Mythen und Sagen aus Grönland - Knud Rasmussen - E-Book

Mythen und Sagen aus Grönland E-Book

Knud Rasmussen

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Beschreibung

Auf zahllosen Expeditionen hat der große Polarforscher Knud Rasmussen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Grönland bereist, um die Sprache und Kultur seiner Vorfahren zu erkunden. Dabei galt sein besonderes Interesse stets auch dem Erzählgut der Grönländer, das über Jahrhunderte mündlich tradiert worden war. Dieser Band versammelt 53 Sagen aus Ostgrönland, der Region um Angmagssalik, von den Schöpfungsmythen bis zu teils wüsten, teils anrührenden Erzählungen aus der Lebenswelt der Grönland-Inuit. 35 Zeichnungen, Nachwort und Karte machen dieses besondere Erbe erfahrbar und zugänglich.

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Seitenzahl: 362

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Knud Rasmussen

Mythen und Sagenaus Grönland

Übersetzt von Julia Koppel

Mit Zeichnungen von Kârale

Anaconda

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält

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Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte

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nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt

der Erstveröffentlichung verweisen.

Die dänische Originalausgabe dieses Bandes erschien 1921 bei

Gyldendal in Kopenhagen unter dem Titel Myter og Sagn fra Grønland,

Bd. 1: Østgrønlændere. Die deutsche Übersetzung erschien 1922 beim

Gyldendal’schen Verlag in Berlin unter dem Titel Grönlandsagen. Der

Text wurde behutsam überarbeitet. Die Rasmussen’sche Verwendung

des Begriffs »Eskimo« blieb unangetastet. Orthografie und Interpunktion

wurden unter Wahrung von grammatischen Eigenheiten auf

neue Rechtschreibung umgestellt.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen

der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Grönland, Kaiser-Franz-Josef-Fjord (um 1900),

INTERFOTO / TV-Yesterday

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus

ISBN 978-3-641-29234-8V001

www.anacondaverlag.de

Vorwort

Alle Eskimostämme besitzen eine große Anzahl Mythen und Sagen, die durch mündliche Überlieferung von Geschlecht zu Geschlecht gehen. Es ist die Geschichte des Volkes, die, in die Form von Erzählungen gekleidet, von allen Ereignissen berichtet, großen und kleinen, guten und schlimmen, von Zeiten des Überflusses und von Zeiten der Not.

Diese Sagen haben einen doppelten Boden, indem sie teils die Quelle aller religiösen Vorstellungen sind, teils dazu dienen, die Nächte zu verkürzen, wenn die große Dunkelheit das Land verhüllt und der strenge Winter die Familien zu unfreiwilligem Stubenleben versammelt.

Man glaubt unbedingt an die Wahrheit dieser Mythen und Sagen; wenn etwas gegen die gesunde Vernunft streitet, so liegt es nur daran, dass jüngere Generationen nicht zu fassen vermögen, was bei den Vorfahren unantastbare Wahrheiten waren.

Wie bekannt, sind die Eskimos vorzügliche Beobachter, und darum ist es begreiflich, dass die alten Sagenerzähler, die im Besitz großer Beredtsamkeit sind, sich zu farbenreichen Schilderungen hinreißen lassen.

Beweis, dass die Sagen vielfach zum Zeitvertreib da sind, ist, dass die meisten mit den Schlussworten enden: Jetzt ist die Geschichte aus und der Winter wieder etwas kürzer!

Es ist schwierig, die Sagen dem Inhalt nach einzuteilen, da viele Themen häufig in ein und derselben Erzählung behandelt werden. Dennoch habe ich eine Gruppierung versucht, wie in der nachfolgenden Sammlung angegeben.

Die Eskimos unterscheiden zwischen Oqalugtuat und Oqaluatât.

Oqalugtuat sind die alten Mythen, die aus einer fernen Vorzeit stammen, als die Eskimos ihre Urheime in Gegenden hatten, die westlich von der Hudsonbucht lagen, vielleicht ganz drüben bei der Beringstraße. Darum kommen sie bei allen Eskimos vor und sind von Alaska über Baffinsland und Westgrönland, ganz bis nach Angmagssalik an der Ostküste bekannt.

Oqaluatât sind Sagen, die von Menschen handeln, die zu einer Zeit lebten, deren man sich noch erinnern kann. Sie sind stets lokal und deshalb leicht an ihren Entstehungsort zurückzuführen; doch haben auch diese die phantastische Ausschmückung der eskimoischen Sagen bekommen und unterscheiden sich kaum von den alten Mythen.

Gemeinsam für die Mythen und Sagen ist, dass der Erzähler immer die Auffassung hat, dass sie in seinem eigenen Lande vor sich gehen. Die langen Reisen, die während der Völkerwanderung in den Gegenden um die Hudsonbucht und bis zu Grönlands Küsten vorgenommen wurden, sind in Vergessenheit geraten, und darum finden wir dieselben Mythen an vielen Orten wieder, während ihr eigentlicher Herd in Wirklichkeit irgendwo fern im Westen ist, dort, wo die nordamerikanischen Stämme jetzt leben.

In groben Zügen kann man alle Mythen und Sagen nach vier Inhaltsrichtungen einteilen: Die epischen, die religiösen, die humoristischen und die einschläfernden.

Die epischen Sagen handeln meistens von dem grönländischen Sagenhelden, der als Ausgestoßener beginnt – einem armen Elternlosen –, der sich aus Not und Elend emporkämpfen muss und als ein »Allerweltskerl« endet, einem gewaltigen Kämpfer und einem unüberwindlichen Improvisator bei Sängerkriegen. Durch Reisen in fremde Gegenden muss er seinen Ruhm befestigen, und seine Pflicht ist es, zwischen seinen Landsleuten die Stärksten herauszufordern. Wie die Helden geschildert sind in »Kamikinak«, »Alorutaq«, »Kâgssagssuk« und vielen anderen.

Die religiösen charakterisieren sich selbst.

Von den humoristischen ist zu sagen, dass sie entstanden sind, um die Menschen zu erheitern und zu unterhalten; darum werden sie immer mit drastischem Humor vorgetragen, von lebendiger Mimik und Gesten begleitet, sodass dem Erzähler Gelegenheit gegeben ist, wirkliche Schauspielkunst zu entfalten.

Die einschläfernden Erzählungen aber haben nur die Aufgabe, die Zeit zu verkürzen und so schnell wie möglich durch den Schlaf die Menschen aus der einförmigen Wartezeit des Winters zu erlösen. Bei diesen muss der Erzähler sich eines monotonen Vortrages befleißigen, der die Zuhörer einschläfert. Das größte Lob, das einem Erzähler gespendet werden kann, ist, dass die Zuhörer seine Erzählungen nie zu Ende gehört haben.

Die Ostgrönländer sind vorzügliche Sagenerzähler; zwischen den Alten haben einige es zu solcher Vollkommenheit gebracht, dass sie zu fremden Wohnplätzen eingeladen werden, wo sie von ihrer Kunst leben.

Indem ich diese Auswahl von Mythen und Sagen, die bei einem Volke gesammelt sind, das keine Schriftsprache besitzt, vorlege, möchte ich darauf aufmerksam machen, dass nachfolgende Erzählungen darum ausschließlich darauf berechnet sind, erzählt und nicht gelesen zu werden. Dazu kommt, dass der Erzähler die Ereignisse nicht nur durch seine Darstellung lebendig macht, sondern ihnen auch durch die ganze Kraft seiner Persönlichkeit ein Gepräge gibt.

Der mündliche Vortrag ist natürlich nicht so abgeschliffen wie eine schriftliche Darstellung, und darum stößt man wieder und wieder auf große Schwierigkeiten, wenn man die münd­liche Darstellung eines Naturvolkes in die Schriftsprache eines Kulturvolkes verpflanzt.

Ich möchte versuchen, von den leitenden Grundsätzen meiner Arbeit Rechenschaft abzulegen: So oft eine Sage zu Ende erzählt worden war, war mein Haupteindruck stets Bewunderung für die Vollkommenheit, mit der der Erzähler unbewusst seiner Darstellung Form gab. Darum habe ich Wert darauf gelegt, der Übersetzung ebenfalls eine abgeschliffene Form zu geben, obgleich Pedanten vielleicht den Einwurf machen werden, dass es auf Kosten der echten Wiedergabe geschehenmusste. Eine Wiedergabe in den naiven Sprachwendungen aber schien mir unangebracht, weil das nicht allein naiv auf den Leser wirken würde, etwas, was der grönländische Erzähler keineswegs beabsichtigt, sondern auch ermüdend und unerträglich. Der ganze Aufbau der originalen Erzählung aber ist genau beibehalten.

Das Innere eines ostgrönländischen Winterhauses.

Ich ließ mir die Erzählung zuerst ohne Unterbrechung von Anfang bis Ende erzählen. Darauf schrieb ich die Sage nieder, indem ich sie mir Satz für Satz wiederholen ließ. Durch die täg­liche Arbeit mit demselben Stoff erlangt man solch große Übung im Zuhören und Erinnern, dass man die Erzählung, indem man sie hört, gleichzeitig auswendig lernt. Wenn der Erzähler darum, von meinem langweiligen Niederschreiben ermüdet, seine ursprüngliche Darstellung zu verkürzen oder zu verflachen suchte, konnte ich eingreifen und ihn zu seiner ursprünglichen Form zurückführen.

Meine Hauptquellen für die Sagen waren teils Kârale, teils die drei alten Frauen, die im nachfolgenden Kapitel erwähnt werden.

Einleitung

Die Phantasie der Eskimos

Die Dämmerung hatte uns überrascht, und da von Westen drohende, schwarze Wolken heraufzogen, suchten wir Schutz in einer kleinen Bucht und schlugen dort unser Zelt auf. Es war nicht ratsam, bei dem heraufziehenden Unwetter über den Fjord zu setzen.

Trotz des weißen Neuschnees, der das ganze Land bedeckte, war es ungewöhnlich dunkel. Ein frischer Ostwind hatte tagsüber alles Großeis ins Meer gefegt, und darum lag das Wasser des Fjords von Felsen umgeben ganz schwarz da, ohne den Widerschein der gleitenden Eisflächen. Der Himmel war in schwarze Wolkenfetzen zerrissen, die vor dem Sturm hertrieben; durchschnitt sie der Mond, so zeigte sich für einen kurzen Augenblick die wilde große Landschaft, die ihr strahlendes Lächeln verloren hatte und in barscher Unzugänglichkeit dalag. Hohe Felsen mit grimmigen Spitzen schossen drohend in die Höhe: Die Berge, bar aller Schönheit, standen in tiefem Schweigen, nackt, wie Gerippe. Über den offenen Schlünden der Abgründe dröhnte schon der Gesang des Sturmes. Alles ließ eine furchtbare Abrechnung ahnen, und stummes Entsetzen legte sich auch auf uns. Bei den äußersten Schären begann die Brandung zu lärmen, eine Warnung für die Menschen, die noch draußen waren. Jetzt hieß es Deckung suchen, um sich vor dem Unwetter zu schützen.

Wir wussten nicht, wie lange das Wetter uns auf der kleinen Felseninsel festhalten würde, wo wir uns vorläufig niedergelassen hatten, und obgleich wir nicht in Gefahr waren, wurden wir doch auf seltsame Weise von der Stimmung des Himmels und der Landschaft beeinflusst. Immer dichter legte sich die Dunkelheit um uns, und immer stärker wurde unser Verlangen nach Licht.

In aller Eile wurden große Haufen von Zwergweiden und Kassiope zusammengetragen, und bald knisterte ein großes Feuer in der kleinen Felsenkluft, wo wir uns gelagert hatten. Es war, als ob Feuer, Licht und Wärme uns der unheimlichen Stimmung des Wetters wieder entrückten; unsere geblendeten ­Augen sahen nicht mehr die Drohungen um uns herum, alles Grauen war vom hellen Feuer verzehrt. Unsere Unterhaltung belebte sich, seltsamerweise aber blieben unsere Gedanken dennoch an das gebunden, was wir zu fliehen suchten. Es flüsterte und tuschelte um uns herum, und eine phantastische Atmosphäre zog uns in die Mystik der Herbstnacht hinein: Es war, als ob wir das Herz der Welt schlagen hörten, und ich begriff, warum ein Eskimo nie allein ist, selbst wenn er die Einsamkeit zwischen den Eisbergen sucht. Seine Umgebung macht ihn zum Geisterbeschwörer, vorausgesetzt, dass er den Mut hat, sich dem Übernatürlichen hinzugeben. Die Natur selbst diktiert ihm seine Religion, alles um ihn her gewinnt Leben; Abenteuer und Zauberei, Riesen und beschwörende Geister lösen sich aus der Umgebung, deren Großartigkeit ihn in die Knie zwingt.

Darum gibt es keine Märchenwelt, so mannigfaltig und voll unheimlicher Zauberei wie die hier oben zwischen Fels, Meer und Gletschern in der großen Polarnacht. Der Menschengeist verkrüppelt hier nicht, sondern wächst mit den unglaublichen Visionen, denen eine fruchtbare Einfalt Schwingen verleiht. Die Wunder der Welt entschleiern sich, die großen Rätsel nehmen die Gestalt von Gnomen und Riesen an, und aus dem Über­natürlichen wachsen die Sagen mitten hinein in die handgreifliche Wirklichkeit des täglichen Lebens der Eskimos. Sie glauben selbst, dass alle Orgien der Phantasie Botschaften aus einer großen Welt sind, die dem Menschen unverständlich ist …

Ich war zum ersten Mal im Lande der Angmagssalikken. Der erste Eindruck hatte mich schwer enttäuscht, weil ich bei der Kolonie begonnen hatte, in der die Verlogenheit einer unverdauten Zivilisation sich immer am stärksten bemerkbar macht.

Ich zweifelte, ob es mir wirklich in dieser Umgebung und bei diesen Menschen glücken würde, mich zu der unberührten Ursprünglichkeit durchzuarbeiten, die zu finden ich so weit gereist war. Darum war ich so bald wie möglich zu den kleinen Wohnplätzen aufgebrochen, wo das alte Leben noch am tiefsten wurzelt.

In meinem Boot fuhren Männer und Frauen; andere Männer folgten in eigenen Kajaks; außerdem gehörten zwei ehemalige Geisterbeschwörer zu uns und ein paar alte Sagenerzählerinnen, die getauft worden waren, und in der Taufe Namen von so feinem Klang bekommen hatten, dass sie sie selbst kaum ­aussprechen konnten; ich will nur Klementine, Barbara und Apollonia nennen, weil sie es waren, die uns ihre Visionen verdolmetschten und dadurch der Stimmung in unserem improvisierten Lager Farbe gaben.

Auf der kleinen Insel, im Sturmesbrausen der Natur, fühlte ich mich plötzlich mitten in das große grönländische Märchen versetzt, und meine Freude darüber war umso größer, als ich von vornherein meine Erwartungen nicht sehr hoch gespannt hatte. Befand ich mich doch hier an der Quelle von Gustav Holms wunderbaren und unübertrefflichen Eskimoschilderungen, und in derselben Gegend hatte William Thalbitzer sein gründliches und gewichtiges ethnografisches Material gesammelt.

Und dennoch – unter dem Eindruck der gewaltigen Umgebung gab ich mich der Hoffnung hin, dass ich nicht umsonst gereist sei, denn alles, was ich jetzt erlebte, war ja Beweis genug dafür, dass die alten Traditionen noch im Gedächtnis der Geschlechter lebten. Die Ur-Religion und die Geschichte des Volkes waren ineinander übergegangen, Märchen und Wirklichkeit hatten sich im Bewusstsein des Volkes zu einer großzügigen Geschlechtssage verwoben und waren zu Volksmärchen und Volksliedern geworden; ich zweifelte nicht, dass, wer das Vertrauen dieser einfachen und unverdorbenen Naturmenschen gewonnen hatte, auch in die Seele ihres Volkes Einblick gewinnen konnte.

Plötzlich hören wir ein Wimmern, das wie fernes verzweifeltes Kinderweinen klingt. Es kommt aus dem Eis, einem Überbleibsel vom vorigen Winter, das der Sommer nicht zu schmelzen vermochte und das das Innere unserer kleinen Bucht einschließt. Während das Hochwasser jetzt darüber hinwegspült, knirscht es, in seinen Grundfesten erschüttert, gegen die Schären. Dadurch entstehen jene menschlichen Seufzern ähnlichen Laute. Wir können uns ihrem Eindruck nicht entziehen, das Gespräch stockt. Nur die alte Klementine, die die unheim­liche Stimmung von sich abzuschütteln versucht, richtet sich auf und blickt prophetisch durch die Dunkelheit. Ihr Mund bewegt sich, irgendwo muss etwas Schreckliches geschehen sein, wenn die Unterirdischen weinen, und wir wissen, dass sie uns mit einer kräftigen Beschwörung einkreist.

Klementine, die viel von geheimen Dingen weiß, erzählt uns von ihren verschiedenen Begegnungen mit den Unterirdischen, die sie vor ihrer Taufe gehabt hat. Alle wollten sie bezaubern und zum Bleiben bewegen, sie aber war die Stärkere. Von dem ­Augenblick ihrer Taufe an hatten sie ihren Weg nicht mehr ­gekreuzt, denn sie fürchteten sich vor ihr. Keiner von uns bezweifelte die Wahrheit dessen, was sie erzählte, denn die Unterirdischen leben in ihrer Welt wie die Menschen auf Erden. Doch nur ein Heide kann ihnen begegnen.

Schlimmer aber als diese gutmütigen und den Menschen stets hilfsbereiten Unterirdischen sind ihre Verwandten, eine Art Riesen, die aus tiefen Klüften und Abgründen emporwachsen, ganz plötzlich, aus der großen Stille, unter Gelächter und Hohngeschrei, häufig ganze Bootsbesatzungen, lauter Männer, die sich auf einsame Reisende stürzen. Oder sie erscheinen im halben Kajak und töten alle, die ihnen begegnen. Einer der Riesen im halben Kajak heißt Sarquiserassak und ist mit einer Frau verheiratet, die noch gefährlicher ist als er; sie wohnt hoch oben in den Bergen, hat lange eiserne messerscharfe Nägel an Händen und Füßen, mit denen sie imstande ist, selbst in den härtesten Oranit Löcher zu graben.

Klementine schweigt, als sie ihr Teil zu der unheimlichen Stimmung beigetragen zu haben meint; Apollonia aber, die jüngere, hat voll Ungeduld gewartet, und nun beginnt sie von dem übernatürlichen Leben in den Einöden zu erzählen.

Sie erzählt von den Mákákâjuit, jenen kleinen nackten Wesen, die auf den höchsten Felsgipfeln wohnen und von dort das Treiben der Menschen beobachten, um ihnen den Fang zu rauben.

Von Aqajarorsiorpua, dem lebenden Stein in Riesengestalt, der ganze Wohnplätze allein durch sein Erscheinen zu Tode erschreckt.

Von den Erqitaliten, den gefährlichsten Feinden des Menschen, die, halb Mensch halb Hund, nur aus Freude an Mord und Vernichtung töten.

Und sie erzählt vom Mond, der am meisten gefürchtet ist.

Wenn jemand sich der Weisheit und den Sitten der Vorfahren nicht beugen will, steigt der Mond zur Erde herab, um den Ungehorsamen zu züchtigen, und wem kein Geisterbeschwörer mit vielen und mächtigen Hilfsgeistern beisteht, der ist verloren.

Der Mond gebietet über Ebbe und Flut. Wenn die Ebbe nicht kommt, und den Tang längs der Küste aufdeckt, haben die Menschen in den mageren Zeiten nichts zu essen. Auch über die Fangtiere des Meeres und der Erde gebietet er: Denn er sorgt dafür, dass die Tiere sich vermehren und mannigfaltig werden, damit es den Menschen nicht an Nahrung fehle.

Und dann berichtet Apollonia von der Mutter des Meeres, Imapukua, die auf dem Grunde des Ozeans wohnt. Die Sünden der Menschen sammeln sich als Schmutz und Scherben in ihrem Haar und auf ihrem Lager, und aus Zorn darüber hält sie die Fangtiere zurück. Dann muss ein Geisterbeschwörer sie aufsuchen und reinigen, worauf sie aus Dankbarkeit von Neuem die Tiere zu den Menschen zurückkehren lässt.

Auch Asiaq, die Gebieterin über Wind und Regen, muss ein Geisterbeschwörer aufsuchen, wenn das Eis im Frühjahr nicht aufbrechen will, und er muss sie überreden, dass sie Regen über die Erde strömen und den Föhnwind über das Eis des Meeres wehen lässt …

Barbara erzählt ohne weibliche Zungenfertigkeit; sie legt nur feierlich Zeugnis ab von Dingen, die wie ferne Erinnerungen wirken – und indem sie erzählt, erleben wir alle die unheimliche Nähe der übernatürlichen Wesen, mit denen die Phantasie der Eskimos die Natur bevölkert.

Ein großer Eisberg segelt langsam an der Mündung unserer Bucht vorbei, seine scharfe, weiße Silhouette gegen die Dunkelheit abzeichnend, wie ein Flüstern in der Nacht; er gleitet langsam vorbei und wiegt sich wie ein lebendiges Ungeheuer in den Dünungen des Atlantischen Ozeans, die jetzt ihre gewaltigen Rücken durch den Fjord schieben. Der Eisberg erhitzt Barbaras Phantasie, sie meint den Bären des Meeres zu sehen, das größte aller Ungeheuer, von dem die Sage zu berichten weiß. Er gleicht dem Eisbären, ist aber so riesengroß, dass er durch das Meer wie durch eine Wasserpfütze watet, nur die Beine sind unter Wasser. Wenn er den Kopf auf seinem langen Hals nur ein wenig reckt, kann er den Schnee von den höchsten Berggipfeln lecken, und wenn er atmet, erheben sich Wirbel auf dem Meere, und große Eisblöcke und ganze dichtbesetzte Boote fliegen ihm in die Nasenlöcher.

Mehr Holz wird ins Feuer geworfen, und indem wir die Flammen mit Speckstücken nähren, recken sie sich knisternd in die Höhe und werfen unsere Schatten weit über die Felsen, wo sie zu lebendigen Riesengeistern werden, die sich im Kreise um uns lagern.

Es wirkte wie eine Erlösung, als der Schneesturm endlich über uns kam. Die Beherrscherin des Windes bedachte sich nicht länger, heulte ihren Gesang aus vollen Lungen über die Kluft und löschte unser Feuer in einem Wirbel von Schnee.

Das Meer wälzte sich mit schweren weißen Bergen heran, die an den Klippen zerbarsten und vor unseren Füßen zerfielen.

Das Weinen der Unterirdischen war nicht mehr zu hören, es wurde von dem Unwetter übertönt, das jetzt über die Berge kam und jede Aussicht in dem weißen Schneegestöber vergrub.

Wir aber waren wieder wache Menschen, fern von Zauberei und ungesunden Träumen, und krochen unters Zelt, um Schutz gegen die Nacht zu suchen.

Von der Natur

Die ersten Menschen

Ehepaar aus Angmagssalik, Zeichnung von Kârale.

Vor langer, langer Zeit lebten die Menschen im Himmel und waren unsterblich. Da aber stürzte ein Mann herab und zeugte eine Tochter mit der Erde. Ihre Nachkommenschaft war so zahlreich, dass sie bald die Erde übervölkerte. Da kam ein großes Erd­beben, das die Länder spaltete, und viele Menschen stürzten in die Risse hinab; von ihnen stammen die Unterirdischen, die Ingnerssuit, die großen Feuerbewohner ab.

Ihr Land ist rätselhaft und wunderbar, und nur Menschen, die sich auf verborgene Dinge verstehen, können dorthin gelangen. Wer sich in die Erde begibt, dorthin, wo Meer und Land sich begegnen, dem öffnet sich ein weiter Blick zu ganz neuen Gegenden der Welt. Dort hausen die großen Feuerbewohner. Sie gleichen den Bewohnern der Erdoberfläche, haben aber keine Nase; sie wohnen in Häusern, die wie die der Menschen gebaut sind, und leben und treiben Jagd auf dem Meere, ganz wie diese. Wer sich nicht auf Zauberei versteht aber geht ihnen am besten aus dem Wege, sonst vergisst er leicht die Rückreise und kommt nie wieder an die Oberfläche. Nur die großen Geisterbeschwörer begegnen den Ingnerssuit häufig und bedienen sich ihrer gern als Hilfsgeister. Denn sie sind tüchtige Kajakruderer und beschützen die Geisterbeschwörer, wenn sie vom Sturm auf dem Meere überfallen werden und geben ihnen guten Fang.

Die Ostgrönländer stammen von ganz wenigen Familien ab; denn als die Menschen zu zahlreich wurden und die Wohnplätze sich übervölkerten, schwoll das Meer plötzlich und überschwemmte alle Länder; nur die allerhöchsten Bergzinnen ragten aus den Wellen hervor, aber sie waren so steil, dass sie kein Mensch erklimmen konnte. Nur in dem großen Angmagssalik-Fjord erhob sich ein hoher, massiver Felsen, Querrorssuit, der oben flach war; dort hinauf flüchteten einige Menschen und schlugen ihre Zelte auf. Das waren die einzigen, die sich vom Tode des Ertrinkens gerettet hatten. Von ihnen stammen die Ostgrönländer ab.

Viele glauben, dass das Meer noch einmal bei einer großen Flut alles Land überschwemmen wird; aber niemand, selbst nicht die mächtigsten Geisterbeschwörer, ahnen, wann es sein wird.

Die Alten erzählten auch, dass einstmals alle Süßwasserseen austrocknen und die Menschen an Durst sterben werden.

Das ist alles, was man von der Erde weiß und von den ersten Menschen, die vom Himmel gekommen sind.

Das Land der Toten im Himmel

Avggo war ein großer und berühmter Geisterbeschwörer. Er hatte Geisterflüge in fast alle Gegenden unternommen, die von großen Geisterbeschwörern besucht werden; nur oben im Himmel war er noch nicht gewesen, im Land der Toten. Darum entschloss er sich eines Tages, einen Geisterflug dorthin zu unternehmen; er ließ sich nur seine Strümpfe und nicht seine Stiefel zurechtlegen. Darauf wurde es dunkel im Hause, und er begann seine Hilfsgeister herbeizurufen. Bevor es aber ganz dunkel geworden war, begann die Trommel sich von selbst zu rühren. Es ist immer ein Beweis von der Größe des Geisterbeschwörers, wenn die Zauberei lebendig wird, bevor die Vorbereitungen für die Beschwörung noch beendet sind. Als es ganz dunkel geworden war, hörte man die verschiedenen Hilfsgeister kommen. ­Einige waren groß und gewaltig und traten so schwer auf, dass die Erde dröhnte; sie sprachen mit tiefem, dröhnenden Bass; andere sprachen mit leisen, zarten Frauenstimmen, denen man anhören konnte, dass ihre Besitzer klein und leichtfüßig waren. Als alle Hilfsgeister sich versammelt hatten, konnte der Geisterflug beginnen.

Wenn die Seele des Geisterbeschwörers den Körper verlässt, der im Hause zurückbleibt, pflegt ein Hilfsgeist seinen Platz einzunehmen. Hin und wieder hört man seine Stimme, im Übrigen aber soll er nur achtgeben, dass den Menschen, die versammelt sind, nichts zustößt, während der Geisterbeschwörer unterwegs ist. Diesmal blieb ein alter Hilfsgeist mit Namen Titigaq an Stelle des Geisterbeschwörers zurück. Er war ein Greis, in beiden Hüften lahm, mit schiefem Mund. Man erzählte, dass er einst so schnell geflogen war, dass sein Mund sich durch den Luftdruck verrenkt hatte.

Wer in den Himmel will, muss bis zum Horizont fliegen, wo Erde und Himmel sich begegnen. Als der Geisterbeschwörer dorthin gekommen war, stieß er auf eine Treppe mit drei hohen Stufen. Sie waren so hoch, dass er sich mit knapper Not von der einen zur anderen schwingen konnte, und schlüpfrig von Menschenblut, das darüberrieselte.

Wenn die Abgeschiedenen in den Himmel kommen, unterziehen sie sich einer Reinigung und Läuterung. Sie kriechen unter ein gewaltiges Fell, und bei der Mühe und Anstrengung, die sie dies kostet, verlieren ihre Körper alle Säfte und mit diesen alle Bosheit und Schlechtigkeit. Dies geschieht während des Trauerjahres, in dem die Hinterbliebenen den Verstorbenen beklagen und Buße tun: Denn durch die Berührung mit dem Leichnam sind sie unrein geworden. Die Körpersäfte des Toten aber sind es, die blutig über die Himmelstreppe fließen.

Der Geisterbeschwörer stieg mit Mühe und großer Lebens­gefahr die schlüpfrigen Stufen hinauf und gelangte zu einer weiten Ebene, der großen Himmelsebene. Kaum war er oben angelangt, als sich ein gewaltiger Ruf erhob:

»Er ist gekommen, er ist da! Wir haben Besuch bekommen!«

Von allen Seiten strömten Menschen herbei, und bald waren der Geisterbeschwörer und seine Hilfsgeister umringt. Unter den Herbeigeeilten aber erkannte er seinen verstorbenen Vater.

»Sieh’ da, du bist gekommen?«

»Ja!«

»Um Land zu nehmen?«

»Nein.«

»Du bist Geisterbeschwörer geworden?«, sagte der Vater und sah im selben Augenblick die Hilfsgeister. »Wo aber ist deine Mutter?«

»Die ist schon lange tot.«

Als der Alte das hörte, wurde er traurig und schwieg. »Wir haben sie ins Meer versenkt«, sagte der Sohn. Nur die Menschen, die auf Erden begraben werden, kommen in den Himmel; wer ins Meer versenkt wird, kommt in die Unterwelt, wo es auch gut sein ist.

»Wo aber ist dein kleiner Bruder?«, fragte der Vater.

»Auch er ist tot, auch ihn versenkten wir ins Meer.«

Da brach der Alte in Tränen aus, denn nun würde er seinen Sohn nie wieder sehen. Gleich danach aber begann er zu singen, als ob er nie betrübt gewesen sei.

Der Sohn verwunderte sich sehr und fragte: »Was ist dir? Eben weintest du vor Kummer und jetzt singst du plötzlich vor Freude?«

Sein Vater antwortete: »Einst wirst du das alles verstehen. Hier oben lebt man nicht wie unten auf der Erde, von Sorgen beschwert; wir singen hier viel und sind glücklich.«

Wenn Menschen gestorben sind, müssen sie sich ein Jahr lang vom Tode in das ewige Leben hinüberarbeiten, indem sie von der einen Seite eines ausgebreiteten Felles zur anderen kriechen. Dabei wird der Körper von allen Säften befreit. Die Tränen der Hinterbliebenen aber binden die Toten an die Erde, sodass sie häufig, wenn sie sich durch das Fell hindurch­gearbeitet haben, ganz kraftlos sind; darum darf man seine Toten nicht zu heftig beweinen. Am leichtesten haben es die totgeborenen Kinder, die von niemandem beweint werden; sie kriechen ohne Hindernis durch das Fell und laufen geradeswegs in das ewige Leben hinein.

Während sie noch zusammen sprachen, kam ein junges Weib mit aufgelöstem Haar auf sie zu, und er sah, dass sie Seehundsohren hatte.

Sein Vater fragte: »Kennst du sie nicht?«

»Nein«, sagte der Sohn.

»Es ist deine Schwester! Sie hat oft Beeren für dich gesammelt und sie dir auf den Weg gelegt, damit du sie finden solltest.«

Da erinnerte sich der Geisterbeschwörer, dass er einst eine kleine Schwester gehabt hatte; weil sie aber mit Seehundsohren auf die Welt kam, töteten sie die Eltern. So fand er auch seine Schwester unter den Toten wieder.

Sein Vater aber führte ihn voller Stolz umher, nahm ihn mit auf die Himmelsebene und erzählte ihm von all den seltsamen Dingen, die er kennenlernen sollte. So führte er ihn zu Qalerqat, dem großen Fell, unter dem es sich wand und wälzte wie Würmer.

»Hier befreien die Toten sich von ihren Säften«, erklärte der Vater, und da sah der Geisterbeschwörer, dass die ganze wimmelnde Masse eine einzige Wirrnis von toten Menschen war, die für ihre Wiederbelebung im Himmel kämpften.

Der alte Vater erklärte:

»Erst ein Jahr nach ihrem Tode kommen sie unter dem Fell hervor und vereinigen sich mit uns. Nur Totgeborene oder Kinder läutern sich schneller.«

Der Sohn wunderte sich über dies alles sehr und sagte plötzlich zu seinem Vater: »Und du? Bist du auch wirklich tot?«

Da antwortete der Vater:

»Überzeuge dich selbst, ob noch Säfte in meinem Körper sind.«

Da nahm der Sohn das Handgelenk seines Vaters und drückte es. Im ersten Augenblick fühlte er die gewohnten Knochen, plötzlich aber schienen sie ganz zu schwinden und er hielt nichts mehr in seiner Hand.

Da rief sein Vater:

»Lass mich los, sonst sterbe ich nochmals!«

Und als der Sohn ihn losgelassen hatte, dauerte es eine Weile, bevor der Alte wieder zu Kräften kam.

Die Himmelsbewohner leben von Beeren und Raben; Seehunde gibt es hier nicht, überhaupt keine Seetiere, und wer diese nicht entbehren will, muss Sorge tragen, dass er nach seinem Tode ins Meer versenkt wird; dann wohnt er unter dem Meeresgrund, wo es Seetiere die Hülle und Fülle gibt.

Der alte Vater erzählte vom Leben der Himmelsbewohner und führte den Sohn und seine Hilfsgeister auf der Ebene umher. Da begegneten sie einer alten Frau, die eine gewaltige Last Raben daherschleppte. Singend und überströmend glücklich rief sie dem Geisterbeschwörer zu: »Meinst du, es lohne sich, auf der Erde der Menschen zu leben? Wahrlich, erst hier oben nach dem Tode, trifft man die wahren Freuden an. Sieh’ dort die sanft abfallende Halde! Dort fangen wir Raben, so viel wir mögen, und der Fang selbst ist uns ein Vergnügen.«

Im Himmel gibt es viele Raben, man sagt, dass Fliegen zu Raben werden, wenn sie in den Himmel kommen.

Ajarqissaq heißt ein alter Hilfsgeist, der immer anführt, wenn ein Geisterbeschwörer seinen Flug nach dem Himmel nimmt. Er vererbt sich von einem Geisterbeschwörer auf den anderen, und da alle die Himmelsebene besuchen müssen, kennt er alle Orte und machte auch jetzt den Führer zusammen mit dem alten Vater des Geisterbeschwörers.

Durch die Ebene floss ein breiter Bach, an dessen Ufern Knaben standen, die Forellen fingen. Einige hatten schöne Fang­geräte und fingen eine Forelle nach der anderen, andere dagegen hatten nichts zum Fangen und mussten zusehen.

Der alte Vater sagte:

»Sage den Menschen, dass sie den toten Kindern ihre Fang­geräte mit ins Grab geben sollen; du siehst, wie es sonst denen geht, die keine haben.«

Nun aber kamen sie zu einer Stelle, wo das Trinkwasser der Himmelsbewohner war.

»Jetzt aber wollen wir den Gesang hören, den die Menschen so sehr lieben!«, sagte der Vater.

Und sie gingen zu der Stelle, wo die Himmelsbewohner Sangesfeste und Sängerkämpfe abhielten. Man konnte den Chor brausen hören, Gesang von Frauen und Männern, doch war es unmöglich, näher heranzukommen, und der Geisterbeschwörer konnte die Kleider, die sie trugen, nicht erkennen. Das aber kam daher, dass sie an einen Ort gekommen waren, wo Leute aus fremden Ländern wohnten.

So viele Dinge gab’s zu sehen, dass sie gar nicht merkten, wie die Zeit verging, und die Nacht verrann. Da sagte der alte Vater:

»Eile, dass du nach Hause kommst, bevor die Nacht vorüber ist, sonst musst du hierbleiben.«

Und alsogleich begab Avggo sich auf den Heimweg, denn es war kurz vor Tagesgrauen. Die Rückreise ging leicht und schnell vonstatten, nirgends stießen sie auf die Hindernisse, die ihnen auf dem Hinweg so viel Mühe gekostet hatten; sogar die Treppe mit dem rieselnden Blut war verschwunden. So kam Avggo glücklich nach Hause zurück und erzählte den Menschen von dem Lande der Toten auf der grünen Himmelsebene.

Das Land der Toten in der Unterwelt

Einst wollte Avggo das Land der Toten in der Unterwelt besuchen und ließ sich neue Fellstrümpfe und einen Regenpelz aus Darmfell nähen. Der Tag kam, und die Hilfsgeister wurden durch Beschwörung in der Dunkelheit herbeigerufen. Nur einer, der alte Ajarqissaq, wollte nicht kommen. Als der Geister­beschwörer aber nicht aufhörte, ihn zu rufen, kam er schließlich doch.

»Warum wolltest du nicht kommen?«

»Weil es töricht von dir ist, ins Land der Toten hinunterzufahren, bevor du bei der Mutter des Meeres gewesen bist. Ein Geisterbeschwörer, der zuerst zum Lande der Toten reist, wird nie zur Beherrscherin der Meertiere gelangen.«

Avggo aber wollte seinen Willen durchsetzen. So erhob sich denn sein Geist zusammen mit allen Hilfsgeistern und fuhr zum Meere hinab, das sich bereitwillig vor ihnen öffnete.

Der Weg führte zur Tiefe, doch keiner spürte, dass man unter Wasser ging. Nur die Luft war feucht, als ob ein feiner Sprüh­regen fiel und durchnässte den Pelz des Geisterbeschwörers, lange bevor er am Ziel war. Schließlich sahen sie in der Ferne eine Lichtung und es klärte sich auf. Die Sonne aber war unter dem Meer ganz klein, viel kleiner als die Sonne des Himmels, und man konnte hineinsehen, ohne geblendet zu werden.

Endlich erreichten sie die Grenze zwischen dem Meer und dem Land unter dem Meere, die von einem schäumenden Bach gebildet wurde; um hinüberzugelangen, mussten sie über große, spitze Steine springen, die ganz von nassen Tanggewächsen ­bedeckt waren und so glatt schimmerten, dass niemand sich ­hinüberwagte. Ajarqissaq aber, der sich nie fürchtete, sprang ­zuerst, kam glücklich hinüber und rief die anderen. Alle Hilfsgeister folgten ihm, schließlich blieb nur Avggo zurück, der den Sprung nicht wagte, weil er fürchtete, auszugleiten und von dem schäumenden Bach davongewirbelt zu werden. Als Ajarqissaq sah, wie er zögerte, rief er zu ihm hinüber:

»Wenn du den Sprung nicht wagst und umkehrst, wirst du nie das Land der Toten erreichen; an diesen Steinen wird deine Reise immer enden.«

Da wagte auch Avggo den Sprung, und zu seinem Staunen zeigte es sich, dass der Tang gar nicht glatt war. So gelangten alle glücklich hinüber.

Jetzt kamen sie zu einer sanft ansteigenden Ebene, über die die Toten gehen, um von der Erde in das Land der Unterwelt zu gelangen. Sie war sehr glatt, und darum schwer zu besteigen; besonders die Alten kamen nur langsam vorwärts, viele erklommen sie nur halbwegs und glitten wieder herab; alle mühten sich, ihre Säfte loszuwerden – ebenso wie die Himmelsbewohner unter dem großen Fell. Auch hier gebrauchte man ein Jahr, um von dem Dasein auf Erden in das neue Leben nach dem Tode einzugehen.

Auf der anderen Seite der schrägen Ebene erblickten sie Holzpfähle, zwischen denen Seehundsriemen gespannt waren. Da­rauf saß ein Weib, das hin und her schaukelte; es war Quatsovauvak, der nichts verborgen blieb. Kaum hatte sie die Fremden erblickt, als sie rief, dass Besuch käme, und gleich stürmten von allen Seiten Menschen herbei. Darunter war auch ein sehr alter Mann, der, wie es sich zeigte, der Großvater des Geister­beschwörers war, und in seiner Gesellschaft war ein noch älterer Mann. Das war ein Geisterbeschwörer aus uralten Zeiten, der einst bei einem Geisterflug so schnell geflogen war, dass er ein Auge verloren hatte. Kaum war er herangekommen und hatte Avggo gesehen, als er auch schon rief:

»Du hast einen Fehler begangen, du hättest erst die Mutter des Meeres besuchen müssen, nun bekommst du sie nie zu sehen. Hörst du das Rauschen?«

Und sie hörten deutlich einen Elv brausen; das war der große Elv, der bei dem Hause der Herrscherin der Seetiere vorbeifließt.

Der Geisterbeschwörer ließ sich nun all das Seltsame zeigen, das es zu sehen gab. An einer Stelle sah er einen Seehund, über den ein Kajak gestülpt war. Als er hierüber erstaunte, erzählte man ihm, dass ein Mann dieses Seehundes wegen gekentert und ertrunken wäre; darum müsse es so sein.

Das Land der Toten in der Unterwelt war weites Küstenland; überall konnte man das Meer sehen und an seinem Strand wandeln.

Da fiel sein Blick auf einen kleinen Seehund, der dicht unter Land angeschwommen kam. Man erzählte ihm, dass es der Seehund sei, an dem die Toten ihre Kräfte erprobten. Wenn er auftauchte, wurde er von einem Neuangekommenen harpuniert, und wenn dieser seine Geschicklichkeit an ihm gemessen hatte, war der Seehund unverletzt wie vorher und tauchte zum Nutzen und Frommen für andere wieder auf.

An einer Stelle lagen viele Menschen, einige lebend, andere halb verwest.

»Was bedeutet das?«

»Ja, seht ihr, wenn jemand stirbt, und von den Hinterbliebenen gar zu sehr beweint wird, dann kann er nicht wieder zu Kräften kommen, sondern muss so liegen, bis man ihn nicht mehr beweint. Sage darum den Menschen, dass man die Gestorbenen wohl betrauern, aber nicht zu fassungslos beweinen darf.«

Draußen auf dem Meere hörte man unaufhörlich den Laut prustender Meerestiere. Seehunde, Narwale, Weißwale und andere große Tiere tauchten beständig auf, die die Luft mit ihrem schnaufenden Atem füllten. Jedes Mal aber, wenn der Geister­beschwörer die Tiere näher betrachten wollte, entschwanden sie seinem Blick, denn er war ja ein Lebender und gehörte noch der Erde an.

Als der Geisterbeschwörer aufbrechen wollte, weil es kurz vor Tagesanbruch war, fragte man ihn, wo er lieber nach seinem Tod sein wolle, im Himmel oder unter dem Wasser?

Da antwortete er: »Das kommt auf das Trinkwasser an.«

Da beeilte man sich, ihn zu dem Orte zu führen, wo die Toten unter dem Meer ihr Trinkwasser holen. Das Wasser sah frisch und klar aus, als er es aber schmeckte, war es weder warm noch kalt.

»Nein«, sagte der Geisterbeschwörer, »Menschen müssen kaltes und frisches Trinkwasser haben.«

Hier wollte er nicht sein; als er aber fragte, ob man nicht sowohl in den Himmel wie unter das Meer kommen könne, da antwortete man ihm: Wer nach seinem Tode auf den Flutgürtel gelegt und erst nach Verlauf dreier Tage ins Meer versenkt wird, der kann sich abwechselnd unter dem Meere oder auf der großen Himmelsebene aufhalten.

Als der Geisterbeschwörer so belehrt worden war, trat er die Rückreise mit seinen Hilfsgeistern an und kehrte glücklich und ohne die Beschwerlichkeiten, die er auf der Hinreise hatte überwinden müssen, nach Hause zurück, wo er seinen Mitmenschen von seinen Erlebnissen ausführlich berichtete.

Besuch auf dem Monde

Als einst der Mond aufs Land herabschien, teilte der Geisterbeschwörer Migssuarnianga seinen Wohnplatzgenossen mit, dass er Beschwörungen vornehmen und einen Geisterflug zum Mond machen wolle. Viele Menschen strömten herbei, um zugegen zu sein, und die Lampen wurden gelöscht. Als es dunkel geworden war, kamen alle Hilfsgeister und fuhren mit dem Geisterbeschwörer von dannen, während ein alter Hilfsgeist statt seiner zurückblieb. Der alte Hilfsgeist blieb ganz still auf derStelle liegen, wo man dem Geisterbeschwörer die Hände auf den Rücken gebunden hatte, und während die Zuschauer voller Spannung lauschten, teilte er ihnen hin und wieder mit, wie weit der Geisterbeschwörer auf seiner Mondreise gelangt sei.

Anfangs flog der Geisterbeschwörer ganz niedrig übers Meer, dicht über dem Wasserspiegel, bis er zum äußersten Rand des Horizontes kam, wo Meer und Himmel sich begegnen. Dort gelangten sie in den Himmel hinein und flogen über die große Ebene, die zum Hause des Mondmannes führt.

Tunuviat hieß einer von Migssuarniangas Hilfsgeistern, ein alter und erfahrener Geist, der schon häufig auf dem Mond gewesen war. Er sagte:

»Ich glaube, es ist uns geglückt, den Mond zu überlisten.«

Denn die Hunde des Mondmannes, die sonst anzuschlagen pflegten, lagen auf dem Hause und schliefen. Es sollte ihnen aber doch nicht glücken, unbemerkt ins Haus zu gelangen. Als sie ganz nah herangekommen waren, erhoben die Hunde sich plötzlich und bellten. So erfuhr der Mondmann, dass Besuch gekommen sei.

Auch im Hausgang lag ein großer gefährlicher Hund und hielt Wache.

Als sie zum Mondmann hineinkamen, war er sehr ärgerlich über ihren Besuch.

»Was wollt ihr?«, schrie er.

»Wir wollen dein Haus reinigen, denn es ist schmutzig!«

»Das ist mir recht«, sagte der Mondmann plötzlich besänftigt und freute sich. Der Geisterbeschwörer und seine Hilfsgeister gingen gleich an die Arbeit. In Haufen lag überall der Schmutz; als sie ihn aber zusammenfegten und hinauswarfen, verwandelte er sich in Fangtiere: Seehunde, Narwale, Bären, Füchse und Vögel. Auf diese Weise sandte der Geisterbeschwörer eine Menge Fangtiere zu seinem Wohnplatz hinab.

Das Haus des Mondmannes war seltsam eingerichtet. Im Innern sah man einen großen See, tief, ausgedehnt und schwarz. Seine Ufer verloren sich in der Dunkelheit. Von diesem See fällt der Regen auf die Erde hinab.

Doch gab es noch viel seltsamere Dinge im Hause des Mondmannes. Gleich hinter dem Eingangsloch lagen zwei große Steine, die sich ganz langsam im Kreise drehten. Von dem einen Stein gingen merkwürdige Laute aus, die hin und wieder zu lautem Getöse anschwollen. Das bedeutete, dass sich irgendwo auf Erden unreine Frauen gegen die alten Sitten versündigten. Während der Mondmann sein Haus zeigte, sagte er darum zum Geisterbeschwörer:

»Könnt ihr nun begreifen, warum ich böse werde, wenn Menschen die vorgeschriebenen Sitten, über die ich wachen soll, nicht befolgen?«

Darauf ging er hin, hob den Stein hoch und forderte sie auf, hinunterzuschauen. Eine weite Aussicht öffnete sich vor ihnen. Wunderlich dicht lagen alle Wohnplätze der Menschen beieinander, wie Hunde um einen Esstrog. So konnte der Mondmann mit Leichtigkeit über die Wohnplätze der Menschen Aufsicht führen.

Dann hob er den anderen Stein, und es öffnete sich ein Ausblick über alle Fangtiere, von denen die Menschen leben. Besonders deutlich waren Bären und Seehunde zu erkennen, weil sie am zahlreichsten sind. Walrosse und Narwale dagegen sah man wie in nebliger Ferne, weil sie viel seltener sind.

Auf diese Weise verschaffte der Geisterbeschwörer Migssuarnianga seinen Wohnplatzgenossen neue Fangtiere, und als er zurückkehrte, erzählte er von seinen Erlebnissen beim Mondmann.

Inneres eines Hauses während einer Geisterbeschwörung. Der Geisterbeschwörer ist gefesselt. An seinem Rücken sind die Flügel einer Lumme befestigt. Der Handgriff der Zaubertrommel ruht auf seinem großen Zeh, während der Trommelschläger sich von selbst bewegt. Das bedeutet, dass der Geisterbeschwörer im Begriff ist, sich von der Erde zu erheben, um seinen Geisterflug zu unternehmen.

Der Mond und die Sonne

Einst soll der Mond mit seiner jüngeren Schwester, der Sonne, zusammen in einem Hause gewohnt haben. Sie liebten einander sehr, und der Mond, der schließlich von Leidenschaft zu seiner Schwester ergriffen wurde, begann sie nachts zu besuchen. Die Sonne aber wusste nicht, wer zu ihr kam, weil es immer im Dunkel der Nacht geschah. Eines Nachts aber, als er neben ihr lag, bestrich sie seinen Arm mit Ruß, um ihn zu zeichnen, und auf diese Weise erkannte sie ihren Liebhaber.

Die Sonne schämte sich und machte sich gleich zur Flucht bereit; sie steckte ein Stück Torf, das in Tran getaucht war, in Brand und lief damit aus dem Hause. Leute aber, die es sahen, riefen:

»Da fliegt die Schwester des Mondes!«

Als der Mond das hörte, steckte auch er ein Stück Torf in Brand, lief aus dem Hause, schwang sich aufwärts und verfolgte die Schwester.

Die Schwester aber flog schneller, und das Torfstück des Mondes verlöschte bald. Die Sonne gelangte ganz bis zum Himmel hinauf, der Mond aber blieb mitten im Raum stehen.

So entstanden Sonne und Mond. Die Sonne wärmt, weil ihre Fackel noch brennt, der Mond aber ist kalt, weil die seine verlöscht ist.

Doch noch heutigentags verfolgt der Mond die Sonne am Himmel.

Nalikátêq

Das alte Weib, das auf dem Wege zum Mond wohnt und seinen Gästen etwas vortanzt, um ihre Lungen zu verzehren, wenn sie lächeln.

Es war einmal ein Fänger, der wohnte ganz allein mit seiner Frau. Sie mussten immer Buße tun, denn jedes Mal, wenn die Frau ein Kind gebar, starb es. Schließlich wurde es dem Mann leid, und als sie wieder ein Kind bekamen, das starb, sagte er:

»Diesmal will ich nicht Buße tun, denn es nützt doch nichts.«

Darum ruderte er wie immer in seinem Kajak hinaus und ging auf den Fang, und es stieß ihm auch nichts Ungewöhnliches zu. Als er eines Tages nach Hause kam, entdeckte er ein kleines Loch in seinem Kajak, und bat seine Frau, an den Strand hi­nunter zu gehen und es zu nähen.

»Das geht nicht an«, sagte sie, »ich tue ja Buße für das Kind, das gestorben ist, und darf nicht nähen.«

»Was nützt es, Buße zu tun? Geh an den Strand und näh für mich.«

»Du könntest wenigstens das Boot zum Hause tragen, damit ich nicht an den Strand hinunter zu gehen brauche.«

Der Mann aber erwiderte: »Geh nur hinunter an den Strand und fürchte dich nicht!«

Da wagte die Frau ihrem Mann nicht länger zu widersprechen, ging hin und begann zu nähen. Als sie aber eine Weile genäht hatte, war es, als ob der Faden eine Stimme bekäme, eine seltsam knurrende Stimme, die lauter und lauter wurde, und als sie fast fertig war, schien sie aus einer anderen Richtung zu kommen. Sie blickte übers Meer und sah, wie ein großer Hund heran­geschwommen kam. Es war der Hund des Mondmannes. Die Frau stieß einen Schrei aus und gleich kam der Mann mit seiner großen Lanze angelaufen; als der Hund ein Vorderbein aufs Land setzte, harpunierte er ihn von der einen Seite, und als er das andere Bein hob, sprang er auf die andere Seite und harpunierte ihn von dort.

Mühsam schleppte sich der Hund an Land, dort fiel er um und verendete.

»Jetzt haben wir nichts mehr zu befürchten, mach deine Arbeit fertig«, sagte der Mann, und die Frau nähte weiter.

Es wurde Abend, bevor sie fertig war. Dann gingen sie ins Haus, und als sie im Bett lagen, sagte der Mann:

»Laus mich!«

»Du weißt doch, dass ich es nicht darf, wenn ich Buße tue.«

»Der Hund des Mondmannes ist tot, wir brauchen nicht mehr Buße zu tun.«

Die Frau wagte ihrem Manne nicht zu widersprechen und fing an, ihn zu lausen. Da ertönte von draußen eine furchtbare Stimme:

»Wer hat meinen Hund getötet?« Keiner antwortete. Da hörten sie die Stimme noch ein zweites und drittes Mal:

»Wer hat meinen Hund getötet?«

Schließlich antwortete der Mann: »Ich habe es getan.«

Da geriet der Mondmann außer sich vor Wut und schrie und drohte so furchtbar, dass der Mann sich von seinem Lager erhob und hinausging, um mit ihm zu ringen. Sie rangen lange und schienen einander gewachsen zu sein, plötzlich aber hob der Fänger den Mondmann hoch und schleuderte ihn so heftig zur Erde, dass er auf dem Rücken liegen blieb.