Nach dem Feuer - Petra Hammesfahr - E-Book
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Nach dem Feuer E-Book

Petra Hammesfahr

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Beschreibung

Wer ist der Junge, der sich schwer verletzt aus einem brennenden Wohnmobil retten konnte? Warum verschweigt er seinen Namen? Welches schreckliche Geheimnis versucht er zu verbergen? Hauptkommissarin Rita Voss weiß bei den Befragungen bald nicht mehr, ob sie mit einem geistig zurückgebliebenen Jugendlichen oder mit einem hochintelligenten Schauspieler spricht. Sie sucht Rat bei ihrem früheren Vorgesetzten Arno Klinkhammer, der kurz darauf begreifen muss, wer der Junge ist: Der Sohn einer Frau, die ihren Mann vor acht Jahren beschuldigte, sich an der eigenen Tochter vergangen zu haben. Der Mann verschwand daraufhin. Nun wurde die Frau auf bestialische Weise umgebracht. Wer ist ihr Mörder? Der Mann oder der Sohn?

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Wer ist der Junge, der sich schwer verletzt aus einem brennenden Wohnmobil retten konnte? Warum verschweigt er seinen Namen? Welches schreckliche Geheimnis versucht er zu verbergen? Hauptkommissarin Rita Voss weiß bei den Befragungen bald nicht mehr, ob sie mit einem geistig zurückgebliebenen Jugendlichen oder mit einem hochintelligenten Schauspieler spricht. Sie sucht Rat bei ihrem früheren Vorgesetzten Arno Klinkhammer, der kurz darauf begreifen muss, wer der Junge ist: Der Sohn einer Frau, die ihren Mann vor acht Jahren beschuldigte, sich an der eigenen Tochter vergangen zu haben. Der Mann verschwand daraufhin. Nun wurde die Frau auf bestialische Weise umgebracht. Wer ist ihr Mörder? Der Mann oder der Sohn?

PETRA

HAMMESFAHR

Nach dem Feuer

ROMAN

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Copyright © 2020 by Diana Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Cathérine Fischer

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Shutterstock.com (Aleksandra H. Kossowska; givaga)

und © Dave Curtis / Trevillion Images

Autorenfoto: © Wilfried Hammesfahr

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-26617-2V002

www.diana-verlag.de

Dank

Ich bedanke mich herzlich bei Firma Maaßen, die mir erlaubte, ihre Deponie für unbelasteten Erdaushub als Tatort zu nutzen; bei der Polizei Neuss für die Beratung in den verschiedenen Ermittlungsbereichen und bei meinen Beratern von der Feuerwehr, Ralf Arenz und Alexander Flügel: Ohne sie wäre die Leiche vielleicht nie gefunden worden.

TEIL 1

Verlorene Zeit

Sonntag, 28. Juli

Gerochen hatte Sascha Krieger es schon am Donnerstag, als er von der Arbeit gekommen war. Ein Knochenjob im Straßenbau. Da war man froh, wenn man beim Heimkommen etwas anderes in die Nase bekam als Abgase und frisch gekochten Teer. Aber viel angenehmer war das nicht, was ihm im Hausflur entgegenschlug.

Unten stank es wieder mal nach Substanzen, die nicht gesund sein konnten. Links vom Eingang lebte seit zwei Jahren eine Familie, von der niemand wusste, woher sie kam. Die Frau sprach kaum ein Wort Deutsch, den Mann bekam man nur selten zu Gesicht. Es hieß, er sei krank. Die Söhne dealten mit bunten Pillen, die sie offenbar in Mutters Küche herstellten. Wiederholt hatten sie schulpflichtigen Kindern im Haus etwas angeboten. Zweimal war die Polizei informiert worden, nachgekommen war nichts. Angeblich waren die Burschen noch minderjährig. So sahen sie nicht aus, aber wer wollte etwas anderes beweisen?

Im ersten Stock roch es immer noch schwach wie in einer Giftküche und oben so wie draußen in dem abgeteilten Geviert neben dem Parkplatz, wo die Mülltonnen standen. Wenn im Sommer viel gegrillt wurde und die gelben Tonnen überquollen von Verpackungen mit Anhaftungen von Fleisch und Blut, schlossen die Deckel nicht mehr richtig. Dann streifte einen dieser süßliche Verwesungsgeruch sogar noch wie ein Windhauch, wenn man vorbeiging.

Am Donnerstag konnte man es noch nicht als Gestank bezeichnen. Sascha verhielt sich nicht anders als draußen, er beeilte sich, in seine Wohnung zu kommen, schloss die Tür hinter sich und riss sämtliche Fenster auf. Dann nahm er eine kühle Dusche, zog Shorts und ein frisches Shirt an, schob eine Tiefkühlpizza in den Ofen und machte es sich mit einem Bier auf dem Balkon gemütlich.

Er war achtundfünfzig, ausgelaugt von der Arbeit in glühender Sonne. In dem Zustand echauffierte sich niemand mehr freiwillig, und das hätte er tun müssen, wenn er bei seiner unmittelbaren Nachbarin an die Tür geklopft und sie aufgefordert hätte, dafür zu sorgen, dass der Müll runtergebracht wurde.

Freitags registrierte er im oberen Treppenhaus schon mehr als ein lindes Lüftchen. Was ihm auf den letzten Treppenstufen in die Nase stieg, erinnerte ihn unangenehm an den Gestank, den er früher oft im Erdgeschoss gerochen hatte, wenn er an der Wohnung der verstorbenen Gerda Küpper vorbeigegangen war, in der jetzt bunte Pillen hergestellt wurden.

Gerda Küpper hatte zu ihren Lebzeiten alles gesammelt, was ihr nützlich oder noch brauchbar erschien. Den Dreck hatte sie erst nach wiederholter Ermahnung rausgebracht. Ihr Tod hatte für mächtigen Ärger mit der Hausverwaltung gesorgt und vorwurfsvolle Fragen aufgeworfen. In einem Rundschreiben an alle Mieter hatte es geheißen, man sei von einer guten Hausgemeinschaft ausgegangen und sehr enttäuscht. Wenn man rechtzeitig Bescheid bekommen hätte, dass Frau Küpper länger nicht gesehen worden war, wären nicht so hohe Kosten für die Räumung, Säuberung und Desinfektion der Wohnung angefallen.

Aber am Freitagnachmittag hatte Sascha erst recht weder Zeit noch Lust, sich mit seiner Nachbarin anzulegen. Er wollte nur schnell duschen und packen. Nach seiner Scheidung und einigen flüchtigen Bekanntschaften hatte er seine Leidenschaft fürs Fotografieren entdeckt. Ausschließlich Natur. Diesmal wollte er durchs Hohe Venn wandern, zwei Übernachtungen mit Frühstück in preisgünstigen Pensionen waren gebucht.

Als er am Sonntagabend von seiner Wandertour zurückkam, stank es auf dem letzten Treppenabsatz, als wäre nebenan eine Deponie für Fleischabfälle aufgemacht worden. Sascha kam nicht mehr umhin, er musste handeln, klopfte, klingelte und verkündete lautstark: »Wenn der Müll in fünf Minuten nicht unten ist, melde ich es morgen der Hausverwaltung.«

Nichts rührte sich. Minutenlang hämmerte er mit einer Faust gegen das Türblatt, legte mal ein Ohr ans Holz und horchte. In der Wohnung blieb es still. Dann eben mit Musik, das hatte sich schon mehrfach als probates Mittel erwiesen.

Seine Wohnungstür ließ Sascha offen. Minuten später dröhnte ein Karnevalsschlager der Höhner in voller Lautstärke ins Treppenhaus. »Dicke Mädchen haben schöne Namen, heißen Tosca, Rosa oder Carmen.« Dreimal insgesamt lief es durch, ohne den gewünschten Effekt zu erzielen.

Dann rief Ilona Kersgen aus dem ersten Stock nach oben: »Hast du ’nen Knall, Sascha? Was soll der Krach? Mach die Musik aus. Meine Melanie muss was für die Schule tun und kann sich bei dem Lärm nicht konzentrieren.«

»Es sind Ferien, du Sklaventreiberin«, hielt Sascha dagegen.

»Aber nicht für Leute, die es im Leben zu was bringen wollen«, brüllte Ilona gegen den Lärm an und kam nach oben, um dafür zu sorgen, dass er die Musik abstellte und man die Unterhaltung in erträglicher Lautstärke fortsetzen konnte.

»Du bemühst dich vergebens!«, rief sie auf dem letzten Treppenabsatz. »Die sind nicht da.« Dann war sie oben, zog angewidert schnuppernd die Nase kraus und warf einen vorwurfsvollen Blick in Saschas Diele: »Was stinkt hier so?«

»Wo sind die denn?«, fragte Sascha seinerseits und ging rein, um für Ruhe zu sorgen.

»Die Königin von Saba gönnt sich ein verlängertes Wochenende mit einem Typ, den sie bei Tinder kennengelernt hat«, erklärte Ilona hinter ihm. »Sie wären sofort auf einer Wellenlänge gewesen, und etwas Erholung hätte sie bitter nötig, sagte sie. Seit Lea weg ist, muss es wohl ziemlich stressig sein mit dem Jungen. Er soll sie schon ein paarmal vermöbelt haben, hat die Adoleit erzählt.«

»Und das glaubst du?« Sascha kam wieder zurück ins Treppenhaus. Was den Jungen von gegenüber anging, waren sie normalerweise einer Meinung. Der machte seit Monaten den Haushalt, aber keinen Stress. Frau Adoleit, die wie Bärbel im ersten Stock wohnte, konnte ihn nicht ausstehen, weil er um ihre Fußmatte herumwischte, statt sie beiseitezulegen, wenn er die Treppe putzte.

Für die Abfallbeseitigung war auch der Junge zuständig. Wenn er aus der Schule kam, lief er für jeden Joghurtbecher, jede Wurstpelle und jeden Papierschnipsel einzeln runter zur Müllecke. Viel mehr Freiheit war ihm auch nicht vergönnt. Abends kippte er dann, sozusagen als krönenden Abschluss seines Tages, die Schüssel aus, in der sich tagsüber Bananenschalen, Apfelkitsche, Pfirsichkerne und dergleichen angesammelt hatten. Dann stand er meist noch eine Weile bei den Tonnen und schaute zur Straße, als wartete er darauf, dass ihn jemand abholte und in die Freiheit geleitete. Sascha hatte es oft genug gesehen. Und so wie es stank, konnte der Junge seit Tagen nicht mehr unten gewesen sein.

Ilona bezog seine Frage nicht auf den Sohn, sondern auf die neue Liebe der Mutter, und zuckte mit den Achseln. »Warum sollte ich ihr nicht glauben? Weil sie nicht dein Typ ist? Schau dir mal die Fotos an, die sie von sich ins Netz gestellt hat. Bei Facebook sieht sie fünfzehn Jahre jünger aus und zwanzig Kilo leichter.«

»Ich bin nicht bei Facebook«, erklärte Sascha. »Und die Typen bei Tinder kommen nur einmal, um zu vögeln.«

Ilona grinste. »Da spricht der Fachmann, und der Laie wundert sich. Sie machte sich jedenfalls große Hoffnungen, dass aus dem Wochenende mehr werden könnte. Hatte sich extra ein schickes Kleidchen gekauft und eine Korsage für drunter.«

»Und wo ist der Junge?« Sascha betrachtete nachdenklich die Tür gegenüber. »Hat sie ihn eingeschlossen?« Aber dann hätte er sich doch eben gerührt, wenigstens Antwort gegeben.

»Natürlich nicht.« Ilona klang so entrüstet, als wollte sie hinzufügen, so könne nur ein Mann denken, der keine Kinder habe. Ihr Blick ging immer noch an Sascha vorbei in seine Wohnung. Sie schien anzunehmen, der Gestank käme aus seiner Küche. »Sie hat ihren Vater bequatscht, dass die ihn mit in Urlaub nehmen. Haben sie früher ja auch getan. Mit dem Wohnmobil kostet es doch nicht extra, nur das bisschen, was der Junge isst.«

»Und das hast du geglaubt?«, fragte Sascha wieder. »Ihren Vater habe ich hier seit Jahren nicht mehr gesehen.«

»Wann denn auch?«, konterte Ilona. »Du bist den ganzen Tag auf der Arbeit und siehst nicht, wer hier wen besucht.«

»Aber du, was?«

Sie war im Netto-Markt beschäftigt und tagsüber auch nur selten da. Die Antwort blieb sie schuldig, erklärte stattdessen: »Ihr Vater ist Rentner, der kann jederzeit kommen. Er hat den Jungen letzte Woche Freitag abgeholt.«

Letzte Woche Freitag! Also vor mittlerweile zehn Tagen! Wenn sie den Freitag gemeint hätte, an dem er ins Hohe Venn aufgebrochen war, hätte Ilona letzten Freitag gesagt.

Wenn seit über einer Woche kein Müll mehr runtergebracht worden war … »Hast du gesehen, dass der Junge abgeholt wurde?«

»Nein, ihr Vater war vormittags da, damit sie in Ruhe packen konnte und der Junge keine Angst bekam, sie würde ihn auch noch im Stich lassen. Ich hatte Frühschicht. Sie hat’s mir erzählt, als ich ihr nachmittags zwei Päckchen Kakao und eine Dose Fisch aus dem Angebot raufgebracht hab. Als ich kam, war der Junge schon weg.«

Ilona war stets bereit, für die Nachbarschaft etwas mitzubringen, Sonderangebote, Tiefkühlpizza, Dosenbier. Sascha nahm ihre Hilfsbereitschaft auch gerne in Anspruch, ihm sparte es Zeit.

»Jetzt frag nicht wieder, ob ich das geglaubt habe«, sagte sie.

Sascha fragte nicht. Ihm wurde bewusst, dass er schon vor seinem Wochenendtrip abends nichts mehr aus der Nachbarwohnung gehört hatte. Keinen Fernsehton, keine Stimmen, kein Wasserrauschen. Die Bäder im Haus waren winzig, fensterlos und grenzten aneinander. Bei ihm stand immer die Tür auf, um Schimmelbildung vorzubeugen. Er hörte eigentlich jedes Mal, wenn nebenan die Wasserspülung rauschte. Gegenüber konnte schon letzte Woche keiner mehr aufs Klo oder unter die Dusche gegangen sein. Wenn vor zehn Tagen von einem verlängerten Wochenende mit einem neuen Typ die Rede gewesen war, stimmte da was nicht. Hätte zwar sein können, dass aus dem Wochenende mehr geworden und der Junge mit den Großeltern auf einem Campingplatz war, aber …

Sascha konnte den Blick nicht von der Tür gegenüber lassen. Dieser Geruch! Und Kakao! Wer sollte Kakao trinken, wenn die Königin von Saba mit einem Typ verreisen wollte und der Junge schon vormittags vom Opa abgeholt worden war? Der Junge liebte Kakao. Anfang März hatte er Sascha erzählt, bei Papa habe er früher immer welchen bekommen, Mama würde ihm nur zum Geburtstag ein Päckchen schenken.

Papa hatte sich vor acht Jahren abgesetzt, die Schwester des Jungen kurz vor Ostern. Und vor Gerda Küppers Tür hatte es genauso gestunken. Da hatten auch tagelang alle gedacht, das wäre der Müll. Mit einem mehr als nur mulmigen Gefühl in der Magengrube zog Sascha sein Handy aus der Hosentasche und wählte unter Ilonas verständnislos pikiertem Blick den Notruf. »Bei mir stinkt es nicht«, sagte er, während sich die Verbindung aufbaute.

Sascha schilderte die Situation, verschwieg auch nicht, dass im Haus schon mal geraume Zeit eine Leiche in einer Wohnung gelegen hatte. Kurz darauf kamen zwei uniformierte Polizisten. Ein Pärchen, das sich anhörte, was Sascha und Ilona zu sagen hatten. Geöffnet wurde auch ihnen nicht.

Nach Rücksprache mit einem Vorgesetzten wurde die Feuerwehr angefordert und die Wohnungstür aufgebrochen, was einen Schwall Gestank ins Treppenhaus beförderte, dem ein Schwarm Fliegen folgte. Der Polizist betrat die Wohnung, seine Kollegin blieb in der offenen Tür stehen, um zu verhindern, dass neugierige Hausbewohner nachdrängten. Inzwischen standen Bärbel Scherer und Frau Adoleit auf der Treppe und Sascha mit Ilona vor seiner nun geschlossenen Wohnungstür.

Der Polizist kam Sekunden später wieder raus, eine Hand vor dem Mund, leicht grün im Gesicht. Er tuschelte mit seiner Kollegin, dann stieg er an den Neugierigen vorbei die Treppen hinunter, wurde mit Fragen bedrängt, gab jedoch keine Auskunft.

Sascha kämpfte mit sich, ob er aussprechen sollte, was er befürchtete. Mutter hatte einen neuen Lover aufgegabelt, Sohnemann musste aus dem Weg, nicht bloß zu Opa und Oma, die würden ihn ja wieder zurückbringen. Und vielleicht würde der Lover dann kneifen wie andere vor ihm. »Eine Frage«, sprach er die Polizistin nach langem Ringen mit sich selbst an, eigentlich wollte er es gar nicht wissen. »Ist der Junge tot?«

Flammendes Inferno

Vier Tage zuvor

Die Meldung ging wenige Minuten nach dreiundzwanzig Uhr in der Nacht zum Donnerstag bei der Rettungsleitstelle Kerpen ein und wurde umgehend an die Polizei weitergeleitet. Ein Lkw-Fahrer hatte auf der A4 Richtung Aachen im Vorbeifahren Feuerschein in einem Waldstück zu seiner Linken bemerkt, etwa auf Höhe des Europa-Parks.

Beim Stichwort Waldbrand rückten nacheinander drei Löschzüge aus Kerpen aus, weitere aus den umliegenden Feuerwachen machten sich bereit. Bei den hochsommerlichen Temperaturen der letzten Wochen und der damit einhergehenden Dürre machten sich alle auf einen schwierigen Einsatz gefasst.

Ein Streifenwagen mit Jasmin Tirtey am Steuer und Kurt Schramm auf dem Beifahrersitz war schneller als die Feuerwehr und verhinderte, dass es zu einem Großeinsatz kam. Jasmin Tirtey war fünfundzwanzig, Kurt Schramm mehr als doppelt so alt und derart übergewichtig, dass man sich fragen musste, warum er überhaupt noch zum Streifendienst eingeteilt wurde.

Als der Funkspruch durchgegeben wurde, passierten sie gerade den Europakreisel bei Kerpen-Sindorf. Jasmin kannte das betroffene Waldgebiet Lörsfelder Busch und Dickbusch wie ihre Westentasche. So oft wie möglich absolvierte sie dort ihr Lauftraining. Wenn ein Lkw-Fahrer auf der Autobahn Feuerschein sah, konnte es nicht irgendwo im Wald brennen. Man musste die Augenhöhe bedenken, in der sich der Fahrer befunden hatte.

»Das muss in der Nähe der Aushubdeponie sein«, sagte sie. »Sonst wäre von der Autobahn aus nichts zu sehen. Fahren wir mal hin, vielleicht …« Weiter kam sie nicht.

»Wir sitzen nicht in einem Hubschrauber«, protestierte ihr Beifahrer. »Wenn uns der Rückweg abgeschnitten wird …«

Es fehlte nicht viel, dann hätte Jasmin sich bezeichnend an die Stirn getippt. Offenbar war Schramm noch nie in die Nähe der Deponie gekommen, sonst hätte er gewusst, dass die Zufahrt breit genug für Wendemanöver war. Bei Gefahr wären sie schnell weg.

Sie verringerte die Geschwindigkeit und bog von der Erfttalstraße in den Weg zur Deponie ein mit dem Hinweis: »In hundertfünfzig Metern kommt eine Schranke. Dort wende ich. Dann können Sie gerne das Steuer übernehmen. Ich laufe runter zur Grube.« Dass Schramm sich in Startposition hinters Lenkrad klemmen würde, war unwahrscheinlich.

Jasmin war schon vorbeigefahren, als ihr auffiel, dass die Schranke durchbrochen worden war. Vom Feuer war nichts zu sehen. Zur Autobahn hin wuchs nur etwas Gestrüpp, hin und wieder ein Bäumchen dazwischen. Linker Hand gab es lichten Baumbestand, aber keine Flammen. Trotzdem regte Schramm sich weiter auf, schimpfte auf der gesamten etwa neunhundert Meter langen Strecke bis zur Grube halblaut über den Leichtsinn der heutigen Jugend, für die Eigensicherung offenbar ein Fremdwort war. Wahrscheinlich ärgerte er sich, dass Jasmin sich nicht um seinen Protest gekümmert hatte und richtiglag.

Als sie den Zufahrtsweg hinter sich ließen, erkannte Jasmin erleichtert, dass etwa hundert Meter entfernt links von ihnen nur ein Fahrzeug in Flammen stand. Sie hielt es für einen Sprinter. Davon waren in den letzten Monaten drei gestohlen und anschließend abgefackelt worden. Eine Bande nutzte die Fahrzeuge für Einbrüche in die Lager von Elektromärkten und Objekten mit ähnlich lohnender Beute und entsorgte die Kleintransporter nach Gebrauch auf diese Weise, wobei sämtliche Spuren vernichtet wurden. Die Kriminaltechniker in Köln hatten sich bisher jedes Mal vergebens darum bemüht, Beweismittel zu sichern.

Die Brandstelle war verdammt nah an der Böschung, hinter der vertrocknetes Grünzeug aufragte, für das Funkenflug zur Gefahr werden konnte. Und auf den zwei, drei Metern zwischen der Böschung und dem Feuer sprang eine Gestalt herum wie ein Derwisch. Jasmin sah ihn nur kurz, weil sie noch einige Meter weiter geradeaus fuhr und neben einem Bürocontainer anhielt, wo der Streifenwagen den Rettungskräften nicht im Weg war.

»Gib durch, wo wir sind und was hier brennt«, wies sie den Dicken an. »Hier werden keine dreißig oder noch mehr Löschzüge gebraucht, nur zwei oder drei und der Rettungsdienst.« Schramm war nicht nur körperlich einer von den Schwerfälligen, er brauchte häufig auch Denkanstöße.

Jasmin sprang aus dem Wagen und rannte zurück. Im Näherkommen entpuppte sich der Brandherd als Wohnmobil. Es war etwas länger als die abgefackelten Kleintransporter. Und das bedeutete, dass die Gefahr womöglich größer war, als zuerst angenommen. Wenn sich eine Gasflasche im Innenraum befand … Über so etwas durfte man nicht nachdenken, wenn man vorwärtshetzte, um ein Leben zu retten. Ihr war auch bekannt, dass diese Gasflaschen ein Sicherheitsventil hatten, das bei steigender Temperatur barst und das Gas kontrolliert nach außen blies. Aber wenn die Flasche voll gewesen war, konnte es trotzdem jeden Augenblick zur Explosion kommen.

Ehe Kurt Schramm den Funkspruch abgesetzt und sich aus dem Wagen gestemmt hatte, hatte Jasmin den Derwisch erreicht, bekam ihn jedoch nicht zu packen. »Komm da weg!«, brüllte sie. Darauf reagierte er nicht. Im Feuerschein erkannte sie, dass es sich um einen Jungen von vierzehn oder fünfzehn Jahren handelte, der aussah wie ein angekokelter Waldschrat. Er schien mit knapper Not ins Freie gelangt zu sein und stand offenbar unter Schock, was wohl verhinderte, dass er die Schmerzen spürte.

Wieder schnappte er nach der Einfassung der Tür zum Wohnbereich, obwohl Flammen durch die Öffnung und ein zerborstenes Fenster daneben ins Freie schlugen und sein Gesicht streiften. Wäre er bei Verstand gewesen, hätte ihm klar sein müssen, dass er nicht mehr in diese Hölle einsteigen konnte.

Die Flammen trieben ihn erneut zurück. Er taumelte zur Seite, direkt zwischen Jasmins zum Zupacken ausgestreckte Hände. Viel näher heran konnte sie auch nicht, um sich nicht selbst zu gefährden. Sie rechnete nicht damit, dass der Junge ihr körperlich viel entgegensetzen könnte, war kampfsporterprobt und legte problemlos einen Zwei-Meter-Mann auf die Matte. Und der Junge schien fast nur aus Haut und Knochen zu bestehen. Doch er entwickelte eine erstaunliche Kraft, als sie seinen rechten Arm packte und versuchte, ihn außer Reichweite der Flammen zu ziehen.

Ungeachtet einer Brandverletzung entriss er ihr den Arm, wobei ein Fetzen Haut in ihrer Hand zurückblieb. Mit der Linken schlug er nach ihr, traf ihre Gürtelschnalle, was eine große Brandblase zum Aufplatzen brachte. Dabei schrie er etwas von Freunden, die noch drin seien. Im Prasseln und Knacken des Feuers verstand Jasmin nicht jedes Wort. Sie konzentrierte sich auch mehr darauf, ihn daran zu hindern, sich ins Feuer zu stürzen.

Als Schramm endlich keuchend und schnaufend herangelaufen kam und mit anpackte, gelang es ihnen nicht mal mit vereinten Kräften, den Jungen zu bändigen. Er wand sich wie ein Aal zwischen ihren Händen durch, kämpfte verbissen weiter, stieß Schramm mit der linken Hand vor die Brust, was auf dessen Hemd einen feuchten Fleck zurückließ. Jasmin hätte ihn bändigen können, wenn sie härter gegen ihn vorgegangen wäre. Aber einen verletzten Jungen, der nur für sich selbst eine Gefahr darstellte, wie einen Kriminellen zu Boden zu bringen widerstrebte ihr.

Seine Kopfhaare waren versengt, das Gesicht hochrot, Stirn und Wangen mit Brandblasen gesprenkelt. Die unbedeckten Hautpartien an den Armen wiesen Verbrennungen auf. Seine linke Hand mochte Jasmin gar nicht näher ansehen. Mit der rechten schlug und boxte er wild um sich. Schuhe trug er nicht, seine nackten Füße schienen relativ unversehrt. Seine Bekleidung dagegen, ein kurzärmeliges T-Shirt und eine Jeans, war vom Feuer ebenso in Mitleidenschaft gezogen wie er selbst.

Als der erste Löschzug mit Sonderzeichen aus der Zufahrt kam und auf sie zuhielt, war der Junge für einen Moment abgelenkt. Jasmin packte zu und hielt ihn fest. In ihrem Griff beruhigte er sich etwas, schaute mit weit aufgerissenen Augen zu, wie die Besatzung heraussprang. Der Fahrer ließ sofort per Fernbedienung den Lichtmast ausfahren, acht LED-Leuchten übergossen die Szenerie mit Helligkeit und nahmen ihr etwas von dem schaurigen Anblick. »Meine Freunde!«, schrie der Junge den Männern zu.

»Sind da etwa noch welche drin?«, brüllte einer zurück.

»Meine Freunde«, kreischte der Junge noch einmal und wollte sich losreißen, was Schramm verhinderte, als er mit anpackte. Der Feuerwehrmann rief seinen Kollegen etwas zu, was Jasmin im Lärm nicht verstand, und gab ihr mit heftigen Handzeichen zu verstehen, sie sollten den Jungen wegschaffen.

Rund um die Grube für unbelasteten Erdaushub verlief ein relativ breiter unbefestigter Weg für die Lastwagen. Platz für mehrere Großfahrzeuge nebeneinander war jedoch nicht. Und wenn zwischen denen auch noch ein Verrückter herumsprang …

Sechs Minuten nach dem ersten traf der zweite Löschzug in der Deponie ein. Der dritte war nach den Informationen der Polizei nicht mehr ausgerückt. Für das Wohnmobil wurde auch der zweite nicht gebraucht, blieb aber vor Ort und bewässerte das hinter der Böschung wachsende zundertrockene Grünzeug.

»Jetzt komm weg hier«, forderte Schramm in seiner betulichen Art. »Du kannst nichts mehr tun, stehst nur im Weg. Lass die Männer machen. Die können das am besten.«

Da ließ der Junge sich endlich ohne weitere Gegenwehr wegführen, schaute nur noch ein paarmal über die Schulter zurück und wimmerte leise. Beim Streifenwagen sackte er auf die Knie, schlug wiederholt seine Stirn auf den steinigen Boden und begann jämmerlich zu weinen.

»Sind da wirklich noch Freunde von dir drin?«, fragte Jasmin. Zweifel an seinen Worten hatte sie keine. Niemand versuchte wieder und wieder in die Hölle zu steigen, wenn er nicht etwas herausholen wollte, was ihm wichtiger war als die eigene Haut. Manche Mütter kämpften genauso irrational, wenn es um ihre Kinder ging. Das hatte Jasmin im vergangenen Jahr bei einem Verkehrsunfall erlebt, an den sie nicht gerne zurückdachte.

Aber wenn der Junge rausgekommen war, warum hatten seine Freunde es nicht geschafft? Hatten sie nicht mitbekommen, dass es zu brennen begann? Jasmin dachte unweigerlich an Alkohol. Komasaufen in der Deponie und drei Schnapsleichen – im wahrsten Sinne des Wortes. Der Junge hatte keine Fahne, zumindest hatte sie keine wahrgenommen, was aber nichts bedeuten musste bei dem Brandgeruch, den er verströmte.

Er hob den Kopf vom steinigen Boden und beantwortete ihre Frage mit einem Nicken. Jetzt blutete er auch noch, hatte sich die Stirn oder ein paar Brandblasen aufgeschlagen.

»Wie viele?«, fragte Jasmin und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Das Wohnmobil stand in Vollbrand, da würde keiner mehr hineingehen und niemand mehr lebend herauskommen, mochten die Wehrleute sich noch so bemühen. Zwei von ihnen waren dabei, mit Einreißhaken die zur Grube gelegenen Seitenwände zu entfernen, zwei andere entrollten den Schlauch.

Statt ihr zu antworten, hustete der Junge, richtete den Oberkörper auf, hob die linke Hand, spreizte zwei Finger und den Daumen ab und schluchzte: »Sie waren hinten. Ich bin nicht rangekommen. Ich habe es zweimal versucht. Aber da war überall Qualm und Feuer, das ganze Bett brannte. Ich konnte nichts sehen.«

»Ich glaube dir, dass du alles getan hast«, bemühte Jasmin sich um ein paar tröstende Worte. Angesichts seiner Verletzungen musste sie ihm glauben. Das aus dem offenen Streifenwagen fallende Licht der Innenraumbeleuchtung reichte aus, um zu erkennen, dass sein linker Handteller, abgesehen von ein paar Hautfetzen, aus rohem Fleisch bestand.

Schramm machte sich noch einmal auf den Weg zurück zur Brandstelle, um den Wehrleuten Bescheid zu sagen, dass sich noch drei Jugendliche im hinteren Teil befanden. Diesmal griff Jasmin zum Funkgerät und gab durch, dass der Rettungsdienst möglicherweise für vier Personen gebraucht wurde. Wahrscheinlicher jedoch ein Bestattungsunternehmer mit drei Särgen. Das sprach sie nicht aus, weil der Junge mithörte.

Leichen würden ohnehin nicht bei Nacht in der Deponie geborgen. Wenn das beauftragte Abschleppunternehmen keine Halle zur Verfügung stellen konnte, wo unabhängig von Witterungseinflüssen die Brandursache ermittelt und Spuren gesichert werden konnten, mieteten Staatsanwaltschaft oder Kripo für Bergungen dieser Art eben eine.

Nachdem das Vordringliche erledigt war, stellte sie ihm die ersten Fragen: »Gehört das Wohnmobil einem deiner Freunde?«

Er schüttelte den Kopf. »Meinem Opa.«

»Hat dein Großvater es euch geliehen, oder habt ihr es ohne sein Einverständnis genommen?«

Wieder schüttelte er den Kopf, das konnte sowohl: Nein, er hat es uns nicht überlassen, als auch: Nein, er war einverstanden heißen. Er krächzte etwas von einem Einkauf. Mehr verstand Jasmin nicht, weil er erneut hustete. Er wollte sich die linke Hand vor den Mund halten und schien dabei endlich die Verletzung zu registrieren. »Haben Sie ein Pflaster für mich?«

»Du brauchst mehr als ein Pflaster«, antwortete sie. »Der Rettungsdienst ist unterwegs. Was habt ihr hier gemacht? Wie ist das passiert?«

»Das weiß ich nicht.«

Sie fragte ihn nach seinem Namen, dem Namen des Großvaters und den Namen seiner Freunde. Aber jetzt war er auf seine linke Hand konzentriert, verglich sie mit der rechten, schaute sich seine von Flammen gezeichneten Arme an und schüttelte den Kopf, als könne er nicht fassen, was mit ihm geschehen war.

Zwei Minuten später kam der erste RTW aus der Zufahrt, dicht gefolgt von einem Notarztwagen. Um den Jungen kümmerte sich der Notarzt. Einer der Sanitäter verarztete Jasmin. Im Eifer des Gefechts war ihr entgangen, dass ihre Arme bei den Versuchen, den Jungen zu packen, ebenfalls von Flammen angeleckt worden waren, aber es war nicht dramatisch.

Der Junge wurde ins Maria-Hilf-Krankenhaus nach Bergheim gebracht. Nach Rücksprache mit dem Zugführer der Feuerwehr wurde die Anforderung weiterer Rettungsdienste gecancelt. Wie Jasmin vermutete, brauchte man für die Freunde des Jungen wohl nur noch einen Bestattungsunternehmer und drei Särge.

Vor dem Feuer

Es passierte nicht. Draußen brannte die Sonne vom wolkenlosen Himmel, durch die herabgelassene Jalousie fielen nur dünne Strahlen ein. Sie reichten zusammen mit dem Licht aus dem Flur, um sie auf dem Bett liegen zu sehen, zu mehr leider nicht.

Seit Wochen hatte sie morgens die Jalousie heruntergelassen und erst am späten Abend wieder hochgezogen. Wahrscheinlich lag sie deshalb noch genauso wie gestern und die Tage davor. Wie viele Tage es inzwischen waren, wusste er nicht. Er war wohl mehrfach aufgetaucht wie ein U-Boot aus den Tiefen eines stillen, schwarzen Ozeans, war zur Toilette gegangen, hatte in der Küche etwas getrunken. Vage erinnerte er sich an den Geschmack von Kakao und den grässlichen Anblick, den er ein paarmal wahrgenommen hatte, ehe er wieder im Ozean versunken war.

Völlig klar war er noch nicht. Es musste ein besonders schwerer Anfall gewesen sein. Dafür sprachen auch die heftigen Nachwirkungen. Er fühlte sich schlapp und zittrig, schwitzte stark und hatte ein widerliches Druckgefühl im Kopf. Hinzu kam die Befürchtung, es falsch gemacht zu haben, sonst hätte sie doch längst zu Staub zerfallen sein müssen.

Der Zauberer hatte gesagt, das gehe ruckzuck. In den Fernsehberichten, die er gesehen hatte, war das auch immer so gewesen. Und wenn jemand nach Mama fragte, solle er sagen, sie sei weggeflogen und habe ihm aufgetragen, seine Schwester zu besuchen, weil er nicht alleine für sich sorgen könne. Das konnte er sehr wohl, konnte es sogar in verlorener Zeit.

Gestern hatten zwei leere Päckchen Kakao auf der Abtropffläche neben dem Spülbecken gelegen. Die musste er in den fehlenden Tagen getrunken haben. Weil er gestern nicht imstande gewesen war, den Müll nach unten zu bringen, hatte er sie in den Abfalleimer gestopft, in dem schon leere Dosen und andere Sachen gelegen hatten. Wahrscheinlich hatte er sogar etwas gegessen und wusste es nur nicht mehr.

Aber das war jetzt nicht wichtig. Er versuchte irgendwie auf die Reihe zu bringen, warum es nicht längst passiert war. Seine Schwester hatte es oft so ausgedrückt, wenn sie ihm vorhielt, was er alles nicht wusste und nicht konnte. »Vergiss es, das bringst du nie auf die Reihe«, hatte Lea meist gesagt. Jetzt musste er, weil außer ihm keiner da war, der etwas erklären konnte, und weil vergessen es nicht ungeschehen machte.

Der Zauberer hatte gesagt, sie sei schlimmer als eine Zecke und würde ihn aussaugen bis auf den letzten Tropfen. Zecken waren Blutsauger, konnten aber weder Mensch noch Tier vollständig aussaugen. Sie saugten sich bloß voll, dann fielen sie ab. Darüber hatten sie einmal in der Schule gesprochen, nachdem einer seiner Mitschüler gebissen worden war.

Vampire waren ebenfalls Blutsauger und weitaus gefährlicher als Zecken. Manchmal waren Vampire klein wie Fledermäuse und manchmal groß wie Menschen. Dann konnte man sie nicht von Menschen unterscheiden, solange sie ihre Eckzähne nicht zeigten. Mit diesen Zähnen saugten sie so lange, bis ihr Opfer keinen Tropfen Blut mehr im Leib hatte, was den sicheren Tod bedeutete oder die Verwandlung in einen Vampir, der dann ebenfalls Menschen aussaugen musste, um nicht zu verhungern.

Ein Teufelskreis war das. Wenn man nichts dagegen unternahm, wurden es immer mehr. Deshalb musste man Vampire töten. Aber weil sie genau genommen bereits tot waren, konnte man ihnen mit einem Messer nichts anhaben. Silberne Kugeln wirkten ebenfalls nicht. Man musste ihnen mit aller Kraft einen angespitzten Pfahl ins Herz stoßen, was für so eine arme Kreatur dann die Erlösung war.

Am besten geeignet war ein Rundholz, das konnte man im Baumarkt kaufen. Es musste kein besonders langes sein. Dreißig Zentimeter würden reichen, hatte der Zauberer gesagt. Vielleicht war das Holz zu kurz gewesen. Vielleicht hätte er ihr nicht zusätzlich auch noch den Kopf abschneiden dürfen. Warum er das getan hatte, konnte er sich in seinem Zustand gar nicht erklären.

Sonnenlicht sollte ebenfalls eine verheerende Wirkung auf Vampire haben. Deshalb gingen sie nur bei Nacht raus. Und die tagsüber herabgelassene Jalousie war für ihn ein sicheres Zeichen gewesen, dass Mama das Sonnenlicht scheute.

Ihm war bewusst, dass er zum Fenster gehen und die Jalousie hochziehen musste, um dem Horror ein Ende zu machen. Nur konnte er sich nicht überwinden, das Zimmer zu betreten, er hätte zuerst aufräumen und sauber machen müssen. Der Fußboden lag voller Abfälle aus der Biotonne. Die meisten waren zu verrottet, um noch sagen zu können, was genau es gewesen war. Deutlich zu erkennen waren nur die Kerne von Pfirsichen und Nektarinen, schwarz gewordene Bananenschalen und die vergammelten Kerngehäuse einiger Äpfel.

Von der Tür aus versuchte er die Pfirsichkerne und Bananenschalen zu zählen und mit den Kerngehäusen der Äpfel zu multiplizieren, um seine Gedanken in logische Bahnen zu lenken und eine Lösung zu finden. Rechnen konnte er gut, nur fehlte ihm jetzt die Konzentration. Das Gesumme der Fliegen machte ihn konfus. Und es roch so anders. Der gewohnte Geruch des Zimmers wurde überlagert von einem stechenden und gleichzeitig süßlichen Gestank, der sein wachsendes Unbehagen mit Schlieren von Panik durchzog und ihm Übelkeit verursachte. Letzteres konnte allerdings auch daran liegen, dass es Mittag vorbei war und er noch nicht gefrühstückt hatte.

Er wandte sich ab, schloss die Tür und ging in die Küche. Im Kühlschrank lagen noch ein Stückchen Dauerwurst und zwei Scheiben Brot in einer Tüte. Brot, Joghurt, Obst, Salat und Käse hatte vor den Ferien die Frau von der Tafel gebracht. Seit Ostern brachte sie einmal in der Woche solche Lebensmittel. Alles andere musste Mama kaufen, wenn es neues Geld gegeben hatte.

Es war noch Erbensuppe da gewesen. Die leere Dose lag im Abfalleimer zusammen mit einer, die Heringsfilet in Tomatensoße enthalten hatte, und den beiden Tetra Paks Kakao. Er hätte besser haushalten müssen, aber er war doch nicht richtig bei sich gewesen und hatte nicht erwartet, dass es so lange dauerte.

Der Vorratsschrank war ebenfalls so gut wie leer. Ein angebrochenes Päckchen Mehl, der Salzstreuer, die Pfeffermühle, eine Pappschachtel mit fünf Teebeuteln und die Dose mit einem Rest gemahlenem Kaffee, mehr stand nicht drin.

Er brühte sich einen Tee auf, legte eine Scheibe Brot auf einen Teller und das Stückchen Wurst dazu. Es war zu klein, um etwas abzuschneiden und den Rest für den nächsten Tag aufzuheben. Den Tee musste er fast ungesüßt trinken, weil nur noch ein winziger Rest Zucker in der Dose war. Becher und Teller nahm er mit in das Zimmer, das er mit seiner Schwester geteilt hatte, bis Lea zu ihrem Freund gezogen war.

Er wünschte sich, er hätte auch einen Freund, bei dem er wohnen könnte, einen großen, starken wie den Riesen Goliath, den der kleine David mit einer Steinschleuder totgeschossen hatte. Er hätte das nicht getan, hätte sich lieber bemüht, Goliath als Freund zu gewinnen. Die Bonbons hätte er mit ihm geteilt, die er früher von Oma Luzie bekommen hatte. Sie waren mit goldenem Papier umwickelt und so lecker gewesen, dass er sie immer noch im Mund schmeckte, wenn er an Oma Luzie dachte.

Er dachte oft an sie und an Papa. An die Zeit, als er und Lea jedes zweite Wochenende und die halben Schulferien bei Papa verbracht hatten. Woanders hatte er Oma Luzie seines Wissens nie getroffen. Bei Papa hatte er niemanden verletzt, nicht einmal sich selbst. Kaputt gemacht hatte er auch nicht viel, nur den Teppich in seinem Zimmer.

In Papas Haus hatte er ein Zimmer für sich alleine gehabt zum Spielen und Schlafen. Er hatte aber meist im Wohnzimmer oder im Anbau gespielt und gezeichnet. Einmal hatte er für Oma Luzie einen Parkplatz zum Mitnehmen gezeichnet, weil sie gesagt hatte, mit dem Auto zum Friseur sei nicht mehr drin, da müsse sie eine halbe Stunde nach einem Parkplatz suchen. Und einmal hatte er ihr gezeigt, wie ein Polizist mit zwei Räubern gleichzeitig fertigwurde. Da musste der Polizist zuerst den einen fangen und mit einer Handschelle am Polizeiauto festmachen und dann den anderen schnappen. Kluges Kerlchen, hatte Oma Luzie ihn genannt.

In seinem Zimmer hatte er nur geschlafen. Bei Lea war es umgekehrt gewesen. Sie hatte bei Papa geschlafen und in ihrem Zimmer gespielt. Und wenn er hereingekommen war, hatte sie ihn oft angeschrien, er solle verschwinden. Manchmal hatte sie ihn sogar geboxt, damit er wieder ging. Und einmal war er zurück in sein Zimmer gegangen und hatte seinen Frust am Teppich ausgelassen. Rote und grüne Knete hatte er hineingedrückt. Papa hatte die nicht wieder rausbekommen. Oma Luzie hatte einen neuen Teppich gekauft, ein ernstes Wort mit Lea geredet und ihm ein goldenes Bonbon geschenkt.

Der Riese Goliath hätte diese Bonbons garantiert ebenso gemocht wie er und wäre bestimmt gerne sein Freund geworden. Aber Goliath war tot, Oma Luzie war tot. Papa hatte sich aus dem Staub gemacht. Und der Zauberer war nicht sein Freund.

Von Freunden wurde man nicht belogen.

Von wegen: »Das geht ruckzuck.«

Seit dem Morgen stand der Staubsauger im Flur. Er hatte sogar einen frischen Staubbeutel eingelegt und den irgendwo draußen vergraben wollen, wie man es mit den Urnen verstorbener Menschen tat. Irgendwann war Mama ja wohl mal ein Mensch gewesen. Aber es passierte nicht.

Nachdem er die vorletzte Scheibe Brot und das Stückchen Dauerwurst verzehrt und den Tee getrunken hatte, spülte er Teller und Becher ab und räumte das Geschirr zurück in den Schrank. Der Abfalleimer unter dem Spülbecken musste warten. Nach unten zu den Mülltonnen traute er sich nicht, obwohl er sich etwas besser fühlte, aber nicht sicher genug auf den Beinen, um zuerst unter die Dusche zu gehen. Im ersten Stock wohnte ein Mädchen, dem er so, wie er war, nicht im Treppenhaus begegnen mochte.

Lieber setzte er sich im Wohnzimmer vor den Fernseher und zappte minutenlang durch die Kanäle, bis er eine lustige Zeichentrickserie fand, die er sonst gerne anschaute. Mit dem widerlichen Druckgefühl im Kopf, das allmählich in Schmerz ausartete, machte es allerdings keinen Spaß.

Ob noch etwas von der Medizin da war, die Mama ihm früher gegeben hatte, wenn sie sah, dass sich ein Anfall ankündigte? Er hatte lange keine mehr bekommen. Kein Wunder, dass er diesmal mehrere Tage verloren hatte und immer noch nicht wieder vollkommen in Ordnung war.

Es waren unterschiedliche Pillen gewesen, aber alle hatten ihn müde gemacht, manche mehr, manche weniger. Seinem Kopf hätten ein paar Stunden Schlaf bestimmt gutgetan. Dann hätte er für eine Weile vergessen können, dass er immer noch sehr hungrig war und heute nichts mehr essen durfte, damit für morgen wenigstens noch ein bisschen übrig blieb.

Systematisch suchte er in den Küchenschränken, räumte alles aus und wieder ein und hoffte inständig, dass Mama seine Medizin nicht in ihrem Schlafzimmer versteckt hatte. Schließlich entdeckte er den Pillenbeutel ganz hinten im Schrank mit den Töpfen. Leider war nichts mehr drin bis auf etwas weißen Abrieb. Enttäuscht stopfte er den Beutel zu den anderen Sachen in den Mülleimer.

Als es dunkel wurde, riskierte er noch einen Blick in Mamas Zimmer. Es hatte sich nichts verändert. Was er tun sollte, wenn Mama morgen immer noch nicht zu Staub zerfallen war, wusste er nicht. Jetzt noch die Jalousie hochzuziehen brachte bestimmt nichts. Er hätte es sofort tun müssen, als er sah, dass der Pfahl nicht reichte. Niedergeschlagen und ratlos ging er zu Bett, zur Ruhe kam er nicht. Die halbe Nacht hielten ihn Verunsicherung, Angst, der Druck im Kopf und sein leerer Magen wach.

Zweimal stand er auf und trank ein großes Glas Wasser. Der Busfahrer hatte einmal gesagt, mit Wasser könne man den Magen täuschen. So ein Magen sei blöd und würde nur merken, dass er voll sei, aber nicht, ob man ein XXL-Schnitzel und eine Riesenportion Pommes hineingestopft oder nur einen Liter Wasser getrunken habe. Der Busfahrer war dick und versuchte abzuspecken. Er hatte immer eine große Wasserflasche dabei und hielt nicht nur seinen Magen für blöd, sondern auch die vier Jungs und zwei Mädchen, die er morgens zur Förderschule fuhr und nachmittags wieder dort abholte.

Er war einer von diesen Jungs und längst nicht so blöd, wie der Busfahrer meinte. Nachdem die zweite Portion Wasser in seinem Innern durchgelaufen war, holte er den leeren Beutel aus dem Mülleimer. Die Folie war nun außen mit etwas Tomatensoße aus der Fischdose beschmiert. Er wusch sie gründlich ab und wischte sie sorgfältig trocken. Dann stülpte er die Innenseite nach außen und leckte den Abrieb der Pillen von der Folie.

In den ersehnten Schlaf fiel er danach nicht, döste nur ein und wälzte sich den Rest der Nacht durch einen schlimmen Traum, der ihn oft heimsuchte.

Feuer aus

Gegen halb eins in der Nacht zum Donnerstag war das Wohnmobil vollständig ausgebrannt. Es standen nur noch das Gerippe aus Metallteilen und die nicht brennbaren Überreste der Küche. Die weggerissenen Seitenwände lagen nahe dem Grubenrand am Boden. Die Ausstattung des gesamten Innenraums war zu Klumpen aus verkohltem Holz und geschmolzenem Kunststoff verbacken und vom Wasser-Schaum-Gemisch der Löscharbeiten durchtränkt.

Der zweite Löschzug rückte ab, nachdem feststand, dass für den Wald keine Gefahr mehr bestand. Der Zugführer des ersten hätte sich gerne angeschlossen. Nichts glühte oder glimmte mehr. Eine Brandwache brauchte man nicht. Was jetzt noch zu tun war, fiel in den Aufgabenbereich der Polizei, vorerst nur vertreten durch eine junge Polizeikommissarin und einen Polizeioberkommissar, der im Dienstrang über Jasmin Tirtey stand, es aber lieber gemütlich anging, um sein Herz und den Blutdruck nicht über Gebühr zu strapazieren. Beim letzten Gesundheitscheck war Kurt Schramm nur mit Blick auf die Personalknappheit, mit sehr viel Wohlwollen und einigen Belehrungen vonseiten des Arztes durchgekommen.

Von der Kriminalwache aus Hürth war noch niemand aufgetaucht. Jasmin fragte nach und erfuhr, dass Schramm die Wache verständigt, man aber keine Veranlassung gesehen hatte, jemanden rauszuschicken. »Das war doch wieder ein Fahrzeugbrand. Ruft einen Abschleppdienst, die KTU kann sich das bei Tag anschauen. Zu sichern gibt es doch sowieso nichts.«

»Schwachsinn«, entfuhr es Jasmin.

»Mach mal halblang, Mädchen«, mahnte Schramm. »Spricht man so mit Kollegen?«

Sie hasste es, wenn der Dicke sie Mädchen nannte. Vor allem hasste sie es, wenn er sich nicht die Mühe machte, genauer hinzuschauen und mitzudenken. Aber für Schramms Schluderei konnte der Kollege in der Kriminalwache nichts. Sie entschuldigte sich bei ihm und holte in gemäßigtem Ton nach, was Schramm versäumt hatte: »Hier ist ein Wohnmobil komplett ausgebrannt, in dem sich bei Ausbruch des Feuers noch drei Jugendliche befanden, die nicht mehr rausgekommen sind. Was das heißt, muss ich nicht genauer erklären. Wir haben diesmal ein ausgebranntes Fahrzeug mit drei Leichen.«

»Jetzt haben Sie es ja doch erklärt«, versuchte der Kollege, etwas Spannung abzubauen. Da sie nicht darauf einging, sagte er in gewohnt neutralem Ton: »Sorry. Das ist hier nicht angekommen. Ich verständige die Kriminalhauptstelle …«

Der Zugführer war dazugekommen, hatte Jasmins Part mitgehört und mischte sich ein, was wiederum der Mann in der Kriminalwache mithörte: »Hier ist keiner verbrannt, das garantiere ich Ihnen. Die Karre kann auf den Schrottplatz.«

»Was denn nun?«, wurde Jasmin gefragt. »Muss ich die Kriminalhauptstelle verständigen oder nicht?«

»Das kann ich nicht entscheiden«, antwortete sie und hörte einen langen Seufzer. »Ich schicke Ihnen Gertz. Der kann das.«

Nachdem Jasmin das Gespräch beendet hatte, sagte der Zugführer: »Jetzt beruhigen Sie sich mal. Wenn da noch drei andere drin waren, werden die abgehauen sein, als das Feuer ausbrach.«

»Und haben den Jungen zurückgelassen?«, fragte Jasmin.

»Wollen Sie das ausschließen?«, antwortete der Zugführer mit einer Gegenfrage. »Ich nicht. Ich frage mich dreimal die Woche, was in den Köpfen bestimmter Altersgruppen vorgeht. Da ist jedenfalls keiner mehr drin. Bei drei Leichen müsste man etwas sehen. Wenn nicht einen ganzen Körper, dann zumindest Körperteile. Aber da ist nichts. Sehen Sie doch selbst.«

Er zeigte zu dem schwarzen Gerippe des Wagens hin, das hundert Meter entfernt noch immer von den LEDs des Lichtmastes in Helligkeit getaucht war. Der Anblick erinnerte Jasmin an einen der Endzeitfilme, die ihr jüngerer Bruder sich gerne anschaute. Sie folgte dem Zugführer ins Licht. Schramm hatte es sich wieder im Streifenwagen gemütlich gemacht und beabsichtigte nicht, so bald noch einmal auszusteigen.

Was das Fahrerhaus betraf, war Jasmin geneigt, sich der Überzeugung des Zugführers anzuschließen. Das Wohnmobil hatte keinen Alkoven, man konnte das Szenario übersichtlich nennen. Das vom Feuer beschädigte Armaturenbrett, die geschwärzten Gestelle der Sitze, die größtenteils geschmolzene Innenverkleidung der Türen, die Konsole mit dem nackten Hebel der Automatikschaltung, Knauf und Gummimanschette waren den Flammen zum Opfer gefallen. Bis hinunter in den Fußraum lag nirgendwo etwas, das nach verkohltem Leichnam oder Körperteil aussah.

»Vielleicht hat der Junge sich hier vorne aufgehalten«, äußerte Jasmin eine Vermutung, die ihr naheliegend erschien. »Er hat wohl gar nicht mitbekommen, wie das Feuer ausbrach. Seine Freunde seien hinten gewesen, sagte er.«

»Falls er damit das Bett gemeint hat«, erwiderte der Zugführer, »gilt dafür dasselbe wie fürs Fahrerhaus. Man müsste etwas sehen. Vielleicht haben die anderen im Freien campiert.«

»Das müsste er doch wissen«, meinte Jasmin.

»Nicht, wenn er geschlafen hat, als sie ausgestiegen sind. Wer weiß, womit die sich amüsiert haben. Vielleicht haben sie drinnen was geraucht und draußen gebechert. Wenn sie bekifft waren, müssen die da drin mit offenem Feuer hantiert haben. Hier gibt es keine Anschlüsse für Strom, Gas und Wasser wie auf einem Campingplatz. Wahrscheinlich haben sie eine Petroleumlampe brennen lassen, als sie rausgegangen sind. Wenn die umgekippt ist oder der Junge sie umgestoßen hat, als er aufwachte, geriet er in Panik und hat nicht registriert, dass seine Freunde draußen waren … Ich bin weder Arzt noch Psychologe, aber was Reaktionen in Panik angeht, habe ich schon eine Menge erlebt.«

Vermutlich mehr als ich, dachte Jasmin. Aber wenn sie nicht auf die Idee gekommen wäre, in die Deponie zu fahren … Sie wollte nicht darüber nachdenken, dass der Junge sich ohne ihre Entscheidung und ihr Eingreifen vielleicht für drei Freunde umgebracht hätte, die an ihn keinen Gedanken verschwendet hatten, als sie abgehauen waren.

»Wenn der Junge im brennenden Wohnmobil zurückgelassen wurde, ohne wenigstens einen Notruf abzusetzen, war es unterlassene Hilfeleistung«, sagte sie.

Der Zugführer gab einen Ton von sich, der verdächtig nach einem genervten Seufzer klang. »Wenn die anderen sich im Gelände herumgetrieben haben …« Er zeigte in einer weit ausgreifenden Geste in die Runde. »Es ist nicht gerade übersichtlich hier. Stellen Sie sich die Mondlandschaft mal ohne unsere Festbeleuchtung vor. Vielleicht sind die drei runter in die Grube gestiegen und haben zu spät gesehen, dass es hier oben brannte.«

Darauf antwortete Jasmin nicht.

»Ich garantiere Ihnen, der Junge war allein im Wagen«, sagte der Zugführer in einem Ton, der deutlich machte, dass er es leid war, mit ihr zu diskutieren. »Zu klären, warum seine Freunde abgehauen sind, ist nicht unsere Aufgabe. Wir sind hier fertig.«

Es dauerte noch etwa zwanzig Minuten, in denen der Löschzug abfahrbereit gemacht wurde und ein Abschleppwagen ankam, dessen Fahrer darauf beharrte: »Aber aufladen kann ich doch schon mal.« Konnte er nicht, noch stand der Löschzug im Weg. Er hätte den Rundweg nehmen können, den die Laster mit Erdaushub nach dem Abkippen nahmen. Einmal im Rückwärtsgang um die Grube herum oder vorwärts und dann hinter dem Wrack wenden. Beides war ihm zu stressig.

Als Heiko Gertz aus Hürth eintraf, schälte Kurt Schramm sich doch lieber noch mal aus dem Streifenwagen, damit es morgen nicht hieß, er sei nicht mehr diensttauglich.

Ehe er den Lichtmast wieder einfahren ließ, erklärte der Zugführer auch Gertz noch einmal, wie er die Lage beurteilte. Gertz war ein entschlussfreudiger Mann Ende dreißig mit erkennungsdienstlicher Erfahrung. Er schoss etliche Fotos vom Innenraum, ohne einen Fuß in das Wrack zu setzen, und schloss sich der Überzeugung des Zugführers an, dass es da drin keine Leichen gab.

Blieben unterlassene Hilfeleistung und die Feststellung der Brandursache. Brandstiftung oder Unfall, Letzteres schien nach dem bisherigen Kenntnisstand und der Vermutung, dass die Jungs gekifft oder gebechert hatten, wahrscheinlicher. Also entschied Heiko Gertz: »Eine Halle brauchen wir nicht. Bringen Sie das Schmuckstück aufs Sicherstellungsgelände.«

Der Fahrer des Abschleppwagens brachte erst mal sein Fahrzeug in Stellung, nachdem der Löschzug ihm Platz gemacht hatte. Gertz erkundigte sich derweil bei Jasmin: »Wissen wir schon, wem das Schätzchen gehört?«

»Laut Auskunft des Jungen seinem Großvater. Mehr habe ich nicht aus ihm herausbekommen. Er konnte mir nicht mal seinen Namen nennen, fragte nach einem Pflaster für seine Hand.«

»Dann bringen wir mal schnell in Erfahrung, wen wir über den herben Verlust und den derzeitigen Aufenthalt des Enkels informieren müssen«, sagte Gertz mit Blick auf den Abschleppwagen.

Sie standen beim Heck des Wohnmobils. Die Motorhaube hatte sich noch keiner genauer angesehen. Das hintere Kennzeichen war verrußt und verschmiert, aber lesbar. Bei ihrer Ankunft hatte Jasmin keinen Blick darauf geworfen. Von den Wehrleuten hatte sich ebenfalls niemand darum gekümmert. Jasmin entschuldigte sich für ihr Versäumnis.

»Machen Sie sich deswegen keinen Kopf«, beruhigte Gertz sie. »Sie wären nicht nahe genug rangekommen, solange es brannte.« Er nahm eine Taschenlampe zu Hilfe, weil der Lichtmast bereits eingefahren wurde, ging in die Hocke, las ab und meinte: »Gelsenkirchen. Konnten die Jungs das, was sie hier veranstaltet haben, nicht zu Hause tun?«

Mit gerümpfter Nase richtete er sich wieder auf. »Pfui Deibel, stinkt das. Da möchte man gar nicht genau wissen, was alles verbrannt ist. Plastik ist für sich allein schon widerlich genug.«

Dann erteilte er Schramm den Auftrag, das Kennzeichen zu checken, schaute dem Dicken nach und meinte halblaut: »Der kann ja auch noch was tun für sein Geld. Zurück kommt er garantiert nicht mehr. Wollen wir wetten?«

Als Jasmin nicht reagierte, stellte Gertz fest: »Das ist Ihnen ziemlich an die Nieren gegangen, was?«

»Wär’s Ihnen auch, wenn Sie den Jungen erlebt hätten«, antwortete sie. »Er war überzeugt, dass seine Freunde noch drin sind. So wie seine Hände, Arme und die Kleidung aussahen, muss er im Feuer nach ihnen gesucht haben. Der Innenraum brannte lichterloh, als wir hier ankamen. Und er wollte unbedingt noch mal rein. Der Gedanke, dass die einfach abgehauen sind und ihn zurückgelassen haben, dreht mir den Magen um.«

»Denken Sie nicht zu viel darüber nach«, empfahl Gertz. »Wir können nicht jeden Tag die Welt retten, betrachten wir ein Leben pro Nacht lieber als reife Leistung.«

Jasmin hatte nicht das Gefühl, das Leben des Jungen gerettet zu haben. Gertz schaute auf ihre vom Feuer geröteten Unterarme. Es war nicht das erste Mal, dass er mit jungen Kollegen oder Kolleginnen zu tun hatte, denen ein Einsatz mehr zu schaffen machte, als sie vor sich und anderen zugeben wollten. Damit sich das nicht festsetzte, half darüber reden und für den Anfang professionelle Ablenkung.

»Andere Frage«, sagte er. »Was wollten die Jungs hier? Gibt es in Gelsenkirchen keine Abenteuerspielplätze? Um zu kiffen oder zu saufen, muss man doch nicht hundert Kilometer weit fahren.«

Er inspizierte den von Löscharbeiten gezeichneten Boden, ließ den Strahl seiner Lampe durchs Gelände wandern. Ohne den Lichtmast warfen nur die Scheinwerfer des Abschleppwagens zwei helle Bahnen in die Dunkelheit Richtung Zufahrt. Und weit hinten beim Bürocontainer glimmte schwach die Innenraumbeleuchtung des Streifenwagens.

»Es hat ja was von Abenteuerurlaub«, meinte Gertz. »Vielleicht war es als Survivaltour gedacht. Camping macht man schließlich nicht in einer Deponie für Erdaushub.«

Er trat näher an den Grubenrand heran und leuchtete nach unten. Zur Abwurfstelle gegenüber dem Bürocontainer hin stieg der Boden steil an. Vor der Steilwand gab es platt gewalzte Stellen von Erde, dort stand auch ein kleineres Gerät, entweder ein Bagger oder eine Planierraupe. Der Strahl der Taschenlampe reichte nicht weit genug, um es genauer zu erkennen. Und dort, wo sich das Licht verlor, sah es ziemlich zerklüftet aus.

»Ist das Gelände Tag und Nacht frei zugänglich?«

Jasmin schüttelte den Kopf. »Sie haben vermutlich die Schranke durchbrochen. Die war weg, als wir die Zufahrt runterkamen.«

»Ups«, kommentierte Gertz und schaute zu, wie das Wrack am Haken auf die Ladefläche des Abschleppwagens gezogen wurde. »Das wird das gute Stück nicht unbeschadet überstanden haben.«

Um sich die Front mit dem Kühlergrill anzusehen, hätte er hinterhersteigen müssen. Das ersparte er sich, musste sich das Wohnmobil ohnehin bei Tageslicht auf dem Sicherstellungsgelände genauer anschauen. Und vorher musste er noch mal hierher, ehe der Betrieb aufgenommen und mögliche Beweismittel untergebaggert oder platt gewalzt wurden.

Der Fahrer des Abschleppwagens sammelte die abgerissenen Teile der Seitenwände ein, verstaute und sicherte sie ebenfalls auf der Ladefläche. Der Löschzug war längst auf der Zufahrt verschwunden. Gertz leuchtete erneut in die Grube hinunter, ohne mehr zu sehen als den Strahl der Taschenlampe, der sich in der Dunkelheit verlor.

»Ob welche im Freien campiert haben, lässt sich wahrscheinlich nicht mehr feststellen«, meinte er. »Aber wenn die Freunde des Jungen draußen gesoffen haben, liegen vermutlich noch leere Flaschen oder Dosen herum.«

Der Abschleppwagen setzte sich in Bewegung. »Schließen wir uns an«, schlug Gertz vor. »Was die Jungs hier wollten, erfahren wir bestimmt, wenn der Enkel ansprechbar ist. Ich halte Sie auf dem Laufenden, einverstanden?«

Jasmin nickte und schaute dem Abschleppwagen hinterher, bis er in die Zufahrt abbog. Dann ging sie zum Streifenwagen. Gertz hatte sein Fahrzeug ebenfalls beim Bürocontainer abgestellt. Schramm empfing sie mit der Auskunft, Fahrzeughalter sei der siebenundsechzigjährige Walter Homberg, wohnhaft in Gelsenkirchen-Hassel. Das Wohnmobil sei nicht als gestohlen gemeldet.

»Dann waren die Jungs wohl mit Opas Einverständnis unterwegs«, meinte Gertz. »Oder er hat einen Stellplatz für das gute Stück und noch gar nicht gemerkt, dass es weg ist.«

Vor dem Feuer

In dem schlimmen Traum war er ein kleines Kind und saß in einem dämmrigen Raum auf dem Fußboden. Weit hinten war eine helle Öffnung. Dort stand der Riese Goliath. Mitten im Raum tobte ein grässliches Monster und schrie Worte, die er nicht verstand. Aus den Worten wurden Steine, die auf Goliath einprasselten.

Er hatte wahnsinnige Angst und wollte, dass Goliath dem Monster das Maul stopfte. Dann sollte der Riese zu ihm kommen, ihn vom Boden aufheben und durch die helle Öffnung irgendwo hinbringen, wo es friedlich war. Stattdessen drehte Goliath sich um und ging weg. Das Monster folgte und warf ihm steinerne Worte hinterher. In seiner Not begann er ebenfalls zu schreien, aber Goliath kam nicht zurück. Nur das Monster tauchte wieder auf und brüllte nun ihn an wie ein wildes Tier.

Manchmal erschien an dieser Stelle im Traum ein Engel, hob ihn vom Boden auf und tröstete: „Nicht weinen. Wenn du groß bist, zahlst du ihnen alles heim.“ Diesmal kam der Engel nicht. Als er sich nicht mehr anders zu helfen wusste, schlug er seinen Kopf so lange auf den Fußboden, bis er davon aufwachte.

Es war noch früh, aber bereits heller Tag.Es war noch früh, aber bereits heller Tag. Seine Kopfschmerzen waren schlimmer als am vergangenen Abend, als hätte er sich den Kopf tatsächlich irgendwo angeschlagen. Er zitterte am ganzen Körper vor Schwäche, in seinen Eingeweiden wütete der Hunger. Hinzu kam die Befürchtung, dass Mama immer noch so auf ihrem Bett lag wie gestern und vorgestern und wer weiß wie viele Tage davor.

Er wagte es nicht aufzustehen und nachzuschauen, musste sich auch nicht überzeugen. Der stechende Geruch hatte sich scheinbar verflüchtigt, der süßliche Gestank, der ihm gestern schon Übelkeit und dieses bohrende, von Panik durchsetzte Unbehagen verursacht hatte, das wohl eher die Gewissheit von Unheil gewesen war, drang inzwischen durch die geschlossenen Türen und schwängerte die Luft in seinem Zimmer. Nicht mehr lange, dann würde man es wahrscheinlich auch im Hausflur riechen.

Was sollte er tun, wenn jemand klopfte und wissen oder sogar nachsehen wollte, was so fürchterlich stank? So wie Mama dalag, mit dem angespitzten Rundholz in der Brust und dem abgeschnittenen Kopf im Arm, konnte er doch niemanden in die Wohnung lassen. Sollte er im Bett bleiben und so tun, als wäre keiner daheim? Bei dem Gestank war das auch keine gute Idee. Jemand würde die Hausverwaltung anrufen und sich beschweren. Dann würden sie die Tür aufbrechen. Im Erdgeschoss, wo früher die Messie-Frau gelebt hatte und jetzt die Jungs mit den bunten Pillen wohnten, hatten sie das auch getan. Dann hatten sie zwischen Bergen von Müll die tote Frau gefunden.

Sollte er öffnen und behaupten, Mama sei weggeflogen, wie der Zauberer es ihm empfohlen hatte? Dann würden die Nachbarn wahrscheinlich trotzdem die Hausverwaltung informieren, weil es unverantwortlich war, ihn längere Zeit ohne Aufsicht zu lassen. Ihn durfte man eigentlich auch nicht alleine losschicken, um seine Schwester zu besuchen. Er wusste ja nicht einmal genau, wo Lea jetzt wohnte, und hatte kein Geld für eine Fahrkarte.

Was hatte der Zauberer sich dabei gedacht, so etwas vorzuschlagen? »Mach dir keine Gedanken«, hatte er gesagt. »Du hast einen Freifahrtschein.« Er machte sich aber Gedanken. Sein Freifahrtschein war nur für den Schulbus, damit konnte er nicht woanders hinfahren. Warum war ihm das nicht vorher klar geworden?

Nach endlosen Minuten ließ das Zittern nach, Kopfschmerzen, Hunger, Angst und Schwäche blieben. Es gelang ihm nicht, seine Gedanken beisammenzuhalten. Sie huschten in seinem schmerzenden Schädel umher wie ängstliche Mäuse auf der Suche nach einem Schlupfloch. Er wünschte sich, seine Schwester wäre gekommen und wüsste, was zu tun war.

Dass Lea ihm wegen Mama oder der Schweinerei in Mamas Zimmer böse wäre, glaubte er nicht. Schon lange bevor sie ausgezogen war, hatte Lea Mama gar nicht mehr leiden mögen. Als sie ihre Sachen packte und Mama ein letztes Mal bettelte, sie solle bleiben, hatte Lea gesagt: »Ich bin achtzehn, kann leben, wo und mit wem ich will. Und ich werde meine Zukunft nicht nach deinen Bedürfnissen ausrichten. Wie es hier ohne mich weitergehen soll, ist nicht mein Problem. Darüber hättest du vor acht Jahren nachdenken sollen.«

Dann hatte Lea ihm versprochen, von Zeit zu Zeit nach dem Rechten zu sehen, damit er nicht völlig verlauste und verlotterte. Er hatte keine Vorstellung, wie lange von Zeit zu Zeit dauerte. Nach einem Anfall war Zeit für ihn so unfassbar wie ein Wasserstrahl, der ihm durch die Finger rann und im Abfluss verschwand.

Bisher hatte Lea sich nicht blicken lassen, obwohl ihr Auszug nun schon länger zurücklag. Es war vor den Osterferien gewesen, im April, an den genauen Tag erinnerte er sich nicht. Wenn er zur Schule musste, strich Mama jeden Abend auf dem Küchenkalender den Tag durch, damit er am nächsten Morgen wusste, ob Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag oder Freitag war. In den Ferien war sie damit nachlässig gewesen.

Verlaust und verlottert war er seit Leas Auszug nicht. Er hatte sogar dafür gesorgt, dass Mama nicht verlotterte oder verhungerte. Wenn sie so traurig gewesen war, dass sie nicht aufstehen konnte, hatte er ihr Zimmer aufgeräumt, Brote für sie geschmiert und Tee gemacht. Mama trank normalerweise keinen Tee, aber Kaffee machen konnte er nicht. Das Obst von der Tafel hatte er ihr gewaschen, geschält und auf einem Teller angerichtet, damit es appetitlich aussah.

Und wenn er abends die Schalen und Kerne zur Biotonne gebracht hatte, hatte er draußen manchmal das Mädchen aus dem ersten Stock getroffen. Melanie hieß sie, unternahm nachmittags oft etwas mit einer Freundin und kam abends um die Zeit nach Hause. Manchmal hatte er eine Weile warten müssen, bis sie auftauchte. Dann hatte er über den Parkplatz zur Straße geschaut und sich vorgestellt, dass Papa noch einmal käme, um ihn für ein Wochenende abzuholen. Oder für länger. Am besten für immer.

Der wütende Wurm in seinen Eingeweiden signalisierte, er sei dem Hungertod nahe. Und so unangenehm das war, es half ihm, seine Angst vorübergehend zu unterdrücken, die Sehnsucht auszublenden und sich den vordringlichen Notwendigkeiten zu widmen. Es war ja noch eine Scheibe Brot da, damit ließ sich etwas gegen den ärgsten Hunger unternehmen. Wenn die Krämpfe im Bauch nachließen, konnte er vielleicht klarer denken.

Aus Mehl, Salz, den Pfefferkörnern in der Mühle und dem Rest Kaffee ließ sich bestimmt auch etwas machen. Salzige Pfannkuchen zum Beispiel oder Pizza mit Kaffeepulver. Damit könnte er sich noch einige Tage ernähren und Wasser trinken, bis es ihm aus den Ohren hinauslief.

Nur wäre er in einigen Tagen wahrscheinlich nicht weiter oder klüger. Er hätte sich die Nase zuhalten und Mamas Zimmer aufräumen können. Den Abfall nach unten bringen, Mama mit einem frischen Laken zudecken, mit ihrem Parfüm besprühen und weiter hoffen. Aber dass sie in den nächsten Tagen unter dem Laken zu Staub zerfallen würde, glaubte er nicht.

Er richtete sich endlich auf, schob die Beine über die Bettkante und ging ins Bad. Dort trank er zwei Becher Wasser, um den Quälgeist im Bauch zu beschwichtigen. Er hoffte, dass die Dusche mit seinem Kopf dasselbe tat. Dem war leider nicht so. Der bohrende, stechende Schmerz ließ zwar etwas nach, doch es blieb ein Klingeln und Klopfen unter seiner Schädeldecke zurück, als hätte ihm in der Nacht jemand eine Alarmglocke eingebaut.

Frau Kremer in der Schule klopfte immer so auf ihren Tisch, wenn sie Ruhe haben wollte, um jemanden aufzufordern: »Kannst du uns das erklären?« Es klang jedes Mal wie eine Frage, war aber nicht so gemeint. Frau Kremer wollte nur feststellen, ob man aufgepasst und sich alles gemerkt hatte.

Er hatte aufgepasst und sich alles gemerkt, in der Schule vielleicht nicht immer, weil es oft langweilig und er manchmal müde gewesen war. Aber bei allem, was der Zauberer gesagt hatte, war er die personifizierte Aufmerksamkeit gewesen. Nur würde ihm das vermutlich niemand glauben.

Als er nach seinem Geburtstag im März mit einem Fünferpack Schokoriegel und einer Rolle bunter Smarties nach Hause gekommen war, hatte Lea wissen wollen: »Wo hast du das her?« Dann hatte sie ihm vorgeworfen, den Zauberer habe er sich ausgedacht, damit er nicht bestraft werde. »Du hast Mama beklaut, gib es zu. Das finde ich echt fies von dir. Ich muss jeden Cent abliefern. Und du kaufst dir Süßkram zum Geburtstag. Ich hoffe, du erstickst daran.«

Für einige Minuten lenkte ihn seine gewohnte Alltagsroutine von den sich jagenden Gedanken und Erinnerungen ab. Einstudierte Handlungsabläufe, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren. Er frottierte sich ab und holte frische Unterwäsche und ein sauberes T-Shirt aus seinem Zimmer. Wie im Kühlschrank und im Vorratsschrank herrschte auch in seinen Schrankfächern gähnende Leere. Zwei Boxershorts lagen noch da, vier steckten mit anderen Sachen in der Waschmaschine, wie er anschließend feststellte. Zusammen mit der Unterhose, die er vor dem Duschen ausgezogen hatte, waren das sieben. Mehr besaß er nicht.

Mit den Boxershorts als Anhaltspunkt begann er auszurechnen, wie viele Tage er verloren hatte. Wenn er zur Schule musste, duschte er jeden Morgen und zog anschließend frische Wäsche an. Jetzt waren Sommerferien. Gestern und vorgestern hatte er sich nicht in die Wanne getraut, weil er wegen der heftigen Nachwirkungen des Anfalls so wacklig auf den Beinen gewesen war. Und die Unterhose, die er eben ausgezogen hatte, sah nicht so aus, als hätte er sie nur zwei Tage getragen. So kam er zu keinem eindeutigen Ergebnis und versuchte es anders.