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April Wynter

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Beschreibung

Ein berührender Coming-of-Age-Roman über Familie und Selbstfindung Maddys Leben ist ein Albtraum: Durch das Abitur gefallen, keinen Job gefunden und jetzt soll sie auch noch den Sommer bei ihrem Vater in Kanada verbringen, zu dem sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Als sie ein Angebot erhält, als Influencerin für eine Agentur zu arbeiten, wittert sie die Chance ihres Lebens. Ein Roadtrip durch die Rocky Mountains soll ihre Karriere voranbringen. Blöd nur, dass sie auf ihren im Rollstuhl sitzenden Großvater aufpassen muss … Ein Roman über den Druck der sozialen Medien. Den Unterschied der Generationen. Und der Liebe zu einem Land voller Tannenbäume, Grizzlybären und türkisblauen Seen.

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April Wynter

Nach oben führt auch ein Weg hinab

Impressum

 

www.april-wynter.de

[email protected]

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

1. Auflage Mai 2020

4. Überarbeitung

c/o Fakriro GbR

Bodenfeldstr. 9

91438 Bad Windsheim

 

Covergestaltung: Alexa Gothe

Bildmaterial: Spiegelwelt Fotografie, PhotoGravity - Milena A.rt und Shutterstock

Lettering des Titels: Maria Bartella

Illustrationen: Nina Karbach und Marie Zoubek

Lektorat und Korrektorat: Natalie Rau

Buchsatz: Dagmar Benner und Alexa Gothe

 

 

 

 

Jugendroman

 

April Wynter

 

Für alle Großeltern dieser Welt.

Danke, dass ihr uns an euren Geschichten teilhaben lasst.

 

Vorwort

 

Howdy liebe Leserinnen und Leser,

 

ich freue mich, dass mein Buch den Weg in dein Regal gefunden hat.

 

Für den optimalen Lesespaß beachte bitte meine Triggerwarnungen. Da ich niemanden Spoilern möchte, habe ich diese auf meine Webseite gestellt. Solltest du dich von bestimmten Themen getriggert fühlen, lies bitte dort nach, ob das Buch etwas für dich ist. Maddys Grandpa sitzt nicht grundlos im Rollstuhl und Social Media hat definitiv seine Schattenseiten.

 

www.april-wynter.de/trigger-pj

 

Die Geschichte rund um Maddy ist während meiner Weltreise und dem dazugehörigen Kanada-Roadtrip entstanden. Einige der Dinge, habe ich selbst erlebt. Daher möchte ich dir gerne einen Einblick geben und habe Fotos und Zusatzinfos für dich gesammelt. Scanne die Barcodes, um einen Blick hinter die Kulissen zu werfen.

 

Ich wünsche dir viel Spaß zusammen mit Maddy und ihrem Grandpa in den kanadischen Rocky Mountains.

 

Deine April

 

Heimkehr

 

»Bitte schließen Sie Ihre Sicherheitsgurte. Wir erwarten Turbulenzen.«

Ein prüfender Blick meinerseits bestätigt, dass ich noch vom letzten Unwetter angeschnallt bin. Die Hand meiner Sitznachbarin schnellt jedoch vor und greift nach der Lasche am Vordersitz. Von einem Würgegeräusch begleitet, zieht sie die braune Tüte hervor und … Bäh, ist das eklig! Muss dieses Scheißflugzeug so tief fliegen, dass es die Wolken streift und schon wieder wackelt?

Während ich darüber nachdenke, ob die kleine Schwarzhaarige noch über Mageninhalt verfügt, fängt sie von vorne an. Ich ziehe mein Smartphone aus der Hosentasche. Nein, nicht um sie dabei zu fotografieren. Stattdessen versuche ich mich, von den leider ziemlich ansteckenden Geräuschen neben mir abzulenken und starre auf meinen Feed.

 

Dein Feed wurde zum letzten Mal vor 5 Minuten aktualisiert.

 

Ja, welch Wunder. Nach der Aktualisierung liefen meine kostenlosen fünfzehn Minuten Internet aus, die bei dem Flug nach Calgary inklusive waren. Jetzt blinkt jedes Mal diese Werbeanzeige im Browser auf, dass ich weitere fünfzehn Minuten über den Wolken surfen kann, wenn ich nur 8,99 € bezahle. Ein Zuckerschlecken. Nur nicht für mich.

Das letzte Bild in meinem Feed zeigt das runde Bullauge des Flugzeugs und dahinter, wie nicht anders zu erwarten: Wolken. Wie sollte es auch sonst sein in Kanada? Kann mein Vater nicht aus der Karibik kommen?

Meine Mom reiste damals zum Work and Travel nach Kanada und ließ sich von einem Ranchmitarbeiter schwängern. Ernsthaft! Haben die noch nie etwas von Verhütung gehört? Bei mir in der Grundschule wurde darüber aufgeklärt, als ich noch an Bienchen und Blümchen glaubte.

 

Königin über den Wolken. Auf geht’s in den Sommerurlaub.

#holiday #istdasgeil #überdenwolken #flugzeug

 

So lautet der unfassbar kreative Text unter dem Bild aus dem Flugzeug, welches ich geschossen habe, als meine Sitznachbarin auf der Toilette verschwunden war. Wo sie auch jetzt besser hin verschwinden sollte. Erneut würgt sie in die bereits ziemlich volle Tüte. Ich würde ihr ja meine anbieten, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich sie gleich selbst gebrauchen könnte.

Mein Finger öffnet wie automatisch den Browser und schwebt über den 8,99 €. Das würde mich zumindest weitere fünfzehn Minuten ablenken. Ehe ich den Button drücken kann, schaukelt das Flugzeug und mein Smartphone fällt mir aus der Hand. Gut gemacht, Maddy.

Als das Schaukeln sich gleich darauf wieder beruhigt und ich das Symbol zum Anschnallen ernsthaft hinterfrage, bücke ich mich, um meine Unterhaltungselektronik aufzuheben.

»Entschuldigen Sie, Miss. Haben Sie bei unserer Sicherheitsunterweisung nicht aufgepasst?«

Eine strenge Stimme, wie die meiner alten Klassenlehrerin Frau Müller, lässt mich hochschrecken. Das Handy habe ich noch nicht in der Hand und mein Kopf stößt gegen etwas Weiches. Warme Feuchtigkeit breitet sich auf meinen Haaren aus. Oh. Mein. Gott. Das darf jetzt nicht wahr sein!

»I’m so sorry«, würgt die Schwarzhaarige hervor.

»Sie dürfen sich nicht nach verlorenen Gegenständen bücken und sollen das Flugpersonal rufen, wenn Sie etwas verloren haben«, tadelt mich Frau Müllers Stimme. Kann sein, dass da etwas in dem Informationsvideo war. Aber mein verlorenes Smartphone ist jetzt mein geringstes Problem.

Ich mache Anstalten, mich abzuschnallen, um die Erniedrigung auf meinem Kopf zu beseitigen, da stoppt Fräulein Oberlehrerin mich schon wieder. »Bitte warten Sie mit dem Gang zur Toilette, bis die Turbulenzen sich gelegt haben und das Anschnallsymbol erlischt. Ich muss jetzt auch zu meinem Platz, es liegt ein Unwetter vor uns.«

Bevor sie geht, bückt sie sich recht umständlich mit eingeknickten Knien (wie auch sonst, bei dem engen Bleistiftrock!?) und hebt mein Handy auf. Dann watschelt sie davon. Wie auf Kommando beginnt das Flugzeug erneut zu schaukeln. Inzwischen habe ich Schneewittchen die braune Tüte von meinem Platz gegeben, bevor neben meinen Haaren auch noch meine Vans ruiniert werden. Gebannt starre ich auf das Anschnallsymbol und versuche es durch Gedankenkraft, zum Erlöschen zu bewegen.

Das Flugzeug wird von links von einer Sturmböe gepackt. Unsanft werde ich in meinen Gurt gedrückt und mein Kopf schlägt gegen die Rückenlehne. Ein Schmerzenslaut hallt durch den Gang.

Warum zum Teufel musste meine Mutter mich den Sommer über nach Kanada schicken?

 

Kapitel 1

 

Natürlich halten die Turbulenzen bis Calgary an. Wie hätte es auch anders sein sollen?

Das Erste, was ich nach dem Verlassen des Flugzeugs aufsuche, ist der Waschraum. Braune Augen starren mir aus dem Spiegel wütend entgegen. Ich weiß genau, was sie mir damit sagen wollen. Das Erbrochene des Mädchens habe ich, so gut es geht, aus meinen kastanienbraunen Haaren gewaschen. Die hellen Strähnen sind durch die Feuchtigkeit dunkel gefärbt. Meine kleine Stupsnase zieht sich allein bei dem Gedanken an den Gestank widerwillig nach oben. Aber deshalb blicken meine Augen nicht wütend drein. Nein, sie sind sauer, weil ich hier bin. In Kanada! Eigentlich wollte ich den Sommer mit meiner Freundin Lola verbringen. Sie hat dummerweise ein Auge auf meinen aktuellen Schwarm Jonas geworfen. Nur meine Ablenkungsmanöver hätten sie von ihm fernhalten können. Ich traue mich gar nicht, auf mein Handy zu schauen, ob sie schon das erste Selfie mit ihm gepostet hat.

Sechs lange Wochen werde ich hier sein. Vielleicht hat sie sich bis dahin mit ihm zu Tode gelangweilt und schießt ihn wieder ab, wenn ich zurück bin. Dann laufe ich wenigstens nicht Gefahr, dass sie ihn mir ausspannt, wenn ich mit ihm zusammenkomme. Einmal Benutztes fasst sie nicht noch mal an. Dieses Prinzip handhabt sie mit ihren Klamotten ebenso. Gut für mich, meistens darf ich ihre einmal getragenen Sachen haben. Mein halber Koffer ist voll mit ihren Klamotten. Herrje, der Koffer!

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich für die grobe Reinigung meiner Haare gebraucht habe. Aber ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass … Oh, das ist ja noch die deutsche Zeit. Wie viele Stunden Zeitunterschied sind es zwischen Deutschland und Kanada? Acht oder so müssten es sein. Egal, auf jeden Fall muss ich jetzt dringend zur Grenzkontrolle und dann meinen Koffer holen.

Meine nach wie vor feuchten Haare wirken zwar etwas fettig, aber eine frische Dusche werde ich erst im Haus meines Vaters bekommen. Der hoffentlich nicht vergisst mich abzuholen. Schnell binde ich sie mir zu einem Dutt zusammen, da sie bereits anfangen, im Nacken zu kleben. Normalerweise bin ich stolz auf ihre Länge. Sie reichen mir bis zur Taille, wenn ich sie geglättet habe. Aber gewöhnlich bade ich auch nicht in Erbrochenem, sodass meine leichten Naturlocken zum Vorschein kommen.

Hastig eile ich den Gang entlang. Gerade scheint ein weiteres Flugzeug in Calgary gelandet zu sein, weshalb ich mich eilig an den Leuten vorbeidrängele, um nicht hinter ihnen anstehen zu müssen. Meine Sorge ist unbegründet, denn hinter der nächsten Ecke teilen sich die Schlangen auf in US Bürger, kanadische Staatsbürger und dem Rest der Welt. Und das gelandete Flugzeug hat anscheinend nur europäische Touristen transportiert. Ich stelle mich in der Schlange für kanadische Staatsbürger an.

Mich erwartet kein Personal, sondern eine dieser Maschinen, bei der ich meinen Reisepass scanne und diese ihn mit einem aktuellen Foto von mir vergleicht. Oh man, ich hoffe, ich habe wirklich alles aus meinen Haaren gewaschen. Da komme ich nach gut acht Jahren in das Land meiner Geburt zurück und das erste Foto, was man von mir schießt, ist eines mit dem Mageninhalt meiner Sitznachbarin in den Haaren.

Das Gerät piepst und der Scanner für den Reisepass blinkt rot. Ich zucke mit den Schultern und lege den Pass erneut ein. Wieder dieses nervige Piepsen. Nachdem es auch ein drittes Mal nicht funktioniert, fordert das Gerät mich auf, das Personal aufzusuchen. Ungeduldig blicke ich mich um und winke eine Frau mit der Uniform des Calgary Airports herbei.

»Guten Abend, wie geht es Ihnen?«, begrüßt sie mich lächelnd. Stimmt ja, hatte ganz vergessen, dass hier immer alle so scheißfreundlich sind. Anstatt auf ihre Frage zu antworten, deute ich auf das defekte Gerät. »Das funktioniert nicht.«

Die Frau lächelt mich freundlich an und fordert mich auf, ihr zu ihrem Computer zu folgen. Ich lege meinen dunkelroten Reisepass in ihre ausgestreckte Hand und sie tippt etwas in ihre Tastatur ein.

»Sie kommen aus Deutschland?«

Ich brumme nur und antworte nicht.

»Haben Sie denn kein eTA beantragt?«

»Ne, brauch ich nicht, bin ja zur Hälfte Kanadierin.«

Sie lächelt mich an. »Dann willkommen zu Hause. Jetzt weiß ich auch, wo das Problem liegt. Sie haben mir den deutschen Reisepass gegeben. Ich brauche aber Ihren kanadischen.«

»Hab ich nicht.«

Ihr Lächeln verblasst. »Aber als kanadischer Staatsbürger sind Sie nur befugt mit einem kanadischen Reisepass ins Land einzureisen.«

Ich zucke hilflos mit den Schultern. »Wie ich bereits sagte: Habe ich nicht.«

Sie seufzt. Es scheint, als sei ihr Lächeln auf meine Lippen übergesprungen. Vielleicht muss ich ja doch nicht den Sommer hier verbringen, weil ich die Einreise verweigert bekomme und gleich mit der nächsten Maschine nach Hause geschickt werde. Dann würde ich vorher zwar keine Chance auf eine Dusche bekommen, aber das ist egal. Hauptsache wieder zurück und nicht mit fast achtzehn Jahren noch immer die Spielpuppe meiner Eltern sein.

»Das ist schlecht.« Meine Gedanken werden von der Flughafenmitarbeiterin unterbrochen. »Nur mit einem kanadischen Reisepass können wir wirklich sichergehen, dass Sie auch die kanadische Staatsbürgerschaft haben. Haben Sie denn die Sondergenehmigung beantragt, auch ohne den Reisepass einreisen zu dürfen?«

Ich kann mir ein Rollen der Augen nicht verkneifen. »Hätte ich die sonst nicht gleich verwendet?«

Bis gerade, wusste ich nicht einmal, dass es so etwas gibt. Oder, dass ich überhaupt einen kanadischen Reisepass brauche.

»Das wäre tatsächlich die einfachste Lösung gewesen. Manche Leute vergessen sowas.« So langsam ist auch die Freundlichkeit aus ihrer Stimme verschwunden. Sie drückt einen Knopf neben ihrem Computer und sagt irgendeinen Code auf. Dann wendet sie sich mir erneut zu. »Sie müssen leider mit mir kommen.«

»Ich kann auch wieder nach Hause fliegen. Sie müssen mir nur mit dem Koffer helfen. Der muss nämlich auch mit zurück.«

Sie schüttelt jedoch ihren Kopf und deutet mir an, ihr zu folgen.

»Wohin gehen wir?«

Zwei Männer in der blauen Uniform der Grenzbeamten kommen auf uns zu. Die werden mich doch jetzt nicht …

 

… verhaften. Ich bin allen Ernstes verhaftet. Seit einer Stunde warte ich in einem Zimmer ohne Fenster, mit einer Handschelle um mein rechtes Handgelenk. Wie ein Verbrecher im Verhör sitze ich an einem braunen Tisch in einem ansonsten leeren Raum mit weißen Wänden. Eine davon ist bestimmt aus Spiegelglas, sodass sie mich von außen beobachten können. Ich schneide eine Grimasse, in der Hoffnung, dass mich gerade wirklich einer beobachtet. Einerseits komme ich mir ziemlich schlau vor, weil ich ihren Trick durchschaut habe, auf der anderen ziemlich albern, weil ich mich wie ein Kind verhalte. Nicht, dass sie noch meinen Vater anrufen, damit er mich aus dem Småland abholen kommt. Wobei, es wäre vielleicht besser, wenn ihn jemand informieren würde. Er ist bestimmt schon längst wieder auf dem Weg zu seiner Ranch, weil ich nicht aus dem Flugzeug kam. Bestimmt hat er gedacht, dass ich doch noch gekniffen habe.

Die Tür öffnet sich und ein Beamter in Uniform tritt ein. Ein Lächeln liegt auf seinem Gesicht und er nickt mir zu. Als er mir gegenüber am Tisch Platz nimmt, steigert sich seine Freundlichkeit ins Unermessliche. »Hey Madison, wie geht es Ihnen?«

Er wagt es doch tatsächlich, mich zu fragen, wie es mir geht. Nachdem ich verhaftet wurde! Meine Antwort darauf wartet er allerdings nicht ab und fährt direkt fort: »Sie haben also versucht ohne Reisepass in Kanada einzureisen, ist das richtig?«

»Ähm, nein.«

Die Fältchen um seine Mundwinkel verschieben sich auf seine Stirn. »Wie lief die Situation Ihrer Meinung nach dann ab?«

Ich seufze, ehe ich zu einer ausführlichen Antwort aushole: »Ich habe versucht mit meinem deutschen Reisepass ohne die Beantragung dieses Estas oder wie auch immer …«

»eTA.«

»Jaja, also ohne dieses Dings da einzureisen. Aber eigentlich brauch ich das auch nicht, weil ich ja zur Hälfte Kanadierin bin.«

Er unterbricht mich wieder. Dabei wollte ich ihm doch jetzt die Lösung des ganzen Problems auf die unkomplizierte Art vorschlagen: Mich wieder nach Deutschland schicken.

»Aber warum haben Sie dann nicht ihren kanadischen Reisepass dabei?«

»Na, weil ich keinen habe.« Mein Kinderreisepass von damals ist schließlich abgelaufen. In Deutschland habe ich mir nur einen deutschen machen lassen. Wusste gar nicht, dass ich dort auch einen kanadischen beantragen kann.

»Wann war denn Ihr letzter Besuch in Kanada?«

Ich verziehe den Mund. »Besuch? Na, eigentlich bin ich ja hier geboren. Und bis ich zehn war, habe ich das Land auch nicht verlassen. Und dann hat meine Mom meinem Dad den Laufpass gegeben und ist mit mir zurück nach Deutschland zu meinen schrulligen Großeltern gezogen. Seitdem war ich nicht mehr in Kanada. Also kann man das wohl kaum Besuch nennen, oder?«

»Sie sind also kanadische Staatsbürgerin …« Blitzmerker. »Und als Kind nach Deutschland ausgewandert.«

Jetzt unterbreche ich ihn: »Na, so kann man das nicht nennen. Da meine Mom ja Deutsche war, also eigentlich auch noch ist … Ich fange mal von vorne an: Meine Mom hat hier ein Auslandsjahr gemacht, hat sich schwängern lassen, ist dann bei ihm geblieben, hat mich bekommen, die beiden hatten Krach, sie ist mit mir nach Deutschland. Ende der Geschichte.«

»Also sind Sie ausgewandert?«

Hilflos zucke ich mit den Schultern. »Weiß nicht. Ich war doch vorher schon Kanadierin und Deutsche in einem, oder sehe ich das falsch?«

Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Richte dich bloß nicht zu häuslich ein, ich habe nicht vor, länger in diesem Raum zu bleiben, Mr. Grenzpolizist.

»Wie dem auch sei …« Ich fahre fort, weil ihm offensichtlich die Worte fehlen. »Wir können das ganz einfach lösen: Sie gehen jetzt da raus, holen meinen türkisblauen Hartschalenkoffer für mich und dann setze ich mich in den nächsten Flieger nach Deutschland. Tragen Sie ruhig etwas wie illegaler Grenzübertritt in meine Akte ein und Sie sehen mich nie wieder. Außer, Sie kommen mal nach Deutschland. Aber ernsthaft? Das ist dort auch nicht viel besser als hier.«

»Ich war schon einmal in Deutschland.« Warum zum Teufel geht er nicht auf meinen Vorschlag ein? »In Berlin. Wohnen Sie dort in der Nähe?«

Was soll der Small Talk? Will der Zeit schinden, während mir die Trulla von eben einen neuen Pass druckt? Bei meinem Glück tut sie das gerade. Am Kopierer ihres Chefs. Halt, stop! Kopfkino aus, habe keinen Eintritt bezahlt.

Der Grenzpolizist sieht mich erwartungsvoll an. Was wollte er nochmal wissen? Ach ja, ob ich in der Nähe von Berlin wohne.

»Ne, Berlin ist nicht in meiner Nähe, sondern ziemlich weit oben. Wohne eher so im mittleren Westen.« Also nicht so wie in Amerika, aber in Köln Chorweiler muss man auch aufpassen nicht vom Pferd geholt zu werden.

»Wo wohnen Sie denn genau?«

»Kennen Sie eh nicht.«

»Ich kann nachschauen, steht in Ihrem Pass. Im deutschen ist es ja vermerkt.«

Wieder zucke ich mit den Schultern. »Machen Sie mal. Andere Frage: Kann ich wieder zurückfliegen?«

»Sie sind doch gerade erst angekommen?« Der Typ will mich nicht allen Ernstes ungestraft davonkommen lassen, oder?

Möglichst sachlich versuche ich ihm zu erklären: »Ja, aber die illegale Einreise, Sie wissen ja schon.«

Er fasst sich an die Stirn und steht auf, verlässt kurz den Raum und kommt mit einem Formular zurück.

»Hier, das müssen Sie ausfüllen, bei der nächsten Gelegenheit in Calgary einen kanadischen Pass beantragen und dann noch einmal unserer Behörde vorzeigen. Damit: Herzlich willkommen in Kanada!«

Das - ist - nicht - sein - verdammter - ERNST!

Okay, anscheinend doch. Er schiebt das aufgeschlagene Papier zu mir rüber und hält mir einen Stift hin. Lieblich grinse ich ihn an. »Kann nicht schreiben.«

»Oh, Legasthenie?«

»Ne, Rechtshänderin.« Ich lächle noch dämlicher. Er fasst sich erneut an die Stirn und kramt mit der anderen Hand einen Schlüssel aus der Tasche, um meine Handschelle zu lösen.

»Danke.« Spöttisch ziehe ich die Augenbrauen nach oben. Danke, dass ich wegen Ihnen den kompletten Sommer am Arsch der Welt verbringen darf.

Okay, eigentlich ist daran meine Mutter schuld. Aber diesen Grenzpolizisten habe ich kurzfristig für die Lösung meines Problems angesehen. Da er aber offensichtlich keine Lösung ist, ist er mitschuldig. Oder?

 

Am Gepäckband wartet mein Koffer. Statt einsam Runden auf dem Band zu drehen, hat ihn jemand zur Seite gestellt. Ein Wunder, dass das Gebäude noch nicht wegen des unbeaufsichtigten Gepäcks geräumt wurde. Aber wir sind ja in Kanada. Wer würde hier schon eine Bombe hochjagen? Die Kanadier bedanken sich dann hinterher noch, weil die Ankunftshalle sowieso renoviert werden musste. Wer nicht auf mich wartet, ist mein Vater. Der ist garantiert schon heim. Als ich mich endlich mit dem WLAN des Flughafens verbunden habe, checke ich erst mal meinen Instagram Account. Die Sprachnachricht meiner Mutter ignoriere ich. Zwanzig Kommentare unter dem Bild vom Bullauge. Ich nehme auf meinem Koffer Platz. Ein Glück, dass ich doch den aus Hartschale von Lola mitgenommen habe. Nicht, dass sie etwas davon wüsste. Oh, weiß sie doch, verrät der erste ersichtliche Kommentar in Großbuchstaben unter meinem Bild:

 

DU GEWITTERZIEGE! UND ICH SOLL JETZT MIT DEM BACKPACK DEINER MOM NACH LYON FLIEGEN???

 

Ja, sollst du. In Lyon warten statt ihrem nach Pferd stinkenden Dad, haufenweise Cousins und Cousinen auf Lola. Sie hat es besser getroffen als mich. Außerdem fliegt sie nur für zwei Wochen gegen Ende der Sommerferien. Und ich darf ganze sechs Wochen hier in Kanada bleiben. Deshalb habe ich den Koffer dringender nötig. Meine Antwort für sie fällt mit einem Kusssmiley aus. Eigentlich ist sie mir nicht wirklich böse. Zumindest nie für lange. Irgendwann lasse ich mich vom Koffer auf den Boden gleiten, weil immer mehr Leute anfangen, mit mir zu schreiben. Gerade als ich den letzten Kommentar beantwortet habe, blinken bereits neue auf. Der Post geht richtig viral. Wenn das so weitergeht, lohnt sich mein Kanadaurlaub ja doch. Wobei: Noch weiß keiner, dass ich nicht am Strand gelandet bin. Diese Erkenntnis wird meine Followeranzahl wieder unter die 3.000er Marke drücken.

Nachdem ich glaube, dass ich alle meine Nachrichten beantwortet habe, schalte ich den Bildschirm aus, um ihn gleich darauf wieder anzuschalten. Der Grund, warum ich es überhaupt aus der Tasche geholt habe, war schließlich meinem Dad zu schreiben. Ich scrolle in meinem Telefonbuch bis zum Buchstaben D für – nein, nicht Dad, sondern Dave – um festzustellen, dass ich ihn doch beim Nachnamen abgespeichert habe. Anders, Dave. Ich öffne seinen Kontakt in WhatsApp. Die zwei Wörtchen ›Bin da‹ sind schnell getippt. Ein Häkchen erscheint. Hat der Kerl etwa kein Internet? Wenn wir da auf der Farm keinen Empfang haben, drehe ich durch. Dann kann er mir ein Hotel in der Stadt bezahlen. Wie soll ich sonst up to date bleiben? Ich scrolle ein bisschen durch meine Instagram-Timeline, bis das Licht in der Halle plötzlich gedimmt wird. Habe ich was verpasst? Ich weiß ja, dass es mitten in der Nacht ist. Aber hat ein Flughafen normalerweise nicht vierundzwanzig Stunden geöffnet? Eine Frau in einem dieser knielangen Röcke kommt auf mich zugedackelt.

»Miss? Ich muss Sie bitten, das Flughafengebäude zu verlassen.«

»Warum?« Ich starre weiterhin auf mein Handy. Gibt keinen Grund mich gleich rauszuschmeißen.

»In den nächsten Stunden landen erst mal keine Flugzeuge und ich möchte die Ankunftshalle gerne abschließen«, erklärt sie mir. Ich lasse die Hand mit Handy darin zu Boden sinken und lehne meinen Kopf gegen den Koffer.

»Aber nur die Ankunftshalle, oder?«

Sie nickt, was ich im dämmrigen Licht der Notbeleuchtung gerade so erkennen kann.

»Sie können gerne mit mir zum Wartebereich der öffentlichen Verkehrsmittel kommen.«

Ich schüttle den Kopf. »Warte auf meinen Vater.«

»Wissen Sie denn, wann er kommt? Ich kann sie gerne zum Kurzzeitparkplatz bringen.«

»Er ist nicht online.« Ratlos deute ich auf mein Handy.

Die Frau mustert mich ungläubig. »Haben Sie denn einmal versucht anzurufen?«

»Wie denn? Hab noch keine kanadische SIM-Karte.« Ich will nicht behaupten, dass ich selbst auf die Idee gekommen wäre. Um ehrlich zu sein, habe ich gar nicht daran gedacht. Aber die Ausrede mit der SIM-Karte erscheint mir besser. Immerhin scheint die gute Frau nicht viel Verständnis für die digitale Jugend von heute zu haben. Ihr Mundwinkel hat eben verächtlich gezuckt. Ich habe es genau gesehen. Die Frau zieht den Henkel ihrer schwarzen Lederhandtasche von der Schulter und fängt an darin zu kramen. Sie greift nach ihrem Smartphone in einer Katzenhülle und hält es mir hin. »Hier, du kannst ihn mit meinem anrufen.«

Ich nehme es an mich, suche auf meinem Handy nach der Nummer meines Vaters und während das Freisignal im Ohr ertönt, flüstere ich ihr ein Danke zu.

»Hallo?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung hört sich rau und krächzend an.

»Dave?« An dem Wort Dad hätte ich mich verschluckt. Ich nenne ihn nach all der Zeit lieber bei seinem Vornamen.

»Wer ist denn da?« Die Stimme ist ziemlich leise, sodass ich mir das Telefon fester an mein Ohr presse.

»Ich bins, Madison, deine Tochter.« Die Frau im Knierock runzelt ihre Stirn. Ist bestimmt komisch, wenn die Tochter sich ihrem Vater vorstellen muss.

»Oh, die Maddy. Dave, kommst du mal? Unsere Maddy ist am Telefon.«

Ups, das war gar nicht mein Vater. Wer wohnt denn noch bei ihm? Seine neue Ehefrau wird es der Stimme nach zu urteilen nicht sein. Eigentlich hätte mir sofort klar sein müssen, dass das nicht mein Vater gewesen sein kann, da er in der Zwischenzeit wohl kaum so sehr gealtert wäre. Klar, er war einige Jährchen älter als meine Mutter, die mit süßen achtzehn zu einer wurde, aber er war damals höchstens Anfang dreißig.

In der Leitung knistert es und dann fragt eine wesentlich jüngere Stimme: »Madison?«

»Ja, in der Tat.«

»Oh, Madison.« Mein Vater klingt ein wenig neben der Spur. »Du rufst bestimmt an, um mit mir abzuklären, wann ich dich holen soll. Hör mal …«

»Ähm, um genau zu sein: jetzt.« Er hat mich allen Ernstes vergessen. Acht Jahre und 7.384 km bauen keine Verbindung zu jemandem auf. Die Zahl weiß ich deshalb so genau, weil meine damalige beste Freundin und ich uns einen Brief für jeden Kilometer schreiben wollten, der uns trennte. Bis Kilometer Nummer neun bin ich gekommen. Irgendwann war selbst die Wahrscheinlichkeit höher, nach Hogwarts eingeladen zu werden, als noch mal was von Amber zu hören.

»Oh, das war schon heute?« Ich kann förmlich sehen, wie er sich durch sein strubbeliges, braunes Haar fährt. Falls er inzwischen nicht schon eine Glatze hat.

»Jep. Wie lange brauchst du, um mich zu holen?«

»Wie spät ist es?«Die Stimme am Telefon klingt dumpf, als hätte er den Hörer zur Seite gelegt. Ich schalte den Bildschirm meines Handys an. Sieben Uhr morgens in Deutschland. Keine Ahnung was das hier in Kanada ist. Auf jeden Fall ist es schon länger dunkel. Knierock schaut mich ungeduldig an. Ich deute entschuldigend auf ihr Handy und wende ihr dann den Rücken zu. Nerv nicht.

»Ah, ja, bereits elf Uhr abends.« Jetzt klingt seine Stimme wieder näher an meinem Ohr. »Madison, hörst du? Gleich müsste der Bus Nummer 300 vom Flughafen in Richtung Stadt fahren. Von da aus steigst du um in die …«

Ich falle ihm ins Wort. »Ernsthaft? Nach acht Jahren hältst du es nicht für nötig, mich am Flughafen willkommen zu heißen? Ich soll mich stattdessen mit dem Bus in die Pampa begeben. Super, danke, Dad.« Das letzte Wort spreche ich voller Wut und Ironie aus.

»Madison, hör bitte zu …«

»Sorry, die Frau hier will ihr Handy zurück. Schick mir die Adresse einfach per WhatsApp, ich komm schon alleine klar.« Mit diesen Worten lege ich auf. Oh man. Nicht nur ich wäre lieber in Deutschland geblieben. Mein Vater will mich auch nicht hier haben. Warum nochmal musste meine Mutter mich so dringend aus dem Weg schaffen? Ich werde in wenigen Tagen achtzehn und hätte ohne Probleme alleine daheim bleiben können. Sie wollte mir in den letzten Tagen meiner Minderjährigkeit nochmal beweisen, dass sie die Macht über mein Leben hat. Sie kam wieder mit diesem ›Die Beine unter ihren Tisch‹ Gerede. Wobei alles, was auf dem Tisch steht, vom Arbeitsamt bezahlt wird. Nur mal so als Randinfo.

Ich drücke der Frau ihr Katzenhandy in die Hand und ziehe meinen Koffer hinter mir her, raus aus der Eingangshalle. Bus 300 hat er gesagt. Na, dann schauen wir mal, wo wir den finden.

 

 

Kapitel 2

 

Nachdem ich die Adresse von meinem Vater ohne weitere Kommentare geschickt bekommen habe, steige ich in den Bus ein. Was ich nicht bedacht habe, ist, dass mit Verlassen des Flughafengeländes das WLAN enden würde. Das fällt mir erst auf, als mein vorgeladener Feed endet und ich keine neuen Beiträge zum Liken habe.

Der Bus hält am Northmount Drive. Ich weiß beim besten Willen nicht, wann ich raus muss.

»Kann ich dir helfen?« Eine junge Frau auf dem Sitz mir gegenüber schaut mich freundlich lächelnd an. Ich scheine wirklich verdammt hilflos auszusehen.

Ich schenke ihr ein knappes Lächeln, ehe meine Mundwinkel wieder runtersacken. Meinetwegen kann der Bus mich ans andere Ende der Stadt bringen. Ich hab es echt nicht eilig, meinen liebenden Vater wiederzusehen.

»Wo möchtest du hin?« Die Frau will unsere Begegnung anscheinend intensivieren.

»Muss in die 55 Southwest Avenue.«

»Oh, das ist doch in Windsor Park, oder?«

»Kann sein.«

»Dann musst du ja schon bald umsteigen. Schade, ich muss in die andere Richtung weiter.«

Ein Glück. Die Frau hält ihre Klappe nicht und fährt fort: »Du kannst mit mir aussteigen. Ich zeig dir dann, wo du die 3 findest. Ich bin übrigens Heather und du?«

Ich hole einmal tief Luft und stoße sie ebenso langsam wieder aus, ehe ich ihr antworte: »Maddy.«

Dabei mustere ich sie zum ersten Mal genauer. Sie hat blondes, schulterlanges Haar und trägt eine auffällige Kette über ihrem Dekolleté. Ihr brauner Mantel verdeckt ihr Oberteil und reicht ihr fast bis zu den Knien. Darunter trägt sie eine auffällig gemusterte Strumpfhose und Wahnsinn: keine Cowboystiefel. Mir gefällt ihr Style. So überhaupt nicht kanadisch.

»Wo hast du die Strumpfhose her?«

Heather blickt nach unten, als müsse sie sich erst in Erinnerung rufen, was sie heute Morgen angezogen hat. »Oh, die ist aus dem Thrift Store. Keine Ahnung, von welcher Marke die ist. Hat nur einen Dollar gekostet, cool, nicht? Den Mantel hab ich auch von da, war für einen Zehner zu haben.«

So günstig? Sie sieht aus, als würde sie Designerklamotten tragen. Ich konnte mir solche Klamotten nie leisten und war froh, dass ich Lolas alte Sachen immer bekommen habe. Wenn es in diesem Thrift Store so günstige Teile gibt, könnte ich zur Abwechslung einmal etwas vor ihr besitzen.

»Wo finde ich den Laden denn?«

Ihre Augen fangen an zu strahlen. »Wenn du möchtest, können wir die Tage zusammen hin. Du bleibst doch noch etwas, oder?«

Ich nicke. Warum eigentlich nicht? Auch wenn ich versuche sie nicht zu mögen, irgendwie ist Heather mir sympathisch. Sie zieht an der Strippe am Fenster, um den Bus an der nächsten Haltestelle zum Halten zu bringen. Als der Bus zum Stehen kommt, steigen wir beide aus. Heather kramt ihr Handy aus der Tasche und gibt mir ihre Nummer. »Dort drüben fährt der Bus Nummer 3 ab. Ich muss leider um die Ecke. Aber wir sehen uns, Maddy. War schön, dich kennenzulernen.«

Auch im nächsten Bus habe ich keine Ahnung, wann ich aussteigen soll. Blöd, dass ich Heather das nicht gefragt habe. Zum Glück haben die Straßen in Kanada aufsteigende Nummern und ich steige an der 53 Southwest aus und laufe die letzten Blöcke zu Fuß. Die Rollen des Koffers sind das einzige Geräusch, das die Nacht erfüllt.

Eigentlich dachte ich, dass mein Vater noch auf derselben Farm leben würde, auf der ich aufgewachsen bin. Irgendwo zwischen Calgary und Vernon, in dem kleinen Trailer, in dem wir zu dritt lebten. Zu wenig Raum, um Streitgesprächen aus dem Weg zu gehen, die sich mit jedem Jahr häuften. Meine Mutter war unzufrieden. Nach der Schule zum Work and Travel nach Kanada gegangen, schwanger geworden, Kind großgezogen, nie etwas gelernt und immer nur behelfsmäßige Kellnerjobs gehabt. Ursprünglich wollte sie studieren und in einer großen Firma arbeiten. Dafür war ihr das Auslandsjahr wichtig, um ihre Englischkenntnisse aufzubessern. Mich wollte sie deshalb abtreiben. Mein Vater schien damals noch Interesse an mir zu haben, denn er überredete sie zu einem Leben mit ihm auf der Ranch. Er selbst war nur Ranchhelfer, nicht einmal der Eigentümer. Als meine Mutter mit mir nach Deutschland ging, um ihre Karriere in die Hand zu nehmen (die sich übrigens auf weitere Kellnerjobs beschränkte), hatte er plötzlich nicht mehr so viel Interesse an mir. Ganz prima, oder? Eine Mutter, die einen nicht haben will und einem ständig vorhält ihr Leben zerstört zu haben und einen Vater, der die Schuld daran trägt, dass es mich überhaupt gibt, der sich aber nach einigen Jahren nicht mehr für mich interessierte. Maddy, die Zerstörerin von Träumen und Plänen. Und jetzt werde ich wie ein ungeliebtes Weihnachtsgeschenk von einem zum nächsten gereicht.

Ich bleibe vor einem unscheinbaren Haus mit mehreren Mietparteien stehen. Leider gibt es keine Klingelschilder mit Namen. Es gibt ein Nummernpad, aber ich weiß nicht, welche ich eingeben soll, um bei meinem Vater zu klingeln. In seiner WhatsApp steht nichts davon. Ist das jetzt sein Ernst? Wahllos tippe ich Nummern auf der Tastatur ein. Nichts rührt sich. Irgendwann lasse ich mich verzweifelt auf der Stufe am Eingang sinken. Zum Glück ist es nicht eisig kalt. Draußen schlafen möchte ich trotzdem nicht. Ich versuche, ein offenes WLAN-Netz zu finden. Keine Chance. Also probiere ich mich durch die verschlüsselten Netze. Gebe den Namen des Netzwerkes als Passwort ein. Da aber kein Café oder dergleichen in der Nähe ist, habe ich auch damit keinen Erfolg. Ich weiß dank der Zeitverschiebung nicht einmal, wie spät es ist. Der Jetlag macht sich bemerkbar und mir fallen die Augen zu. Vielleicht kommt mein Vater auf die Idee mal nach mir zu sehen.

 

»Ist dir nicht kalt?«

Zitternd wache ich auf. Ich muss eingeschlafen sein. Ist es nicht offensichtlich, dass ich friere?

Etwas stößt gegen meine Schulter und ich rapple mich auf. Im Licht des Flures mache ich einen alten Mann im Rollstuhl aus. Schnell setze ich mich auf und schnappe mir meinen Koffer.

»Komm rein, Maddy«, fordert der Alte mich auf. Moment: Woher weiß er wie ich heiße?

Er rollt mit seinem Rollstuhl zurück ins Gebäude. Rasch springe ich zur Tür, bevor sie ins Schloss fällt. Endlich im Warmen atme ich erleichtert durch. Zumindest ist der Hausflur deutlich wärmer als der kalte Steinboden vor der Tür. Unschlüssig bleibe ich stehen, während der Alte auf eine Tür am Ende des Ganges zurollt, die einen Spalt breit offensteht. Mit der am Rollstuhl montierten Stellfläche für die Füße stößt er die Tür auf und dreht sich dann im Rahmen um. Die ganze Zeit überlege ich, warum mir das Faltengesicht bekannt vorkommt. Als er erneut zu mir spricht, wird mir klar, dass es die Stimme vom Telefon ist, die ich zuerst für meinen Vater gehalten habe. »Nicht so schüchtern, Mädchen. Drinnen wartet Maple Tea auf dich. Oder magst du lieber einen Kaffee?«

»Ähm, ne danke. Ein Bett wäre nicht schlecht.« Wenn der Kerl schon bei meinem Vater wohnt, kann ich ihm auch folgen. In Köln habe ich zwar gelernt, nicht mit fremden Männern in die Wohnung zu gehen, aber ein alter Mann im Rollstuhl wirkt nicht besonders bedrohlich auf mich. Maximale Angst: Er könnte mir mit den Rädern über den Fuß rollen. Meine Vans würden das nicht so gut verkraften.

»Gerade erst angekommen und schon willst du ins Bett. Dabei haben wir uns so lange nicht gesehen.«

Haben wir uns überhaupt schon einmal gesehen? Frage ich natürlich nicht. Vermutlich haben wir das. Aber meine Zeit in Kanada ist schon ein Weilchen her und verdammt, ich war damals erst zehn. Ich kann mich ja nicht einmal an meine Klassenlehrerin aus der fünften Klasse am Gymnasium in Köln erinnern. Wobei ich da auch nur bis zu den Herbstferien blieb. Eindeutig zu kurz für eine bleibende Erinnerung.

»Dann doch einen Tee?« Ich will ja nicht unhöflich sein. Immerhin hat der Alte mich vor der Kälte gerettet. Während er einen Topf mit Wasser füllt und das Feuer des Gasherds anzündet, schaue ich mich in der Bude um. Alte Teppiche liegen auf dem Boden, die das Geräusch des Rollstuhls dämmen. Die Möbel wirken altertümlich, als wäre die Zeit hier stehen geblieben. Okay, so alt auch wieder nicht, aber sie sind definitiv älter als ich. Ohne dazu aufgefordert zu werden, lasse ich mich auf den Stuhl am Küchentisch fallen. Er gibt ein Knarzen von sich und ich glaube jetzt weiß ich, warum der Alte seinen Rollstuhl bevorzugt. Der Stuhl weckt nicht gerade Vertrauen in mir. Vorsichtshalber setze ich mich aufrecht hin, um mich notfalls an der Tischplatte festhalten zu können.

»Warum bist du zu so später Zeit noch wach?« Die Stimme kommt mir vertraut vor. Ich wende meinen Kopf zum Türrahmen und entdecke einen seriös aussehenden Mann in Holzfällerhemd und Jogginghose. Die Seriosität wird ihm eher durch eine Lehrerbrille, einem Dreitagebart und einer ordentlich gegelten Frisur verliehen und nicht durch seine Kleidung. Mit diesen Worten hat er allerdings nicht mich gemeint, sondern den Rollstuhlfahrer.

»Musste die Maddy doch noch begrüßen«, murmelt der Alte mit rauchiger Stimme. Er richtet sich in seinem Rollstuhl auf, um das kochende Wasser in zwei Tassen zu füllen. Mein Vater eilt zu ihm und nimmt ihm den heißen Topf aus der Hand.

»Pass auf, sonst verbrühst du dich noch«, schimpft er mit dem alten Herren. Vorsichtig füllt er die beiden Tassen auf. Dann erst wendet er sich mir zu. Mit der freien Hand fährt er sich durch das ordentlich gestylte Haar. Das Bild, das er abgibt, passt nicht recht zu meiner Erinnerung von ihm. Er war schließlich der Ranchhelfer, der seine Haare nur schnitt, wenn seine Frau ihn zum Friseur zwang.

»Ähm, hallo Madison. Schön, dass du es bis zu uns geschafft hast.«

Ist das alles, was er zu sagen hat?

»Hi, Dad.«

Er stellt den leeren Topf ab und nimmt die beiden Tassen. Dann deutet er dem Alten an, vorauszurollen und folgt ihm mit dem Tee. Am Tisch ist ein Platz ohne Stuhl für den Rollstuhl frei. Ehe er diesen erreichen kann, bleibt er an einem der Teppiche mit den Rädern hängen und rollt nochmal ein Stück zurück, um erneut Anlauf zu nehmen. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Der Alte bemerkt es und zwinkert mir zu. Mein Vater drängt sich am Rollstuhl vorbei, stellt hastig die Tassen auf den Tisch und eilt dem Alten dann zur Hilfe.

»Du hättest mich auch die Tür aufmachen lassen können. Ich hab das Klingeln gar nicht gehört«, tadelt mein Vater ihn.

Bevor er etwas sagen kann, melde ich mich zu Wort: »Ich habe nicht geklingelt. Wie auch? Hier gibt’s keine Namen oder Klingelschilder.«

»Oh, daran hab ich nicht gedacht. Ist die Nummer 2571. Tut mir leid. Ich hoffe, du musstest nicht zu lange warten.« Dann wendet mein Vater sich wieder dem Alten zu. »Warum warst du überhaupt draußen? Du sollst doch nicht ohne mich durch die Gegend fahren.«

Ich nehme meine Tasse Tee in die Hand, traue mich aber nicht, etwas zu trinken, und mustere die beiden Männer. Der eine, der in mir ein vertrautes Gefühl hervorruft, aber in meiner Erinnerung so komplett anders aussieht. Und der andere, dessen Falten das verdecken, was mir vielleicht bekannt sein könnte. Er wirkt alt. Sehr alt. Lediglich seine Augen sprühen vor Leben. Ansonsten sind seine Bewegungen langsam und behäbig. Er trinkt aus der Tasse, ohne sich daran zu stören, dass der Tee noch zu heiß ist.

»Ich bin bereits 72 Jahre alt. Da werde ich wohl alleine vor die Tür gehen dürfen, ohne mich von meinem Sohn begleiten lassen zu müssen.« Das ist es. Natürlich habe ich Großeltern in Kanada. Aber wirklich erinnern kann ich mich nicht mehr an sie. Sie lebten im Yukon und hatten dort ihr eigenes Homestay. Einmal kamen sie uns an Weihnachten besuchen. Und ein anderes Mal waren Mom und ich bei ihnen im Yukon. Da muss ich ganz klein gewesen sein. Ich kann mich nur noch an ein Bild in unserem Trailer erinnern, auf dem ich auf einem Pony saß, mit der strahlenden Granny Livia neben mir. An meinen Großvater kann ich mich nicht mehr erinnern. Stan. Das war sein Name. Und heute sitzt er hier, mit einer kochend heißen Tasse Tee in seiner Hand und lächelt mich mit diesen spitzbübig funkelnden Augen an.

»Warum das Speedmobil?«, will ich wissen.

Grandpa stellt die Tasse Tee ab. »Bin bequem geworden.«

»Dein Grandpa ist krank, Madison.«

Ich nicke. Keine Ahnung was genau er hat.

»Mit dem Teil hängst du zumindest die Großväterchen mit Rollator ab.« Ich weiß noch, dass meine Großmutter in Deutschland sich geweigert hat, mit so einem Ding durch die Gegend zu fahren. Stattdessen hat sie alles mit dem Auto erledigt oder meine Mutter oder mich zum Einkaufen geschickt. Ätzend.

»Wenn ich den Kampf gegen die Teppiche gewinne, siehts ganz gut aus«, erwidert Grandpa mit verschmitztem Blick. Ich muss grinsen.

Mein Vater seufzt. »Ich habe dir gesagt, dass ich sie rausräumen werde. Morgen sollte ich bereits am Nachmittag von meinem Kundentermin zurück sein. Dann habe ich Zeit dafür und Madison kann mir dabei helfen.«

Da komme ich mir gleich wie zu Hause vor, wenn ich in die alltäglichen Aufgaben mit eingespannt werde. Ganz prima.

»Ich mag vielleicht nicht mehr der Schnellste sein, aber im Skatclub bin ich auf jeden Fall immer derjenige, der sein Blatt zuerst ablegen darf.« Grandpa zwinkert mir zu.

»Läuft bei dir«, erwidere ich.

Mein Vater rollt mit den Augen. »Laufen tut dein Großvater bereits seit ein paar Monaten nicht mehr.«

»Och, manchmal schaffe ich es noch von meinem Rollstuhl bis ins Bett.«

 

 

Kapitel 3

 

Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist. Auf jeden Fall scheint draußen die Sonne, als ich meine Augen aufschlage. Die Muster der weißen Raufasertapete sehen aus wie Augen und starren mich an. Wie vermutlich auch der ein oder andere Nachbar. Immerhin befinden wir uns im Erdgeschoss und dieses Zimmer hat keine Rollläden. Aber außer einem Baum, an dem gerade ein Eichhörnchen emporklettert, ist vor dem Fenster nichts zu sehen. Mein Zimmer scheint Richtung Hinterhof ausgerichtet zu sein.

»Madison?« Es klopft an meiner Tür. Ich schlage seufzend die Bettdecke zurück. Dann greife ich nach meinem Handy. Ich muss meinen Vater dringend nach dem WLAN-Passwort fragen. Dazu müsste ich allerdings auf sein erneutes Klopfen reagieren. Die Tür geht auf. So viel zum Thema Privatsphäre.

»Was ist?« Ich setze mich im Bett auf.

Diesmal trägt mein Vater ein blaues Hemd und sieht noch seriöser aus, als am Tag zuvor.

»Ich muss um zehn bei einem Meeting sein. Wenn du frühstücken möchtest: Ein paar Schokoflakes sind im Schrank. Bei der Milch bin ich mir nicht sicher, ob sie noch gut ist.«

Schokoflakes werden dem Eintrag in meiner Ernährungs-App nicht guttun. Ich frühstücke besser gar nicht.

»Wie ist das WLAN-Passwort?«, frage ich ihn.

Sein Gesichtsausdruck bleibt unverändert, als er mir antwortet: »Steht auf der Rückseite des Routers. Ist in meinem Schlafzimmer. Ich muss jetzt los. Bis später.«

Als ob ich wüsste, wo sein Schlafzimmer ist. Er schließt die Tür meines Zimmers und ich schwinge die Füße aus dem Bett. Wahnsinn, dass ich überhaupt eines habe. Ansonsten scheint er nicht gerade auf meinen Besuch vorbereitet zu sein.

Ich warte, bis auch die Haustür ins Schloss fällt, dann wage ich mich aus dem kleinen Raum in der Mitte des Ganges. Keine Lust, mich weiterhin von meinem Vater anschweigen zu lassen. Rechts geht es zur Wohnküche. Links neben mir ist ein Raum, gegenüber liegt das Badezimmer, in dem ich mir in der Nacht noch meine Haare gewaschen habe, nach dem Unfall im Flugzeug. Am anderen Ende des Ganges befindet sich eine weitere Tür. Eine der beiden wird wohl sein Schlafzimmer sein. Ich versuche es an der Tür links von mir. Der Rollstuhl steht vor dem Bett, das ebenfalls leer ist. Ich dachte eigentlich, dass mein Grandpa nicht mehr gut zu Fuß sei. Die Wände hängen voll mit Bildern. Große Schwarz-Weiß-Aufnahmen von verschiedenen Tieren. Ein paar Landschaften sind auch zu sehen. Ein Bild zeigt dunkle Gewitterwolken, die hinter einem gigantischen Gebirge aufziehen und meine momentane Stimmung perfekt widerspiegeln. Obwohl ich neugierig bin, schließe ich die Tür wieder. Viel mehr interessiert mich, ob Lola sich eingekriegt hat.

Das Schlafzimmer meines Vaters ist schlicht. Rustikales Bett, ein Kleiderschrank aus Eichenholz (auch mindestens dreimal so alt wie ich), und der WLAN-Router steht gut sichtbar auf einem weißen Teppich, der ausnahmsweise nicht aussieht wie aus den 60ern. Ob er ihn wohl nachträglich ausgelegt hat, damit Grandpa ihm nicht hinterherrollen kann?

Zwanzig Follower weniger. Das kommt davon, wenn man nicht regelmäßig postet. Nach meinem Flugzeugbild kam nichts mehr von mir. Und wie lange ist das jetzt her? Mindestens einen Tag schon. Außerdem war ich selbst zu wenig aktiv.

Schnell scrolle ich durch die Kommentare. Von Jonas ist keiner dabei. Sein Profilbild, auf dem er oberkörperfrei abgebildet ist, wäre mir sofort aufgefallen. Ich habe mich damals gefreut wie ein kleines Kind zu Weihnachten, als die Nachricht kam, dass Jonas mir folgt. Ich hatte ihn natürlich schon länger auf dem Schirm. Zuerst schien ich ihm nicht weiter aufgefallen zu sein. Doch dann begann er meine Bilder zu liken und zu kommentieren. Und als ich mit Lola vor zwei Wochen Eis essen war, hat er sich spontan zu uns gesetzt. Zuerst dachte ich, dass er das getan hat, weil ihm meine Posts auf Instagram gefallen haben. Aber dann kam heraus, dass er Lola wohl im Schwimmbad getroffen hat.

Apropos Lola … Ich muss erst mal Lolas tausend Nachrichten beantworten. Die ersten drehen sich um ihren Koffer, dann folgen Herzaugensmileys und oh nein … Ich habe es geahnt.

 

14:05 Lola

Rate mal mit wem ich heut abend ein date habe x) x) x)

 

15:01 Lola

Mit Jonas!

 

15:15 Lola

Hallo du nudel? Ich habe ein date mit Jonas!

 

15:15 Lola

Heute abend!

 

16:30 Lola

MADDY! ICH HABE EIN DATE MIT JONAS! WAS SOLL ICH ANZIEHEN???????????

17:01 Lola

Ich nehm einfach das rote. Du weißt doch, das von pimkie. Oder meinst du das ist zu billig?

 

17:12 Lola

Billig aber geil. Um 20 uhr geht’s los!

 

17:59 Lola

Danke für deine hilfe -.-

 

Danke dafür, dass du dir am ersten Tag meiner Abwesenheit meinen Schwarm krallst. Ernsthaft? Hätte sie damit nicht noch ein paar Tage warten können? Ach was soll’s. Als ob es in ein paar Tagen erträglicher für mich wäre.

 

18:10 Maddy

Rot steht dir

 

Mehr schreibe ich ihr nicht. Als ob ich ihr dabei helfen würde, sich meinen Schwarm zu angeln. Das rote Kleid ist für ihren breiten Arsch sowieso zu eng. Das muss ich ihr bei der nächsten Gelegenheit unbedingt sagen. Das Kleid würde mir nämlich unglaublich gut stehen. Und sobald Lola feststellt, dass ihr Hintern zu dick dafür ist, würde es in meinen Besitz übergehen. Soweit der Plan. Bei einem Date mit Jonas könnte ich es dann natürlich nicht mehr tragen. Immerhin würde er es mit Lola und ihrer braunen Haut in Verbindung bringen. Manchmal bin ich ganz schön neidisch auf das Äußere meiner besten Freundin. Als Französin braucht sie nicht mal Sonnencreme. Kein Sonnenstudio und kein nerviges Haare färben. Ihre glatte Mähne schimmert immer in diesem dunklen Ebenholzton, ohne, dass sie eine Kur benutzen müsste. Bei ihrem Vorbau würde ich Probleme bekommen, ein Oberteil zu finden, dass ihn verdeckt. Aber Lola hat kein Interesse daran, ihn zu verstecken. Die Bluse geschlossen trägt sie nur, wenn ihre Eltern in der Nähe sind. Wenn Lola es mit mir verkackt, dann zeige ich ihren Eltern wie man Instagram benutzt. Die würden aus allen Wolken fallen, wenn sie sehen, wie ihre Tochter außerhalb ihrer Obhut rumläuft. Bisher ist dieser Fall jedoch nicht eingetreten.

Lola ist zwar die Reichere von uns beiden, ich dafür die Stärkere. Als ich nach meinem Umzug vom Gymnasium auf die Realschule wechseln musste, waren Lola und ich die einzigen Ausländerinnen in der Klasse. Und wer anders aussieht und die deutsche Sprache nicht beherrscht, hat eben kein Recht dazuzugehören. Lola wurde damals ausgelacht, weil sie als Einzige aus der Klasse bereits einen BH tragen musste. Einer der Jungen klaute diesen aus der Tasche beim Sportunterricht und ich fand den BH zerschnitten im Mülleimer. Ich habe dafür seine Schultasche mit einem Loch im Boden versehen, sodass er auf dem Weg nach Hause all seine Schulbücher verlor. Und es hat geregnet. Lola grinste mich an. Ihr war klar, dass nur die andere Ausländerin in der Klasse ihr zu Hilfe kommen würde. Am nächsten Tag kam ich ebenfalls mit BH in die Schule, auch wenn da noch nicht viel war, was dieser hätte halten können. Schnell war ich für meine stillen Rachemethoden bekannt. Niemand traute sich mehr, Lola offen anzugreifen. Nur hinter unserem Rücken, da redeten sie alle. Doch wer die physischen Hiebe kennt, den streifen die Worte nur. Man härtet ab, legt sich einen Panzer zu. Den Panzer, den später auch positive Gefühle nur noch schwer zu durchdringen scheinen.

 

18:15 Lola

Es wird das rote. Ich werde berichten :-x

 

Besser nicht. Da ich wirklich keine Lust auf Lolas Datenachrichten habe – die schickt sie in so regelmäßigen Abständen, sodass ich mich frage, ob sie sich nicht besser virtuell mit ihrem Schwarm verabredet hätte – drücke ich auf Play, um die Sprachnachricht meiner Mutter anzuhören.

»Hi Süße, hoffe du bist gut gelandet. Ich weiß, dass du noch immer sauer auf mich bist, dass ich dich überredet habe, diesen Sommer in Kanada zu verbringen. Glaub mir, das ist das Beste für dich. Deine Großeltern … na ja, du weißt ja, wie sie sind. Sie hätten dich sonst in irgendein Sommercamp geschickt. Und dafür bist du nun wirklich zu alt. Du kennst die beiden ja. Wer nicht mindestens Medizin oder Jura studiert, ist in ihren Augen ein Versager. Vielleicht findest du in Kanada Zeit, ein bisschen für die Schule zu lernen. Grüß deinen Dad von mir. Oder besser doch nicht. Nein, das ist keine gute Idee. Grüß einfach niemanden von mir. Meld dich, wenn du angekommen bist.«

Angekommen bin ich bereits gestern. Und ich habe mich noch immer nicht gemeldet. Warum macht sie sich eigentlich keine Sorgen? Dass ich dieses Jahr durchs Fachabi gerasselt bin und das letzte Schuljahr wiederholen darf, musste Mom mir natürlich nochmal unter die Nase reiben.

Ich schreibe ihr schnell, dass ich bei Dad bin und statt Lolas neue Nachrichten zu lesen, packe ich mein Handy ein und gehe in die Küche. Mein Magen knurrt, als würde er es ahnen. Ein Blick in den Kühlschrank bestätigt die Worte meines Vaters. Außer Milch und ein paar Flaschen Bier ist nichts weiter drinnen. Und bei der Milch bin ich mir nicht sicher, ob sie noch trinkbar ist.

Was viel wichtiger ist, ist die Kaffeemaschine, die auf der Herdplatte steht. Sieht so aus, als würde diese häufiger genutzt, als die Kochstelle selbst. Die Pads stehen direkt daneben. Nur die Suche nach einer Tasse gestaltet sich als schwierig. In den Hängeschränken auf meiner Augenhöhe finde ich nichts, woraus ich Kaffee trinken könnte.

»Unten«, krächzt die rauchige Stimme meines Grandpas. Diesmal schafft er es besser über den Teppich zu rollen. Er streckt den Zeigefinger aus und deutet auf meine Knie. Oder besser auf die Tür dahinter. Welcher Mensch verstaut Tassen in einer Küche in den unteren Schränken? Ich nehme mir eine heraus und schließe die Tür wieder. Der Kaffee ist schnell gekocht. Grandpa sitzt in seinem Rollstuhl neben mir und mustert mich.

Ich bin froh, als ich meinen Kaffee fertig habe und mich an den Küchentisch setzen kann. Grandpa folgt mir nicht. Stattdessen öffnet er den Schrank und nimmt sich selbst eine Tasse heraus. Da hätte ich auch gleich draufkommen können. Die Tassen sind da unten, damit er sie besser erreichen kann.

»Trinkst du ihn schwarz?« Er holt sich die Milch aus dem Kühlschrank. Langsam beschleicht mich das schlechte Gewissen. Ich biete ihm keinen Kaffee an und er erinnert mich stattdessen an die Milch. Weil ich mich nicht traue, meine Unhöflichkeit zuzugeben, behaupte ich, den Kaffee schwarz zu trinken.

»Irgendwelche Pläne für den Tag?« Grandpa gießt sich die Milch in die Tasse.

»Nö, und du?«

Erst als er die Milch weggestellt hat und mit der Tasse in der Hand umständlich zu mir an den Tisch rollt, antwortet er: »In meinem Alter macht man keine Pläne mehr. Jeder Tag könnte der letzte sein und unerfüllte Wünsche könnten mich den plötzlichen Tod bereuen lassen. Aber in deinem Alter, da sollte man voller Wünsche und Erwartungen an das Leben sein. Also: Welchen Herzenswunsch wirst du dir heute erfüllen?«

Statt zu antworten, schlürfe ich an meiner Tasse. Bah, schmeckt das eklig. Kaffee ohne Milch sollte verboten werden. Aber ich traue mich nicht, etwas zu sagen.

Grandpa starrt mich weiterhin erwartungsvoll an. Merkt er nicht, wenn jemand keine Lust hat, mit ihm zu reden?

Ich denke über seine Frage nach. Dass Lola sich mit Jonas trifft, wurmt mich. Eigentlich würde ich den ganzen Tag vor meinem Handy hocken und darüber nachdenken, was die beiden gerade machen. In der Hoffnung, dass das Date nicht gut läuft. Aber diese Hoffnung ist illusorisch, also verwerfe ich die Idee wieder. Eigentlich brauche ich eine Ablenkung. Aber wie? Ich bin am Arsch der Welt und kenne keinen außer einem komischen Cowboy-Business Kauz und einen alten Mann im Rollstuhl. Moment. Die junge Frau aus dem Bus gestern. Was ist mit der? Heather hieß sie, glaube ich.

»Treffe mich mit einer Freundin«, antworte ich Grandpa schließlich. Das Handy liegt auf dem Tisch und ich finde Heather zum Glück bei WhatsApp. Mit meiner deutschen SIM-Karte kann ich sie nicht anrufen. Heather antwortet so schnell, als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich ihr schreibe.

 

18:32 Heather aus dem Bus

Maddy! Schön, dass du dich meldest! Ich wollte heute sowieso in die Stadt. Lust mich zu begleiten?

 

18:33 Maddy

Wann und wo soll ich sein?

 

Statt mit dem alten Herrn Trübsal zu blasen, werde ich mich bei meiner Lieblingsbeschäftigung ablenken: Shopping!

---ENDE DER LESEPROBE---