In den Stunden einer Nacht - Federico Axat - E-Book

In den Stunden einer Nacht E-Book

Federico Axat

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Beschreibung

»Ich hatte diese Frau noch nie gesehen, da war ich mir sicher; trotzdem hatte sie etwas, das mir merkwürdig vertraut war.« – »Hypnotisch, einer der besten Thrillerautoren der Welt.« The New York Times

Mit siebenundzwanzig Jahren ist John Brenner bereits ein trockener Alkoholiker, von seiner Frau geschieden und hat eine vierjährige Tochter, die er seltener sieht, als ihm lieb ist. Eines Nachts wacht er auf dem Fußboden seines Wohnzimmers auf, ohne Erinnerung an die letzten Stunden. Neben ihm liegen eine leere Wodkaflasche, eine Pistole und die Leiche einer Frau, die er noch nie zuvor gesehen hat. Ist er der Mörder, oder hat man ihm die perfekte Falle gestellt? Aber warum sollte ihm jemand einen Mord anhängen? John weiß, dass die Antwort in den Stunden liegt, die er vergessen hat. Als er beginnt nachzuforschen, trifft er im Internet auf einen Mann, der ebenfalls einen Erinnerungsverlust erlitten hat. Und der nachts von jener Frau träumt, die tot in Johns Wohnzimmer lag …

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Seitenzahl: 484

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Zum Buch

»Ich hatte diese Frau noch nie gesehen, da war ich mir sicher; trotzdem hatte sie etwas, das mir merkwürdig vertraut war.«

Mit siebenundzwanzig Jahren ist John Brenner bereits ein trockener Alkoholiker, von seiner Frau geschieden und hat eine vierjährige Tochter, die er seltener sieht, als ihm lieb ist. Eines Nachts wacht er auf dem Fußboden seines Wohnzimmers auf, ohne Erinnerung an die letzten Stunden. Neben ihm liegen eine leere Wodkaflasche, eine Pistole und die Leiche einer Frau, die er noch nie zuvor gesehen hat. Ist er der Mörder, oder hat man ihm die perfekte Falle gestellt? Aber warum sollte ihm jemand einen Mord anhängen? John weiß, dass die Antwort in den Stunden liegt, die er vergessen hat. Als er beginnt nachzuforschen, trifft er im Internet auf einen Mann, der ebenfalls einen Erinnerungsverlust erlitten hat. Und der nachts von jener Frau träumt, die tot in Johns Wohnzimmer lag …

Zu den Autoren

Federico Axat wurde 1975 in Buenos Aires geboren. Nach seinem Studium arbeitete er zunächst als Ingenieur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Bücher erscheinen in über 30 Ländern und stoßen bei Leser*innen und Kritiker*innen auf große Anerkennung. Die New York Times feierte ihn als »einen der besten Thrillerautoren der Welt«. Federico Axat verbrachte einige Jahre in den USA, heute lebt und arbeitet er in Buenos Aires.

Matthias Strobel, geboren 1967, übersetzt aus dem Spanischen und Englischen, u. a. Alfredo Bryce Echenique, José María Arguedas und Guillermo Arriaga. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet.

Federico Axat

In den Stunden einer Nacht

Aus dem Spanischen von Matthias Strobel

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Amnesia« bei Ediciones Destino, Barcelona.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutschsprachige Erstausgabe Januar 2024

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright der Originalausgabe: © 2018 Federico Axat

Mit Genehmigung der Pontas Literary & Film Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe: © 2024 btb Verlag, München

Covergestaltung: semper smile | München

unter Verwendung eines Motivs von © Trevillion Images/Rekha Garton

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

MSP · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-25461-2V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für meine Eltern,

Luz L. Di Pirro

und Raúl E. Axat

We turn away to face the cold, enduring chillAs the day begs the night for mercy love.

One Tree Hill, U2

1

Die Frau lag erschossen in meinem Wohnzimmer.

Ich erwachte umnebelt – wie immer, wenn ich mich betrunken hatte und woanders als in meinem eigenen Bett lag. Der erste Kontakt mit der Realität war das quietschende Geräusch des Schaukelstuhls auf der vorderen Veranda; der zweite die Stehlampe, gegen die ich mit der Hand stieß, als ich mich, noch immer mit geschlossenen Augen, streckte. Die verhängnisvolle Entwicklung, die mein Leben in jüngster Zeit genommen hatte, wollte es, dass die Lampe umkippte und der Schirm in tausend Scherben zerbrach.

In diesem Moment begriff ich, dass ich bäuchlings auf dem Boden meines Wohnzimmers lag. Die Brust tat mir höllisch weh, der linke Arm war taub und die Wange gequetscht. Kaum hatte ich die Lider etwas geöffnet, sah ich auf dem niedrigen Couchtisch, rund einen Meter entfernt, die Wodkaflasche. Aus dieser Perspektive wirkte sie wie ein Bauwerk, ein Obelisk, so monumental wie mein Scheitern. Missmutig verzog ich das Gesicht und ließ mich zurück in die Dunkelheit sinken, an die ich mich allmählich gewöhnte. Kurz darauf meldete sich die vorwurfsvolle Stimme in mir. Ich hatte mich meinem Alkoholproblem gestellt und gelernt, dieser Stimme in den ersten trägen Momenten der Schuld zuzuhören, still zuzuhören wie ein Kind, das eine wohlverdiente Strafpredigt über sich ergehen lässt. Erst dann dachte ich daran, wie lange die Zeiten schon zurücklagen, als ich die Kontrolle über mein Leben zu haben meinte und meiner Ex-Frau oder meiner Tochter (selbst wenn sie sich nicht daran erinnerte) und sogar meiner Anwältin ein Versprechen nach dem anderen gab, nur um doch wieder, wie der letzte Vollidiot, in die gleiche Falle zu tappen. Ich war jetzt siebenundzwanzig. Donald, mein Mentor bei den Anonymen Alkoholikern, war der Meinung, dass ich doch ziemlich früh zu dieser Erkenntnis gelangt sei, er sei in meinem Alter ein viel größerer Dummkopf gewesen, habe damals noch ein ganzes Jahrzehnt schwachsinniger Exzesse vor sich gehabt. Für mich war das kein tröstlicher Gedanke.

Als ich aufstehen wollte, fühlte es sich an, als träfe mich die stählerne Spitze eines Pfeils mitten in die Stirn. Meine Arme zitterten, und beinahe wäre ich wieder zusammengesackt, aber irgendwie brachte ich die jämmerlichste Liegestütze meines Lebens doch noch zustande. Einen leichten Kater steckte ich inzwischen locker weg, ja sogar einen mittelschweren; gegen einen Kater epischen Ausmaßes hingegen war kein Kraut gewachsen. Noch war mir nicht klar, mit welcher Art von Kater ich es diesmal zu tun hatte.

Ich öffnete die Augen.

Das Fenster war ein schwarzes Rechteck; offenbar war einige Zeit vergangen, denn es war schon wieder Abend. Konnte es sein, dass ich mich an rein gar nichts erinnerte von dem, was in den letzten Stunden passiert war? Es wäre nicht das erste Mal, und trotzdem wunderte ich mich immer wieder aufs Neue. Normalerweise meldete sich an dieser Stelle erneut die innere Stimme und hielt mir den zweiten Teil der Predigt, nicht mehr mit pädagogischem Unterton, sondern schulderfüllt und resigniert; die Heftigkeit und Wut verflüchtigten sich, und an ihre Stelle trat die Einsicht, dass die Sache verloren war. Diesmal jedoch hatte ich keine Zeit zu jammern, denn während ich noch die Flasche anstarrte, zog etwas Glänzendes, das auf dem Boden lag, meine Aufmerksamkeit auf sich. Was gerade noch ein L-förmiges Funkeln gewesen war, entpuppte sich als die Ruger P85, die einmal meinem Vater gehört hatte.

Dann sah ich aus den Augenwinkeln die Leiche. All das konnte keine halbe Minute gedauert haben, aber in meinem Empfinden vollzog es sich mit zäher Langsamkeit. Ich drehte meinen Kopf, weil ich merkte, dass etwas nicht stimmte, und da lag die Frau, auf dem Bauch, unter einem weißen Laken. Ihr Kopf war leicht nach rechts verdreht, zu mir hin, ihre geöffneten Augen starrten auf einen Punkt im Nirgendwo.

Ich halte mich für einen starken Menschen. Mit elf fand ich meine Mutter tot auf, nachdem sie lange gegen eine unheilbare Krankheit angekämpft hatte. Mein Vater wurde verhaftet unter dem Verdacht, sie mit einem Kissen erstickt zu haben, und schoss sich wenig später mit einer Flinte den Schädel weg. Dieser Anblick blieb mir erspart, aber ich war allein zu Hause, als die Polizei kam, um es mir mitzuteilen. Der Anblick dieser toten Frau, die ich später die Frau mit dem Halsband nennen würde – auch wenn sie in diesem Augenblick keines trug –, setzte mir jedoch ganz anders zu. Allein, dass sie existierte, hatte etwas Haarsträubendes, denn es deutete unweigerlich darauf hin, dass ich etwas mit ihrem Tod zu tun hatte.

Ich vergaß einen Moment lang das Pochen in meinem Kopf und kroch auf sie zu. Mein Blick wanderte von der Frau zu der Waffe. Von der Waffe zu der Frau. Dann wallte Angst in mir auf, und mit ihr die naheliegende Frage.

Was hast du getan?

Ich hatte diese Frau noch nie gesehen, da war ich mir sicher; trotzdem hatte sie etwas, das mir merkwürdig vertraut war.

2

Kurzentschlossen drehte ich sie auf den Rücken und überprüfte, ob sie tatsächlich keinen Puls mehr hatte. Ihre Haut war noch warm, aber trotzdem wusste ich, dass ich nichts mehr für sie tun konnte. Ich drückte auf ihren Brustkorb, beatmete sie, drückte wieder auf ihren Brustkorb, bis mein Gewissen mir sagte, dass ich meine Pflicht erfüllt hatte. Mit Blut auf Händen und Gesicht kniete ich neben ihr und nahm sie näher in Augenschein. Sie war schön, schön in einem Sinn, über den es nichts zu diskutieren gibt; und sie war jung, vielleicht um die zwanzig. Sie trug ein weißes Hemd, blaue Shorts mit weißen Herzen und Sneakers von DC. Man hatte ihr in den Rücken geschossen, auf Höhe des Herzens.

Mein Blick fiel auf das Laken, das ich weggerissen hatte und das jetzt zerknäult neben ihr lag. Ein Rinnsal aus Blut bewegte sich darauf zu, also schob ich es mit dem Fuß ein Stückchen weiter weg.

Dann verlor ich die Nerven. Bis dahin hatte ich mich vom gesunden Menschenverstand leiten lassen; hatte alles getan, um sie zu retten. Was sollte ich jetzt noch tun? Meine Hände zitterten. Ich ließ meinen Blick durchs Wohnzimmer schweifen und hatte das Gefühl, beobachtet zu werden; ich konzentrierte mich auf die leere Flasche, auf meine Hände, auf die Waffe. Dann tigerte ich im Wohnzimmer umher und brabbelte unverständliches Zeug. Ich musste die Polizei verständigen.

Du rufst jetzt sofort an, Johnny, sagte ich mir, während ich nun regelrecht durchs Zimmer rannte, vorbei an der Leiche, die ich nicht einmal mehr mit dem Laken zu bedecken wagte. Ich rannte in die Küche und wusch mir hektisch die Hände und das Gesicht.

»Verdammte Scheiße!«

Ich rieb so lange, bis das Wasser wieder klar wurde. Dann zog ich mir das blutverschmierte Hemd aus und warf es in den Wäschekorb. In der Waschmaschine war saubere Kleidung, also wühlte ich darin herum, bis ich ein T-Shirt gefunden hatte.

Die Polizei wird dich fragen, warum du dich umgezogen hast.

»Weil ich verdammt noch mal kein Blut sehen kann!«, brach es aus mir hervor, obwohl niemand anderer im Raum war.

Die Frau fesselte meine ganze Aufmerksamkeit, und doch warf ich auch immer wieder einen Blick auf die Flasche. Es war die Flasche, die alles so kompliziert machte.

Ich packte sie und hob sie hoch, unterdrückte den Wunsch, laut zu schreien und sie mit voller Wucht auf den Boden zu schmettern. Was sollte ich mit ihr machen?

Du bist hier mitten im Wald. Dir wird schon was einfallen.

Meine Gedanken waren in einer Schleife gefangen, aus der sie nicht so bald wieder herausfinden würden. Ich ging nach draußen und einmal ums Haus herum, dann hinein in die Wälder, die sich bis weit in den Norden von New Hampshire erstreckten. Ich rannte so schnell ich konnte und fuchtelte dabei mit der leeren Flasche herum wie ein Irrer. Zweimal wäre ich beinahe gestürzt, und beim dritten Mal konnte ich mich nicht mehr fangen: Ich landete in den Wurzeln einer Tanne, meine Unterlippe bekam das Schlimmste ab.

Großartig, jetzt wirst du der Polizei auch noch erklären müssen, was mit deiner Lippe passiert ist.

Ich war rund fünfzig Meter weit vom Haus entfernt, auf einem Pfad, den ich schon als Kind und später auch als Erwachsener unzählige Male gegangen war, als ich plötzlich einen Knall hörte. Ich erstarrte, lag reglos da, im Mund den metallischen Geschmack von Blut. War das ein Schuss gewesen? Eigentlich glaubte ich das nicht, aber es war alles so schnell gegangen. In der Richtung, aus der der Knall ertönt war, lag ein Ort, den mein Bruder und ich vor langer Zeit den Reptilhügel getauft hatten.

Merkwürdigerweise hatte ich mich bis zu diesem Augenblick nicht ernsthaft gefragt, ob ich die Frau in meinem Wohnzimmer getötet haben könnte, aber genauso wenig hatte ich daran gedacht, dass der Mörder womöglich noch in der Nähe war.

Ich musste die Flasche loswerden und meine Lage überdenken.

Das restliche Stück bis zum Union Lake, etwa fünfhundert Meter, joggte ich. Auf der Anhöhe blieb ich stehen. Das Wasser unter mir war wie ein großes schwarzes Auge, in dessen Mitte sich der Mond spiegelte. Am gegenüberliegenden Ufer, ebenfalls erhöht gelegen, lag zwischen den Bäumen das verlassene Wasserwerk.

Mit aller Kraft schleuderte ich die Flasche weg, als könnte ich mich dadurch von dem eigentlichen Problem befreien. Der See verschluckte sie mit einem blubbernden Geräusch und kurz darauf sah alles wieder aus wie zuvor. An diesem Abend waren die Uhus besonders aktiv.

Dann stand ich da, hatte nicht den geringsten Schimmer, was ich jetzt tun sollte. Meine Lippe schwoll weiter an, und ich wusste, dass ich zurückgehen musste. Bei mir zu Hause lag eine tote Frau, die etwas Besseres verdient hatte als einen mittelmäßigen Typen, der sich Sorgen darüber machte, dass seine wiederentfachte Liebe zum Alkohol ans Licht kommen könnte.

Ich wollte mich gerade umdrehen, als etwas am gegenüberliegenden Ufer meine Aufmerksamkeit erregte. Zwischen den Bäumen versteckt schimmerte ein weißer Luftballon: ein Gesicht. Dann bewegten sich die Äste, und ich erspähte eine Gestalt, die schnell wieder mit der Nacht verschmolz.

Ich beschloss, den direkten Weg zurückzunehmen, querfeldein. So konnte ich mich auf dem Reptilhügel umsehen. Eines war mir inzwischen klar geworden: Ich musste schnellstens nach Hause und die Polizei anrufen.

3

Auf dem Hügel war eine Art steinerne Palisade, auf die man sich gut setzen konnte. Kaum war ich dort angekommen, erregte etwas, das dort in einer Mulde lag, meine Aufmerksamkeit. Als ich näher heranging, stellte ich fest, dass es sich um einen Zigarettenstummel handelte. Ich nahm ihn näher in Augenschein, schrieb ihm vielleicht mehr Bedeutung zu, als er in Wahrheit besaß, und kramte in meiner Hosentasche nach meinem Handy, um mit etwas Licht nach noch mehr Hinweisen zu suchen, dass sich kürzlich jemand hier aufgehalten hatte. Ich fluchte, als mir bewusst wurde, dass ich das Handy zu Hause gelassen hatte. Mit dem Mondschein als einzigem Verbündeten suchte ich nach weiteren Kippen, fand aber keine; es blieb also bei diesem einzigen Indiz.

Ganz in der Nähe, nach Nordwesten hin, gab es einen alten, seit Jahren nicht genutzten Weg. Wenn jemand im Auto hierhergekommen war, dann am wahrscheinlichsten von dort. Im Eiltempo stieg ich den Hügel hinunter. Die Vegetation an dieser Stelle war so dicht, dass ich kaum sehen konnte, in welche Richtung ich mich bewegte, aber das war nicht besorgniserregend. Diesen Wald hatte ich schon so oft erkundet, dass ich mich praktisch aus dem Gedächtnis heraus orientieren konnte.

Bevor ich den Weg erreichte, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Tatsächlich erspähte ich durch das Laub hindurch etwas Großes, das sich nicht bewegte: einen Lieferwagen oder ein kleines Wohnmobil. Instinktiv war ich auf der Hut und ging langsamer, achtete darauf, nicht auf Zweige oder Blätter zu treten.

Am Wegrand angekommen versteckte ich mich hinter einem Baum. Das Fahrzeug, das ich gesehen hatte, war tatsächlich ein Van: ein älteres VW-Modell, vermutlich aus den Neunzigern. Es war in einem erbärmlichen Zustand, grau, die Karosserie heruntergekommen, die Scheiben verdreckt. Zuerst dachte ich, dass irgendjemand ihn hier hatte entsorgen wollen, doch dann fiel mir das gültige Nummernschild auf. Ich wiederholte die sieben Ziffern mehrmals, um sie mir zu merken.

Ich wollte hinten um das Fahrzeug herumgehen, blieb aber auf halbem Weg stehen, mitten im hohen Gras, einige Meter vom Van entfernt. Wieder verspürte ich diesen Druck in der Brust, wie vorhin, vor etwa einer halben Stunde, als ich die Leiche neben mir entdeckt hatte. Was machte ich hier eigentlich? Plötzlich stand mir die tote Frau so plastisch vor Augen wie in einem Horrorfilm. Sicher, der Van konnte etwas mit der Leiche zu tun haben, und war das nicht ein weiterer guter Grund, endlich die Polizei zu rufen? Und warum war ich ohne Handy aus dem Haus gegangen?

Eigentlich willst du die Polizei gar nicht rufen.

Von dort, wo ich stand, konnte ich die Vorderseite des Vans nicht sehen, und im hinteren Teil waren nur zwei kleine Fensterchen, die so schwarz waren wie die Augen eines Tintenfischs. Vorsichtig schlich ich mich um das Fahrzeug herum. Das Fahrerhäuschen war leer. Ich trat an die Beifahrertür heran und entdeckte auf der Mittelkonsole zwei Thermobecher. Auf dem einen schienen am Rand Spuren von Lippenstift zu sein, aber durch die verdreckte Scheibe hindurch war dies nicht mit Gewissheit auszumachen.

Ich ging wieder nach hinten. Das Fahrzeug an sich war schon verdächtig genug. Aber der Zigarettenstummel, der Kaffee, überhaupt alles deutete darauf hin, dass die beiden Personen eine ganze Weile in der Umgebung meines Hauses bleiben wollten. Und wenn eine davon leblos bei mir im Wohnzimmer lag, wo war dann die andere? Ich wischte ein Stück der Rückscheibe sauber und spähte ins Innere, konnte aber nichts erkennen. Dann ging ich zur Schiebetür an der Seite. Was ich jetzt vorhatte, konnte sich als die größte Dummheit meines Lebens entpuppen, sollte sich tatsächlich jemand im Inneren aufhalten.

Mit aller Macht zog ich am Griff, darauf gefasst, dass die Tür nicht aufgehen würde, aber sie ließ sich ganz einfach bedienen. Ein Schmerz fuhr mir bis in die Schulter, aber ich zwang mich, die Zähne zusammenzubeißen. Die Tür knallte gegen das Ende der Schiene. Im Inneren des Vans war es stockdunkel; niemand stürzte sich auf mich, was an sich eine gute Nachricht war, doch als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte ich Lichter, die mich beunruhigten. Das Fahrzeug war ein Lieferwagen, sprich: Es hatte keine Sitze. Stattdessen stand in der Mitte ein kleiner Klapptisch von der Art, wie man ihn an den Strand mitnimmt, und auf diesem Tisch stand ein Computer.

Ich kletterte hinein. Der Bildschirm war dunkel. Auf dem Tisch lagen außerdem eine eckige Brille und eine schnurlose Maus. Ich tippte die Maus mit der Fingerspitze an, der Computer erwachte zum Leben.

Auf dem Bildschirm war mein Wohnzimmer zu sehen.

Ich wich zurück, als hätte mir jemand einen Schlag auf die Brust versetzt, trat mit einem Bein ins Leere und wäre beinahe gestürzt, konnte mich aber gerade noch an den Türrändern festhalten.

Die Webcam war auf die Sofaecke ausgerichtet. Bei einem größeren Bildausschnitt wäre auch der leblose Körper zu sehen gewesen.

Ich starrte auf das Bild, konnte es nicht fassen.

Wie lange ich dort stand, unfähig, mir einen Reim auf die Geschehnisse dieses wahnwitzigen Abends zu machen, weiß ich nicht, aber plötzlich erlosch das Bild. An dessen Stelle erschien der Schriftzug »kein Signal«.

Ich wirbelte herum und sprang aus dem Fahrzeug, machte mir nicht einmal die Mühe, die Tür zu schließen. So schnell ich konnte, rannte ich zurück zu meinem Haus; in diesen fünf Minuten schlug mir das Herz bis zum Hals. Die Haustür hatte ich offen stehen lassen, und auch das Licht brannte noch. Ohne irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, trat ich ein. Die Angst und die Bestürzung wichen allmählich der Wut. Ich wusste genau, wo ich die Webcam finden würde.

Wie vom Donner gerührt hielt ich inne. Die Leiche war verschwunden.

Die Waffe ebenfalls.

Reglos stand ich da, hörte meinen eigenen Atem. Nur die Reste der Lampe lagen noch auf dem Boden. Langsam wandte ich meinen Blick zu dem Schrank neben der Tür, auf dem die Kamera versteckt sein musste. Ich eilte darauf zu und wischte hektisch über den oberen Teil des Schranks, was aber nur dazu führte, dass meine Hand ganz staubig wurde. Die Kamera war ebenfalls verschwunden, was mich inzwischen nicht mehr überraschte.

Anschließend tastete ich das oberste Regalbrett über dem Kaminsims ab, griff hinter die Zierleiste, wo ich normalerweise die Ruger versteckte, damit meine Tochter nicht an sie herankam. Und tatsächlich: Ich stieß auf die unverwechselbare Form der Pistole.

Gerade hat sie noch auf dem Boden gelegen.

Ich nahm die Patrone aus der Schusskammer und überprüfte das Magazin. Es war voll. Ich legte die Waffe zurück an ihren Platz.

Mit dem resignierten Gang eines zum Tode Verurteilten schlurfte ich zu der Stelle, an der die Leiche der Frau gelegen hatte. Nichts mehr zu sehen: kein Blut, kein blutverschmiertes Laken. Ich kniete mich auf den Boden, strich mit der Hand über die Mosaikoberfläche, begriff gar nichts mehr. Ich spürte noch, wie ich meine Lippen auf ihre gepresst hatte, wie ich meine Hand auf ihren Brustkorb gedrückt hatte.

Plötzlich klingelte das Telefon.

Es war bereits nach neun. Außerdem rief mich nie jemand auf dem Festnetz an.

Ich nahm den Hörer ab, überzeugt, dass dieser Anruf für nur noch mehr Verwirrung sorgen würde.

»Johnny, alles okay bei dir?«

Es war mein älterer Bruder. Mark besaß seit jeher einen sechsten Sinn, was mich anging, einen Radar, mit dem er aus der Entfernung jede Gefahr aufspüren konnte.

Ich gab einen Laut von mir, der ein Ja bedeuten sollte.

»Hast du dein Handy bei dir?«

»Mein Handy …, weiß nicht, habe ich wohl verloren.«

Selbst am anderen Ende der Leitung konnte Mark spüren, wie nervös ich war.

»Was ist los? Ich habe dir in den vergangenen Stunden mehrere Nachrichten geschickt, aber die hast du offenbar gar nicht gelesen.«

In den vergangenen Stunden, dachte ich. Das Letzte, woran ich mich erinnere, war …

»Du rufst in einem ungünstigen Moment an, Mark. Ich muss die Polizei verständigen.«

Eine Pause, die endlos erschien. Ich kannte meinen Bruder gut genug, um zu wissen, was er in diesem Moment dachte: Johnny hat mal wieder einen Rückfall erlitten. Ich konnte ihm diesen Gedanken nicht einmal verübeln.

»Es ist nicht so, wie du denkst, Mark.«

Es fiel mir schwer stillzuhalten. Ständig verlagerte ich mein Gewicht von einem Bein auf das andere, verdrehte nervös das Telefonkabel.

»Was ist los?«, fragte Mark noch einmal, der nun nicht mehr verhehlen konnte, dass er sich Sorgen machte.

Ich schluckte. Wie sollte ich erklären, was in der letzten Stunde passiert war?

»Ich habe eine tote Frau entdeckt«, sagte ich schließlich unwirsch. Es laut auszusprechen, ließ mich erschaudern. Meine freie Hand zitterte.

»Im Wald?«

»Im Wohnzimmer.«

Noch eine endlose Pause.

»Kanntest du die Frau?«, fragte Mark vorsichtig.

Jeder andere hätte die Fassung verloren oder mich mit Fragen bombardiert, aber so war Mark nicht. Er besaß die Fähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das war nur einer der vielen Unterschieden zwischen uns.

»Ich weiß nicht, wer sie ist. Ich habe ein Nickerchen gemacht, und plötzlich lag sie da.«

Ein Nickerchen um neun Uhr abends? Mach nur weiter mit deiner Liste von Ungereimtheiten.

»Bist du sicher, dass sie tot ist?«

»Ja, verdammt, ich habe ihren Puls überprüft und sogar versucht, sie zu reanimieren!«

»Johnny, immer mit der Ruhe. Was hast du mit ihr gemacht?«

»Die Leiche ist verschwunden, Mark! Jemand hat sie weggeschafft!«

Mein Bruder sprach jetzt mit mir wie mit einem kleinen Kind, oder schlimmer noch, wie mit jemandem, der den Verstand verloren hatte.

»Wer, Johnny?«

»Weiß ich nicht, Mark. Ich bin nach draußen gegangen, und als ich zurückkam, war sie nicht mehr da. Außerdem werde ich beobachtet.«

Ich stellte mir vor, wie Mark sich an den Kopf fasste. Selbst mir fiel auf, wie lächerlich das alles klang.

»Wie sah die Frau aus?«

Mark war ein pragmatischer Mensch, und das war seine Art zu überprüfen, ob ich noch ganz bei Trost war. Daher musste ihn meine prompte Antwort nur noch mehr verwirren.

»Jung, blonde Haare, blaue Augen, schlank …«

»Johnny, hör zu. Du tust gar nichts und wartest, bis ich da bin.«

Es war nicht das erste Mal, dass mein Bruder sich um mich kümmern würde. So war es schon, als wir klein waren, und ein Teil von mir hatte sich daran gewöhnt. Doch ein anderer, vernünftigerer Teil wusste, dass damit endlich Schluss sein musste.

»Mark, ich würde die Situation gern auf meine Art lösen. Wer immer die Frau getötet hat, kann noch in der Nähe sein. Wenn ich nicht die Polizei rufe …«

»Moment. Es geht nicht darum, dir vorzuschreiben, was du zu tun hast, Bruderherz. Ich bitte dich nur, erst mal in Ruhe nachzudenken.«

Dann fügte er kaum hörbar hinzu:

»Bitte, Johnny.«

4

Mein Handy fand ich in der Sofaritze. Mir durften keine weiteren Fehler passieren. Ich nahm die Ruger vom Regal, überprüfte die Sicherung und steckte die Pistole in die Hosentasche.

Diesmal schloss ich die Haustür ab, bevor ich zum Reptilhügel aufbrach.

Ich nahm den gleichen Weg wie zuvor und versuchte, mich an das Nummernschild des Vans zu erinnern, aber mir wollten nur die ersten drei Ziffern einfallen: 305. Der Rest war wie gelöscht. Ich hatte noch nie ein gutes Zahlengedächtnis. Meistens musste ich mich auf mein visuelles Gedächtnis verlassen, also rief ich mir das Bild des Vans in Erinnerung, der auf dem verlassenen Waldweg gestanden hatte. Es erschien mir kurz so deutlich vor Augen wie eine Fernsehaufnahme, dann löste es sich wieder auf wie eine Geistererscheinung, wie ein Traum, der sich beim Aufwachen verflüchtigt. Es war ein schreckliches Gefühl.

Als ich den verlassenen Weg erreichte, war der Van nicht mehr da.

Ich versuchte, mich an Details zu erinnern, die Kaffeebecher – der eine davon mit Spuren von Lippenstift –, die Schiebetür, die sich so leicht hatte öffnen lassen … Ich fasste mir an die Schulter. Sie tat nicht weh.

5

Als ich wieder am Haus ankam, wurde ich von Autoscheinwerfern geblendet. Ich ließ die Waffe sinken, als ich erkannte, dass es Marks Mercedes war. Mein Bruder stieg aus. Wir sahen uns an. Ich wusste genau, was er dachte, und konnte ihm deswegen nicht einmal Vorwürfe machen.

Er kam auf mich zu und nahm mir, ohne ein Wort zu sagen, die Pistole aus der Hand.

»Gehen wir rein«, sagte er und legte mir den Arm um die Schultern.

Mark war fünf Jahre älter als ich und hatte mir gegenüber schon immer die Rolle des Beschützers eingenommen, besonders nach dem Verlust unserer Eltern. Ich liebte ihn von ganzem Herzen. Wäre er nicht gewesen und hätte er mich nicht immer unterstützt, ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre. Während er seinen Uniabschluss gemacht, Meditek gegründet – ein renommiertes pharmazeutisches Forschungslabor – und sich ein Leben mit Darla aufgebaut hatte, hatte ich das Studium geschmissen und mich auf eine gefährliche Liebelei mit dem Alkohol eingelassen, die über sieben Jahre angehalten hatte. Zwar war ich seit elf Monaten trocken, aber keiner wusste besser als ich, dass sich das von einem Moment auf den anderen wieder ändern konnte. Mark war immer für mich da gewesen.

»Was ist mit deiner Lippe passiert?«

Ich tastete nach meiner Lippe, spürte einen Wulst knapp neben dem rechten Mundwinkel.

»Ich bin gegen einen Ast gelaufen, ist nur ein bisschen geschwollen.«

Mark nickte. In seine Augen legte sich dieser Ausdruck, den ich nur allzu gut kannte, diese Patina des Mitleids, die widersprüchliche Gefühle in mir auslöste. Er warf einen Blick auf den zerbrochenen Lampenschirm, sagte aber nichts. Es war auch nicht nötig. Dann trat er an den Tisch heran und legte die Pistole ab, alles mit bedächtigen Bewegungen.

»Setzen wir uns, Johnny. Wir müssen reden.«

Erst jetzt fiel mir auf, was er anhatte: ein Sweatshirt und eine verwaschene Jeans. Wahrscheinlich hatte er an diesem ruhigen Samstagabend mit Darla vor seinem Sechzigzollbildschirm gesessen und irgendwas auf Netflix angeschaut. Und nun war er hier und kümmerte sich um den guten Johnny. Wieder mal.

»Ich kann mich jetzt nicht hinsetzen, Mark«, sagte ich und tigerte aufgeregt im Raum umher. »Ich habe verdammt noch mal keine Ahnung, was hier vor sich geht! Die Leiche lag da! Genau da!«

Er verzog leicht das Gesicht.

»Du musst mir glauben, Mark!«

»Natürlich glaube ich dir, Johnny. Aber bitte, erzähl mir in aller Ruhe, was heute Abend passiert ist.«

Ich schloss die Augen. Ehrlich gesagt wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte. Warum konnte ich mich nicht einmal an dieses blöde Nummernschild erinnern?

Und dann, noch immer mit geschlossenen Augen, sprach er aus, was ich schon die ganze Zeit erwartet hatte.

»Hast du getrunken, Johnny?«

Resigniert setzte ich mich auf die Armlehne eines Sofas.

»Ich weiß nur noch, dass ich im Atelier war und an einigen Illustrationen gearbeitet habe, das muss so gegen fünf oder sechs gewesen sein, dann muss ich eingeschlafen sein. Als ich wieder aufwachte, lag ich dort auf dem Boden, und auf dem Couchtisch stand eine Flasche Wodka.«

»Und die Flasche …?«

»… habe ich vor ein paar Wochen gekauft«, gab ich sofort zu. »Es lief nicht so gut mit Lila, und da habe ich sie besorgt, weiß auch nicht, vermutlich, um mir etwas zu beweisen.«

»Was ist dann passiert?«

»Dann habe ich die Leiche der Frau entdeckt, und die Pistole, und bin in Panik geraten. Ich dachte, ich hätte wieder getrunken und einen Riesenmist gebaut. Aber ich habe den Wodka nicht angerührt, Mark, das schwöre ich. Ich weiß, wie sich ein Kater anfühlt, ganz anders nämlich … Jemand hat die Flasche dorthin gestellt, um mich zu verwirren.«

Mark holte einen Stuhl vom Esstisch und setzte sich.

»Und wer könnte das deiner Meinung nach gewesen sein?«

»Ich bin nach draußen gegangen, um die Flasche zu entsorgen«, wich ich der Frage aus. »Ich konnte nicht mehr klar denken. Bei der Gelegenheit habe ich mir auch die Lippe aufgeschlagen. In der Nähe des Reptilhügels habe ich Geräusche gehört; und dann einen alten Van entdeckt. Es saß niemand drin, also bin ich hinten eingestiegen. Da war eine komplette Überwachungsanlage.«

Mark seufzte, vermutlich vor Erleichterung, weil so ein Unsinn unmöglich stimmen konnte.

Ich sprang auf und deutete vehement auf den Schrank.

»Dem Bild nach zu urteilen, das ich auf dem Bildschirm im Van gesehen habe, muss dort die Kamera installiert gewesen sein. Ich bin sofort zurückgerannt, aber als ich ankam, hatte man die Kamera schon entfernt; und auch die Leiche fortgeschafft.«

Mark schwieg. Sein Blick verriet nicht, was er dachte. Nach einer Weile ging er in die Küche und kam mit einem Glas Wasser wieder. Er stellte es auf den Tisch und holte etwas aus seinem Portemonnaie. Eine Tablette.

»Was ist das?«

»Das wird dir helfen, dich zu beruhigen«, sagte er und legte die Tablette neben das Glas.

»Ich will keine Tablette nehmen. Du glaubst mir kein Wort, stimmt’s?«

»Johnny, ich bin auf deiner Seite.«

Ich hielt kurz den Atem an.

»Mark, was ich dir gerade erzählt habe, klingt verrückt, ich weiß. Als ich zurück zum Hügel gegangen bin, war der Van weg, aber ich schwöre dir, dass er da war und dass auf dem Schrank da eine Kamera war. Jemand hat mich observiert!«

»Nimm jetzt diese Tablette, spül sie mit einem Schluck Wasser runter.«

»Nein! Wir müssen die Polizei verständigen«, rief ich. »Oder Harrison, der weiß bestimmt, was zu tun ist.«

Harrison war ein pensionierter Kommissar und enger Freund meines Vaters.

Mark schüttelte den Kopf.

»Was willst du ihm denn erzählen? Das, was du mir erzählt hast? Das ist doch hanebüchen.« Mark verlor nur selten die Geduld. Seine Reaktion brachte mich aus der Fassung.

»Meinst du, das weiß ich nicht?«

»Schon gut«, sagte er in versöhnlichem Ton und hob zum Zeichen des Friedens die Hände. »Nimm mir nicht krumm, was ich gerade gesagt habe. Johnny, denk mal einen Augenblick nach. Wir können doch nicht behaupten, dass du keinerlei Erinnerungen daran hast, was zwischen sechs und neun passiert ist; und dass nach dem Aufwachen plötzlich eine tote Frau neben dir lag, die jetzt verschwunden ist. Bist du dir überhaupt sicher, dass sie tot war?«

»Natürlich bin ich mir sicher!«

Plötzlich schoss mir das Adrenalin ins Blut. Unter dem fassungslosen Blick meines Bruders rannte ich in die Küche.

In einer Ecke stand der Wäschekorb. Langsam ging ich darauf zu, denn sollte mein blutverschmiertes Hemd nicht darin liegen …

Mark stand in der Tür und beobachtete mich besorgt.

Ich kniete nieder, umarmte den blöden Wäschekorb und begann so hemmungslos zu weinen wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr.

Mark wartete ab, bis ich mich wieder gefangen hatte. Das Weinen war einem Gefühl von Schuld und Wut gewichen.

»Das Hemd haben sie auch mitgenommen«, sagte ich mit einem Gefühl von Ohnmacht.

Ich ließ mich gegen die Wand sinken und versetzte dem Korb einen Tritt.

6

Wir setzten uns, ich auf das Sofa, Mark auf einen der Sessel. Zwischen uns der Couchtisch. Die Flasche hatte einen feuchten Kreis darauf hinterlassen.

»Johnny, lass es uns noch einmal rekapitulieren. Sag mir alles, woran du dich erinnerst, seit gestern Nachmittag, ohne etwas auszulassen.«

»Wirklich alles?«

»So lange kann es ja nicht dauern.«

Ich willigte ein.

»Gestern Nachmittag bin ich zu Lila gefahren. Wir waren eine Weile bei ihr, dann haben wir bei Matzuki etwas gegessen. Danach sind wir zu mir gefahren und haben die Nacht zusammen verbracht.«

Lila war die Frau, mit der ich seit einigen Monaten zusammen war. Sie war wie ich geschieden und hatte einen kleinen, anderthalbjährigen Sohn, Donnie. Jennie, meine Tochter, war etwas älter als Donnie, aber noch nicht alt genug, als dass ich hätte behaupten können, die Lernphase als Vater bereits hinter mir zu haben. Es war praktisch das Einzige, was wir gemeinsam hatten.

»Ich wollte mit ihr Schluss machen«, sagte ich.

»Was ist passiert?«

»Dasselbe wie immer. Beim Abendessen hat sie mir von Donnie erzählt, von den Problemen mit ihrem Ex, mit ihrer Mutter, und ich wollte nicht das Schwein sein, das mit einer Frau Schluss macht, deren Leben gerade das reinste Chaos ist, also habe ich mir gesagt, ich mache es morgen. Was das Ganze nur schlimmer gemacht hat. Denn wir haben ja hier übernachtet, und als ich es ihr dann gesagt habe, konnte sie nicht einfach so weg. Ich habe sie dann zur Arbeit gefahren, das war das peinlichste Schweigen meines Lebens. Aber warum erzähle ich das alles?«

»Das hat schon seinen Grund«, erwiderte Mark. »Dein Geist muss sich fokussieren.«

»Lila hat es ziemlich gelassen aufgenommen; sie hat mich gefragt, ob meine Entscheidung endgültig sei. Ja, habe ich gesagt. Vermutlich hatte sie es längst geahnt.«

»Was hast du gemacht, nachdem du sie zur Arbeit gefahren hast?«

»Den restlichen Vormittag habe ich hier im Atelier an den Illustrationen gearbeitet.«

Was nicht ganz stimmte. Ja, ich war in meinem Atelier gewesen, und ja, ich hatte vorgehabt, an den Illustrationen zu arbeiten, für meinen momentanen Auftrag, aber in letzter Zeit brachte ich nicht viel zustande. Ich hatte einige Skizzen angefertigt, die allesamt im Mülleimer gelandet waren, und irgendwann hatte ich es aufgegeben. Ich spielte ein bisschen Poker im Internet, surfte herum, verplemperte den restlichen Vormittag. Außerdem hatte ich ständig an die Flasche gedacht, die ich im Keller versteckt hatte, aber das sagte ich Mark lieber nicht.

»Ich habe schnell etwas gegessen und bin dann zu Donovans Laden gefahren. Gegen fünfzehn Uhr war ich wieder zurück und habe noch mal im Atelier gearbeitet, rund eine Stunde lang. Ab da ist alles wie gelöscht. Ich bin eingeschlafen, und als ich wieder aufwachte, lag da die tote Frau. Jemand muss mir eine Droge verabreicht haben, Mark, es kann gar nicht anders sein.«

Mein Bruder durchbohrte mich regelrecht mit seinen klaren Augen.

»Schau mich nicht so an, als wäre ich ein Lügner!«

Es war kurios. Jahrelang war ich genau das gewesen, ein verdammter Lügner, und trotzdem empörte es mich jedes Mal, wenn jemand es auch nur andeutete.

»Hör zu, Johnny, ich weiß, dass du dich geändert hast. Ich versuche nur, die richtigen Fragen zu stellen, auch die unbequemen. Was ist mit Papas Pistole?«

»Als ich aufwachte, lag sie auf dem Boden. Und nachdem ich draußen war …« Ich konnte nicht verhindern, dass ich rot wurde. »… war sie wieder dort, wo sie immer ist.«

Mark sah mich an wie ein mitfühlender Erwachsener, der einem kleinen Kind nicht die Freude verderben möchte.

Ich fasste mir an den Kopf, den Blick zum Boden gerichtet.

»Was ist nur passiert?«

»Ich sage dir jetzt, was nicht passiert ist: Du hast niemandem etwas zuleide getan. Sieh mich an.«

Ich hob den Blick. Mark sah mir direkt in die Augen.

»Ist das klar?«

Ich nickte.

»Du hattest einen schlechten Tag, und manchmal spielt uns unser Unterbewusstes einen bösen Streich.«

Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, überlegte es mir aber anders.

»Ich bin kein Experte, aber es könnte sich um einen halluzinatorischen Anfall gehandelt haben.«

Ich runzelte die Stirn.

»Das war kein Traum.«

»Ich weiß. Aber es gibt Halluzinationen, die finden im Wachzustand statt; das Bewusstsein kann dann nicht zwischen diesen beiden Zuständen unterscheiden. Die Leiche und der Van können deiner Fantasie entsprungen sein, obwohl der Kontext real war. Ich kenne da einige Spezialisten in Lindon Hill, die könnten …«

Ich lachte bitter.

»Mann, Mark, wenn das nicht real war, dann weist du mich am besten gleich ins Juniper Hill ein.«

»So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Bisher ist es ja nur einmal passiert. Wenn es noch mal vorkommt, sehen wir weiter. Versuch einfach, nicht mehr dran zu denken.«

»Das ist leichter gesagt als getan.«

»Versprich mir, dass du mich sofort anrufst, wenn irgendwas Merkwürdiges passiert, egal was.«

»Verlass dich drauf.«

Mark nickte, aber plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck, als wäre ihm etwas eingefallen. Er schien sich nicht entscheiden zu können, ob er sprechen oder schweigen sollte.

»Was ist?«

»Ein anderes Thema. Ich muss dir was erzählen. Eigentlich wollte ich noch etwas damit warten, aber …«

Mark und Darla hatten keine Kinder, daher dachte ich zuerst, es hätte damit zu tun.

»Nein, das ist es nicht«, kam Mark mir zuvor. »Es geht um Meditek.«

Mein Bruder sprach nur selten über Berufliches, zumindest nicht mit mir, also erzählte er es jetzt garantiert nur, um mich auf andere Gedanken zu bringen.

»Wir werden das Labor verkaufen.«

Ich erstarrte.

Dass Mark Meditek verkaufen wollte, war in etwa so unwahrscheinlich, wie eine Leiche im Wohnzimmer zu entdecken. Mein erster Gedanke war, dass er unheilbar krank sein könnte, anders war nicht zu erklären, warum jemand wie er seine Firma aufgeben wollte. Gegründet hatte er Meditek mit seinem Freund Ian Martins. Sie hatten ein Patent verkauft, und seither war es nur noch bergauf gegangen. Mark liebte seinen Beruf. Liebte ihn sogar zu sehr.

»Ian und ich denken schon seit einer ganzen Weile darüber nach.«

Ich sah ihn stirnrunzelnd an. Mark und Dara lebten gern auf großem Fuß, mochten teure Autos, ihr großes Haus, aber Geld war Mark nie das Wichtigste gewesen.

»Die Entscheidung überrascht mich ein bisschen. Meinen Segen hast du natürlich.«

»Danke, Johnny.«

»Ian und ich sind uns nicht ganz einig, wer die Firma idealerweise kaufen sollte, aber das kriegen wir schon hin. Da bin ich mir sicher.«

Ich konnte mir Mark ohne Meditek gar nicht vorstellen. Wahrscheinlich würde er einfach eine andere Firma gründen und sie in wenigen Jahren groß aufziehen.

Einige Minuten später verabschiedeten wir uns an der Haustür. Mark umarmte mich und nahm mir noch einmal das Versprechen ab, ihn anzurufen, sollte ich einen weiteren Anfall haben. Ich versicherte es ihm zwar, aber ich wusste ganz genau, dass das, was heute Abend in meinem Haus passiert war, kein Anfall gewesen war, sondern genauso real wie das fünfundsiebzigtausend Dollar teure Auto, in das Mark sich nun setzte.

Die Leiche, die leere Flasche, die Waffe, alles war arrangiert worden, um mir den Mord an dieser Frau in die Schuhe zu schieben. Eine Inszenierung. Die Leute mit dem Van hatten das alles ausgeheckt.

Mein Bruder hob zum Abschied noch einmal die Hand, und ich winkte mit einem gequälten Lächeln zurück.

Irgendetwas stimmte hier nicht.

Der Mercedes fuhr los.

Wer versuchte, mir den Mord an dieser Frau in die Schuhe zu schieben? Wer war sie überhaupt?

Als die Rücklichter sich bereits zwischen den Bäumen verloren hatten, stand ich immer noch in der Tür. Eine weitere Frage quälte mich.

War es Zufall, dass Mark angerufen hatte?

7

Wie ein Parasit befiel mich irgendwann in dieser Nacht ein Albtraum. Erst quälten mich unzusammenhängende Schreckensbilder, dann stand ich plötzlich auf einem Waldweg. Ich folgte dem Lichtstrahl einer starken Taschenlampe. Jemand ging hinter mir, eine Gestalt. Der Schrecken, den die Situation mir einflößte, saß mir immer noch in den Knochen, als ich in meinem Schlafzimmer aufwachte.

Ich blieb eine Weile im Bett liegen. Was am Vorabend passiert war, kam mir bei Tageslicht unglaubwürdig und lächerlich vor.

In Unterhosen und einem alten T-Shirt ging ich ins Erdgeschoss hinunter und begutachtete den Wohnzimmerboden. Bevor ich schlafen gegangen war, hatte ich noch die Scherben des Lampenschirms weggefegt, sodass alles aussah wie immer.

Ich wollte schon wieder zurück in den ersten Stock, um mein morgendliches Ritual einzuläuten, als mir etwas einfiel, das ich am Abend zuvor ignoriert hatte. Hastig nahm ich die Treppe in den Keller; mein Hirn kam allmählich auf Touren. Dort unten gab es einen Lagerraum, der einmal der ganze Stolz meines Vaters gewesen war; er war eng und schlauchförmig, mit Regalen zu beiden Seiten. Früher hatte er Dutzende Flaschen teuren Weins beherbergt, die mein Vater seinen Schulfreunden vorbehielt. Sie hatten gern Poker gespielt, geraucht und sich über alte Zeiten unterhalten. Manch einer nannte diese Clique den Club Bilderberg oder Club B. Auch meine Freunde und ich nannten sie so.

Nachdem meine Mutter krank geworden war, trafen sie sich seltener. Es wurde zwar noch Wein getrunken, aber keiner mehr nachgekauft. Das Geld ging für Arzneien und Krankenschwestern drauf, und mein Vater kümmerte sich nicht mehr so gut um sein Geschäft, mit spürbaren Folgen. Manchmal begleitete ich ihn in den Weinkeller. Er, der immer eine besondere Sorgfalt bei der Auswahl der Weine hatte walten lassen – für jeden Anlass eine ganz bestimmte Flasche, wie er zu sagen pflegte –, zeigte sich nun eher lustlos und griff selber gerne zu. Er wurde zwar kein Alkoholiker, aber er ertränkte in diesen schmerzlichen Monaten seinen Kummer in Alkohol.

Die Regale waren heruntergekommen und leer; sie spiegelten wider, was in jenem Haus geschehen war, einem Haus, das zu verlassen ich nicht den Mumm gehabt hatte, obwohl in jedem Winkel Verhängnis und Niedergang spürbar waren. Mark war so klug gewesen, sich davon zu lösen und Karriere zu machen, während ich mich regelrecht in das schwarze Loch des Unglücks gestürzt hatte, in das sich dieses Haus verwandelt zu haben schien.

Und jetzt auch noch die Leiche dieser Frau. Was muss denn noch passieren, damit du endlich von hier abhaust? Ein Steinhagel?

Ganz unten im Regal hatte mein Vater seinerzeit die besonderen Flaschen aufbewahrt. Ich starrte eine Weile dorthin. Die Flasche, die ich nach dem dummen Streit mit Lila gekauft hatte, war nicht mehr da.

Die Idee, mir Alkohol zu besorgen, um mich selbst auf die Probe zu stellen, war dämlich, aber bei Weitem nicht die dämlichste, die ich in meinen Leben gehabt hatte. Wenn es darum geht, einen Vorwand zu suchen, fallen einem Süchtigen spielend leicht zehn Gründe ein, warum er trinken sollte, und es gelingt ihm mühelos, sie auch noch vernünftig zu finden.

Eine halbe Stunde lang durchkämmte ich das ganze Haus, vor allem mein Schlafzimmer und das Wohnzimmer. Ich suchte nach versteckten Kameras, Mikrofonen, nach irgendeinem Hinweis darauf, dass ich beobachtet wurde. Je länger ich suchte, desto mehr schämte ich mich. Schließlich gab ich mich geschlagen. Ich würde Marks Rat befolgen, zumindest vorerst; ich würde versuchen, die Sache zu vergessen, bis ich etwas mehr Abstand dazu hatte. Bei Tageslicht betrachtet erschien mir seine Erklärung mit den Halluzinationen auch nicht mehr so abwegig.

Mit dem festen Vorsatz, ein wenig zu arbeiten, ging ich ins Atelier. Seit Wochen hatte ich nichts Brauchbares mehr zustande gebracht. Meine Hoffnung, dies könnte sich ausgerechnet an einem solchen Tag ändern, war also ein wenig naiv. Trotzdem setzte ich mich an meinen Schreibtisch. Den Computer ließ ich ausgeschaltet, weil er mich nur von meiner Arbeit ablenkte.

Neben dem Fenster hing eine gerahmte Illustration von Busy Lucy, einer Figur, die mir vor drei Jahren für ein Kinderbuch eingefallen war und die mir in Fachkreisen einen gewissen Ruf eingebracht hatte. Busy Lucy war eine fleißige Biene, die kleinen Kindern Ratschläge gab, wie sie ihre Zeit am besten nutzen konnten; im Prinzip brachte sie ihnen bei, wie wichtig es war, Genuss und Verantwortung ins Gleichgewicht zu bringen. Es gab bereits zehn Bücher mit Busy Lucy, und jedes Buch hatte ein eigenes Thema: Ordnung im Zimmer, Hausaufgaben vor dem Schlafengehen, Schule usw. Letztlich war die Biene eine verfluchte Gouvernante, und eigentlich konnte ich sie von Anfang an nicht leiden. Aber die Bücher verkauften sich gut, und mein Agent drängte mich dazu, immer mehr Illustrationen rund um Lucy zu entwerfen. Offenbar schätzten es die Eltern, dass diese verfluchte Biene ihnen die Drecksarbeit abnahm.

Vor einigen Monaten jedoch war das Lucyfieber drastisch gesunken. Mein Agent musste sogar Verhandlungen wegen des letzten Vertrags aufnehmen, weil der Verlag einen Rückzieher machen wollte. Phil hatte mich angerufen und gesagt: »Die Wabe ist vertrocknet, Johnny. Wir brauchen was Neues.« Ich hatte herzlich darüber gelacht.

Ich hatte es mit einem Stachelschwein und einer Ameise probiert, aber es lief immer aufs Gleiche hinaus.

Jetzt nahm ich ein leeres Blatt, zeichnete mit schnellen Strichen eine Lucy und betrachtete sie. Anschließend griff ich zu Aquarellfarben und Pinseln und machte mich ans Werk. Vielleicht sollte ich nicht einfach die alte Formel auf ein neues Tier anwenden, sondern vielmehr Lucy beibehalten, sie aber irgendwie infrage stellen. Wieso war ich nicht schon früher darauf gekommen?

Ich arbeitete eine halbe Stunde lang, ohne aufzublicken. Die neue Figur, die ich Lucy zur Seite stellte, war ein blondes Mädchen mit großen, verführerischen Augen. Sie trug ein blaues Kleid und ein Halsband, und natürlich wusste ich sofort, wer sie war.

8

Die Türklingel schreckte mich auf. Überraschungsbesuch an einem Sonntagmorgen bedeutete nie etwas Gutes.

Durchs Wohnzimmerfenster erspähte ich einen knallroten Van und wusste sofort, dass es sich nur um Harrison handeln konnte, den ehemaligen Kommissar von Carnival Falls. Harrison war einer der engsten Freunde meines Vaters gewesen und besuchte mich mindestens einmal im Monat. Dass er bei mir auftauchte, war also nichts Ungewöhnliches, und doch konnte ich nicht umhin, seinen Besuch mit den Ereignissen am Vortag in Verbindung zu bringen.

Ich öffnete die Tür.

»Hast du schon gefrühstückt, Johnny?«

Harrison war eine imposante Erscheinung. Obwohl er nicht mehr bei der Polizei und auch schon über sechzig war, hatte er sich die Aura eines Supermans bewahrt. Als kleiner Junge hatte mich immer beeindruckt, wie er sich trotz seiner netten Art bei anderen Respekt zu verschaffen wusste. Mit der Zeit begriff ich, dass es nicht nur an seiner Uniform lag. Harrison gehörte zu den Menschen, denen in Paniksituationen alle folgten; er war der geborene Anführer, jemand, der Vertrauen einflößte, intelligent war, jederzeit in der Lage, bei Schwierigkeiten das Ruder zu übernehmen. Carnival Falls war eine relativ kleine Stadt, die aber von ungewöhnlich vielen Tragödien heimgesucht worden war. Zweifellos hatten die Bewohner es ihm zu verdanken, dass sie die Folgen nicht allzu stark zu spüren bekommen hatten. Wenn jemand so etwas wie eine Vaterrolle für mich eingenommen hatte, dann er.

»Lauren hat Kekse gebacken«, sagte er und hob eine Papiertüte in die Höhe. In der anderen Hand hielt er eine Flasche Limonade.

Normalerweise tauchte Harrison abends auf; er setzte sich gern mit mir auf die Veranda, um stundenlang zu plaudern. Dabei tranken wir immer Limonade. Er wusste nicht nur von meinem Alkoholproblem, sondern gehörte zu den Menschen, die mir am meisten geholfen hatten, mich aus diesem Sumpf wieder zu befreien. Insgeheim wusste ich, dass seine Besuche auch eine Art Kontrolle waren, aber das war mir egal.

»Ich habe noch nicht gefrühstückt.«

»Jetzt haben wir ja die Kekse.« Er klopfte mir auf die Schulter und trat ein. Er ging langsam, sah sich aufmerksamer um als gewöhnlich. Vielleicht schenkte ich ihm aber auch mehr Beachtung als sonst.

Als er zurück zu mir kam, hatte ich die Haustür noch nicht wieder geschlossen.

»Erwartest du noch jemanden?«

»Ich dachte, du wollest dich raussetzen«, improvisierte ich.

»Setzen wir uns lieber dahin.«

Harrison deutete auf den Wohnzimmertisch. Er stand jetzt genau an der Stelle, an der die Leiche der Frau gelegen hatte, und das machte mich nervös. Ich nahm rasch Platz.

Fünfzehn Jahre zuvor hatte Harrison mir hier, an diesem Tisch, die schlimmste Nachricht meines Lebens überbracht. An jenem Tag war ich gerade dabei gewesen, mit den Caran-d’Ache-Stiften, die mir Tante Audrey geschenkt hatte, ein Kaninchen zu malen. Der Moment hatte sich mir ins Gedächtnis gebrannt.

»Ein Haus, das viele Erinnerungen birgt«, sagte er jetzt und sah sich erneut aufmerksam um. Harrison war ein Mann der Tat und zeigte sich selten melancholisch. Irgendetwas ging hier vor sich.

Ich machte es mir auf meinem Stuhl bequem und trank einen Schluck Limonade. Bis dahin war mir gar nicht aufgefallen, wie viel Durst ich hatte. Harrison setzte sich nicht.

»Du gestattest mir doch die Ehre …« Er beendete den Satz nicht. Ich wusste genau, was er meinte.

»Natürlich.«

Er ging zur alten Stereoanlage: eine wahre Reliquie, die einmal meinem Vater gehört und seinerzeit ein Vermögen gekostet haben musste. Blind zog Harrison eine der Vinylplatten heraus; er kannte die Sammlung besser als ich. Er und mein Vater hatten die Leidenschaft für Brit-Rock geteilt, die sie auch an mich weitergegeben hatten.

Plötzlich erfüllte »905« von The Who den Raum. Die Stereoanlage mochte uralt sein, aber diese verflixten LPs klangen noch genauso gut wie am ersten Tag. Harrison sah zum Fenster hinaus und bewegte den Kopf zum Rhythmus der Musik. Ich vermutete manchmal, dass der Exkommissar diese Songs nur bei mir zu Hause hörte. Er war dann wie an einen anderen Ort versetzt. In eine andere Zeit.

Als er endlich zurück zum Tisch kam, musterte er mich kurz – vielleicht war er aber auch einfach noch von der Musik verzaubert. Dieser Mann stand mir so nah wie ein Vater, und trotzdem war er mir manchmal ein Rätsel. Ich war mir sicher, dass er nie irgendwelche Spielchen mit mir treiben würde, aber …

»Wie läuft’s beruflich?«

»Ich hatte ein paar gute Einfälle«, sagte ich und dachte an die Illustration, die oben auf dem Schreibtisch lag, das Mädchen mit dem blauen Kleid.

»Das freut mich! Also Schluss mit Lucy?« Harrison lächelte. Er wusste von meinem Dilemma mit der Biene.

»Ich weiß nicht …«

»Komm, nimm dir einen Keks. Die sind sogar noch warm.«

Ich hatte keinen Appetit, aber ich wusste, dass sich das ändern würde, sobald ich einen probierte.

»Sag Lauren Danke von mir«, sagte ich und biss in einen Keks.

»Sie würde dich sehr gern sehen, Johnny. Komm doch mal zum Abendessen vorbei.«

»Mache ich.«

Harrison senkte den Blick, eine kaum merkliche Kopfbewegung, die mir aber nicht entging.

»Ist was?«

Er sah mich resigniert an.

»Da ist tatsächlich was. Ich bin hier, weil Dean Timbert mich darum gebeten hat.«

Als ich den Namen des derzeitigen Kommissars hörte, stellte ich das Glas, das ich gerade zum Mund führte, wieder auf den Tisch.

»Ist etwas passiert?«

»Dean ist vermutlich einfach nur etwas übereifrig, aber das würde ich ihm nie übel nehmen. Seine Gewissenhaftigkeit ist einer der Gründe, warum ich ihn für meinen bestmöglichen Nachfolger halte. Vielleicht tut es der Stadt ganz gut, wenn jemand etwas misstrauischer ist, als ich es war.«

»Das verstehe ich nicht. Hat sich jemand im Wald verirrt?«

Harrison schüttelte den Kopf.

»Nein, es wird niemand vermisst. Aber gestern ging ein Anruf ein. Jemand hat gemeldet, er habe einen verdächtigen Mann im Wald gesehen.«

Kurz war ich wie gelähmt. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Der Song ging zu Ende und hinterließ eine bedrückende Stille. Als »Sister Disco« mir zu Hilfe kam, hatte mein Gesichtsausdruck mich wahrscheinlich längst verraten.

»Wo genau?«

»In der Nähe vom Union Lake. Hast du gestern Abend etwas Merkwürdiges gesehen oder gehört?«

»Nein, nichts.«

»Ich habe in meiner Zeit im Dienst auch oft Anrufe bekommen, die sich als Fehlalarm entpuppt haben, aber ich verstehe auch, dass Dean die Sache nicht einfach ignorieren wollte. Er hat mich gebeten, mich mal etwas umzusehen und herumzufragen. Die Bitte wollte ich ihm gern erfüllen. Außerdem war es eine gute Gelegenheit, dich mal wieder zu besuchen.«

Er zwinkerte mir zu. Ich rang mir ein Lächeln ab, hob das Limonadenglas und prostete ihm zu.

Den Rest der Zeit gab ich kaum ein Wort von mir. Ich dachte an das Gesicht, das ich am Union Lake zwischen den Zweigen erspäht hatte. Fragen stellte ich lieber keine mehr.

Den Rest der Zeit sprachen wir über einen alten Fall, den ich natürlich kannte: das Verschwinden von Benjamin Green. Der Täter sei vor einigen Tagen gestorben, sagte Harrison, was aber seinen inneren Frieden nicht wiederhergestellt, sondern ihn eher demoralisiert habe. Es habe ihn nur daran erinnert, dass er damals, vor vierzehn Jahren, krachend gescheitert sei. Der Kerl sei auf dem Hof der psychiatrischen Einrichtung friedlich verstorben. Die Pfleger hätten alle gedacht, er sei eingeschlafen.

Wir unterhielten uns noch eine Weile darüber, wie ungerecht die Welt war – wovon auch ich ein Lied singen konnte –, bis Harrison schließlich aufbrach. Beim Abschied sagte er wie nebenbei, dass Maggie Burke in der Stadt sei. Maggie war eine Sandkastenfreundin von mir, mit der ich später auch zusammen gewesen war. Sie war die Tochter von Rob Burke, einem weiteren Mitglied des Clubs B.

Maggie.

»Bob hat mich gestern angerufen«, sagte Harrison. »Er war ganz aufgeregt. Maggie will zwei Wochen bleiben. Du solltest dich mit ihr treffen, Johnny.«

Ich rechnete nach. Ich hatte Maggie sei fünf Jahren nicht mehr gesehen.

Ross, ein Freund von mir, hatte gerüchteweise gehört, Maggie überlege, ob sie für immer aus London zurückkehren sollte, aber Genaueres war nicht bekannt. Ich fragte mich, inwieweit dieses Gerücht mich in meiner Entscheidung, mit Lila Schluss zu machen, beeinflusst hatte.

9

Als Harrison gegangen war, lief ich wie ein Verrückter im Haus umher, strich mir mit der linken Hand durchs Haar und wählte mit der rechten Marks Nummer. Immer wieder ging nur die Mailbox ran. Ich hinterließ drei Nachrichten, sagte jedes Mal, ich müsse ihn sprechen, dringend. Ich musste ihm erzählen, was Harrison berichtet hatte, von dem merkwürdigen Kerl am Union Lake.

Nachdem ich die letzte Nachricht hinterlassen hatte, bemerkte ich, dass ich am Waldrand stand. Ich sah mich um wie jemand, dem nicht ganz klar ist, wie er dorthin gekommen war.

In diesem Moment traf mich die Erinnerung wie ein Schlag, Traumfetzen aus der vorherigen Nacht leuchteten in meinem Gehirn, sendeten makabre Botschaften: der enge Pfad, die dunkle Gestalt hinter mir, Zweige, dir mir das Gesicht zerkratzten.

Ein Schauder durchlief mich, die gleiche Gewissheit, die ich schon beim Aufwachen gehabt hatte. Allmählich erinnerte ich mich genauer an den Traum.

Ich rief erneut Mark an. Diesmal ging er ran.

»Das ist hoffentlich ein Notfall, John.«

John. Nicht Johnny.

»Ist es. Danke, dass du rangegangen bist.«

»Ich spiele gerade Golf mit einem möglichen Käufer«, sagte Mark mit gedämpfter Stimme. »Also fass dich kurz.«

»Gerade war Harrison hier«, kam ich direkt zum Punkt. »Bei der Polizei ging gestern der Hinweis ein, dass sich ein verdächtiger Kerl am Union Lake herumtreibt.«

Schweigen.

»Du warst doch am Union Lake, oder?«

»Ich war’s aber nicht, Mark.«

»Woher willst du das wissen?«

Ich wusste es tatsächlich nicht, und dass ich schwieg, war der Beweis dafür. Ich konnte Marks Enttäuschung förmlich spüren.

»Ich muss auflegen, Johnny. Wir reden später.«

Ich wollte ihm von dem Traum erzählen, von dem, was er mir offenbart hatte, aber ich hielt mich zurück. Welchen Sinn hätte es gehabt?

Bevor ich noch etwas sagen konnte, wurde das Gespräch unterbrochen.

Ich setzte mich auf die Hollywoodschaukel – einem meiner Lieblingsplätze – und schaukelte im Rhythmus meiner Gedanken. Ich musste etwas tun, um beweisen zu können, was am Vorabend passiert war. Ich überlegte, ob ich zur Polizei gehen sollte, unter irgendeinem Vorwand, um mir die Fotos der Vermissten anzusehen, aber verwarf diesen Einfall sofort wieder. Kommissar Timbert war ein schlauer Fuchs und würde sofort Verdacht schöpfen, wenn ich kurz nach Harrisons Besuch dort aufkreuzte.

Nachdem ich eine halbe Stunde lang gegrübelt hatte, fiel mir der Van wieder ein, den ich auf dem verlassenen Weg tatsächlich gesehen hatte. Ich suchte auf meinem Handy die Nummer von Fred Foster heraus, mit dem ich zuletzt vor zwei oder drei Jahren gesprochen, zu dem ich aber absolutes Vertrauen hatte. Fred war zwei Jahre älter als ich, und als Kinder waren wir enge Freunde gewesen. Sein Vater war ebenfalls ein Mitglied des Club Bilderberg.

Fred leitete das Autohaus Brenner, das früher einmal meinem Vater gehört hatte. Als meine Mutter krank wurde, sah mein Vater sich gezwungen, das Geschäft zu verkaufen, um die Arztkosten begleichen zu können. Gekauft hatte es Freds Vater Bill, der es auch weiterführte. Es war seine Art gewesen, einen stolzen Menschen zu unterstützen, der nur schwer Hilfe annehmen konnte, nicht einmal von seinen engsten Freunden.

Das Autohaus Brenner lag an der Paradise Road, der einzigen asphaltierten Straße, die zu meinem Haus führte. Es gab noch andere Routen, aber wenn jemand mich zum ersten Mal besuchte, nahm er mit hoher Wahrscheinlichkeit den Weg über die Paradise Road. Ich wusste, dass Fred vor einigen Jahren Überwachungskameras installiert hatte, also bat ich ihn, mir die Aufnahmen vom Vorabend ansehen zu dürfen. Als Vorwand benutzte ich Lila, deutete eine Untreue an, doch Fred unterbrach mich, bevor ich meine Erklärung ausgeführt hatte. »Bedien dich, Johnny.« Er gab mir die vollständigen Aufnahmen des Vortags, ohne mir weitere Fragen zu stellen.

Als ich wieder zu Hause war, mit dem USB-Stick in der Tasche, hatte ich mich einigermaßen beruhigt. Die Aussicht, den Rest des Tages die Aufnahmen durchzusehen, kam mir sogar verlockend vor. Alles, was dafür sorgte, dass ich beschäftigt war, dass ich in einen hypnotischen Zustand gelangte, war besser, als weiterhin über Fragen zu brüten, auf die es keine Antworten gab. Ich konnte die Aufnahmen in schnellerer Geschwindigkeit abspielen und fünf oder sechs Stunden abdecken.

Wenn der Van über die Paradise Road gekommen war, würde eine Kamera ihn registriert haben.

Ich schenkte mir ein Glas Limonade ein und setzte mich mit dem Notebook auf die hintere Veranda. Auf dem USB-Stick waren zwei Archive mit Videos von jeweils einer Stunde Länge.

Mir wurde schnell klar, dass es länger dauern würde, als ich gedacht hatte. Die Kamera war auf den unüberdachten Teil des Autohauses ausgerichtet und erfasste nur einen kleinen Ausschnitt der Paradise Road. Die Autos, die in beide Richtungen fuhren, waren zwar zu erkennen, doch sie zuckten nur kurz über den Bildschirm. Wenn man die Videos mit doppelter Geschwindigkeit abspielte, sausten sie zu schnell ins Bild und wieder hinaus.

Mit etwas Übung gelang es mir, das Bild genau in dem Moment anzuhalten, in dem ein neues Auto auftauchte. Für das erste Video brauchte ich fünfzig Minuten, beim zweiten schaffte ich es bereits in vierzig. Im dritten Video machte ich schließlich eine unerwartete Entdeckung. Ich stoppte das Video und betrachtete das Auto: den Chevrolet von Lila. Die Uhr in der Bildschirmecke zeigte an, dass meine Exfreundin kurz nach 18:30 Uhr zu mir gefahren war. Auf dem eingefrorenen Bild war ihr unverwechselbarer Wuschelkopf hinter der Windschutzscheibe deutlich zu erkennen. Ich hätte sie sofort anrufen können, doch ich sah lieber noch schnell den Rest des Videos durch. Ich suchte nach dem Van, aber auch nach dem aus der Gegenrichtung zurückkommenden Chevrolet. Kurz darauf entdeckte ich ihn. Lila war nach einer halben Stunde erneut an der Tankstelle vorbeigekommen. In Anbetracht der Zeit, die man brauchte, um über die Paradise Road zu mir und wieder zurückzufahren, konnte sie nicht lange bei mir gewesen sein.

Lange genug, um einen Mord zu begehen.

Ich blickte zur Decke und atmete schnaubend aus. Es war absolut undenkbar, dass Lila irgendwo anders hingefahren war als zu mir.