu erzielen. Diese Metapher hatte Dr. Carmichael nicht benutzt, denn er hatte mit seinen Worten ein Licht der Hoffnung entzünden wollen, aber pragmatisch, wie Ted war, hatte er die Situation blitzschnell analysiert. Es war seine Entscheidung: Er konnte die Operation riskieren und auf ein Wunder hoffen oder weitermachen wie bisher. Ted musste nicht lang überlegen. Es war eine Entscheidung, die er schon getroffen hatte, lange bevor die Kopfschmerzen einsetzten oder Dr. Carmichael ihm in ruhigem Tonfall die deprimierenden Ergebnisse der Untersuchungen erläuterte. Vermutlich hatte er sie schon vor Jahrzehnten getroffen, als er Einer flog über das Kuckucksnest gesehen hatte, mit seinem niederschmetternden Ende, wenn Jack Nicholson seinen Kopf bewegte wie eine Marionette ohne Marionettenspieler. Nein, Ted musste nicht erst überlegen. Er würde seine letzten Monate genießen und dann in Würde sterben. Wenn er dennoch zu Dr. Hill gegangen war, dann nur, um Carmichael in Sicherheit zu wiegen. Als guter Arzt war er natürlich der Meinung, man müsse das menschliche Leben so lange wie möglich erhalten. Ob man dafür einen Korb aus dreißig oder hundert oder tausend Metern erzielen musste, war egal.

Laura Hill sah aus wie Ende zwanzig. Bei seinem ersten Termin empfand Ted geradezu Mitleid mit der jungen Frau, die sich beruflich erst noch ihre Sporen verdienen musste, mit ihrer eckigen Brille und den hochgesteckten Haaren, mit ihrer umgänglichen Art und dem wohldosierten Lächeln. Sie spielt die Therapeutin nur, dachte Ted, der sich noch wundern würde, dass Laura Hill in Wirklichkeit längst weit über dreißig war. Wie alt genau sie war, das wusste er bis heute nicht. Sie hatte es ihm nie gesagt.

Laura Hill hatte ihn entwaffnet mit ihrer jugendlichen Schönheit, ihrem unschuldigen Aussehen und der Offenheit, die sie ihm entgegenbrachte. Ted nahm sich dennoch vor, alle Fallen, die sie ihm stellen würde, zu umgehen, und selbstverständlich würde er ihr – wie schon Dr. Carmichael – nichts von den Selbstmordgedanken erzählen, die er in seinem Innern bewegte.

»Hallo, Ted«, sagte Laura. »Dann ist die Segeltour mit Ihrem Geschäftspartner also ins Wasser gefallen.«

»Ja. Danke, dass Sie mir so schnell einen Termin gegeben haben.«

»Tut mir leid wegen der Tour.« Laura hatte ihre kupferbraunen Haare zu einem Dutt gesteckt. »Wie geht’s Ihnen?«

Gestern habe ich einen Mann getötet. Ich bin bei ihm eingebrochen, habe mich in einem Schrank versteckt und ihn umgebracht. Die Welt wird ihn nicht vermissen.

Er lauschte in seinem Innern dem Klang der Worte nach, stellte sich Lauras Gesicht vor, wenn er sie aussprach. Aber er hatte sich selbst ja noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass er einen Menschen getötet hatte und – was noch schwerer wog – dass er es auch noch genossen hatte.

»Gestern hatte ich wieder einen Albtraum«, sagte Ted. Er erzählte oft von seinen Träumen, zum einen, weil er sie für Unsinn hielt, zum anderen, weil er alle Details weglassen konnte, die ihm zu entlarvend erschienen. »Es ist etwas Neues hinzugekommen.«

Am einzigen Fenster des Raums stand ein Schreibtisch, den Laura nur selten benutzte. Auch diesmal saß sie Ted gegenüber auf einem Sessel. Zwischen ihnen befand sich ein niedriger Tisch, darauf ein Plastikbecher mit Wasser. Ted trank nie davon.

»Erzählen Sie mir Ihren Traum.«

»Ich war im Wohnzimmer und habe auf die Veranda geschaut. Auf dem Tisch saß das Opossum und fraß ein Bein von Holly. Holly war nicht da, nur ihr Bein, und trotzdem wusste ich, dass es ihr gehörte. Ich ging sofort nach draußen und suchte nach etwas, mit dem ich nach dem Viech werfen konnte, um es zu verscheuchen. In dem Augenblick sah ich auf dem Boden einen kleinen Kasten, den ich sofort wiedererkannte. Es war mein Schachspiel.«

Wäre Laura Hill eine Therapeutin gewesen, die sich Notizen macht, hätte sie in diesem Moment wohl ein Ausrufezeichen an den Rand gesetzt, weil Teds Stimme so ernst klang. Doch Laura machte sich nie Notizen. Sie hatte ein hervorragendes Gedächtnis.

»Ich habe mit den Figuren nach dem Opossum geworfen, aber nie getroffen«, fuhr Ted fort. »Und die Figuren wurden nie weniger. Da entdeckte ich Holly im Garten, und hinter ihr lag das Meer. Ist es nicht komisch, was ein menschliches Hirn sich so ausdenkt?«

Dass er das Opossum mit der Browning in Fetzen geschossen hatte, ließ er weg. Für seinen Geschmack glich es zu sehr dem, was er mit seinem eigenen Schädel angestellt hätte, wäre Lynch ihm nicht in die Quere gekommen. Das waren die Details, die er lieber für sich behielt.

»Haben Sie das Opossum nicht getötet?«, fragte Laura und bewies nicht zum ersten Mal einen alarmierend guten sechsten Sinn.

»Nein.«

Laura Hill nickte.

»Wann hatten Sie zum letzten Mal einen Traum, in dem ein Schachspiel vorkam?«

»Noch nie.«

Sie legte eine Pause ein und suchte nach den richtigen Worten.

»Ted, wir sollten darüber reden, was in jenen Jahren geschah. Sie müssen mir sagen, warum ein Junge mit einer solchen Begabung so plötzlich mit dem Schach aufhört. Haben Sie seither denn nie wieder gespielt?«

»Nicht ernsthaft. Ich hab’s meinen Töchtern beigebracht und ein paarmal mit ihnen gespielt, aber jetzt spielen sie nur noch miteinander.«

»Warum haben Sie damit aufgehört?«

Es war nicht das erste Mal, dass Laura dieses Thema anschnitt. Ted hatte sich in der Vergangenheit dagegen gesträubt, und sie hatte nicht insistiert, dabei fand er es nicht einmal sonderlich beunruhigend, über diese Jahre zu sprechen. Er setzte sich bequem hin und begann zu erzählen:

»Beigebracht hat es mir mein Vater. Mit sieben habe ich bereits locker gegen ihn gewonnen. Er nahm mich mit nach Windsor Locks, seinem Geburtsort, wo ein alter Mann wohnte, der einmal einen gewissen Ruf als Schachspieler genossen hatte.« Ted machte eine Pause. Die Erinnerung an seinen Mentor, der vielleicht der einzige Erwachsene war, dem er jemals Respekt und Bewunderung gezollt hatte, weckte in ihm eine Mischung aus Nostalgie und Schmerz. »Er hieß Miller, ich glaube, ich habe ihn schon mal erwähnt. Als ich ihn zum ersten Mal sah, kam er mir unglaublich alt vor, weil er so graue Haare hatte, die ihm wirr vom Kopf abstanden, und ein verrunzeltes Gesicht. Bei unserer ersten Begegnung haben wir nicht viel gesprochen. Wir setzten uns einfach ans Brett und spielten eine Partie, in der Garage, in der er die Kinder aus dem Ort unterrichtete. Mein Vater sah uns zu. Wir führten nur einige wenige Züge aus, nicht mehr als zwanzig, da stand Miller auf und nahm meinen Vater beiseite, um allein mit ihm zu reden. Ich saß da und wartete, dachte, Miller würde ihm sagen, ich hätte kein Talent, und dann würden wir nach Hause fahren, und das war’s. Stattdessen besuchte ich ihn acht Jahre lang zwei- oder dreimal die Woche. Bis ich fünfzehn war.«

»Miller war doch der mit dem Hufeisenritual, oder?«

Ted erinnerte sich nicht, dass er das Hufeisen schon mal erwähnt hatte. Es war ein weiterer beunruhigender Beweis für die erstaunliche Gedächtnisleistung seiner Therapeutin.

»Ja. Miller wurde mein Lehrer. Wir übten stundenlang Varianten an mehreren Brettern gleichzeitig.«

Laura verzog leicht den Mund.

»Ich fürchte, so gut kenne ich mich beim Schach nicht aus.«

»Beim Schach gibt es eine Vielzahl von Eröffnungen, die häufig nach den Spielern benannt sind, die sie bekannt gemacht haben. Und von diesen Eröffnungen wiederum gibt es Varianten, das heißt, Möglichkeiten, sie anders weiterzuspielen. Man könnte auch sagen, es gibt einen Hauptweg und mehrere Seitenwege. Jede Variante wurde eingehend analysiert und ist heute Teil des Schachtrainings. Beim Schach kommt es nicht nur auf Logik an, sondern vor allem auch aufs Gedächtnis. Miller spielte mit mir berühmte Partien nach und analysierte jeden Spielzug. Sie dürfen nicht vergessen, dass ich noch ein Kind war, also trotz meiner Begeisterung für Schach leicht ablenkbar. Miller musste sich einiges einfallen lassen, um mich bei Laune zu halten. Er hat mir Geschichten über Schachspieler erzählt, über denkwürdige Partien. Irgendwann kam er auch auf die dritte Weltmeisterschaft 1927 in Buenos Aires zu sprechen, ein Zweikampf zwischen dem Kubaner José Raúl Capablanca und dem Russen Alexander Aljechin. Miller war fasziniert von diesem Spiel und steckte mich mit seiner Begeisterung an. Capablanca war der amtierende Weltmeister und galt als unschlagbares Genie. Der Herausforderer Aljechin galt eher als fleißig und gewissenhaft, und wenige trauten ihm einen Sieg zu ... Langweile ich Sie?«

»Überhaupt nicht. Ich finde es schön zu sehen, dass diese jugendliche Begeisterung Sie auch heute noch packen kann. Erzählen Sie weiter. Ich möchte wissen, wie die Geschichte des außergewöhnlichen Genies gegen den methodischen Herausforderer ausgeht. Ist es sehr peinlich, wenn ich die beiden Namen noch nie gehört habe?«

Ted lachte.

»Nein, ganz und gar nicht. Wir reden von Schach. Und vom Jahr 1927! In jener Zeit waren die Regeln der Weltmeisterschaften noch nicht festgelegt. Die beiden vereinbarten, dass derjenige Weltmeister würde, der sechs Partien gewann. Beim Schach enden Partien aber oft mit einem Remis, daher mussten sie unzählige Male gegeneinander antreten, bis sechs Siege zustande kamen. Insgesamt vierunddreißig Mal. Sie haben drei Tage praktisch durchgespielt!«

»Wer hat gewonnen?«

»Zur Überraschung aller, Aljechin. Das Verhältnis der beiden Schachspieler war schon immer schlecht gewesen, aber von da an wurde es noch schlechter. Aljechin verweigerte Capablanca eine Revanche und starb zehn Jahre später. Wie gesagt, sein Sieg war überraschend, und hier kommt das berühmte Hufeisen ins Spiel. In Buenos Aires fand Aljechin ein Hufeisen auf der Straße. Er war sehr abergläubisch und hielt es für ein gutes Omen. So erklärte er es auch seiner Frau, die ihn begleitete, und er beschloss, das Hufeisen als seinen Glücksbringer aufzubewahren. Er kaufte eine Zeitung und wickelte es vorsichtig ein. Seiner Frau sagte er: ›Es hat auf mich gewartet.‹«

Ted hatte feuchte Augen. Seine Gefühle hatten ihn überwältigt. Miller hatte ihm diese Geschichte wieder und wieder erzählt, sie mit immer neuen Details ausgeschmückt. Der alte Mann hatte sogar ein Album mit Zeitungsartikeln aus jener Zeit, darunter auch einige aus Argentinien, die er selbst übersetzt und in seiner winzigen, gestochen scharfen Handschrift niedergeschrieben hatte.